Good-Bye, Pegasus! - Clara Hermans - E-Book

Good-Bye, Pegasus! E-Book

Clara Hermans

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Beschreibung

Es ist zum Verzweifeln: Was macht so ein alleinerziehender Vater nur alles falsch: die ewige Besserwisserei, hunderterlei Vorschriften, die tagtäglichen Predigten. Der reumütige Lehrer Nicola will sich ändern: Geduld! Geduld! Geduld! nimmt er sich vor. Wie es ihm seine Kollegin, die Frau Sieversen, vormacht. Wenn's halt nur nicht so entsetzlich schwer wäre! Und einen Pegasus? Wozu braucht man den überhaupt noch? Heutzutage geht das Bücherschreiben mit dem Computer ja wie von allein. Aber vielleicht könnte der Pegasus, eh er in Rente geht, dem Doktor Nikola noch schnell seine Rechthaberei austreiben - und dem Zenetti Schorsch seinen Geiz? Oder den Herrn Prantl auf einen Baum hochjagen? Eine kleine Revolution anzetteln? Aus dem Valentin und dem Fritzl richtig gute Freunde machen? Vor allem aber: der ganzen Gesellschaft ein paar verrückte Streiche spielen. Also: Auf geht's, Pegasus!

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Seitenzahl: 255

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Herzlichen Dank an Raymund, ohne den dieses Buch nicht zustandegekommen wäre.

Inhaltsverzeichnis

Gerechtigkeit?

Herr Prantl hat Geburtstag

Warum ‘Pegasus’? Warum nicht ‘Max’?

Selbsterkenntnis, Herr Doktor Nikola!

Das Dichten – eine Katastrophe!

Heimweh nach dem Pegasus

Der Pegasus erregt teils Ärger, teils Bewunderung

Wem gehört denn nun der Pegasus?

Ein wundersamer Luftballon

Fenstersturz

Der Pegasus wechselt den Besitzer

Der Fritzl leidet für die Kunst

Eine Rettungsaktion

Herr Nikola lernt es doch noch, das Schreiben

Nieder mit der Schule!

Lebewohl, Pegasus!

Gerechtigkeit?

Ob andere Buben mit ihrem Vater auch so oft einen Ärger haben wie der Valentin? Wenn ja, das wäre tröstlich!

“Mensch, Valentin!” sagt sein Freund Fritzl. “Glaubst du vielleicht, bei mir ist jeden Tag Friede, Freude, Eierkuchen? Wenn der Papa mit einer Stinklaune abends aus der Praxis kommt?”

Der Fritzl versinkt in Schweigen. In Gedanken überfliegt er, was ihm so in letzter Zeit alles widerfahren ist. Es reicht! Doch ihn bringt das nicht aus der Ruhe. Denn der Fritzl ist ein Philosoph. Einerseits. Der Fritzl ist aber auch ein Schlitzohr. Längst beherrscht er die Kunst, nach Strich und Faden zu tricksen. Wie schafft er das bloß? Genial! Na ja, im Notfall schwebt die Fritzl-Mama in ihrer Güte als rettender Engel über den häuslichen Gewitterstürmen, die es auch bei ihnen gelegentlich gibt.

Dem Fritzl sein Vater ist Zahnarzt. Neiderfüllt seufzt der Valentin: “Du weißt ja gar nicht, was du für ein Glück hast! Von morgens bis abends ist dein Papa in seiner Praxis. Ich dagegen! Meiner ist jeden Nachmittag zuhause! Ein Oberstudienrat! Ein Lehrer!! Ein Pädagoge!!!”

“Was heißt das denn jetzt wieder? Ein Pädagoge?”

“Na, was mein Papa sich so drunter vorstellt. Ein Kinderquäler halt. Einer, der dir hunderttausend Vorschriften macht und von morgens bis abends predigt. Zum Beispiel: Computerspielen verblödet, Sport treiben macht Spaß, Fernsehen ist Gift. Vor allem jedoch, mein Sohn: Lies gute Bücher! Bücherlesen ist wichtig für die Bildung.

Sag, brauchst du vielleicht eine Bildung, Fritzl?”

Der Fritzl kann sich nichts Genaues unter Bildung vorstellen. Eigentlich liegt er dabei ja gar nicht so viel daneben. Aber der Papa vom Valentin meint es mit seiner Bildung natürlich ganz bestimmt nur gut! Allein: dieser Vater ist aufgrund langjähriger bitterer Lehrer-Erfahrungen mit allen Wassern gewaschen. Er misstraut seinem Sohn sozusagen berufsmäßig und hält ihn deshalb so gut es geht unter Kontrolle. Da hat der Valentin doch nicht die geringste Chance! Und gegen “Bildung” gibt es sowieso keine Waffe.

Der Vater vom Fritzl hingegen! Von nichts hat der eine Ahnung, der merkt noch nicht einmal, wie sein Sohn, dieser Schlaumeier, sich durch die Schule und die sonstige Welt beamt.

Nicht immer herrscht Eintracht zwischen dem Valentin und dem Fritzl. Auch unter Freunden gibt’s gelegentlich Zoff. Zum Beispiel, wenn etwas Verbotenes läuft: heimlich beim Fritzl Computerspielen. Mit Schießereien! Oder gemeinsam eine beim Zahnarzt Maier geklaute Zigarette rauchen; dann plagt den Valentin sein Gewissen. Der Fritzl hingegen mandelt sich auf und nennt den Valentin einen Feigling. So ein Angeber! Daraufhin stinkt es jedem – die Sache muss ausgekämpft werden: Krieg!

Lang dauern derart lächerliche Meinungsverschiedenheiten meistens nicht. Aber es könnte schon sein, dass eines Tages ihre Freundschaft auf eine härtere Probe gestellt wird.

In einem Punkt sind sich beide hundertprozentig einig: Das ganze Unglück der Menschheit kommt von der Schule.

Eben deshalb – glaubt nun wiederum der Fritzl – hat der Valentin mit seinem Papa das Große Los gezogen. Und wünscht sich glühend, sein Vater wäre ebenfalls Oberstudienrat. Was für eine connection! Da kann einem in der Schule doch überhaupt nichts mehr passieren! Ein Riesenvorteil für den Valentin!

Der Valentin selber weiß natürlich, dass in Wirklichkeit mit seinem Papa in der Schule nichts, aber auch gar nichts geht. Ein Fünfer bleibt ein Fünfer – und ein Verweis ein Verweis. Der Papa würde doch keinen Finger für ihn rühren bei seinen Kollegen. Im Gegenteil! Der reitet seinen Sohn doch grad’ erst recht hinein!

Deshalb würde der Valentin seinerseits – wenn ihm wieder mal was schiefgegangen ist – sofort mit dem Fritzl tauschen. Weil halt so ein gerissener Hund wie der Fritzl einfach ein sagenhaftes Glück hat im Leben!

“Wer nicht hören will, muss fühlen!” sagt der Doktor Nikola. So ist er, der Papa.

Wieder einmal versaut er seinem Sohn einen wunderschönen Sonntagnachmittag.

Stimmt ja! Bis heute hat der Valentin sich um den verflixten Hausaufsatz herumgedrückt.

Kein Wunder bei dem Thema: “Meine allerlustigste Geschichte".

Jetzt pressiert’s! Morgen ist Abgabe.

Immer noch hängt er an seinem ersten Satz. Dreht ihn so rum, dreht ihn andersrum. Findet ihn uncool. Reißt das Blatt raus. Haut es auf den Boden. Versinkt in Verzweiflung. Mist!

Genau in dem Augenblick, wo er es endgültig satt hat und alles hinschmeißen will, kommt ihm eine Idee.

Und er schreibt:

“Wie kann so ein armer Hund eine lustige Geschichte erzählen, wenn er in seinem ganzen Leben noch nie etwas Lustiges erlebt hat?”

Kein Zweifel – ein super Anfang! Der wird der Deutschlehrerin gefallen! Weil, gute Anfänge – das mag sie!

Aber wie weitermachen? Na, ungefähr so:

“Muss er sich halt eine Geschichte ausdenken!” Jawohl!

Dichten, Valentin, dichten! macht er sich Mut. Meine Güte, das kann doch nicht so schwer sein!

Da! Draußen auf der Straße wiehert ein Pferd! Ein Pferd? Wo kommt das denn her? Hier gibt’s doch nur Autos!

Er will ans Fenster rennen und rausgucken, – aber ausgerechnet jetzt streckt der Papa den Kopf durch die Tür. Wehe, man würde bei ihm einfach so reinplatzen! Bei ihm heißt es: anklopfen! Er ist ja Oberstudienrat – und das hält er für was Besonderes. Haha! Der Valentin weiß doch, dass der Papa heimlich in der ganzen Schule nur “der Weihnachtsmann” heißt – und nicht etwa “der Herr Nikola” oder gar “der Doktor Nikola”. Und nicht gerade beliebt ist. Geschieht ihm recht, denkt der Valentin rachsüchtig. Selber schuld!

Der Doktor Nikola ist Lateinlehrer – und das mit Begeisterung. Nicht einmal im Traum könnte er sich was Schöneres vorstellen. In seiner Verblendung merkt er leider Gottes gar nicht, was das für ein uralter Zopf ist, sein Latein. Das passt doch absolut nicht mehr in unsere Zeit! Das gehört doch längst abgeschafft! Was bringt es einem im späteren Leben denn ein? Nichts! Darüber sollte der Doktor Nikola einmal nachdenken! Dann würde er vielleicht auch ganz schnell begreifen, wie überflüssig heutzutage so ein Lateinlehrer ist.

“Und? Wie läuft’s?” erkundigt sich der Papa. “Überhaupt nicht!” sagt der Valentin verbittert. Das ist ja wieder einmal der reine Hohn! Die Papierknäuel am Boden – sieht er die nicht?

“Wann erlebt man schon was Lustiges? Eigentlich überhaupt nie – das denkt sich bloß diese doofe Deutschlehrerin aus.”

“Das will ich überhört haben, mein Sohn!”

O Gott! Geistesgegenwärtig kommt der Valentin einer Moralpredigt zuvor:

“Dann erklär’ mir doch mal das Thema.”

“Ja, gibt’s denn da ein Problem?”

“’Meine Geschichte’ – heißt es. Aber bedeutet das: Selber erlebt? – oder: Selber ausgedacht? – Kannst du mir das vielleicht sagen?”

Der Herr Oberstudienrat ist verblüfft. Das hat der Valentin ganz richtig erkannt: beides geht. Respekt! Da hat sich die Deutschlehrerin – diese Anfängerin! – ein Ding geleistet. Ihm wäre so was nie passiert. Der Valentin kann es förmlich vom Gesicht seines Vaters ablesen.

“Ist sie nicht eine dumme Kuh – die Sieversen? Sag selbst, Papa!”

Herr Nikola – scheinheilig – meint:

“Sie hat natürlich noch wenig Erfahrung. So was lernt man halt erst mit der Zeit. Aber Du könntest sie doch schon mal auf ihren Fehler hinweisen. Jetzt gleich – in deinem Aufsatz. Ich würde dir gern dabei helfen.”

Mit großen Augen schaut der Valentin seinen Vater an. Im Ernst? Er soll der Lehrerin eins auswischen?

Der Papa merkt, dass er sich vergaloppiert hat. Es ist ihm peinlich. Rasch verabschiedet er sich:

“Na, dann dichte mal schön!” Und draußen ist er

Valentin kann es nicht fassen: so gehen die Erwachsenen also miteinander um.

Aber zugeben würden sie es natürlich nie.

Sowas von Heuchelei!

Die Deutschlehrerin tut ihm auf einmal leid. Damit ist der Valentin völlig aus dem Konzept geraten. Ans Aufsatzschreiben und erst recht ans Dichten ist überhaupt nicht mehr zu denken.

Er sitzt auf seiner ersten Eingebung fest – und da bleibt er sitzen. Es fällt ihm einfach keine Fortsetzung ein.

“Ja, da verreck’!” schreit der Valentin in seiner Verzweiflung.

Wieder einmal versinkt er in dumpfes Brüten. Der Wecker tickt, die Zeit verrinnt – und sicher wartet der Fritzl schon auf ihn. Der hat bestimmt seinen Hausaufsatz längst fertig, der Hundling. He! Wiehert da nicht schon wieder da draußen ein Pferd?

Oh! Jetzt auf die Straße entwischen – dem Fritzl hinter der nächsten Hecke auflauern – und über ihn herfallen, dass dem Fritzl Hören und Sehen vergeht. Seine Wut rauslassen! Und zwar gerade, weil der Fritzl ja überhaupt nichts mit der Sache zu tun hat! grad’ deshalb! So ewas geht natürlich nur bei ganz dicken Freunden, sozusagen als Freundschaftsdienst. Ein entrücktes Lächeln verklärt Valentins Gesicht. Für einen Moment vergisst er sein Aufsatz-Problem. Sich mit dem Fritzl schlägern, das ist überhaupt das Schönste im Leben. Manchmal im Ernst und manchmal zum Spaß. Wichtig ist dabei nur, dass man immer mal wieder austestet, ob das Gleichgewicht der Kräfte noch stimmt? Ist man noch gleich schnell, gleich mutig, technisch auf dem gleichen Level – und vom gleichen Kampfgeist beseelt?

Der Fritzl sieht das genauso.

Dafür hat der Papa natürlich nicht das mindeste Verständnis. Aber der hat sowieso null Ahnung. Ab und zu redet der Doktor Nikola seinem Sohn ins Gewissen: “Schämen solltet ihr euch, du und der Fritzl! Schau uns an, den Herrn Prantl und mich. Ist es nicht schön, wenn zwei Nachbarn wie wir seit Jahr und Tag Freunde sind? Stell dir nur einmal vor, wir Erwachsenen würden uns auch so gottlos herumprügeln wie ihr.”

Ja, ja, die Erwachsenen! Der Valentin schneidet ein grimmiges Gesicht. Er lässt sich von solchen Sprüchen nicht so leicht einwickeln. Er weiß nämlich – und nicht erst seit heute – dass die Erwachsenen den Kindern meistens bloß was vormachen mit ihrem sogenannten “guten Beispiel”. Und das will er dem Papa jetzt einmal hinreiben. Das ist die Gelegenheit!

Denn jetzt weiß er, was er schreiben wird über das saudoofe Thema “Meine allerlustigste Geschichte”. Und dichten braucht er dafür auch nicht. Das hat er nämlich alles haargenau so erlebt, wie er es jetzt in seinem Hausaufsatz erzählen wird.

Zum dritten Mal galoppiert draußen auf der Straße dieses Pferd vorbei und wiehert triumphierend. Aber jetzt hat der Valentin absolut keine Zeit mehr, zum Fenster rauszuschauen und sich um ein hergelaufenes Ross zu kümmern. In atemlosem Tempo schreibt er das erste, das zweite, das dritte Blatt voll. Ein endlos langer Aufsatz wird das – und der macht dem Valentin ausnahmsweise mal richtig Spaß.

Mit hochroten Backen rennt der Valentin kaum eine Stunde später in den Garten hinunter und schwenkt triumphierend sein Heft. Ein Blick auf die Uhr: jawohl, er hat immer noch Zeit genug für den Fritzl. Ihm ist so leicht und wohl ums Herz – das Leben ist auf einmal wieder richtig pfundig.

Der Papa steht am Gartenzaun hinterm Haus und tauscht mit seinem Nachbarn, besagtem Herrn Prantl, seine Erfahrungen aus über den ewigen Kampf mit Schnecken, Blattläusen und anderem Ungeziefer. Wie Gartier es halt wichtig haben. Schon von weitem schreit der Valentin: “Ich bin fertig, Papa! Ich bin fertig!”

“Na gut,” sagt der Papa. “Dann lass hören!” Der Valentin stellt sich in Positur, der Herr Prantl spitzt die Ohren und bewundert liebevoll den Valentin, den er für ein ganz gescheites Bürschchen hält.

“Also, es fängt an” sagt der Valentin feierlich.

“Meine allerlustigste Geschichte”

Pause. Dann:

“Wer noch nie etwas Lustiges erlebt hat, ist wirklich ein armer Hund! Aber er muss nur richtig nachdenken, dann fällt ihm schon etwas ein. So war es auch bei mir! Meine lustigste Geschichte handelt von meinem Papa und unserem Nachbarn, dem Herrn Prantl. Fast hätte ich sie total vergessen. Dabei haben der Fritzl und ich damals schrecklich darüber lachen müssen, natürlich ganz im Geheimen.”

Der Papa erstarrt.

Doch der Valentin liest unbarmherzig weiter.

“Vor drei Jahren sind wir an einem schönen Herbsttag hier in unser Haus eingezogen. Und nebenan der Herr Prantl in seins. Von da an hat der Papa dauernd Gartenbücher gelesen. Er hat nämlich unsern Nachbar, den Herrn Prantl, ausstechen wollen.

Aber das Lesen hat ihm nichts geholfen. Unser einziges Blumenbeet ist ganz kümmerlich dagestanden. Dagegen haben die Beete vom Herrn Prantl schon im ersten Sommer über und über geblüht. Der Papa war so sauer, aber zugegeben hat er’s nicht. Er freut sich über die Blumen vom Herrn Prantl, hat er behauptet. Er gönnt sie ihm, von Herzen, hat er gesagt. Wer’s glaubt, wird, selig!

Im Herbst hat er unserm Nachbarn dann eine Tüte mit Zwiebeln rübergebracht. Er hat gesagt, das sind Lilienzwiebeln. Die blühen weiß und, gelb und, feuerrot und, die schenkt er ihm,. Der Herr Prantl hat sich ganz gerührt bedankt. Der Papa aber hat sich zuhaus vor Lachen ausgeschüttet. Der Herr Prantl wird im nächsten Sommer sein blaues Wunder erleben, hat er gesagt. Weil dann werden bei ihm keine Lilien, sondern Küchenzwiebeln wachsen.”

Der Papa wirft dem Valentin einen furchterregenden Blick zu. Der Herr Prantl schneuzt sich und hält sein Taschentuch vors Gesicht – bestimmt ist es ihm peinlich, was der Valentin da enthüllt. Aber der enthüllt ohne Zögern weiter:

“Mit Lilienzwiebeln hat sich der Herr Prantl damals vielleicht noch nicht ausgekannt. Aber mit Küchenzwiebeln umso besser. Da hat ihm, niemand was vormachen können. Er ist nämlich ein erstklassiger Koch. Nur hab ich das damals noch nicht gewusst. Ein paar Tage später hat er direkt neben unserm Zaun ein kleines Beet gegraben. Hier will er die Lilienzwiebeln vom Papa hinpflanzen, sagt er, ganz nah bei uns, damit wir auch was davon haben, wenn sie nächsten Sommer in voller Pracht blühen. Und dabei hat er ein ganz klein wenig mit dem einen Auge gezwinkert. Ich hab mir gedacht, was das wohl bedeutet? Es waren doch bloß Küchenzwiebeln, die er da eingegraben hat! Aber ich hab’ meinen Papa auf keinen Fall verraten wollen.”

Einen Augenblick ist der Papa ganz gerührt. Aber nur einen Augenblick! Denn gleich geht’s weiter – und der Papa weiß ja, was noch alles an den Tag kommen wird!

“Im Frühjahr drauf ist der Herr Prantl eines Tages ganz scheinheilig zu uns herübergekommen mit einem winzigen Hunderl auf dem Arm. Ob wir den Winzling nicht haben wollen, hat er gefragt. Der hat einen ganz erstklassigen Stammbaum, hat er gesagt. Da hab ich so lang gebettelt, bis der Papa Ja gesagt hat. Natürlich haben wir dem Herrn Prantl geglaubt! Das ist ein hochadeliger Hund, hat er behauptet, absolut reinrassig. Für den würden wir sogar eines Tages einen Preis bekommen – ganz bestimmt! Wir haben ihn Pluto getauft. Der Tierarzt hat furchtbar über unseren hochadeligen Pluto gelacht. Weil nämlich der Pluto bloß eine Promenadenmischung ist. Der Papa hat getobt! Jetzt ist ihm, endlich, ein Licht aufgegangen, dass der Herr Prantl ihn hereingelegt hat. Gottseidank habe ich, den Pluto behalten dürfen, denn er ist ein sehr gescheiter Hund.

Im Sommer hat dann das Beet vom Herrn Prantl über und über voller Lilien geblüht. Es ist einfach eine Pracht gewesen! Da hat der Papa gespannt, dass der Herr Prantl auf die Küchenzwiebeln nicht hereingefallen ist. Heimlich hat er echte Lilienzwiebeln gekauft. Und dann hat er sie mit Absicht dem Papa vor die Nase gepflanzt. So sind der Herr Prantl und der Papa quitt gewesen. Und dann sind sie sogar gute Freunde geworden.”

Und jetzt kommt noch ein guter Schluss – das freut dann die Frau Sieversen!

“Wenn ich einmal den Fritzl mit einer ganz verrückten Geschichte hinaufschieße und er glaubt es, – oder er mich und ich glaube es auch, dann ist es die Schau und sozusagen eine Frage der Ehre, wem seine Geschichte besser ist. Wenn sich aber die Erwachsenen gegenseitig hereinlegen, wie der Papa und der Herr Prantl, so ist das eigentlich eine Beleidigung – und, wie der Papa sagt: Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen!

So was geht halt nur bei Erwachsenen, weil die nämlich einen solchen Ehrgeiz haben. Gottseidank haben die Kinder den noch nicht, weil – der kommt zum Glück erst später.”

Schluss. Lange Pause.

Der Papa schweigt. Der Alois Prantl schweigt.

Dem Valentin wird es ungemütlich. Er versucht sich zu verdrücken.

“Halt! Hiergeblieben!” donnert der Papa und packt den Valentin beim Schlafittchen. Und dann schüttelt er ihn wie einen Hasen:

“Du Mistbub, du elendiger! Schreibt man solche Sachen über seinen Vater? Saugt man sich derartige Lügen aus den Fingern? Ja, schämst du dich denn gar nicht?”

Und er schüttelt und schüttelt ihn. Dem Valentin wird angst und bang. Schließlich wendet sich der Papa an den Herrn Prantl und schreit entrüstet:

“Sie, Herr Prantl, Sie ruf ich zum Zeugen an! Ich soll Ihnen Küchenzwiebeln angedreht haben? Und Sie mir den Pluto? Mit Absicht? Eine Promenadenmischung? Ist das nicht eine Unverschämtheit, was der Valentin da zusammenphantasiert?”

Flammenden Blicks heischt er eine Antwort.

“Ja mei, Herr Nikola,” der Herr Prantl windet und dreht sich. “Das ist halt einmal so beim Aufsatzschreiben. Ich hab mir auch immer irgendwas zusammenreimen müssen. Mir ist auch nie was Gescheites eingefallen. Also – ich an Ihrer Stelle täte mich nicht so darüber aufregen.”

“Feigling!” denkt der Valentin verächtlich. Gelogen soll er sein, der schöne Aufsatz? Inbrünstig wünscht er sich in diesem Augenblick den Weltuntergang herbei – oder wenigstens ein Erdbeben, einen Vulkanausbruch.

Das hat er nun davon: beleidigt, beschimpft, herumgeschüttelt werden, dass ihm total schwindlig ist. “Lügen haben kurze Beine,” behauptet der Papa, ha, wo er selber so schamlos lügt!

Endlich lässt ihn der Papa los, und der Valentin nützt die Gelegenheit. Er flüchtet ins Haus, aufs Klo, wo man sich gottseidank einschließen kann und fürs erste in Sicherheit ist. Er schnaubt vor Wut. “Ich schwör’s”, schreit er. “Heimzahlen tu ich’s denen, – jawohl, allen beiden!” So lässt er eine ganze Weile Dampf ab. Dann verstummt er erschöpft, ist am Schluss bloß noch abgrundtief traurig. Er schleicht die Treppe hinauf in sein Zimmer, legt sich aufs Bett, macht die Augen zu. Was für ein Tag! Welt ade! Valentin weint sich in den Schlaf.

Irgendwann mitten in der Nacht wacht er auf. Totenstille. Im ersten Moment erinnert sich Valentin an gar nichts. Er merkt nur, dass ihm ganz sonderbar zumut ist. Was bedrückt ihn denn so? Hat er vielleicht schlecht geträumt? Dann: wie ein greller Blitz durchzuckt ihn die Erinnerung. Hausaufsatz! Geschüttelt, beschimpft, gedemütigt!

Ein tiefer Seufzer entringt sich seiner Seele. Tag für Tag versucht er, mit dem Papa und dem Rest der Welt in Frieden auszukommen. Manchmal ist das sauschwer, ehrlich! Was für einen Riesenkrach hat es da heute wieder gegeben! Wo er sich so viel Mühe mit seinem Hausaufsatz gegeben hat. Und ist das eine Gerechtigkeit, wenn der Papa den Valentin einen Lügner heißt – wo der wahre Lügner doch der Papa selber ist? Ph, Gerechtigkeit, das gibt’s doch gar nicht auf dieser Welt! Die Kleinen, das sind doch immer die Dummen.

Langsam, niedergeschlagen steigt der Valentin aus seinem zerwühlten Bett, macht Licht, holt Streichhölzer aus der Schublade, nimmt sein Deutschheft, reißt den unseligen Hausaufsatz heraus, geht ins Bad. Im Waschbecken verbrennt er ein Blatt nach dem andern, spült es im Klo hinunter. Im Grund könnte er gar nicht sagen, warum er das macht – er spürt nur dies schreckliche Traurigsein: weil der Papa ihn so behandelt hat – und vielleicht auch, weil er, er selber, den Papa mit seinem Aufsatz echt gekränkt hat. Gekränkt – ja! Eigentlich sogar mit Absicht! Er hat es dem Papa doch hinreiben wollen, nicht wahr? Auf dieser Welt kann es wohl kein Vertrauen und kein Verständnis zwischen Vater und Sohn geben. Dazu sind sie einfach zu verschieden. Schicksal!

Er ist mit seinem Zerstörungswerk gerade fertig, da taucht der Papa auf. Stumm stehen die beiden da, schauen einander an. Was sollen sie auch reden? Das Schweigen dauert eine ganze Weile. Endlich sagt der Papa leise: “Gute Nacht, Valentin”. Und der Valentin sagt: “Gute Nacht, Papa".

Manchmal ist das Gute-Nacht-Sagen wie eine Brücke hinüber in einen friedlichen Schlaf.

Völlig in sich gekehrt geht der Valentin am nächsten Tag seiner Wege – wobei er dem neugierigen Fritzl ausweicht, so gut er kann. Es gibt eben Sachen zwischen Vater und Sohn, die selbst der beste Freund nicht versteht. Über den verunglückten Hausaufsatz mag er mit niemand reden, auch mit dem Fritzl nicht. Der wüsste sowieso keinen Rat, da gibt’s nichts zum Tricksen – Fritzls Spezialität. Denkt der Valentin.

Aber genau das versucht sein Vater an diesem Tag: zu tricksen. Der Aufsatz ist weg. Wie soll das bloß der Valentin seiner Lehrerin erklären? So gut es geht, will deshalb der Doktor Nikola die Schuld auf sich nehmen. Was Besseres als eine Notlüge fällt ihm allerdings dazu nicht ein. Valentins Deutschlehrerin ist neu im Kollegium, und er hat noch nie ein Wort mit ihr gewechselt. Er war bisher der Ansicht, sie solle erst einmal beweisen, dass sie als Lehrerin etwas taugt. Hochmut kommt vor dem Fall! – das passt jetzt ausgezeichnet auf ihn, den Dr.Nikola. Jetzt heißt es nämlich, sich in Demut üben! In der Großen Pause bittet er sie höflich um ein Gespräch.

Und da tischt er nun dieser jungen und in seinen Augen gänzlich unerfahrenen Frau Dr.Sieversen Folgendes auf: der Valentin hat in seinem Hausaufsatz eine unverschämte, eine verlogene, eine angeblich “lustige”, in Wirklichkeit aber äußerst blamable Geschichte über seinen Vater erzählt. Wenn die in der Schule bekannt geworden wäre!! Nicht auszudenken!!! Heute nacht hat er dieses Machwerk zerrissen und in der Toilette runtergespült. Er, der Vater! Und jetzt steht sein Sohn ohne Hausaufsatz da.

Im Nachhinein weiß er natürlich, sagt er, das hätte er nicht tun dürfen. Furchtbar peinlich ist es ihm, sagt er. Und bittet die verehrte Frau Kollegin inständig, für den Valentin Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Im Fall, dass der vielleicht – nur vielleicht! – keinen Ersatz-Aufsatz schreiben müsste, könnte man ihm ja einen Sechser geben? Wäre die verehrte Frau Doktor Sieversen vielleicht mit einer solchen Lösung einverstanden? Wenn ja, dann bitte, bitte: kein Wort zu den Kolleginnen und Kollegen! – und natürlich erst recht nicht zum Valentin. Der hat jetzt einen richtigen Hass auf ihn, gesteht der Vater. Frau Sieversen ist vollkommen sprachlos, wie der Dr.Nikola ihr dieses Vater-Sohn-Drama offenbart. Das muss sie erst einmal runterschlucken. Endlich sagt sie vorwurfsvoll:

“Sie trauen mir also zu, dass ich Sie mit diesem Aufsatz lächerlich gemacht hätte, Herr Kollege?”

Der Doktor Nikola möchte im Boden versinken, so schämt er sich. Was soll er auch sagen, wo er ihr vorher noch nie ein freundliches Wort gegönnt hat! Die Frau Sieversen schweigt – sie schweigt lange, denkt nach. Sie blitzt ihn nur so mit ihren Augen an:

“Also in Gottes Namen. Dem Valentin zuliebe,” sagt sie – fast verächtlich.

Verständnislos schüttelt sie den Kopf. Nein, so was von einem Vater!

Aber irgendwie findet sie dann doch noch ein versöhnliches Ende. Sie zögert ein bisschen.

“Vielleicht bin ich sogar mitschuld an dieser Katastrophe? Das Thema hieß ja “Meine” Geschichte. Die Schüler konnten also entweder eine erlebte – oder eine erdachte Geschichte erzählen. Der Valentin hat das genutzt und hat einfach drauflos phantasiert! Ohne sich dabei etwas Böses zu denken. Könnte es nicht so gewesen sein?”

Sehr kleinlaut steht der Herr Oberstudienrat vor ihr da, jetzt erst recht, – der sonst so hochnäsige Kollege. Man sieht ihm an, wie durcheinander er ist. Aber Mitleid mit ihm hat sie trotzdem nicht. Wohl aber mit seinem Sohn! Denn jetzt begreift sie auch, warum der Valentin sich schlagartig von gestern auf heute so verändert hat: still und blass und gedankenverloren ist er auf seinem Platz gehockt – und laborierte offensichtlich an einem Problem. (Klar! Wie soll er bloß aus dieser Misere mit dem verbrannten Hausaufsatz herauskommen? Von Papas Kuhhandel mit der Deutschlehrerin weiß der Valentin ja nichts.)

Der Doktor Nikola seinerseits schämt sich inzwischen entsetzlich dafür. Niemals in seinem Leben hätte er sich etwas derart Kriminelles zugetraut! Eine Lehrkraft – eine Kollegin! – zum Betrug überreden! Und noch obendrein mithilfe einer faustdicken Lüge! Zugunsten des eigenen Sohnes! Welch ein Skandal!

Und übrigens: wie hätte er wohl auf eine solche Bitte reagiert? Keine Frage, er hätte augenblicklich seinen Direktor alarmiert! Diese Frau Sieversen dagegen hat nicht ein einziges Wort über sein geradezu verbrecherisches Ansinnen verloren. Sie hat ihn nur angeblitzt – aber das ist ihm gewaltig in die Knochen gefahren!

Wie wird aber nun die Frau Sieversen auf das leere Deutschheft vom Valentin reagieren?

Genau darüber zerbricht sich der Valentin unausgesetzt den Kopf. Eine ganze Nacht ringt er mit einem Entschluss, der ihn fast umbringt: er muss seiner Deutschlehrerin irgendeinen Grund angeben, warum er keinen Hausaufsatz geschrieben hat. Aber welchen?

Ach, Valentin – wenn er doch jetzt mit der ganzen, und nicht bloß mit der halben oder Viertel-Wahrheit rausrücken würde! Aber kann er seinen Papa derart verpetzen?

Am nächsten Tag passt Valentin seine Deutschlehrerin nach Schulschluss ab. Sie ist so wenig überrascht, wie er plötzlich vor ihr auftaucht, als hätte sie ihn erwartet. “Frau Sieversen”, sagt der Valentin, “ich muss Sie unbedingt sprechen.” “Ja natürlich”, antwortet die Frau Sieversen, als ob es vollkommen selbstverständlich wäre. “Komm mit ins Sprechzimmer.” Dort setzt sich die Frau Sieversen erst mal hin und bietet auch dem Valentin einen Stuhl an.

Aber der ist viel zu aufgeregt und noch im Stehen legt er los: er hat keinen Hausaufsatz geschrieben, weil er keine Lust dazu hatte und es war ja auch so ein blödes und zweideutiges Thema, und er wird hinterher doch noch einen Aufsatz schreiben, so schnell wie möglich, ja, bis spätestens morgen! Einen ganz langen wird er der Frau Sieversen abliefern. Ob sie ihm jetzt einen Verweis geben wird? Er hat ihn ja verdient! Aber der Papa ... Der Papa wird schrecklich enttäuscht sein von ihm, weil er so ein fauler Schüler ist. Er will aber nie, nie, nie wieder so was machen, das verspricht er hoch und heilig! Und der Valentin redet und redet – und die Frau Sieversen staunt und staunt und weiß nicht, wem sie nun eigentlich glauben soll und wer der größere Lügner von den beiden ist: dieser Doktor Nikola oder sein Sohn Valentin. Und wenn beide lügen? Wie kriegt man da bloß die Wahrheit heraus?

Sie sagt: “Halt! Halt, Halt!” – und mitten im Satz verstummt der Valentin.

“Hör zu! Es ist gut, dass du ehrlich bist und alles zugibst. Deshalb will ich auch Gnade vor Recht ergehen lassen. Du brauchst keinen Hausaufsatz nachschreiben. So schnell schaffst du das ja gar nicht. Aus Gerechtigkeit und zur Strafe muss ich dir allerdings eine Sechs geben. Bist du damit einverstanden? Niemand erfährt etwas davon – und du hast wieder ein reines Gewissen.

Nun sage mir, was du davon hältst, mein lieber Valentin!”

Hat sie wirklich “mein lieber Valentin” gesagt?

“Danke! Danke! Danke!” flüstert der Valentin strahlend. Er kann es noch gar nicht glauben, dass alles ausgestanden ist. Wie leicht ist ihm auf einmal ums Herz. Er hätte die Frau Sieversen am liebsten umarmt. Beschämt denkt er daran, dass er sie noch vor kurzem “doof” genannt hat. Frau Sieversen ist im Stillen froh, dass wenigstens sie selber bei der Wahrheit geblieben ist und dem Valentin seine Sechs nicht verschwiegen hat.

“Grüße deinen Papa und deine Mama!” sagt sie noch. Sie lächelt sogar ein bisschen spitzbübisch. Der Valentin aber schaut plötzlich zu Boden, – ernst, beklommen, weiß nicht, was er sagen soll. Frau Sieversen steht auf, gibt ihm einen kleinen Klaps und entschwindet. Doch dann schaut sie noch einmal zurück, sieht den Valentin wie angewurzelt dastehen mit ganz unglücklichem Gesicht. Eben hat er doch noch vor Freude gestrahlt! Was für einen Reim soll sich die Frau Sieversen darauf machen? Nachdenklich steigt sie in ihr Auto. Der Valentin rührt sich noch immer nicht vom Fleck. Da ist so ein Schmerz, den muss er erst runterschlucken, ehe er langsam hinausgeht. Und wer wartet draußen im Hof auf ihn – und platzt fast vor Neugier? Der Fritzl natürlich ...

Herr Prantl hat Geburtstag

In den folgenden Tagen kann sich der Valentin kaum der unaufhörlichen Fragen erwehren, mit denen der Fritzl ihn löchert. Zum Beispiel, was die Sieversen, die doofe Kuh, von ihm gewollt hat. Daraufhin hört die Freundschaft mit dem Fritzl schlagartig auf. Es kommt zu einer fürchterlichen Prügelei zwischen den beiden, weil die Frau Sieversen eben keine doofe Kuh ist. Mit verbissener Wut verteidigt der Valentin ihre Ehre. Damit der Fritzl, der blöde Hund, einigermaßen kapieren würde, was in den letzten Tagen alles passiert ist, müsste man ihm erst einmal die Geschichte vom Hausaufsatz erzählen – und das wäre dann noch lange nicht die ganze Wahrheit.

Die Frau Sieversen hat er ja auch faustdick angelogen. Eigentlich ist das schlimm, sehr schlimm und die Lügerei verdirbt ihm die Freude ein bisschen. Trotzdem: nach wie vor ist er einfach glücklich über das Gespräch mit ihr. “Mein lieber Valentin” hat sie ihn genannt. Jetzt merkt er erst, dass seit urewigen Zeiten nie mehr irgend jemand so etwas zu ihm gesagt hat. Am liebsten würde er ihr auf der Stelle alles wahrheitsgetreu erzählen, wirklich alles! Aber er traut sich einfach nicht, die Frau Sieversen noch einmal anzusprechen. Außerdem: “Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, und wenn er gleich die Wahrheit spricht”, sagt der Papa. Also würde ihm die Frau Sieversen sowieso kein Wort glauben. Ja, diese Sprichwörter! Wenn sie tatsächlich stimmen, kann man sich ja aufhängen. Man hat überhaupt keine Chance!

Mit dem Fritzl über so etwas diskutieren – nein. Der Valentin spürt, das ist kein Kinderkram, davon kann Glück oder Unglück abhängen, vielleicht auch für ihn. Ach, er wäre froh, er müsste sich über solche Sachen nicht dauernd den Kopf zerbrechen. Eigentlich will er nur seine Ruhe haben.

Mit dem Papa ist er auch noch nicht im Reinen, geflissentlich gehen sich die beiden aus dem Weg. Keiner macht den Mund auf und versucht, offen und ehrlich, ohne Zorn und Hader, mit dem andern zu sprechen. Warum bloß nicht? Es hört nicht auf mit dem Kopfzerbrechen! Seit Tagen wartet der Valentin darauf, dass der Papa endlich einmal mit ihm über den Hausaufsatz und seine Folgen, seine schlimmen Folgen, redet. Nie zuvor hat der Papa ihn geschlagen. Kinder haut man nicht, sagt der Papa. Und warum nicht? Aus pädagogischen Gründen! Haha, dass ich nicht lache! Aber geschlagen hat ihn der Papa ja gar nicht. Bloß geschüttelt. Bloß geschüttelt? Das ist ja noch viel schlimmer! Sauweh tut es ganz tief drinnen im Valentin. Aber es scheint, der Papa hat die ganze Geschichte einfach vergessen. Oder tut er nur so?