Gold, Öl und Avocados - Andy Robinson - E-Book

Gold, Öl und Avocados E-Book

Andy Robinson

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Beschreibung

In seinem Klassiker "Die offenen Adern Lateinamerikas" stellte Eduardo Galeano bereits 1972 fest: »Wir Lateinamerikaner sind arm, weil der Boden, auf dem wir stehen, reich ist.« Galeanos Buch war ein Standardwerk für eine ganze Generation von Linken, die zu Beginn des 21. Jahrhunderts in vielen Ländern Lateinamerikas die Macht übernahm, darunter Lula da Silva, Evo Morales, Rafael Correa oder Hugo Chávez. Was ist seither in diesen Ländern geschehen? Andy Robinson folgte einigen der Reiserouten, die Galeano vor 50 Jahren genommen hat, und ist mit einer Sammlung persönlicher Reportagen voller Humor und klarer Worte zurückgekehrt. Jede Geschichte nimmt einen Rohstoff in den Blick, etwa Eisen, Gold, Öl, Soja, Rindfleisch oder – neuerdings – Avocados. Die Ausbeutung dieser Ressourcen veranschaulicht das Dilemma, mit dem der Kontinent konfrontiert ist: Wie kann man gerechtes Wachstum erreichen und Armut mindern, ohne dem Fluch der Abhängigkeit vom Rohstoffexport zu erliegen? Robinson blickt in die noch immer offenen Adern Lateinamerikas und beschreibt schonungslos, was er vorfindet: sowohl ökologische als auch menschliche Katastrophen, die durch den Kampf um Ressourcen im frühen 21. Jahrhundert verursacht werden. »Mit Soja aus dem entwaldeten brasilianischen Cerrado werden die Hühner in der Massentierhaltung gefüttert, aus denen die allgegenwärtigen McNuggets von McDonald’s produziert werden. Die traurigen Rinder, die, nachdem Motorsägen und Feuer ihre Arbeit getan haben, auf dem Großgrundbesitz im Amazonasgebiet weiden, versorgen Burger King mit Fleisch. Aus den Kartoffeln, dem Nahrungsmittel der großen präkolumbianischen Zivilisationen des andinen Altiplano, werden jetzt die süchtig machenden Potato Chips von Frito Lay (PepsiCo), die die Epidemie der Fettleibigkeit in Lateinamerika fördern. Die weltweit in Mode gekommene Guacamole zwingt der mexikanischen Region von Michoacán, der Wiege des Reichs der Purépecha, eine Avocado-Monokultur auf, die vom organisierten Verbrechen gemanagt wird.« – Zitat aus dem Buch

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Seitenzahl: 464

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Andy Robinson

Gold, Öl und Avocados

Die neuen offenen Adern Lateinamerikas

aus dem Spanischen übersetzt von Alix Arnold und Gabriele Schwab

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

Andy Robinson:

Gold, Öl und Avocados

1. Auflage, Oktober 2021

eBook UNRAST Verlag, Januar 2022

ISBN 978-3-95405-098-7

Titel der Originalausgabe:

Oro, petróleo y aguacates.

Las nuevas venas abiertas de América Latina

© Andy Robinson, 2020

© UNRAST-Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag und Umschlaginnenseiten: Felix Hetscher, Münster

Satz: Andreas Hollender, Köln

Inhalt

VorwortDer Kampf um die Zukunft des Amazonasgebiets

Erster Teil – MINERALE

Gold (Kolumbien, Mittelamerika, Utah, Nevada)  Eldorado in Salt Lake City

Eisen (Minas Gerais, Brasilien)   Rohe eiserne Gewalt

Niob (Roraima, Brasilien)   Der Fetisch der brasilianischen Ultrarechten

Coltan (Gran Sabana, Venezuela)   Die Minen des Nicolás Maduro

Diamanten und Smaragde (Diamantina, Brasilien)   Auf der anderen Seite des Paradieses

Silber (San Luis Potosí, Mexiko)   Peyote und Quads

Kupfer (Apurímac, Peru / Atacama, Chile)   Zwei Pressekonferenzen und eine Revolution

Lithium (Potosí, Bolivien)   Potosí, ein Putsch in der Salzwüste

Zweiter Teil – LEBENSMITTEL

Quinoa (Uyuni, Bolivien)   Aufstieg und Fall des Wunderkorns

Kartoffeln (Puno, Peru)   Vom Chuño zum Kartoffelchip

Avocado (Michoacán, Mexiko)   Hotdog mit Guacamole

Bananen (Honduras)   Bananenrepublik im Stil des 21. Jahrhunderts

Soja (Pará, Bahia, Brasilien)   Cargill und der Krieg am Ende der Welt

Fleisch (Pará, Brasilien)   Die Hauptstadt des Ochsen

Dritter Teil – ENERGIE

Erdöl (Venezuela, Brasilien, Mexiko)   Petro-Sozialismus und Gegenangriff bei PDVSA, Petrobras und PEMEX

Wasserkraft (Pará, Brasilien)   Die Landkarten der Munduruku

In der kolonialen und neokolonialen Alchemie

wird Gold zu Schrott,

und Lebensmittel zu Gift.

Eduardo Galeano, Die offenen Adern Lateinamerikas

Vorwort

Der Kampf um die Zukunft des Amazonasgebiets

Wie würde Eduardo Galeano Die offenen Adern Lateinamerikas wohl heute schreiben? Diese Frage ging mir durch den Kopf, als ich durch Itaituba lief, eine Stadt am Tapajós, einem Fluss im brasilianischen Amazonasgebiet. In Brasilia regierte noch die linke Arbeiterpartei PT, und ich hatte die lange Reise von Rio de Janeiro unternommen, um zu sehen, inwieweit das umstrittene Wachstumsbeschleunigungsprogramm der Präsidentin Dilma Rousseff mit dem Überleben der großen Lunge des Planeten und der 13.000 Munduruku-Indigenen vereinbar war. Durch den Bau des riesigen Wasserkraftwerks in São Luiz do Tapajós würde das Land, auf dem sie seit Jahrtausenden lebten, überflutet werden. Dieses Kraftwerk sollte die neuen Städte des Amazonas und die Bergwerke und Soja-Verarbeitungsbetriebe, deren Errichtung hier geplant war, mit Strom versorgen.

Nichts hätte ich nach der langen dreizehnstündigen Anreise mit einer dümpelnden Fähre von Santarém, der sieben Flugstunden von Rio entfernten Hauptstadt im Regenwald, weniger erwartet, als das Dröhnen von Jet-Skis mit potenten 2,6-Liter-Motoren. Aber da fuhren sie im Zickzack über den riesigen Fluss und hinterließen lange weiße Gischtspuren. Vielleicht brauchte Itaituba nach der tausendjährigen, nur von dem Summen und den Schreien des tiefen Urwalds unterbrochenen Stille jetzt diesen ohrenbetäubenden Lärm und die halsbrecherische Geschwindigkeit. »Die Jet-Ski sind hier der letzte Schrei, am Wochenende siehst du hier mindestens 15 oder 20. Meiner fährt 170 Stundenkilometer«, erzählte mir Bruno, ein achtzehnjähriger Jugendlicher, nachdem er sein Gefährt aus dem Wasser gezogen und auf dem Anhänger eines Geländewagens verstaut hatte. Während wir uns unterhielten, hatte ein aus dem 250 km flussabwärts liegenden Santarém kommendes Schiff angelegt, von dem fünf Quads abgeladen wurden, ideal für Rennen auf den neu eröffneten Wegen durch den Regenwald.

Bruno hatte seinen Wasserscooter (die bis zu 20.000 Real bzw. 7.000 Euro kosteten) von seinem Lohn als Bauarbeiter bei der Asphaltierung der Transamazônica bezahlt, deren Fertigstellung eine neue Phase der Entwaldung zur Folge haben würde. Aber es gab noch andere Quellen für schnelles Geld in Itaituba, einer Stadt mit 100.000 Einwohner*innen, in der gerade eine demografische Explosion stattfand, und die das Zentrum aller extraktivistischen Aktivitäten (die meisten davon illegal) im Westen des Bundesstaates Pará am Amazonas war: Gold, Diamanten, Holz … Nicht zu vergessen die Soja, die in dem Terminal des multinationalen Unternehmens Bunge verladen wurde. Für die Zeit nach dem Bau des Megastaudamms auf dem fünfzig Kilometer flussaufwärts liegenden Territorium der Munduruku und der neuen Wasserstraßen für den Transport von Soja, Mineralen und Holz wurde ein weiterer Bevölkerungsanstieg erwartet.

»Hat sich Itaituba in den letzten Jahren sehr verändert?«, fragte ich Bruno. Er war ein Sohn von Migrant*innen, die drei Jahrzehnte zuvor in den Regenwald gekommen waren, nicht auf der Suche nach Reichtum, sondern nach zwei täglichen Mahlzeiten. Er blickte zur Seite und zeigte auf sieben oder acht schwarze Geier, Urubus auf Portugiesisch, die auf einem Haufen Müll saßen und ihre Flügel wie Trauerschleier ausbreiteten. »Sie denken sicher, dass es hier viele Urubus gibt. Aber früher gab es noch viel mehr.«

Irgendwie kam mir diese Szene wie eine Zusammenfassung der Widersprüche des wirtschaftlichen Entwicklungsprojekts der Regierungen der neuen Linken in Lateinamerika vor. Das Wachstum des BIP musste beschleunigt werden, um die Armut und die extreme Ungleichheit zu beseitigen. Dies war die doppelte Bürde, unter der die Region seit fünfhundert Jahren litt, zunächst mit der Versklavung der Indigenen in den Gold- und Silberminen, auf die dann die Versklavung der in Ketten aus Afrika hierher transportierten Menschen folgte, die die ersten Anbauprodukte für den neuen globalen Markt ernteten (Zucker, Bananen, Kaffee, etc.). Präsident Lula war berechtigterweise stolz darauf, 42 Millionen marginalisierte Brasilianer*innen auf eine Stufe gehoben zu haben, die er als neue Mittelklasse bezeichnete.

Um die Unterstützung dieser Massen der im sozialen Aufstieg begriffenen lateinamerikanischen Arbeiter*innen, wie etwa Bruno, auch weiterhin zu erhalten, waren konstante Verbesserungen des materiellen Wohlstands der Bevölkerung erforderlich. Der schnellste Weg dorthin, ohne eine Krise durch Auslandsverschuldung auszulösen, war der Export von Rohstoffen, die Devisen brachten. Rohstoffe wurden in Zeiten knapp werdender Ressourcen und des Aufstiegs Chinas zur Supermacht höher gehandelt denn je, und der Versuchung, die Extraktionsmaschine durchzustarten, war nur schwer zu widerstehen. China und die USA befanden sich praktisch in einem Kalten Krieg, in dem der Wettlauf um die immer knapper werdenden Ressourcen dieses Exportmodell noch verlockender machte.

Doch wie konnte es umgesetzt werden, ohne die gleichen Gräuel zu begehen wie in den Zeiten der klassischen Ausplünderung Lateinamerikas, die Galeano so anschaulich in seinem Buch beschreibt? Schließlich bedeuteten die Zerstörung der Umwelt und die fortschreitende Abholzung des Regenwalds nicht nur eine Beschleunigung des weltweiten Klimawandels und eine katastrophale Dürre in den Anden und Mittelamerika. Sie erhöhten gleichzeitig die Gefahr tödlicher Pandemien, da die Pathogene der wilden Natur in die Slums der Regenwald-Städte und die Schlachthäuser und Massentierhaltung der neuen lateinamerikanischen Fleischverarbeitungsindustrie gelangten, die inzwischen die größten der Welt waren. Expandierende Städte im Amazonasgebiet, wie Itaituba, waren mit ihrer mangelhaften Kanalisation und chaotischen Urbanisierung bereits Brutstätten für das von Moskitos übertragene Zika-Virus geworden, das drohte, sich in ganz Brasilien auszubreiten, und Sportler*innen in Schrecken versetzte, die an den Olympischen Spielen 2016 in Rio teilnehmen wollten. Währenddessen schien die Umstellung der Welt auf Null-Kohlendioxid-Emissionen weit davon entfernt zu sein, die Nachfrage nach Mineralen zu reduzieren. Vielmehr intensivierte sie den Druck, die Adern Lateinamerikas noch weiter aufzureißen, da von einem Anstieg der Nachfrage nach Mineralen wie Kupfer, Lithium, Kobalt, Zink und sogar Eisen ausgegangen wurde.

Und dann gab es noch die politischen Probleme des Modells. Wenn Bruno ein typisches Beispiel für diese neue sozial aufsteigende, d.h. nach mehr Konsum strebende Mittelklasse war, wie konnte dann verhindert werden, dass er sich am Ende den Prinzipien der Gleichheit und des Umweltschutzes entgegenstellte, die sich die Linke auf die Fahnen geschrieben hatte? Das Problem sollte schon bald durch die Niederlage der PT in Brasilien und die Übernahme der Regierung durch eine rücksichtslose extreme Rechte unter Jair Bolsonaro bestätigt werden, die eng mit dem Bergbau- und Agrobusiness verbunden war. Wie André Singer unterstrich, hatte die neue Mittelklasse ihren Erschaffer zerstört, ein Schicksal, das ein Jahr später Evo Morales in Bolivien teilen sollte, obwohl dessen Partei Movimiento al Socialismo ein beeindruckendes Comeback starten würde. Da sich die Rivalität um den Zugang zu den natürlichen Ressourcen zwischen China und den USA intensivierte, wurden auch die lateinamerikanischen progressiven Regierungen anfälliger für von Washington dirigierte Strategien des Regimewechsels. Dies ließ eine Rückkehr zu jenen Jahren befürchten, in denen Galeano sein Meisterwerk geschrieben hatte und ein Großteil des Kontinents von brutalen Militärregimen regiert wurde, die den USA gegenüber freundlich gesinnt waren.

In diesem Buch, einer Sammlung von Reportagen über eine Reihe von Rohstoffen, die in Lateinamerika gewonnen werden, von Soja und Niob über Rindfleisch und Gold bis zu Erdöl und Avocados, versuche ich über dieses Dilemma nachzudenken und die dramatischen Ereignisse zu analysieren, die diese Region in den vergangenen Jahren erschüttert haben – sanfte und brutale Staatsstreiche in Honduras, Bolivien und Brasilien, außerordentliche Volksaufstände in Santiago de Chile, Quito und Bogotá sowie die Wahrscheinlichkeit weiterer sozialer Unruhen nach der Verwüstung durch Covid-19. Ich folge in einigen Fällen den Spuren Galeanos, besuche Potosí, Minas Gerais und Zacatecas, Ikonen des Raubs und der Plünderung durch den Kolonialismus, wo ich versuche, seine gewagte und auf die Dependenztheorie von Immanuel Wallerstein, Celso Furtado und André Gunder Frank gestützte These zu aktualisieren: »Wir Lateinamerikaner sind arm, weil der Boden, auf dem wir stehen, reich ist.«

Galeano schrieb Die offenen Adern Lateinamerikas mit knapp 28 Jahren, dennoch wurde das Buch zum Standardwerk einer Generation von Linken, die in Lateinamerika zu Beginn des neuen Jahrhunderts an die Macht kam: Lula da Silva und Evo Morales, Rafael Correa oder Hugo Chávez (Letzterer schenkte einem skeptischen Barack Obama ein Exemplar des Buches). Doch von den beiden wichtigsten Botschaften des Buches – die Notwendigkeit, sich aus der Abhängigkeit von den ehemaligen Kolonialmächten und deren multinationalen Konzernen zu lösen und gleichzeitig eine Industrialisierung der Wirtschaft vorzunehmen, um das Wachstum nicht auf den Export von Rohstoffen zu stützen – fand nur die erste Beachtung.

Die Abhängigkeit vom Export von Commodities blieb in vielen Ländern weiterhin bestehen. Eine Linke, die überzeugt gewesen war, die magische Formel dafür gefunden zu haben, wie sie die Einkommen umverteilen und gleichzeitig an der Regierung bleiben könnte, bekam ihre Quittung, als der Superzyklus hoher Weltmarktpreise für Minerale, Erdöl und Grundnahrungsmittel abrupt zusammenbrach. Mit einer Verzögerung von fünf oder sechs Jahren erreichte die große globale Krise von 2008 Lateinamerika. Die Rohstoffpreise stürzten in den Keller und die Region schlitterte in die Rezession. In Ecuador, Brasilien, Chile, Argentinien und letztlich auch in Bolivien verloren die progressiven Regierungen eine nach der anderen die Macht, zum Teil durch Staatsstreiche. In Venezuela schwächte eine schwere gesellschaftliche und wirtschaftliche Krise den Chavismus in einem Ausmaß, das zehn Jahre vorher unvorstellbar gewesen wäre. Gleichzeitig war Venezuela aufgrund seiner extremen Abhängigkeit vom Erdöl-Export besonders anfällig für einen von Washington geplanten Staatsstreich. Die spektakulären Errungenschaften der Maßnahmen der lateinamerikanischen Linken gegen die Armut glichen aus der Perspektive der Krise bereits zu diesem Zeitpunkt Schimären einer unhaltbaren Rohstoffblase.

Es mag paradox erscheinen, doch Galeano hatte selbst sein Scherflein zur Krise linker Konzepte beigetragen. Auf der Buchmesse in Brasilia hatte er 2014 sein eigenes Buch als simplifizierend bezeichnet. Es sei das Werk eines jungen Mannes, der dem Dogmatismus der alten Linken verfallen gewesen sei und nichts von Wirtschaft verstanden habe. »Ich könnte es heute nicht noch einmal lesen, ich würde in Ohnmacht fallen«, erklärte er scherzhaft im Alter von 74 Jahren, ein Jahr vor seinem Tod. Dieses Mea culpa von Eduardo Galeano war der Freibrief für die üblichen Verdächtigen der lateinamerikanischen Rechten, die sich freudig auf die Schulter klopften. Álvaro Vargas Llosa, der in seinem Buch Manual del Perfecto Idiota Latinoamericano (Handbuch des perfekten lateinamerikanischen Idioten) die Offenen Adern karikiert hatte, begrüßte die intellektuelle Niederlage der Linken. Michael Reid, Korrespondent der konservativen britischen Wochenzeitung The Economist, kündigte den definitiven Rückzug der sogenannten Pink Tide (Rosa Flut) an und nannte das Buch von Galeano das Werk »eines Propagandisten, eine potente Mischung aus selektiven Wahrheiten, Übertreibung, Unwahrheiten, Glossen und Verschwörungstheorien«. Eine Beschreibung, die meines Erachtens eher auf Reids Zeitschrift als auf das Meisterwerk von Galeano zutrifft. Auf meinen Reisen durch Lateinamerika hatte ich dagegen vielmehr den Eindruck, dass der junge Galeano mit seiner Kritik der vom globalen Kapitalismus in Zusammenarbeit mit den lokalen Eliten und Oligarchien hervorgerufenen Zerstörung eher noch zu kurz gegriffen hatte. Die Plünderung hatte nicht nur auf der wirtschaftlichen Ebene der Extraktion von Rohstoffen stattgefunden, sondern auch in Form der Plünderung der Seele der Völker, deren Kultur – jene Philosophie des Sumak Kawsay bzw. Buen Vivir der Quechua – durch den unaufhaltsamen Prozess der Kommerzialisierung ihrer und unserer Leben ausgelöscht wird.

Während das peruanische Fischgericht Ceviche international zu einem gastronomischen Statussymbol wird, das von der geschäftsführenden Direktorin des IWF, Christine Lagarde, als »eine Inspiration für unsere wirtschaftlichen Förderprogramme in Lateinamerika« bezeichnet wurde, treibt eine gigantische Insel aus Plastik im Pazifik. Der neue Exotik-Tourismus findet seinen Ausdruck in den Zügen durch die Anden, die vom peruanischen Staat privatisiert und an Belmond verkauft wurden, eine Tochtergesellschaft des globalen Unternehmens der Luxusgüterindustrie LVMH (Moët Hennessy – Louis Vuitton). Mithilfe von Panoramafenstern wurden sie in Aussichtsplattformen verwandelt, von denen aus die Machu-Picchu-Reisenden auf dem inzwischen seiner Gletscher beraubten Hochplateau die Armut aus sicherer Entfernung betrachten können.

Ohne die großen sozialen Errungenschaften vieler Linksregierungen in irgendeiner Weise unterbewerten zu wollen, liegt das Problem im Unterschied zu damals darin, dass heute viele von ihnen an den genannten materiellen und geistigen Plünderungen beteiligt sind. »Was hier gemacht wurde, ist absoluter Mist. Jetzt haben wir Soja, Soja und noch mehr Soja«, erklärte mir in Santarém aufgebracht der Franziskaner Edilberto Sena, Anhänger der Befreiungstheologie und vor drei Jahrzehnten einer der Gründer der Arbeiterpartei PT im Amazonasgebiet. Damit beklagte er nicht nur, dass Tausende von Kleinbauern und -bäuerinnen gezwungen waren, in die Stadt zu ziehen, sondern auch das Verschwinden einer reichen, komplexen und auf einer überwältigenden Biodiversität basierenden Volkskultur.

In vielen Ländern erlebte ich die heftigen Diskussionen in der lateinamerikanischen Linken zwischen denen, die die progressiven Regierungen wegen ihres Neoextraktivismus kritisierten, und denen, die den Gegner*innen des Extraktivismus vorwarfen, in einer Fantasiewelt zu leben, weit entfernt von der Realität und der Dringlichkeit, das Wachstum des BIP zu erhöhen, um die Armut zu bekämpfen und die Entwicklung zu fördern. »Wir benutzen das Erdöl und den Bergbau, um eine Entwicklung zu erreichen, mit der der chinesische Weg der Prekarisierung der Arbeit und unwürdiger Löhne vermieden wird«, sagte mir Fausto Herrera, ehemaliger ecuadorianischer Finanzminister der Regierung von Rafael Correa. Deren Projekt, das Erdöl in dem Yasuní-Territorium im Amazonasgebiet unter der Erde zu belassen, war ein Vorbild für die Umweltschutzbewegung gewesen, bis Correa dann einen Rückzieher machte. Seine Kritiker*innen, insbesondere ein weiterer Ex-Minister, Alberto Acosta, sprachen sich dafür aus, den Extraktivismus aufzugeben und auf der Grundlage der Philosophie des Buen Vivir der Quechua nach anderen Indikatoren für Wohlstand zu suchen. Ähnlich war es in Bolivien, wo ein Teil der linken Umweltbewegung sogar den Staatsstreich gegen Evo Morales unterstützte, weil dieser sich zum Extraktivismus hingewandt habe. Auf meinen Reisen, die ich unternahm, um diese Reportagen schreiben zu können, bin ich zu einer Schlussfolgerung gelangt, die sicher weder die eine noch die andere Seite zufriedenstellen wird: Es muss ein Mittelweg zwischen diesen beiden Denkrichtungen gefunden werden.

Tatsache ist, dass es sich hier um universale oder den ganzen Planeten betreffende Fragen handelt, die jedoch in Lateinamerika klarer zu erkennen sind – in einer Region, in der die »Computer mit den archaischsten Formen der ländlichen Kultur koexistieren und […] mit sämtlichen Stufen historischer Produktionsformen«, wie es der Philosoph Fredric Jameson in einem Artikel zu Hundert Jahre Einsamkeit ausdrückt. Das Überleben uralter Welten in Lateinamerika sowie seine Einwohner*innen, deren Geist und Körper noch vor dem geschützt sind, was uns zerstört, machen diese Region zur entscheidenden Arena in dem epischen Kampf um die Verteidigung des Planeten.

In Kolumbien zog das ehemalige Guerilla-Mitglied Gustavo Petro Lehren daraus. Ohne einen Plan der nationalen Entwicklung aufzugeben, lehnte sein Projekt Colombia Humana den aggressiven Extraktivismus ab und machte die Herausforderung des Klimawandels zum Schwerpunkt seines Programms für die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2018. Diese Ideen unterstützten die Mobilisierungen gegen die konservative Regierung von Iván Duque im Herbst 2019 auf den Straßen von Bogotá, Medellín und Barranquilla. Auch an den Protesten, die zur gleichen Zeit die konservativen Regierungen in Chile und Ecuador ins Wanken brachten, nahmen neue Bewegungen teil, die für Lateinamerika einen anderen Weg der Entwicklung anstreben.

Die Spezialist*innen der Thinktanks und Kommunikationsmedien, angefangen von Reid über Alma Guillermoprieto bis hin zu der in Washington lebenden brasilianischen Wirtschaftswissenschaftlerin Monica de Bolle, interpretierten die Proteste eher pessimistisch. »Die in den vergangenen Wochen in Lateinamerika zum Ausdruck gekommene Unzufriedenheit hat wenig mit Hoffnung zu tun, sie wurde vielmehr durch etwas ausgelöst, das man als Syndrom der Post-Rohstoffblase bezeichnen könnte«, schreibt de Bolle in einem interessanten Essay für das Peterson Institute for International Economics. Doch Washington war noch nie ein guter Ort, um mit Optimismus auf die Zukunft Lateinamerikas zu blicken. Der Altiplano dagegen schon, manchmal zumindest. Als ich im Oktober 2019 durch die barocke Innenstadt von Quito lief, umgeben von Quechua-Straßenverkäufer*innen, die durch den Erfolg ihres Aufstands gegen die Regierung von Lenín Moreno sichtlich ermutigt waren, fiel es nicht schwer, zu einer positiveren Auslegung des Frühlings der Unzufriedenheit in Südamerika zu kommen. Diesmal könnte die in den enormen Mobilisierungen der Volksbewegungen geschmiedete Agenda des sozialen Wandels eine solidere Grundlage haben als den Preis von Erdöl, Kupfer oder Soja an der Rohstoffbörse von Chicago.

Der unmittelbare Auslöser der Proteste in Ecuador war die Erhöhung der Benzinpreise nach der Streichung der Subventionen im Rahmen eines vom IWF aufgestellten drakonischen Maßnahmenkatalogs. Doch die Anwesenheit der vielen indigenen Bäuerinnen in den vordersten Reihen der Auseinandersetzungen ließ vermuten, dass die Verteidigung der Pacha Mama (Mutter Erde) ein Schlüsselelement in der nächsten Phase des Kampfs sein würde. In dieselbe Richtung deutete die Aufnahme des Prinzips des Sumak Kawsay in den von der indigenen Konföderation CONAIE nach den Protesten entwickelten Alternativvorschlag zu den IWF-Maßnahmen. Diesen legten sie der Regierung während einer angespannten Zeremonie auf der Katholischen Bischofskonferenz in Quito vor, bei der ich anwesend war. Der junge Kandidat der Linken für die Wahlen im Jahr 2021, Andrés Arauz, schien einer Annäherung an das indigene Projekt offener gegenüberzustehen als sein Mentor Correa.

Auch die bunte Fahne der chilenischen Mapuche (Indigene, die durch die Extraktion der Holz- und Bergbauindustrie bedroht sind) wurde zu einem Emblem der massiven Proteste in Santiago de Chile gegen das Modell eines neoliberalen Staats in Lateinamerika, das von Thinktanks, Marktanalysten und Oligarchien in den höchsten Tönen gelobt, aber von allen anderen gehasst wird. Vielleicht sind diese Unruhen ein erster Schritt zu einem erneuten Zusammenkommen der lateinamerikanischen Linken mit der globalen Bewegung gegen den Klimawandel. Während die Covid-19-Pandemie die anhaltende soziale Ungleichheit und das Versagen der Gesundheitssysteme Lateinamerikas offenbarte, verdeutlichte sie gleichzeitig einmal mehr die Fähigkeit zur Organisierung des kollektiven Selbstschutzes in den Favelas der brasilianischen Megastädte oder in den Ranchos in Venezuela.

Als ich auf meinen langen Reisen im Flugzeug, Bus oder Schiff erneut DieOffenen Adern las, war ich weit davon entfernt, von der bleiernen Prosa der pedantischen Alten Linken gelangweilt zu sein. Vielmehr inspirierte mich der Wunsch des jungen Galeano, »im Stil eines Liebes- oder Abenteuerromans von Wirtschaftspolitik« zu schreiben. Mit den kurzen Geschichten in diesem Buch habe ich versucht, diesem Beispiel zu folgen, auch wenn sie nicht mit dem exzellenten Stil des Uruguayers Schritt halten können. In jedem Kapitel geht es auch um die letztendliche Nutzung dieser Rohstoffe in einer Welt verschwenderischen Konsums, extremer Ungleichheit und immer knapper werdender Ressourcen. Die von den brasilianischen Garimpeiros inmitten einer Hölle aus Schlamm und Gewalt geschürften Diamanten werden in Surat (Indien) geschliffen und können in den Swarovski-Läden in Dubai erstanden werden. Die Prototypen der Hyperschallraketen, die in Kalifornien oder Shenzhen hergestellt werden, enthalten das Niob aus den Territorien der Indigenen im Amazonasgebiet, auf das sich inzwischen das Hauptaugenmerk der mit der neuen brasilianischen Ultrarechten von Jair Bolsonaro verbündeten Bergbauunternehmen richtet. Mit Soja aus dem entwaldeten brasilianischen Cerrado werden die Hühner in der Massentierhaltung gefüttert, aus denen die allgegenwärtigen McNuggets von McDonald’s produziert werden. Die traurigen Rinder, die, nachdem Motorsägen und Feuer ihre Arbeit getan haben, auf dem Großgrundbesitz im Amazonasgebiet weiden, versorgen Burger King mit Fleisch. Aus den Kartoffeln, dem Nahrungsmittel der großen präkolumbianischen Zivilisationen des andinen Altiplano, werden jetzt die süchtig machenden Potato Chips von Frito Lay (PepsiCo), die die Epidemie der Fettleibigkeit in Lateinamerika fördern. Die weltweit in Mode gekommene Guacamole zwingt der mexikanischen Region von Michoacán, der Wiege des Reichs der Purépecha, eine Avocado-Monokultur auf, die vom organisierten Verbrechen gemanagt wird. Und ein Besuch in San Luis de Potosí (Mexiko) macht deutlich, dass der Erfolg der Huichol-Indigenen, die Wiedereröffnung der spanischen Silbermine aus dem 19. Jahrhundert zu verhindern, von einer Invasion von Tourist*innen getrübt wird, von denen viele verrückt danach sind, die halluzinogene Wirkung des Peyote-Kaktus auszuprobieren.

Die Kapitel über Eisen und Erdöl beschäftigen sich damit, wie die extreme Abhängigkeit von Rohstoffen nicht nur katastrophale Folgen für die Umwelt hat, wie an dem Fall des gigantischen Bergwerksunternehmens Vale gezeigt wird, sondern auch den Grundstein für das Desaster der progressiven Regierungen von Venezuela und Brasilien gelegt hat. Auch auf die Neuauflage des Petro-Nationalismus von Lázaro Cárdenas durch den mexikanischen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador wird eingegangen. Ein Besuch der bolivianischen Salzwüste Salar de Uyuni, dem größten Lithiumvorkommen der Welt, hilft bei der Beurteilung der Versuche der indigenistischen Regierung von Evo Morales, die Extraktion des Lithiums mit einer Industrialisierung durch Batterie-Fabriken und eventuell dem Bau von Elektroautos zu verbinden. Außerdem sehen wir die traurige Rolle von Potosí während der Rebellion des bolivianischen Mittelstands gegen die sozialistische Regierung, die in dem Staatstreich im Oktober 2019 mündete. Die Industrialisierung war der Masterplan der Dependenz-Theoretiker*innen, der den Ideen und der Prosa Galeanos Struktur gab. Doch die Realität in den bolivianischen Anden ist komplex und widersprüchlich. In dem sich zunehmend verschlechternden Ambiente rund um den Salar de Uyuni stellt sich eine andere existenzielle Frage: Was ist schlimmer, eine Lithiummine oder zehntausend Tourist*innen, die sich mit der untergehenden Sonne als Hintergrund auf Selfies verewigen?

In dem Kapitel über Gold zeigt eine Reise von Mittelamerika nach Utah, warum in den USA das Extraktionsfieber nach der Finanzkrise 2008 mit einer zunehmend konservativen Denkweise der exzentrischen Investor*innen zusammenfiel, der sogenannten Goldbugs, die die Rückkehr zum Goldstandard verteidigen. Das Eldorado des 21. Jahrhunderts ist auf seine eigene perverse Weise ein weiteres Beispiel für eine neue Ära offener Adern, in der die Suche nach Sicherheit in Zeiten finanzieller Instabilität den Goldpreis in die Höhe schießen lässt und einmal mehr die Invasion des Amazonasgebiets und der Anden durch Tausende informelle Bergarbeiter*innen auslöst.

Ein neues Entwicklungsmodell bedarf einer radikalen Änderung der Philosophie, die über den simplen Export von Rohstoffen hinausgehen muss und ebenso über die alten Vorstellungen von Industrialisierung, die in der verlorenen Welt von Fordlandia vor sich hinrosten – der Industriestadt, die Henry Ford drei Schiffsstunden von Itaituba entfernt zu gründen versucht hatte, und die inzwischen von Lianen und Urwaldaffen in Besitz genommen wurde. Ohne die Fortschritte und sozialen Ziele des ersten Jahrzehnts der progressiven Regierungen in Lateinamerika aufzugeben, muss nach Produktionssystemen in kleinerem Maßstab, nach einem weniger destruktiven Konsum und einer radikaleren Umverteilung des Einkommens gesucht werden. Statt die Macht derart personalistisch zu zentralisieren und die sozialen Bewegungen zu kooptieren, muss mehr Demokratie praktiziert werden. Für den Fall, dass der Linken nach den spektakulären Mobilisierungen der Menschen in Quito, Bogotá und Santiago de Chile vielleicht eine neue Chance gegeben wird, sollte sie sich unbedingt jetzt schon über Alternativen Gedanken machen.

Die Inspiration dazu kann zum Teil aus dem Wissen des Buen Vivir der indigenen Völker und ihren Gesellschaftsmodellen kommen, die mit dem Schutz der Umwelt und der Kultur vereinbar sind. Dabei handelt es sich nicht um einen romantischen Aufruf zur Rückkehr zu der verlorenen Welt der Jäger*innen und Sammler*innen im Sinne der edlen Naturmenschen Rousseaus. Wie das Buch zeigen wird, gab es vor zweitausend Jahren, lange vor der Ankunft der Europäer*innen, im Amazonasgebiet eine Gesellschaft mit acht Millionen Menschen, die in halb-urbanen Gemeinschaften lebten, Straßen bauten und den Regenwald auf eine intelligente und nachhaltige Weise bewirtschafteten. Um ihre Versorgung mit Nahrungsmitteln sicherzustellen, praktizierten sie genetische Modifikationen, z.B. mit Maniok. Auch die enormen Panama-Kautschukbäume Castilla elastica handhabten sie nachhaltig, unter anderem um Bälle für das Mesoamerikanische Ballspiel herzustellen, ein in den präkolumbianischen Gesellschaften sehr verbreiteter Vorläufer des heutigen Fußballs. »Wir sind die Hüter des Regenwalds«, erklärte mir ohne jeglichen Anflug von Überheblichkeit Jairo Saw, einer der Anführer der Munduruku von Itaituba, die den Widerstand gegen das Wasserkraftprojekt, den Bergbau und die Holzextraktion in ihrem Territorium organisieren. Die Munduruku verstehen etwas von Technologie. Sie definierten mithilfe von GPS die Grenzen ihres Landes und legten mit wissenschaftlicher Genauigkeit ihre territorialen Rechte für die Verteidigung des Regenwalds fest. Als wir uns das nächste Mal trafen, in Rio de Janeiro, war Jairo auf dem Weg nach Los Angeles, um sich mit einer Gruppe von Ingenieur*innen von General Electric zu treffen. Er wollte versuchen, sie zu überzeugen, von dem Wasserkraftprojekt im Tapajós-Becken Abstand zu nehmen. »Wenn sie nicht auf uns hören, gibt es keine Zukunft, nicht für sie und nicht für andere«, erklärte er, bevor er in einem gelben Rio-Taxi zum Internationalen Flughafen Galeão davonfuhr.

Erster TeilMINERALE

GOLD(Kolumbien, Mittelamerika, Utah, Nevada)

Eldorado in Salt Lake City

Die Suche nach Eldorado war stets eine von Habgier, Wahnvorstellungen und Zerstörung geprägte Unternehmung. Die jüngste Generation der Eroberer bestand zum einen aus multinationalen Bergbaukonzernen mit Sitz in Vancouver und effizienten Abteilungen für unternehmerische Gesellschaftsverantwortung, zum anderen aus verzweifelten Schatzsucher*innen aus den Mega-Slums von Bogotá, Lima oder São Paulo. Das Goldfieber des 21. Jahrhunderts nahm jedoch genau denselben Weg wie der Wahnsinn von Extraktion und Tod zu Zeiten von Kolumbus, Cortés und Pizarro. Aber vielleicht waren andere Ursachen die Erklärung für diesen neuen Goldrausch, den ich an den blut- und quecksilbergefärbten Flüssen von Antioquia in Kolumbien und den großen Tagebaubergwerken in Mittelamerika erlebt hatte. In den Krisenjahren wurde angesichts der Angst und des Chaos Zuflucht zum Gold genommen, zunächst an der Wall Street und bald auf der ganzen Welt. Informelle Bergarbeiter*innen, die in Kolumbien Barequeros und in Brasilien Garimpeiros genannt werden, scharrten im Schlamm lateinamerikanischer Flüsse in der Hoffnung, Reichtum oder zumindest einen winzigen Goldklumpen zu finden, um sich einen Teller Bohnen leisten zu können. In den Ländern des globalen Nordens war Gold jedoch das Objekt einer neurotischen Suche nach finanzieller und psychologischer Sicherheit. In seinem Buch Die Macht des Goldes verweist Peter Bernstein darauf, dass Menschen stets versucht hatten, mit Gold die Unsicherheit zu beseitigen, und dafür grauenvolle Taten verübten und heftigsten Belastungen standhielten. Im World Economic Outlook vom Oktober 2019 räumte der Internationale Währungsfonds ein, dass der Goldpreis »durch eine (wahrscheinlich irrationale) Angst vor einem Zusammenbruch« gestützt wird. Die Bloggerin Masa Serdarevic ist mit ihrem Urteil direkter: »Gold zu kaufen hat immer mit Angst zu tun.«

Seit Beginn der globalen Krise im Jahr 2008 herrschte Angst in der Weltwirtschaft. Der Preis der Feinunze Gold (31 Gramm), der die vorausgegangenen Jahrzehnte stabil bei rund fünfhundert US-Dollar gelegen hatte, stieg im Laufe des Zusammenbruchs des Finanzsystems und lag 2011 bei 1.900 Dollar. Die Anziehungskraft des gelben Metalls hatte sich durch die Vernichtung von Billionen von Dollar an den Börsen verstärkt, auch wenn diese sich bald wieder erholten und die Vermögen der globalen Plutokratie wiederherstellten. Eine noch nie dagewesene monetäre Expansion und der Absturz der Zinssätze auf Null unterstützten die Flucht in den goldenen Schützengraben.

Doch Angst allein erklärt nicht alles. In einer Gesellschaft globalisierter Großtuerei und extremer Ungleichheit, die ihren perfekten Ausdruck in Donald Trump und seinen Türmen in Form gigantischer Goldbarren findet, diente das edle Metall auch dazu, sich mit sozialem Status zu brüsten. Die Nachfrage der aufgestiegenen Mittelklassen Indiens und Chinas wuchs. In den neuen Boutiquen von Swarovski gleich neben den Armenvierteln wimmelte es nur so von Käufer*innen auf der Suche nach Goldschmuck, ebenso wie in den exklusiven LVMH-Geschäften Ladies Only der Kitsch-Theokratien in Dubai oder Doha.

Und genau wie andere Luxusobjekte fand auch das Gold Eingang in die dekadente Welt der zeitgenössischen Kunst und ersetzte dabei die Bronze als bevorzugtes Material von Künstler*innen, die auf dem globalen Markt agieren, – wie Damien Hirst, dessen Mammut-Skelett »Gone but not forgotten« aus reinem Gold für 15 Millionen Dollar verkauft wurde, oder Marc Quinn, der eine Goldskulptur des Models Kate Moss schuf, die vom Britischen Museum für zwei Millionen Dollar erstanden wurde. Nicht zu vergessen das Klo aus 18-karätigem Gold des Künstlers Maurizio Cattelan. Dieses hatte das Guggenheim Museum Trump für das Badezimmer des Weißen Hauses angeboten, als Ersatz für den Van Gogh, den der Präsident ursprünglich von dem New Yorker Museum gefordert hatte.

Gleichzeitig wurde Gold zum Lieblingsgeschäft der großen internationalen Netzwerke des organisierten Verbrechens, die mit den an der Börse von Toronto notierten multinationalen Bergbaukonzernen um die unternehmerische Führung des Eldorado 2.0 konkurrierten – und sich gelegentlich mit ihnen verbündeten. Als sichere und zunehmend liquide Finanzanlage war Gold ideal, um die Erträge aus illegalen Aktivitäten der McMafias zu waschen. Neben der Ausbeutung von Millionen von informellen Bergarbeiter*innen, die unter sklavenähnlichen Bedingungen sage und schreibe 20 Prozent der globalen Produktion erarbeiteten, überwachten diese Mafias den Verkauf des Golds an Zwischenhändler in abgelegenen Städten in den Anden oder im Regenwald. Letztere sicherten sich ebenfalls ihren Anteil und exportierten es in eine viel ›zivilisiertere‹ Welt, hauptsächlich in die Schweiz, deren vier Goldraffinerien 50 Prozent des auf globaler Ebene produzierten Golds verarbeiteten.

Jedes Glied dieser wahrhaft glänzenden Lieferkette diente dazu, Milliarden US-Dollar Schwarzgeld zu waschen. Aber die Garimpeiros und die Barequeros oder die korrupten Polizisten, die diesen illegalen Handel ignorierten, oder gar die Paramilitärs, die in den Bergwerken Angst und Schrecken verbreiteten, waren lediglich Symptome. Die Krankheit war die extreme Ungleichheit, die Plage des Raubtierkapitalismus des 21. Jahrhunderts. Das weltweite Goldgeschäft wurde zu einem seiner Symbole, zu seiner Quintessenz, wie der Ring bei Wagner. »Ich war in dem Bergwerk von La Rinconada, auf 5.500 Metern Höhe in den Anden Perus. Dort arbeiten 60.000 informelle Bergarbeiter*innen, die in Blechhütten leben. Sie sterben, bevor sie fünfzig werden, weil nur 50 Prozent Sauerstoff in der Luft enthalten sind. Es gibt keine Polizei, aber 4.000 Prostituierte, fast alle Sklavinnen«, erklärte mir der Schweizer Anwalt Mark Pieth, Autor des Buches Goldwäsche – die schmutzigen Geheimnisse des Goldhandels, als er von einer Reise in Die Hölle der Anden nach Basel zurückkehrte. »Es ist schrecklich, so etwas müsste verboten werden. Aber hundert Millionen Familien auf der ganzen Welt sind davon abhängig.«

Während der Finanzterror und der protzige Konsum der neuen Eliten das Gold aufwerteten, machten es die neuen apokalyptischen Ideologien zum Kult. Die ersehnte Rückkehr zum Goldstandard – eine Wahnvorstellung der exzentrischen Goldbugs und, einem Kommentar nach zu schließen, auch von Trump selbst – gewann in den Jahren der unaufhaltbaren monetären Expansion Anhänger*innen unter den Konservativen von Utah bis Bayern. Obwohl der rasante Anstieg der Inflation, der von diesen Edelmetall-Fetischist*innen prophezeit wurde, als verkündeten sie das Jüngste Gericht, bis dato ausblieb. Auch die zaghafte Normalisierung der Währungspolitik ab 2017 konnte die Nachfrage nach dem gelben Metall nicht bremsen. Die Preise erreichten zwar nicht mehr die Rekordwerte von 2011, doch lagen sie mit rund 1.500 US-Dollar pro Feinunze hoch genug, um das verzweifelte Fieber in den lateinamerikanischen Gebirgszügen und Flüssen anzuheizen, aus denen 60 Prozent des in den USA verkauften Goldes stammt. Auch das explosionsartige Wachstum der Elektronikindustrie trug zur Nachfrage nach Gold wie auch nach anderen Metallen bei. Jedes einzelne der Milliarde Mobiltelefone, die im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts jährlich hergestellt wurde, enthielt Gold im Wert von 50 Cent.

Obwohl es das am wenigsten nützliche Metall ist, hat Gold seit jeher Wahnvorstellungen hervorgerufen. Das chemisch inerte Element Au (lateinisch Aurum, mit der Ordnungszahl 79) rostet nie. »Es verfügt über die Langlebigkeit, von der wir alle träumen«, erklärt Bernstein. Vielleicht denkt er dabei an den Billionär aus dem Silicon Valley Peter Thiel, mit dessen Unterstützung Trump ins Weiße Haus kam. Auf der Suche nach der Unsterblichkeit investierte Thiel Millionen in Nanotechnologie und genetische Forschung. Er verteidigte den Goldstandard mit der Leidenschaft eines mittelalterlichen Königs, weil »er die virtuelle mit der realen Welt verbinden würde«. Das neue Eldorado ist für wirtschaftsliberale Konservative wie Thiel unwiderstehlich, denn Gold ist von keinem Staat abhängig.

»Gold mag ein Stück nutzloses und glänzendes Metall sein, aber zumindest können es die Zentralbanken nicht drucken«, fasst Dylan Grice, Analyst bei Credit Suisse, zusammen. Selbst als die US-Zentralbank Federal Reserve (Fed) ihre expansive Geldpolitik abbremste, konnten sich die Goldbugs, wie der manische Schatzsucher in Edgar Allen Poes Kurzgeschichte Der Goldkäfer, nicht entspannen. Gillian Tett, Anthropologin und Kolumnistin der Financial Times, schrieb die Anziehungskraft des Metalls »dem Nachhall des sogenannten Cargo-Kultes zu, der von Anthropologen auf den Pazifischen Inseln untersucht wurde: Etwas, was in Zeiten des Chaos und der Angst Ordnung und Sinn schafft«. Auch auf die Goldbugs der britischen Conservative Party hatte es eine therapeutische Wirkung, die zwar ein Loblied auf den Brexit sangen, gleichzeitig aber einen sicheren Hafen suchten. Die Entscheidung für den Austritt aus dem europäischen Club führte zum Zusammenbruch des Pfunds, und die britische Nachfrage nach Gold stieg innerhalb einer Woche um 219 Prozent. Als die Coronavirus-Pandemie die fünf Kontinente traumatisierte und die Zentralbanken erneut die monetären Schleusentore öffneten, brach der Goldpreis mit 2.000 US-Dollar pro Feinunze seine vorherigen Rekorde und ließ die Aktien der Goldbergwerke in die Höhe schnellen. Die Verlockung war riesig. Für die hysterischen Investoren bedeutete Gold eine Absicherung nicht nur im Hinblick auf einen unwahrscheinlichen erneuten Anstieg der Inflation oder gar Hyperinflation in den Zeiten nach der Pandemie, sondern auch für den Fall einer Depression oder Deflation. Mit der Ausbreitung des Virus übertrumpfte die Angst das Geltungsbedürfnis. Die Goldbarren boomten, während Rolex-Uhren abstürzten und sogar auf Prestige bedachte Konsument*innen in Asien ihren Schmuck zu Barren einschmolzen. »Unsere Bestände gehen raus, sobald sie eintreffen«, erklärte ein britischer Edelmetallhändler in Birmingham, als Europa in den Lockdown ging, um das Virus einzudämmen. »Das ist so ähnlich wie mit den panischen Toilettenpapierkäufen.« Es waren Zeiten des Deliriums, und Gold war ein Balsam. Durch die Straßen reicher wie auch armer Städte zogen neben den evangelikalen Prediger*innen, die das Armageddon prophezeiten, Menschen mit demütiger Gestik und dem Schild: »Wir kaufen Gold.« Für die sogenannte End Times Movement (Endzeitbewegung) war Gold wie gemacht. Die Milizen der Prepper-Szene von Idaho und Texas rieten, für die Postapokalypse neben dem Maschinengewehr auch ein paar Goldbarren in das Überlebenskit zu packen.

Vielleicht hat die Faszination der Konservativen für das Gold aber auch damit zu tun, dass es das Metall mit der höchsten Dichte ist. Freud schrieb den Goldfetisch der Neurose oder der Analfixierung zu. Die Maya Mesoamerikas – großartige Vertreter*innen der Goldschmiedekunst – betrachteten Gold als das Exkrement des von ihnen verehrten Sonnengotts, das für sie einen unschätzbaren ästhetischen und symbolischen, jedoch keinerlei kommerziellen oder monetären Wert hatte. Für die Goldbugs der Krisenjahre war das Metall dagegen zum Exkrement des guten konservativen Christen geworden, der an intellektueller Verstopfung litt und auf der Suche nach einer sicheren Investition war. Trump wies zwar das Geschenk des Guggenheim-Museums zurück (und forderte den Kopf der dreisten Kuratorin, die sich über einen Präsidenten lustig gemacht hatte, der bekanntermaßen für die Armaturen seiner Luxusimmobilien Gold bevorzugte), das goldene Klo von Maurizio Cattelan wurde dennoch zum ersehnten Objekt für viele Badezimmer in den Villen des republikanischen Amerikas.

Es liegt auf der Hand, dass die Neurose zu fantastischen Gewinnen für die großen multinationalen Bergbaukonzerne und deren Berater*innen führte. Zu diesen gehörte unter anderen der konservative spanische Ex-Präsident José María Aznar, der von dem kanadischen Unternehmen Barrick Gold, dem größten der Welt, angeworben worden war, um sie bei der Schwächung des sozialen Widerstands in Lateinamerika gegen die neuen Plünderungen der noch offeneren Adern zu beraten. In der Krisenzeit wurde Gold selbst »an Stellen gesucht, die zuvor als nicht rentabel oder marginal eingestuft worden waren, und an denen mehr Menschen leben«, erklärte der argentinische Wirtschaftswissenschaftler Leonardo Stanley. Das Fieber verbreitete sich von Tansania bis zur Mongolei. Aber am dramatischsten war die Rückkehr nach Eldorado, zu dem alten Fieber des amerikanischen Goldes. Kolumbien, Mexiko, Venezuela, Brasilien, Mittelamerika – wo der Bergbau weniger entwickelt war als in Chile oder Peru im Süden – wurden zur neuen Bergbaufront des Kontinents. In Venezuela, wo das bolivarische Militär bereits freie Hand hatte, südlich des Orinoco Bergwerke zu eröffnen, forderte Präsident Nicolás Maduro die Venezolaner*innen auf, »zur Förderung des nationalen Sparplans Gold des Berglands von Guyana, das Gold des Volkes, zu kaufen«, als handele es sich dabei um einen revolutionären Akt chavistischer Loyalität. Im Norden dagegen waren Alaska, der Klondike und Nevada erneut Ziele des illusorischen Traums der Schatzsucher*innen und Goldbugs der Ära der Angst im 21. Jahrhundert.

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Nach einem Protesttag der Bergarbeiter*innen in Medellín und Caucasia, der mit heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei und mindestens einem Toten endete, kehrten die Goldsucher*innen an ihre Arbeit im Orlando-Bergwerk in Amalfi zurück, das an einem kleinen Nebenfluss des Stroms Cauca in der grünen Berglandschaft im Nordosten von Antioquia liegt. Während zwei Bagger tonnenweise zementfarbenen zähflüssigen Schlamm unter einen Druckwasserschlauch kippten, in der Hoffnung, dass die ablaufende Flüssigkeit ein paar Goldnuggets zum Vorschein bringen würde, machten sich rund zweihundert Barequeros daran, in den Bergen von Schlammresten auf eigene Faust Goldklumpen zu suchen. Sie gruben mit Schaufeln in dem grauen Schlamm, den die Caterpillar-Bagger zurückgelassen hatten, und warfen ihn in die Waschpfannen. Dann wateten sie bis zur Hüfte in das milchig-trübe Wasser, um auf der Suche nach gelben Teilchen in den Trögen zu rühren.

Die Szene erinnerte an die dantesken Bilder des brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado von verzweifelten Garimpeiros, einer sehr anschaulichen Dokumentation der Elenden der Erde. Aber diese kolumbianischen Barequeros beschwerten sich nicht über ihr Schicksal, sondern lächelten stolz und verteidigten die Würde ihrer Arbeit. Wie Spieler*innen im Kasino verfochten sie die Freiheit des Zufalls gegenüber der Arbeitsmonotonie der Lohnsklav*innen in den großen Bergwerken der multinationalen Konzerne in der Sierra. »Hier entscheiden wir selbst, wann wir arbeiten gehen«, erklärte mir Raúl Duque, ein 35-jähriger Barequero, mit Augen, die so grün waren wie die Smaragde, die auf der anderen Seite der Sierra abgebaut wurden. Er war Vater von drei Kindern und Eigentümer einer bescheidenen Wohnung im Dorf. »Es gibt Tage, an denen du verdienst, und Tage, an denen du Verluste machst.« Er hob die Waschpfanne hoch und zeigte mir das Goldnugget, das sich funkelnd von dem grauen Stahl abhob. Die anderen Bergarbeiter*innen näherten sich und ich machte ein Foto von ihnen mit dem Nugget, das genauso strahlte wie ihr Lächeln. An jenem Nachmittag verkauften sie das Gold im Dorf für achtzehntausend Pesos, rund neun US-Dollar. Das war nicht viel. Nur ein Drittel von dem, was viele verdienten, als sie noch Kokablätter ernteten, bevor die gegen Drogen gerichteten Maßnahmen des US-amerikanischen Militärprojekts Plan Colombia die Anzahl der Barequeros in der Region um mehr als 100.000 Seelen anwachsen ließen.

Der Ex-Barequero und Eigentümer des Orlando-Bergwerks holte dagegen mehr als ein halbes Kilo Gold am Tag aus der Mine, und das zu einem Zeitpunkt, als die Feinunze auf dem internationalen Markt zum Preis von 1.500 US-Dollar gehandelt wurde. Aber die Barequeros waren dankbar für die nicht schriftlich festgelegte Vereinbarung, nach der der Eigentümer des kleinen Bergwerks sie in den Schlammresten ihr Glück suchen ließ. »Wenn das Bergwerk nicht arbeitet, dann arbeiten wir auch nicht«, erklärte mir einer von ihnen. In den Ganglagerstätten von Segovia, hundert Kilometer nordöstlich von Amalfi, holten die Barequeros das Gold mit Hacken und Dynamit direkt aus dem Felsen.

Der informelle Goldbergbau im Nordosten von Antioquia hat eine sehr lange Geschichte. Als 1540 die Spanier kamen, lebten in der Region bis zu einer Million Menschen in einer Gesellschaft, die über ein fortschrittliches Landwirtschaftssystem, umfangreiche Bergbautätigkeiten – sowohl Gold und Kupfer als auch Salz – sowie zentralisierte Machtstrukturen verfügte. Die Mitglieder dieser Gesellschaft, die Quimbaya, nutzten für die Goldgewinnung Techniken, die denen der heutigen Barequeros der Flüsse von Amalfi und der Felsen von Segovia sehr ähnlich waren, wobei sie natürlich nicht über Caterpillars für den massiven Erstaushub des Schlamms verfügten. Aber den Quimbaya ging es nicht um die Menge. Gold hatte einen ästhetischen und spirituellen Wert, und dieser diente, genau wie es dann auch später sein sollte, der Zurschaustellung der Privilegien der Elite.

Ein paar Monate vor meiner Reise hatte ich mit Staunen im Museo de América in Madrid eine spektakuläre Ausstellung über die Goldschmiedekunst aus der Zeit der Quimbaya zwischen 500 und 1000 n. Chr. besucht. Die Objekte waren in Filandia, einer Gemeinde am mittleren Cauca, in einem unterirdischen Grab gefunden worden, wo sie vor den Plünderungen der Spanier sicher gewesen waren. Anhänger in Form von Schnecken oder Eidechsen, Pektorale, Nasenschmuck, Ohrgehänge, Schellen, Halsketten sowie kürbisförmige Behälter für Koka und Kalk, der verwendet wurde, um die Wirkung der Droge zu steigern. Die Minifiguren der Quimbaya-Kazik*innen, sowohl Männer als auch Frauen mit halb geschlossenen Augen und filigranen Körpern, waren ein Beweis für die erstaunliche Technik ihrer Goldschmiedekunst. Sie wurden mithilfe von Formen und Bienenwachs modelliert. »Die Herstellung dieser Objekte aus Gold folgte nicht irgendwelchen Modetrends, und es wurde auch nicht mit ihnen gehandelt. Gold war aufs Engste mit dem religiösen Leben verknüpft«, erklärte Ana María Falchetti, Expertin des Goldmuseums Museo del Oro in Bogotá. Warum sich diese Schätze der Quimbaya in dem wenig bekannten Museum im Universitätsbereich der spanischen Hauptstadt befinden und nicht in dem international bekannten Museum der kolumbianischen Hauptstadt, fragen wir uns besser erst gar nicht.

Nachdem sie in einem handlackierten bunten Bus die rund 150 Kilometer nach Medellín zurückgelegt hatten, schlossen sich die informellen Bergarbeiter*innen des 21. Jahrhunderts – sowohl Kleinunternehmer*innen als auch Barequeros – vor dem Regierungssitz weiteren Tausenden von Demonstrant*innen an. Sie protestierten nicht gegen die informelle Wirtschaft in den Minen, sondern verteidigten diese gegen die Verabschiedung des verhassten Bergbaugesetzes, durch das der Sektor reguliert und die Bergarbeiter*innen ohne Eigentumstitel ausgeschlossen werden sollten. Die Polizei und das Militär waren mit in den USA hergestellten M16-Sturmgewehren in Amalfi unterwegs und hatten in den vorausgegangenen Wochen alles darangesetzt, Hunderte illegaler Bergwerke zu schließen sowie Bagger, Benzin und sogar Goldnuggets zu beschlagnahmen. Die Zukunft von anderthalb Millionen informellen Bergarbeiter*innen stand auf dem Spiel, und wenn man ihre Familien hinzuzählte, die von fünf Millionen Menschen. Der Regierung zufolge waren diese Maßnahmen für die Regulierung des Sektors, seine Befreiung vom organisierten Verbrechen und den Umweltschutz erforderlich. Die Bergarbeiter*innen von Amalfi betonten immer wieder, dass sie kein Quecksilber verwendeten, um das Gold aus dem Schlamm zu lösen. Aber in den Mineralgängen von Segovia wurde das Gold mithilfe einer Mischung aus Melasse, Zitrone und Quecksilber, die im Kontakt mit dem Metall reagierte, aus dem gemahlenen Gestein gewonnen. Die Konzentration von Quecksilber in der Luft – einem Metall, das sich nicht abbaut – war in den Sierras so hoch, dass während der Tests ein Messgerät Jerome 431 explodierte.

Die Barequeros sahen jedoch noch einen anderen schwerwiegenden Grund, warum die Behörden sowohl des ultrakonservativen Präsidenten Álvaro Uribe als auch seines liberaleren Nachfolgers Juan Manuel Santos derart hart gegen die informellen Bergarbeiter*innen vorgingen, nachdem fünfhundert Jahre lang die Augen zugedrückt worden waren. »Die Regierung will die multinationalen Konzerne anlocken«, erklärte mir der fünfundvierzigjährige Alisandro Guzmán aus Remedios, einem anderen Bergarbeiterort des Gebirgszugs von Antioquia, während er im Amalfi Gold wusch. Uribe hatte stark auf Bergbau und Erdöl als strategische Sektoren für seine vom IWF abgesegneten Wirtschaftspläne gesetzt und beschlossen, die Sierras und Regenwälder Kolumbiens unter wesentlich großzügigeren Bedingungen für ausländische Investitionen zu öffnen als seine Vorgänger. Bevor er 2010 den Präsidentenpalast in Bogotá verließ, hatte er mindestens tausend neue Konzessionen erteilt. Santos war sich zwar der Narben der offenen Adern bewusster, verfolgte aber dieselben Ziele. Je mehr weite, zuvor von der Guerilla kontrollierte Teile des Landes durch den Friedensprozess verfügbar wurden, desto bessere Chancen witterten die multinationalen Bergbaukonzerne. An der Spitze standen die Kanadier, deren Komplizenschaft mit den korrupten Regierungen Lateinamerikas und sogar mit gewalttätigen Gruppen der Paramilitärs und der Drogenmafia den Ruf Kanadas als das sozial- und umweltverantwortlichste Land der Amerikas widerlegte.

Die Börse von Toronto war bereits die bedeutendste Kapitalquelle der multinationalen Bergbaukonzerne, und ihre Geolog*innen und Ingenieur*innen zogen als Umweltschützer*innen verkleidet durch die Region und suchten nach Metallen. Die neuen Eroberungen machte ein erhebliches Greenwashing erforderlich. Nachdem Greystar in Kolumbien mehrere Bergwerke eröffnet hatte, änderte das Unternehmen im Rahmen eines ökologisch korrekten Markenwechsels seinen Namen auf »Eco Oro« (Öko-Gold). »Das Quecksilber verursacht gesundheitliche Schäden, deshalb muss die Situation der informellen Bergarbeiter*innen in Kolumbien reguliert werden«, erklärte Jean Martineau, Geschäftsführer des Bergbauunternehmens Dynacorp mit Sitz in Montreal, das in Kolumbien nach neuen Möglichkeiten suchte, und er schien es sogar ernst zu meinen. Jean stammte aus Québec und – offen gegenüber der Kultur – hatte er in seinem Büro ein im Stil Diego Riveras gemaltes Bild von armen Landarbeiter*innen aufgehängt. Aber es fiel schwer zu glauben, dass sein wichtigstes Ziel in Lateinamerika der Schutz der Natur oder der indigenen Kultur war. Ein weiterer Kommentar verriet vielleicht eher die eigentliche Anziehungskraft, die die Region auf die nach dem Eldorado 2.0 suchenden Kanadier ausübte: »In Kanada müssen wir in mehr als hundert Metern Tiefe unter der Erde suchen. Und dann kommst du in die Anden, und da liegen die Minerale direkt vor deinen Augen!«, sagte er begeistert. Bald sollte ich den Grund seines Enthusiasmus mit eigenen Augen sehen, bei meinem Besuch der enorm großen Tagebaubergwerke, die die Kanadier in den Sierras Mittelamerikas ausgebaggert hatten.

Dabei ging es nicht nur um Fragen der Umwelt. Mit Zustimmung der Regierung Uribe hatte ein anderes kanadisches Unternehmen, Gran Colombia Gold mit Sitz in Toronto, die Bergbaugenossenschaft Frontino in Segovia aufgekauft, die sich zuvor in den Händen der Arbeiter*innen befunden hatte. Nachdem sie fünfhundert von ihnen entlassen und aus sicherer Entfernung zugesehen hatten, wie die Paramilitärs bei den anschließenden Protesten einige der Arbeiter*innen erschossen, begann das Unternehmen, den nun in ihren Bergwerken als Barequeros arbeitenden Bergarbeiter*innen das Gold zu Preisen weit unterhalb des Marktpreises abzukaufen. Die Barequeros, die auf diese klassische Weise, die bereits Galeano in seinen Reportagen beschrieb, wie Sklav*innen an das ausländische Unternehmen gebunden waren, hatten die Wahl, den von dem kanadischen Bergbaukonzern angebotenen Preis zu akzeptieren oder wegen illegaler Tätigkeit festgenommen zu werden.

Zwei Mitglieder des Vorstands von Gran Colombia Gold waren Ex-Minister der Regierung Uribe. Als das kanadische Unternehmen die Schließung einer Reihe illegaler Minen in Segovia erzwang, die noch auf ihren Konzessionsgebieten in Betrieb waren, kam es in der gesamten Region zu einem Generalstreik, der ersten massiven Mobilisierung einer neuen Protestbewegung, die die politische Szene Kolumbiens verändern sollte. Auch AngloGold Ashanti stieß auf heftigen Widerstand der Bevölkerung. Das gigantische südafrikanische Unternehmen hatte für sein Tagebauprojekt in La Colosa, der größten Goldlagerstätte Südamerikas, Konzessionen für riesige Gebiete im Norden von Cali erworben. Bei einer Abstimmung in Cajamarca, dessen Wasserversorgung direkt durch die Abbaukonzession bedroht war, stimmten über 80 Prozent der Bevölkerung gegen das Bergwerk. Ashanti gab das Projekt auf. Es war ein großer Sieg für die Kampagne gegen die großen Bergwerkskonzerne. Die Proteste nahmen zu, und in Hunderten von Orten kam es, dem Beispiel von Cajamarca folgend, zu einem Ausbruch direkter Demokratie. Das kolumbianische Verfassungsgericht entschied, dass sich auch Gran Colombia Gold einer Volksabstimmung unterziehen müsse. Der Bergbaukonzern Mubadala mit Sitz in Abu Dhabi löste kurz danach einen weiteren Massenprotest aus, denn er plante in der ökologisch sensiblen Gegend von Paramo de Santurban, dem Wassereinzugsgebiet von 70 Prozent der Flüsse Kolumbiens, den wie sie hofften produktivsten Gold-Tagebau Südamerikas anzulegen. Es handelte sich um ein weiteres Gebiet im Osten Kolumbiens, in dem der Rückzug der FARC-Guerilla den Weg für internationale Agrobusiness- und Bergbauunternehmen sowie für immer noch plündernde paramilitärische Gruppen freigemacht hatte. Die neue Bewegung gegen die Ausbeutung hob den Ex-Guerillero und Bürgermeister von Bogotá Gustavo Petro an die Spitze einer neuen anti-extraktivistischen Linken in Kolumbien, der es gelang, eine große Koalition von den Kleinbauern und -bäuerinnen des Cauca bis hin zu den jungen Akademiker*innen in Bogotá zu mobilisieren. Damit wurde zum ersten Mal in der Geschichte Kolumbiens die oligarchische Macht herausgefordert. Petro benannte die Linke um in »Bewegung des Lebens« gegen »die Kräfte des Todes«: die Erdöloligarchie, multinationale Bergbaukonzerne und den Klimawandel. Das waren einige der Ideen, die hinter den großen Mobilisierungen im Herbst 2019 in den Straßen Bogotás standen.

Die Barequeros in Antioquia sahen sich von anderen, noch viel finstereren Interessen als denen der kanadischen Bergwerksunternehmen bedroht. Bei einem Tinto (Kaffee) in einer Cafeteria im Zentrum von Amalfi erklärte mir eine Gruppe von Besitzer*innen kleiner Bergwerke – einige mit Eigentumstiteln, andere ohne –, wie das System der Vacuna (Impfung) funktionierte, einer ganz und gar nicht revolutionären Steuer, die seit Jahren von den Paramilitärs und ein paar der unnachgiebigsten Guerillagrüppchen eingetrieben wurde. »Sie haben zwei meiner Brüder umgebracht und einen dritten entführt«, sagte Octavio, ein ehemaliger Barequero, der ausreichend Kapital angesammelt hatte, um drei kleine Bergwerke zu eröffnen. »Sechs Maschinen haben sie mir angezündet und drei meiner Arbeiter erschossen, weil sie die Vacuna nicht gezahlt haben«, erklärte er mit gedämpfter Stimme und blickte dabei verstohlen um sich. Andere kleine Bergwerksunternehmer bezahlten die Steuer. »Ich habe vier Millionen pro Maschine gezahlt«, sagte einer. Das Interesse des organisierten Verbrechens ging über die Schutzgelderpressung hinaus. Sowohl die Bergwerke als auch das daraus gewonnene Gold konnten gekauft und verkauft werden, um Geld zu waschen. Wie der Publizist Alfredo Molano Bravo mit schwärzestem kolumbianischem Humor bemerkte, waren sich die Paramilitärs und die Drogenmafia nun sehr wohl bewusst, dass die von den Barequeros benutzten Waschpfannen »nicht nur zum Goldwaschen, sondern auch zum Waschen der Dollars« nützlich waren. Laut Präsident Santos hatte das Goldgeschäft in Kolumbien den Drogenhandel als Haupttriebfeder von Gewalt und Geldwäsche in den Schatten gestellt. Denn was könnte schließlich besser geeignet sein als Goldbarren, um das Vermögen der Anführer des organisierten Verbrechens zu waschen? Trotz des Friedensprozesses und der Abgabe der Waffen durch die FARC strichen die Paramilitärs und einige Guerillamitglieder noch immer plündernd durch die Berge von Antioquia, dem Epizentrum einer grausamen Gewalt, die 47.000 Kleinbauern und -bäuerinnen von ihrem Land vertrieben hatte.

Die Maßnahmen zur Regulierung des Sektors fielen zeitlich mit den Prozessen gegen Exporteure des kolumbianischen Golds wegen Geldwäsche und illegalem Export von Gold in die USA und nach Europa zusammen (z.B. gegen Goldex oder ein Unternehmen, das kurioserweise den Namen Escobar trägt und seinen Sitz in Medellín hat). Vor der Demobilisierung der FARC hatten sie Gold aus Bergwerken gekauft, die von der Guerilla und Furcht erregenden paramilitärischen Gruppen wie den Urabeños kontrolliert wurden. Letztere hatten eine ausgesprochen freundschaftliche Beziehung zu Uribe unterhalten, als dieser Gouverneur von Antioquia gewesen war und von seiner immens großen Ranch außerhalb von Medellín aus stillschweigend Erpressung und Gewalt durchgehen ließ. Die Paramilitärs waren keine sympathischen Typen. »Am liebsten köpfen sie die Leute und spielen dann mit dem Kopf Fußball«, erklärte mir Lucy, Ex-Guerillera der FARC, die ich an der Grenze zu Venezuela kennengelernt hatte. Kolumbien war auf dem besten Weg, sämtliche Rekorde zu brechen, was die Anzahl ermordeter Umweltaktivist*innen – und nicht weniger Journalist*innen – betraf. Viele von ihnen wurden getötet, weil sie die Bergbauaktivitäten oder die Erpressung und Versklavung der Barequeros öffentlich angeklagt hatten. Hunderte von demobilisierten Mitgliedern der FARC-Guerilla, die mit der Durchführung nachhaltiger Umweltprojekte beauftragt waren, oft in Gebieten, die für die Bergwerksunternehmen interessant waren, wurden niedergeschossen. Nichtsdestotrotz kaufte die Schweizer Edelmetallraffinerie Metalor mit Sitz in der schönen Stadt Neuchâtel am Ufer des gleichnamigen Alpensees Gold von den Exporteuren aus Medellín und brachte den Mafias exzellente Gewinne ein. Aber das war noch nicht alles. Es gab Anzeichen dafür, dass Mafias die Geschäftsführungen der multinationalen Bergwerkskonzerne unterwanderten. Das kanadische Unternehmen Continental Gold hat zugegeben, dass sein stellvertretender Geschäftsführer für die Oficina de Envigado gearbeitet hatte, das frühere Medellín-Kartell von Pablo Escobar.

Während die Santos-Regierung ihre Offensive gegen die Barequeros als einen Gegenangriff auf das organisierte Verbrechen bezeichnete, blieben die informellen Bergarbeiter*innen in Amalfi misstrauisch. Vom einfachsten Barequero bis zu den Kleinunternehmer*innen mit fünf oder sechs Baggern glaubten alle, dass die Hetzjagd, der sie seitens des Staats und der bewaffneten Gruppen ausgesetzt waren, Teil ein und derselben Strategie waren, die die multinationalen Konzerne und die Regierung vereinbart hatten, um sie auszubooten.

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Zwei der außergewöhnlichsten Anhänger aus der Quimbaya-Sammlung des Museo de América in Madrid sind aus Tumbaga hergestellt, einer Legierung aus Gold und Kupfer, und weisen die gleiche filigrane Ästhetik auf wie die Kunst der präkolumbianischen Gesellschaften der mittelamerikanischen Regionen, die heute Panama und Costa Rica bilden. Es handelt sich um die Anhänger aus Darién. Alle dort gefundenen Objekte stellen eine menschliche Figur dar, mit flachem Gesicht, einer aus Spiralen bestehenden Nase, schematisch dargestellten Armen und Händen sowie zwei Stöcken, wie sie die Schaman*innen bei ihren kosmologischen Erkundungen noch heute verwenden. Bei genauerer Betrachtung lassen sich an den Enden halbkreisförmige Wölbungen erkennen. Laut neuesten Studien stellen sie die halluzinogenen Pilze dar, die die präkolumbianischen Schaman*innen rauchten, um höhere Bewusstseinsebenen zu erreichen. Der Wert derart genialer Kunstwerke kann nicht einfach auf den weltlichen Preis eines Goldbarrens reduziert werden. Einer dieser Anhänger wurde unter den Pyramiden der Maya-Stadt Chichén Itzá im mexikanischen Yucatán gefunden, zweitausend Kilometer nördlich von Antioquia – ein schlagender Beweis dafür, dass es einen intensiven technologischen und kulturellen Austausch zwischen den verschiedenen prähispanischen Gesellschaften von den Anden bis zum südlichen Mexiko gab. Daher war es nur logisch, meinen Weg entlang der heutigen Goldroute von Antioquia nach Norden fortzusetzen, die Grenze zu überschreiten und die neuen Bergwerke Mittelamerikas zu suchen.

In Coclesito, einem Dorf, in dem rund dreihundert Bauernfamilien inmitten des Urwalds des nordwestlichen Panamas leben, kämpfte der 56-jährige Carmelo Yangüez, dessen quadratisches Gesicht an jene Kaziken auf den Anhängern der Quimbaya erinnerte, seit sechs Jahren gegen das Bergwerk des kanadischen Multis Petaquilla Gold – ein enormer roter Krater in den Bergen, rund fünfzehn Kilometer von seinem Dorf entfernt. Inzwischen begann der Kampfgeist in der Gemeinschaft zu schwinden. »Die Leute fangen an nachzugeben und suchen Arbeit im Bergwerk. Die Lokalpolitiker haben sich an das Unternehmen verkauft«, erzählte er mir auf der Terrasse seines einfachen Holzhauses, in dessen Garten ein Dschungel aus Kaffee- und Bananenpflanzen wuchs. Aus Protest gegen den geplanten Abbau von Gold und dessen Behandlung mit Zyanid inmitten einer Region mit einer üppigen, jedoch sehr empfindlichen Biodiversität hatten die Einwohner*innen von Coclesito und die flussabwärts lebenden indigenen Gemeinschaften zwei Jahre zuvor die unasphaltierte Straße zum Bergwerk siebzehn Tage lang blockiert. Dann kam das Einsatzkommando der Polizei. Ohne das zwingend vorgeschriebene Gutachten zu den Umweltauswirkungen zu erstellen, nahm Petaquilla die Produktion auf und holte jeden Monat siebentausend Unzen Gold aus der Mine, im Wert von mehr als acht Millionen Euro. Nachdem sie derart vor vollendete Tatsachen gestellt worden waren, nahmen viele Indigene die Umsiedlungsangebote des multinationalen Unternehmens an und konsultierten vorher noch nicht einmal einen Anwalt, wie Yangüez erklärte. »Das Unternehmen erzählt viel von Entwicklung, und viele Leute glauben das.«

In der Tat bewies Petaquilla, das Unternehmen mit Sitz im kanadischen Vancouver, in seinen PR-Kampagnen einige Fantasie. Bei einer Fahrt mit dem Jeep auf der Straße nach Coclesito sahen wir die Plakate, auf denen eine lächelnde Comicfigur, der kleine Petaquillín, warnte: »Keinen Abfall aus dem Auto werfen!« Eine doch recht überraschende Umweltsensibilität für ein Unternehmen, das einen ganzen Berg in einen Krater verwandelt hatte. An einem Streckenabschnitt der Straße lagen die von Petaquilla gesponserten Gärten mit ökologischen Produkten, obwohl »da nichts produziert wird«, wie Yangüez klarstellte. Nachdem das Unternehmen 5.000 Hektar Wald für das Bergwerk abgeholzt hatte, forstete es eine Zone am Fluss auf, in der es den Einwohner*innen des Ortes zufolge bereits ausreichend Bäume und Pflanzen gab. In einer weiteren PR-Offensive baute Petaquilla eine neue Schule, in der »die Lehrer*innen kein Wort gegen das Bergwerk sagen durften«, erzählte ein anderer Einwohner von Coclesito.