Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Vor wenigen Wochen hatte der Lauter seinen langjährigen Freund und Lebensgefährten verloren. Er schwor ihm ewige Treue. So standen die Dinge, als einige Zeit später im Kino ein langweiliger Film seine Aufmerksamkeit auf den Zuschauer neben ihm lenkte. Als der Film zu Ende war, ließ er seinem Nachbarn den Vortritt, ging ihm aber mit achtsamem Abstand ins nahegelegene kleine Café hinterher. Der Unbekannte trank Tee, also bestellte er ebenfalls Tee und eine Portion Marmorkuchen. Alsbald wurde ihm der zum Verhängnis, ...
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 226
Veröffentlichungsjahr: 2015
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Raymund meinen herzlichen Dank
"Abschied, Trennung, Tod. Du bist einfach gegangen, Edgar, hast mich verlassen.
Zwei Jahrzehnte warst du mein Lebensgefährte. Ein letztes Mal mache ich mich auf den Weg nach Sankt Bartholomä, der kleinen Kapelle am Königssee zu Füßen des Watzmanns, wohin wir jedes Jahr an deinem Geburtstag gewallfahrtet sind – und gelobe dir Treue. Für jetzt und für immer."
Das war der Stand der Dinge, als der Lauter einige Wochen später im Nachmittags-Kino einen unendlich langweiligen Film über sich ergehen ließ. Wodurch unwillkürlich sein Interesse auf den neben ihm sitzenden Zuschauer gelenkt wurde. Bei Filmende ließ er seinem Nachbarn den Vortritt, ging ihm dann in achtsamem Abstand hinterher und stellte mit Genugtuung fest, der Unbekannte begab sich ins nahegelegene kleine Café. Er ging weitere hundert Schritte auf und ab, um ein paar Minuten verstreichen zu lassen. Dann betrat er unauffällig das Café. Richtig, da saß er – ein etwa gleichaltriger Mann, und mit "Erlauben Sie, ist der Platz noch frei?" ließ er sich an dem zierlichen Tisch nieder.
Sein Gegenüber trank Tee, er bestellte ebenfalls Tee – und eine Portion Marmorkuchen. Alsbald wurde der ihm zum Verhängnis. Schon beim ersten Bissen blieb ihm ein Krümel im Hals stecken, und es überfiel ihn ein Hustenanfall von solcher Gewalt, dass sein Gegenüber allen Ernstes zu fürchten begann, er kollabiere oder ersticke daran. Er klopfte dem Hustenden ohne Erfolg auf den Rücken, zog ihn schließlich vom Stuhl, schob, schubste ihn fast mit Gewalt zur Toilette, riss die Tür auf, dem Unseligen die Hose runter – und: "Husten Sie sich aus! Ich warte draußen!" – damit stieß er ihn auf den rettenden Sitz.
Es war vermutlich das Vernünftigste, was man mit dem schon halb Erstickten anstellen konnte. So, ganz für sich allein und hinter verschlossener Tür aller Publikumsneugier entzogen, ließ der Husten wunderbarerweise bald etwas nach und beruhigte sich dann vollends.
Nachdem der Lauter etwas Atem geschöpft hatte, erhob er sich, um seinem draußen vor der Türe wartenden Retter zu danken. Der aber war unauffindbar. Er hatte die Rechnung sowohl für seinen eigenen Verzehr wie für den des Fremden samt Trinkgeld beglichen.
Der Lauter flüchtete sich sofort wieder zurück in sein Asyl, tief gedemütigt von seiner derzeitigen leiblichen Unansehnlichkeit: er sah sich benässt und beschmutzt. Der teuflische Husten hatte sämtliche muskulären Sperren gelöst, den bedauernswerten Lauter entmächtigt und seiner Erniedrigung preisgegeben.
So also saß der Lauter nun auf seinem Sitz hinter verschlossener Tür und schämte, schämte sich seiner derangierten Person.
Nach einiger Zeit ermannte er sich, stand auf, suchte und fand einen Notausgang.
Lange quälte ihn die bittere Erfahrung, wie man als zivilisierter Mensch – schuldlos! – vom einen Moment zum andern seine Würde verlieren, sich selbst physisch zum Ekel werden kann. Doch es sollte noch schlimmer kommen!
Eines schönen Sommertags, nachdem er bei einem Ausflug in einer Landgaststätte angenehm zu Mittag gespeist hatte, verirrte sich der Unglückliche, einem unschuldigen Bedürfnis folgend, ins "Damen". Dort baute sich plötzlich ein weibliches Busen-Hochgebirge vor ihm auf, dessen fleischlicher Übermacht er sich mit weit abwehrender Geste verzweifelt zu erwehren versuchte. Auf Armeslänge Distanz wahrend, löste er gerade dadurch die furchtbaren Wut- und Hilfeschreie der sich attackiert wähnenden Dame aus.
Man legte den Lauter nicht gerade in Ketten, doch bestand die Dame unerbittlich darauf, die Polizei einzuschalten, um ihn, ausreichend protokolliert, wegen versuchter Vergewaltigung später anzuzeigen. Warum sonst hätte er sich in die Damen-Toilette geschlichen? Doch nur, um die Klägerin, sein hilfloses Opfer, an sich zu reißen! – und ihr Gewalt anzutun!
Glaubwürdig legte der Lauter bei der Gerichtsverhandlung dann mit anwaltlicher Hilfe dar, er habe, gedankenversunken, ganz einfach die Tür der Damen-Toilette mit der Tür für Männer verwechselt. Von jeher seien seine Sinne ausschließlich auf seinesgleichen gerichtet, niemals auf weibliche Wesen. Zum Beweis musste er auch noch offenbaren, er habe mit seinem Freund Edgar zwanzig Jahre lang ehelich zusammengelebt, bis zu dessen kürzlichem Tod. Das war Lauters Rettung.
Zwar verhalf ihm seine Homo-Ehe zum richterlichen Freispruch, verursachte jedoch einen hochmoralischen Aufruhr beim Großteil des Publikums. Mit lautstarken Schmährufen verfolgten ihn rüstige Pensionäre aus dem Gerichtsgebäude hinaus, bis die Polizei sie vertrieb.
Es brach ihm das Herz.
"Das, Edgar, Teuerster! war für mich am Schlimmsten: dass auch du noch hineingezogen wurdest. Kübel voll Schmutz gössen sie über dich aus! Ich hasse sie alle!"
Ein bis dahin stets friedlich gesonnener Lauter schwor, er werde – mit Schmach und Schande bedeckt – der ganzen Welt ihre Demütigungen heimzahlen. Mit einer einzigen grandiosen UNTAT.
Und wen sollte sie treffen? Wer trug die Schuld an seinem Desaster? Natürlich dies Weib in der Damen-Toilette. Dies Weib aller Weiber! Rache!
Dafür brauchte er jetzt erst einmal ein teuflisch gutes Konzept, dann, auf höchstem Niveau, einen erstklassigen Plan – und zum Schluss eine triumphale Exekution! Er schwelgte im Blutrausch.
"Vor allem: weg mit meiner Mitmenschlichkeit! Am Ende schmilzt sonst meine ganze Wut in Philantropie und humanitärem Gesäusel dahin!"
Dies ewige Strohfeuer im Kopf! Lauters enttäuschendste Selbsterfahrung: dass er sich mit allzu viel Nachdenken immer nur selber im Weg stand. Dass die schönsten Pläne total kaputtgedacht werden konnten. Dass er sich vor diesem verflixten Nachdenken unbedingt hüten musste! Und dass es für ihn letztlich dann doch kein Entkommen vor diesem Denken gab.
"Meine Schwachstelle!"
Schwankend, irrlichternd, labil, ein bisschen clownesk. So war er eben: um sich nicht mit seiner ewig moderaten Laune zu langweilen, ergab er sich gerne zuweilen der Melancholie. Oder er fühlte sich gar bemüßigt, als Misanthrop die Menschheit ganz allgemein zu verunglimpfen – sie am übernächsten Tag jedoch wieder als im Durchschnitt für ehrenwert zu erachten. Obwohl er Extreme hasste, sie für gefährlich hielt, warf er sich ihnen hin und wieder der Abwechslung halber gradezu in die Arme.
Zeitlebens verhedderte er sich so im Hin und Her seiner Definitionen, Verklausulierungen, Luftsprünge, warf heute um, was er gestern beschworen hatte, morgen vielleicht aufs neue geloben und schon übermorgen wieder abschwören würde. Aber er machte das immer nur mit sich selber aus, belästigte niemanden mit seinen Faxen und nahm sich nicht allzu wichtig. Man hätte das ganze Für und Wider bestenfalls für eine Art geistiges Training mit allerlei harmlosen gymnastischen Verrenkungen halten können, die letztlich niemandem Schaden zufügten.
Sowieso hatte sein Freund Edgar diesem Wirrwarr die ganzen Jahre sachte gegengesteuert. So konnte bis zu Edgars allzu frühem Tod ihrer beider Leben stets klar, überschaubar, geradlinig verlaufen, als wäre alles aufs Ordentlichste vorherbestimmt. Jetzt, wo Edgar fehlte, galt alles nur noch vorläufig, musste neu eingerichtet, justiert werden. Die Tage schlingerten so dahin und der Lauter fragte sich: "Geht das jetzt mit mir immer so weiter? Dass ich mich in meinem Leben überhaupt nicht mehr auskenne?" Wochenlang war er durch Edgars Tod wie gelähmt.
Dann kam die Toiletten-Geschichte mit der nachfolgenden Gerichtsverhandlung. Und jetzt spielte ihm seine Phantasie die Rache-Idee zu, als handle es sich um das glamouröse Herrichten eines neuen Verkaufsobjekts. Es erst einmal zur Einführung mit ein paar einschlägigen Zeilen bedichten – und dann mit Donnergetöse auf den Markt werfen! Das Dichten und das Getöse gehörte zu seinem früheren Beruf, er hatte es als Reklame-Mensch aufs Sublimste beherrscht und zugleich verachtet, denn es diente ja nur dazu, die Menschen für dumm zu verkaufen.
Das Wie, Wo und Wer? der geplanten Untat gab seinem Dasein wieder ein Ziel, ihm selbst einen ganz unerwartet neuen Schwung. Die Wochen vergingen, wohlgemut trödelte er jetzt vor sich hin, während er – ohne Zeitdruck, anders als in seinem früheren Beruf – unentwegt Entwürfe, Entwürfe, Entwürfe für sein Racheprojekt hervorbrachte. Irgendwann würde er einem sachverständigen Konsortium ein großartiges Konzept vorlegen – wenn auch, wie üblich, mit den allergrößten Selbstzweifeln und dem neurotischen Vorschlag, es am Besten einzustampfen, da komplett misslungen – während es ihm die Kollegen begeistert aus den Händen rissen.
Ach nein, das war ja vorbei! In einsamer Stille, unter Verzicht auf ein beifallspendendes Gremium musste er seinem Gehirn einen exorbitanten Plan für seine zukünftige Tat entringen – nach und nach und Zug um Zug bis ins kleinste Detail!
Zeit, viel Zeit kostete das. Entnervt entschloss er sich eines Tages zu einem weiteren Kinobesuch, hoffte im Stillen, dort seinem damaligen Nachbarn und Retter wiederzubegegnen. Und siehe da – wer stand vor der Kasse an? Da wollte sich der feige Lauter dann doch lieber schnell verdrücken. Aber er war schon erkannt und man winkte ihm freundlich zu. Wohl oder übel musste er darauf eingehen.
"Nett, dass wir uns wiedersehen. Wie geht’s Ihnen?"
"Schlecht!" antwortete der Lauter. "Ich bin zum Menschenfeind geworden. Oder eigentlich zum Misogyn… Zum Weiberhasser!"
"Wie das?"
"Mir hat ein Weib, ein dickes, fettes Weib, ganz übel mitgespielt."
Sein damaliger Retter (möglicherweise auch jetzt wieder zu einer Rettungstat bereit?) zog den Lauter weg aus der Kassenschlange, hörte sich in einer Ecke Lauters neuestes Missgeschick an.
"Jetzt hasse ich alle Frauen und wenn ich könnte, würde ich sie alle bestrafen – nein, ausrotten würde ich sie."
"Alle auf einmal – alle?"
"Jawohl – zumindest alle fetten. Aber leider habe ich ein Problem. In der Theorie neige ich zum Übertreiben – und in der Praxis hapert’s dann und es passiert gar nichts."
"Was ist denn Ihr Beruf gewesen?"
"Na, Werbung! Reklame. Da reicht’s, wenn man Sprüche machen, schwindeln, schönreden kann, den Menschen schmeicheln, Brei ums Maul schmieren. Jawohl, ein solcher Schmierfink war ich! Und Sie, womit haben Sie Ihr tägliches Brot verdient?"
"Ich habe Fahrräder verkauft – und kaputte repariert. Hab’ Glück gehabt, heutzutage hat ja praktisch jeder ein Fahrrad! Ganz früher war ich Klavierstimmer, ich hatte nämlich das absolute Gehör und so bin ich in den Beruf hineingerutscht. Aber heutzutage hat ja kaum mehr ein Mensch ein Klavier rumstehen. Minderjährige Töchter spielen nicht Klavier, sondern Tennis, lernen Ballett oder Reiten. Und bei mir war dann halt Schluss mit dem Klavierstimmen."
"Sie haben mir neulich beinah das Leben gerettet!"
"Na, na!"
"Und außerdem meine Zeche bezahlt. Ich danke Ihnen im Nachhinein! Sie sind mir total sympathisch! Wollen wir uns DU sagen? Ich heiße Leo. Leo Lauter! Ok?"
"Ok! Ich heiße auch Leo. Leo Leiser."
Das gefiel dem Lauter, er lachte schallend.
"Löwen-Zwillinge! Na ja – ich der Laute – du der Leise. Ist uns wie auf den Leib geschneidert! Hab’ noch nie über meinen Namen nachgedacht, grade eben zum ersten Mal! Und du?"
"Ehrlich gesagt, auch noch nie. Ich bin ja nur ein einfacher Fahrradmensch. Du hast wahrscheinlich studiert, bist vielleicht sogar ein Doktor, sag! Was sollen denn ausgerechnet wir beide miteinander anfangen? Ich zum Beispiel bin kein Frauenhasser wie du, ich bin eigentlich sogar ein Frauen-Liebhaber, wie man so sagt, hab nichts anbrennen lassen. War aber immer anständig, kein Lug und Trug!"
"Ein Gutmensch also. Weißt du was, statt Leo hin und Leo her lass’ uns doch einfach beim Lauter und Leiser bleiben. Dann kann’s auf keinen Fall eine leoninische Verwechslung geben! Hab’ seither immer gedacht, ich bin weit und breit der einzige Leo. Und da rettet ausgerechnet ein echter bayrischer Löwe mir das Leben. Schön von dir! Bleibe dir ewig dankbar! Dabei bin ich ja nur ein Zugereister, und die werden sowieso von euch Eingeborenen nur geduldet…"
So etablierte sich, ohne langes Zögern, eine anfangs noch etwas fragile Älte-reMännerFreundschaft. Sie waren beide gerade fünfundsechzig, wussten nichts voneinander – vor allem nicht, was sie miteinander anfangen sollten.
Wobei der Leiser im Stillen so seine Bedenken hatte. Diese ihm praktisch aufgenötigte Beziehung war ihm keineswegs ganz geheuer.
"Oha, mein Lieber, was dieser Mensch sich da ausdenkt, was Kriminelles womöglich, mit seinem Weiberhass! Ich werde ihm jedenfalls nicht gleich mein ganzes Leben auf die Nase binden. Man hat ja seine Familiengeheimnisse."
Kurz darauf schlug der Leiser dem Lauter dann doch ein allererstes Rache-Opfer vor – vielmehr setzte ihn auf eine bestimmte Fährte. Drückte ihm sozusagen die Flinte zum Abschuss in die Hand:
"Die dicke Frau Angermeier, die da drüben aus dem Fenster guckt, bei der könntest du mit dem Ausrotten den Anfang machen." Er setzte jedoch vorsichtshalber hinzu:
"Andrerseits, Lauter, beeilen brauchst du dich nicht. Weil fette Weiber gibt’s heutzutage mehr als genug. Die stopfen sich doch dauernd mit Kuchen und Süßigkeiten voll und können gar nicht genug davon kriegen."
Er schüttelte sich. "Denen geht’s einfach zu gut!"
Und, nach weiterem Abwägen:
"Wenn sie auch keine Schönheiten mehr sind, Lauter… Es ist ja eigentlich kein Verbrechen, wenn eine so fett ist, so einen Busen hat und so einen Hintern – sie sind immer noch Menschen und Kinder Gottes, meinst du nicht auch? Außerdem: wieso sollen für die eine, die dich gepiesackt hat, alle anderen büßen, die haben dir doch gar nichts getan?" Ein unwiderlegbares Argument.
Aber dann dachte der hinsichtlich des von ihm vorgeschlagenen Opferlamms doch etwas verunsicherte Leiser beruhigt:
"An der Angermeier beißt sich der Lauter die Zähne aus!"
Die Frau Angermeier lebte seit fast zwei Jahrzehnten in dieser Straße. Jeder kannte sie: sie war unübersehbar groß, stattlich, ja korpulent, um nicht zu sagen: fast unförmig, hatte aber zugleich ein madonnenhaft schönes Antlitz. Sie gab sich schon immer sehr zurückhaltend, fast abweisend, wenn nicht geradezu unansprechbar.
"Ich wette, sie hat eine tiefschwarze Seele", sagte der Lauter, nachdem sie ihm ein paar Mal begegnet war. Er musste irgendwas reinpfeffern, ihm war bereits ein wenig fad. Und wenn er jetzt gelegentlich von fern die Angermeier erblickte, das erste Objekt seiner Rache, dann fragte er sich: "Was soll das? Mich rächen an ihr, das macht mir den Edgar doch auch nicht wieder lebendig." Ja, damals, nach der Gerichtsverhandlung, da hatte er einfach einen Gegenstand, ein Thema, irgendetwas zum Nachdenken gebraucht, da kamen ihm die Gemeinheiten beinahe recht, um die viele einsame Zeit nach Edgars Tod mit erbitterten Selbstgesprächen hinter sich zu bringen. Aber wenn er sich jetzt die unvermeidbaren Blutlachen eines Gemetzels vorstellte, dann hörte der Spaß auf. Und überhaupt: wer vergreift sich an Frauen? Frauen waren doch, wenigstens für einen Mann wie ihn, irgendwie zweitrangige Wesen, vernachlässigbar, schutzlos, dem höheren, männlichen Verstand unterlegen – und deshalb von Natur aus irgendwie unantastbar. Und wäre es nicht schofel, himmelschreiend ungerecht, für jenes einzige, freche, schuldbeladene Weib Unschuldige büßen zu lassen? Da hatte der Leiser recht.
Außerdem: diese als erstes Opfer vorgesehene Angermeier war anders, auf ihre Weise, nur wie?
Das sagte ihm sein nach wie vor unfehlbarer Instinkt für das jeweils genau richtige, das absolut einzige Objekt, mit dem es sich zu beschäftigen lohnte – weshalb er ja auch ein so exzellenter Werbetexter gewesen war, der jedem Gegenstand, den er nach reiflicher Auswahl bewarb, in seinen Werbesprüchen eine phänomenal überzeugende Qualität andichtete, so dass er sich endlos verkaufen, verkaufen, verkaufen ließ!
"Verkaufen, ja, das ist das Höchste!" hatte er sich einst mit der Monotonie eines Mantras immer wieder eingeredet. Er wusste ja, wie das ging: man musste es hundert-, nein, tausendmal runterbeten, damit es wirkte. Und er brachte es tatsächlich so weit, dass man gerade ihn und nur ihn die teuersten Autos, die edelsten Möbel, den kostbarsten Schmuck bewerben ließ – so hoch hatte er sich mit den Jahren hinaufstilisiert. Und nicht selten fragte er sich zwischendurch das eine und andere Mal:
"Was ist denn das für ein Mist, den ich da mache?"
In solchen Momenten kam ein Lauter zum Vorschein, der am liebsten alles hingeschmissen, von einem Butterbrot täglich gelebt und sich dem lebenslangen Studium der Philosophie gewidmet hätte. Oder wahlweise der Theologie – und hernach ein frommer Einsiedler geworden wäre. Derartige Anwandlungen hielt er für einen Ausfluss seines besseren Selbst, was ihm Edgar, sein verstorbener Lebensgefährte, immer liebevoll bestätigte – nicht ohne zugleich mäßigend auf Lauter einzuwirken, vor allem auf dessen unberechenbare Heimsuchungen, sein ewiges Hin und Her zwischen seinem Beruf und seiner in regelmäßigen Intervallen wiederkehrenden, unstillbaren Sehnsucht nach einer höheren, geistigeren, brotloseren Existenz.
Gerade jetzt, im Hinblick auf diese Angermeier, fehlten ihm Edgars Ratschläge. Anfänglich konnte er ihrem Anblick nicht das geringste Interesse abgewinnen, doch nachdem er ihr eine tiefschwarze Seele attestiert hatte, wurde sie ihm zusehends attraktiv – genauer gesagt, zu einem Produkt, dem er mit aller Kraft seiner Phantasie fast zwangsweise Leben einhauchen wollte, um es – wie eine Neueinführung in früheren Zeiten – demnächst auf den Markt zu werfen und mit seiner exklusiven Werbemethode wieder einmal einen genialen Werbe- und Verkaufserfolg einzufahren.
Genau darin bestand ja eben seine besondere Art von Genialität: er erfand an den Gegenständen, denen er zum reißenden Absatz verhelfen sollte, bestimmte Eigenschaften, die noch kein Mensch jemals zuvor an ihnen entdeckt hatte – davon redete dann die ganze Welt und war begeistert. Nicht zuletzt verdankte der Lauter das eben auch seinem hochgebildeten, eloquenten Freund – jenen tiefsinnigen, in den letzten Nachtstunden dann in heillose Absurditäten abgleitenden, ja, irrlichternden Gesprächen mit Edgar, aus denen der Lauter dann später seinen oft abseitigen, doch stets hoch elaborierten Wortschatz und seine verrückt schönen Einfälle bezog. (Von den zuletzt sehr seltenen Liebesstunden der vergangenen Jahre ganz zu schweigen, die ihrem gemeinsamen Altersleben manchmal noch eine köstliche Würze verliehen hatten. Vorbei…)
Edgar, sein Freund und Ehepartner, war von Beruf so etwas wie Koch gewesen.
Als Abfallprodukt eines kunstvoll vertuschten hochadligen Seitensprungs war er als junger Mensch sorgsam einer klassischen Ausbildung bei international renommierten Kochkünstlern unterzogen worden, die seine früh zu Tage tretende Koch- und Küchen-Affinität alsbald zum Blühen brachte. Obgleich zur Hälfte hohen Geblüts, blieb er auf seinen mütterlich-bürgerlichen Namen sitzen. Nach Abschluss seiner exklusiven Ausbildung bei verschiedenen in- und ausländischen Meisterköchen kam seine Kochkunst ausschließlich den verschiedenen Zweigen seiner weit verstreuten Adels-Sippe zugute. Er bekochte sie (und niemand sonst) bei ihren jeweiligen Verlobungen, Heiraten, Kindstaufen, Jubiläen, Geburtstagen und Todesfällen viele Jahre lang mit seinen unvergleichlichen Rezepten, hochgeehrt für sein kreatives, kochkünstlerisches Genie und die festliche Inszenierung, die er sich jedes Mal ausdachte und für die er in Adelskreisen Berühmtheit erlangte. Damit war er ganzjährig ausreichend beschäftigt, zugleich finanziell gut abgesichert (denn die adlige Verwandtschaft ließ sich nicht lumpen!), mit angenehmen Pausen zwischendurch, und er besaß obendrein – zur Genugtuung Lauters – vom Chef des hohen Hauses dessen stillschweigendes, hochadliges Pleinpouvoir für ihre langjährige, eheartige Verbindung.
Edgar hatte stets von seinem offiziell anonymen, intern jedoch ihm von Herzen zugetanen Vater große Zuneigung erfahren. Beim Hinscheiden hinterließ er diesem besonders geliebten, besonders begabten, unehelichen Sohn seine Jagdwaffen, ein kostbares, wenngleich absolut widersinniges Erbe – (denn Edgar liebte die Jagd keineswegs und hatte Einladungen als Jagdgast stets ausgeschlagen).
Edgar, besessen vom Verlangen nach Wissen, hatte sich durch unablässiges Studium eine die intellektuellen Anforderungen eines Kochgenies weit übertreffende Bildung verschafft. Seine Liebe zu Baum und Gehölz wurde dann weit mehr als Interesse, als bloße Liebhaberei: eine endgültige, tiefe Leidenschaft. Überall besuchte er dendrologische Kongresse, erkundete auf Exkursionen in fernen Weltgegenden die letzten, von Abholzung bedrohten Urwald-Paradiese.
Den Begründer der Dendrologie, den Griechen Theophrastos von Eresos, den ersten, der wissenschaftlich erforschte, was Bäume zum Leben brauchen: Klima, Standort, Erde, Abstand, Pflanzdichte, angemessene Pflege – ihn, Naturforscher, Schüler des Aristoteles, Philosoph – erkor Edgar zu seinem Schutzheiligen.
Viele Jahre profitierte der Lauter von Edgars unersättlichem Wissensdurst, ebenfalls wissbegierig, aber zwischendurch immer wieder von Phasen der Denkfaulheit heimgesucht. Einer, der gerne vom Honigseim des Wissens naschte, aber, wenn es streng und zunehmend abstrakt wurde, sich mit den leichter verdaulichen äußeren Schichten begnügte und danach gewissermaßen den Löffel weglegte. "Ihr Werbeleute!" sagte Edgar dann zum Lauter. "So seid ihr! Ganz genau wollt ihr’s dann doch nicht wissen. Das ganz Genaue ist halt anstrengend, nicht wahr?"
"Recht hast du, mein lieber Edgar – aber was soll man machen, wenn man nicht so viel Grips mitbekommen hat wie du von deinen Ahnen. Respekt! Da kann ich doch gar nicht mithalten! In dir summiert, nein, potenziert sich ja geradezu dein ganzer, uralter, riesiger Stammbaum – ich dagegen bin ein genetischer Wlnzling, der gerade den Kopf aus dem Saatbeet zukünftiger Geschlechter streckt, und den man am Ende vielleicht als Unkraut her ausrupft? Wie’s das Schicksal so will, werde ich unbeweibt eines Tages dahingehen, ein Stück unbesamten Erdreichs hinterlassen? Was leider auch auf dich zutrifft, Edgar – bedauerlicherweise, denn zusammen mit mir hast du deine erhebliche genetische Substanz einfach der Fleischeslust geopfert, anstatt irgendwelche Hochschulprofessoren, Romanschreiber, Erforscher des Weltalls oder Lehrmeister der Menschheit zu zeugen. Ach, Edgar, ich liebe dich und danke dir dafür! Wir sind nun einmal zwei Homos, und weiß der Teufel, warum du – eigentlich ein edler Von und Zu – dir grade einen Proleten wie mich als Liebhaber ausgesucht hast."
Und nun war er also beim Leiser gelandet. Welch ein Abstieg, verglichen mit Edgar! Aber so sah es der Lauer ganz und gar nicht. Im Gegenteil.
"Edgar, er hat mir vielleicht nicht grade das Leben gerettet, aber hat mir in einer äußerst unangenehmen Situation Beistand geleistet, hat meine Rechnung im Café bezahlt – und ist einfach verschwunden, ohne zu wissen, wer ich bin. Durch Zufall sind wir uns wiederbegegnet. Er ist kein Homo, er ist nur einfach ein Mensch, ein mitfühlender, anständiger Mensch. Freilich, du warst ein Genie – aber das muss man verkraften! Nach dir nochmal eines, nein, auf meine alten Tage wäre mir das nun doch zu anstrengend. Zumal, um es dir gleichzutun, käme nur ein Nobelpreisträger in Betracht, und der wäre sich zweifellos zu schade, um mir als Ersatz-Edgar zu dienen. Denn, im Vergleich zu dir, deinem Herkommen, deinem Können und deinem Verstand, wäre ich mit meinen verlogenen Werbesprüchen für ihn höchstens eine Art besserer Analphabet."
Auf seine Berufsauffassung jedoch, seine Arbeitsmoral, seinen Ehrgeiz im Wettkampf mit seinen Fachgenossen ließ der Lauter nun doch nichts kommen, aber schon gar nichts! Da wollte er sich von keinem Kollegen jemals übertreffen oder auch nur irgendwie in den Schatten stellen lassen. Sobald er damals einen Auftrag angenommen hatte, entwickelte er seine Strategien: wie er sich dem Objekt nähern, seine zukünftige Bedeutung eruieren, es sich von Grund auf aneignen, ja, sich unterwerfen könne. Handelte es sich um Ess- oder Trinkbares, legte er es sich sofort in größeren Mengen zu und konsumierte es endlos, um seine Verträglichkeit zu prüfen, sodann festzustellen, setzte es auch wirklich beim ersten Anblick die Ess- oder Trinklust in Gang? Lief einem da schon das Wasser im Mund zusammen? Hielt bei fortgesetztem Genuss das Vergnügen an, steigerte es sich oder versiegte schmählich? Oder verkehrte es sich – Katastrophe! – sogar in sein Gegenteil? Er erfand auch neuartige Geschmacksempfindungen, nie beachtete Farbreize. Es gab unzählige Sinnesempfindungen, die man dem Verbraucher aufschwatzen konnte, mochten sie noch so exzentrisch sein – (ähnlich schmecken Wein-Kritiker bestimmten Weinen aberwitzige Lustgenüsse ab) – um dann am Ende seine Laudatio auf das Produkt in ein paar wenige Zeilen zu kleiden. Falls es ihm nicht gelingen wollte, sich zuletzt mit seinem Lobspruch wirklich zu identifizieren, gab er den Auftrag nachträglich zurück. Er war deshalb in der Branche verschrien, auch für seine Sturheit – andererseits aber für seinen Witz, seine Einfälle berühmt.
Wenn es erst um Reisen ging – Busreisen, Bahnreisen, Flugreisen, Schiffsreisen, Weltreisen, wissenschaftlich thematisierte Reisen, Kunstreisen – dann übertraf der Lauter sich selbst, vergrub sich in ferne Lande, ihre Natur, ihr Wetter, ihre Bodenschätze, Geschichte, Kunst, Theater, die Schönheit, Grazie, Liebenswürdigkeit ihrer Frauen, die landesüblichen Feinschmeckereien – er konnte sich nicht genug tun. Ohne je dort gewesen zu sein, wusste er alles, einfach alles – und damit lockte er die Reiselustigen denn auch unwiderstehlich dorthin.
Manchmal erinnerte er sich: während der Semesterferien, an einem längstvergangenen Sommernachmittag war er als Student über den unvergesslich zauberhaften Wochenmarkt von Pavia geschlendert, hörte und schaute einem Marktschreier zu, der mit wahrer Inbrunst keramische Kostbarkeiten anpries:
"Herrschaften! Sie sehen hier Werke der ersten Künstler Italiens! Für jeden erschwinglich! Wie aus dem Leben geschnitten!! Wunderbar in den Farben!"
Er hob, damit jeder ringsum es auch wirklich sehen konnte, das konfektionierte Lächeln einer Madonna mit beiden Armen hoch – dann ein idyllisches Schäferpaar – den treuen Gipsblick eines Hundes – sie alle waren abgesunkene Erinnerungen einer einst großen Tradition, zur Händlerware erniedrigt.
"Ecco! Dieser Hund, ein Bild der Treue, nicht dreitausend, nicht zweitausend, nicht tausend, – nein, für Sie nur sechshundert Lire! Greifen Sie zu! Greifen Sie zu!"
Der damals noch sehr junge Lauter, Student der inzwischen Volkswirtschaft genannten ehemaligen Nationalökonomie, – voller Selbstüberschätzung und Hochmut, ein echter Germane, konnte sich’s nicht verkneifen, sagte es dem Verkäufer direkt ins Gesicht:
"Kitsch!"
Darauf der Angesprochene, ganz aufgeregt: "Come, Signore?" und nochmals, dringlicher: "Come, Signore? Prego!"
"Kitsch!"
Beglückt, begeistert nahm der Marktschreier das fremde Wort auf und begann sofort lauthals zu schreien: "Kiitsch! Kiiitsch! Kiiitsch!" Der deutsche Student entfernte sich eilends. Es war ihm nun doch peinlich…
Mit den Jahren zollte er jenem Marktschreier von Pavia jedoch weit mehr Respekt. Das war ein echter collega, einer, der mit allen Sinnen Werbung machte, verkaufte – ein geborener Kaufmann, ein Mime, der ganz und gar in seiner Rolle, in seinem business aufging. Und ehrlich: er, der Lauter, übte doch seinen Beruf auch nicht viel anders, nur etwas stimmschonender, aus?
Jetzt erst, in seinen späten Jahren, bemerkte er aber auch: es gibt außer fahrenden Marktschreiern, die mit Herzblut Kleidungstücke, Kitsch und sonstigen Kram auf den Märkten verkauften, ortsfeste Kaufleute wie den Leiser zum Beispiel, ein Fahrrad-Händler, der mit Leidenschaft seine Kunden beriet, ihnen gute Vehikel anpries und mit derselben Sorgfalt kaputte Fahrräder wieder fahrbar machte. Erstaunlich!
Immer öfter zog es den Lauter jetzt in die Radl-Werkstatt. Warum eigentlich? Er wusste es selber nicht, stand anfangs nur einfach herum, langweilte sich, verschwand bald wieder. Nach und nach aber schaute genauer hin, was sowohl der Leiser, wie des Leisers Sohn, dem jetzt die Werkstatt und das Fahrradgeschäft gehörten, und die zwei Lehrlinge so trieben. Sie arbeiteten! Und wie!
Seit er denken konnte, hatte der Lauter ein hochtouriges Arbeitsleben geführt. Jetzt, wo er dem Leiser und den Seinen auf die Finger schaute, lernte er eine andere Arbeitsweise kennen, eine ganz neue – und die gefiel ihm. Früher hätte er sie wohl abgelehnt. Sie hatte etwas allzu Geregeltes, Geordnetes, Immergleiches. Das jedoch war ebenfalls reizvoll und dazuhin bekömmlicher als die ehemals unbedingt von ihm bevorzugte, hektische Betriebsamkeit seines beruflichen Lebens. Im vor kurzem erst angetretenen Ruhestand hatte er sie anfangs oft vermisst. Nach und nach, je öfter er beim Leiser der Arbeit zuschaute, verlor sich diese Sehnsucht nach der verlorenen Hektik und rastlosen Schaffenswut.
Nie zuvor hatte er so hingebungsvoll Menschen bei ihrer Arbeit beobachtet. Wie sie – einer ihnen innewohnenden Arbeitsanleitung folgend – ihr Hand-Werk betrieben. Nie hätte er gedacht, wie sehr ihn das faszinieren würde: wie flink, routiniert, geschickt, fehlerlos, ja, elegant das vonstatten ging. Das konnte man ARBEIT nennen im ursprünglichsten Sinn, vielleicht eher als die seine, denn bei der war ja – zugegeben – auch immer ein wenig Aufschneiderei dabei… Als wirkliche Denk-Arbeit konnte sowieso nur – jenseits vom Rang eines Platon, Kant und anderer Geister – das Denken so kluger Menschen wie das von Edgar gelten. Seine eigenen Denkanstrengungen hatte er schon immer einer Kategorie höchstens zweiten, besser dritten Grades zugeordnet. Und dennoch hatte er seine Arbeit geliebt.
Fast unmerklich kam ihm inzwischen sein Mord-und-Todschlag-Projekt abhanden – kein Wunder bei seinem inzwischen schon wieder recht angenehmen Vorsichhinleben. Weil aber sein blutrünstiges Vorhaben sich einfach nicht mehr länger verdrängen ließ, stand er plötzlich mit leeren Händen und schlechtem Gewissen vor sich selber da wie ein Kind, das irgendwo sein einstiges Lieblingsspielzeug halb unbewusst, halb absichtlich vergaß, weil es ihm nicht mehr gefiel – und weil das Kind lieber etwas Neues, Aufregendes haben wollte. In solchen und ähnlichen Situationen hatte er sich schon immer beschimpft. Das trug erfahrungsgemäß von vornherein zur Versöhnung mit sich selber bei. So auch jetzt: