Gordana - Katica Fischer - E-Book

Gordana E-Book

Katica Fischer

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Beschreibung

Gordanas spontaner Entschluss, in das vom Bürgerkrieg erschütterte Bosnien zu reisen, um auf eigene Faust Familienmitglieder herauszuholen, stößt bei ihrem Mann Julian weder auf Verständnis noch auf Zustimmung. Trotzdem bricht sie auf, weil sie glaubt, ihr Vorhaben innerhalb zweier Tage durchführen zu können. Sie ist jedoch kaum in Sarajevo angekommen, da muss sie feststellen, dass sie sich im Vorfeld ein völlig falsches Bild von der Situation gemacht hat. Die Gesuchten sind nicht zu finden. Und die Stadt ist plötzlich von der Außenwelt abgeschnitten. Als sie schließlich eine Möglichkeit findet, Sarajevo hinter sich zu lassen, nimmt sie die Chance wahr. Begleitet von Angst, Schmerz und Ohnmacht hetzt sie anschließend durch die Krisengebiete, nie sicher, was die nächsten Stunden oder Tage bringen werden. Allein ihr Wunsch, die geliebten Menschen unter allen Umständen finden zu wollen, treibt sie voran.

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Seitenzahl: 494

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Gordana

Katica Fischer

Roman

Starke Frauen sind so schön und widerstandsfähig wie wilde Blumen. Sie stehen nach jedem Unwetter wieder auf, um sich mit Mut und Hartnäckigkeit dem nächsten zu stellen.

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, einschließlich des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten.

© Katica Fischer, 2014

www.katica-fischer.de

Umschlaggestaltung: K. Fischer

Fotos: K. Fischer

Bereitstellung und Vertrieb:

Epubli (Neopubli GmbH, Berlin)

Vorwort

Liebe Leserin

Lieber Leser

Wenn Sie „Ivanka“ gelesen haben, dann ist Ihnen Gordana nicht mehr fremd. Der aufmüpfige Teenager aus den 1970ern ist mittlerweile dreifache Mutter, die ihre Familie über alles liebt. Daher ist sie auch bereit, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um sie vor Schaden zu bewahren.

Die Idee zu diesem Roman entstand nach vielen Gesprächen mit Menschen, die Augenzeugen oder selbst Opfer von Kriegsverbrechern geworden sind. Doch gab es auch immer wieder Berichte über vorübergehende Weggefährten, die trotz aller Vorurteile und Aggressionen zwischen den Volksgruppen im ehemaligen Jugoslawien keinen Unterschied zwischen Freund und Feind gemacht haben, wenn es darum ging, ein Leben zu retten.

Bitte beachten Sie: Dieses Buch ist nicht als geschichtlich korrekte Dokumentation zu betrachten, auch wenn die meisten Begebenheiten tatsächlich so geschehen sind, wie beschrieben (allerdings zu einer anderen Zeit und an anderen Orten). Es ist zudem nicht beabsichtigt, irgendjemandem durch unbewiesene Behauptungen Unrecht zu tun.

1

Freitag – 30. Oktober – Gordana

Die Nachrichten verfolgend, die im Stundentakt von den erschreckenden Geschehnissen im zerfallenden Jugoslawien berichteten, fühlte Gordana eine stetig wachsende Furcht. Und so lief sie wie ein gefangenes Tier im Haus herum, nicht fähig, auch nur zwei Minuten irgendwo ruhig stehen oder sitzenzubleiben.

Zwei Stunden war es nun her, da hatte sich ihr Onkel Martonek telefonisch bei ihr gemeldet. Verfolgt durch feindliche Kämpfer war er mit seinen Männern tagelang in den Bergen unterwegs gewesen und dann irgendwie – vermutlich bei Nacht und Nebel – ins Zentrum von Zenica gelangt, wo sie von Gleichgesinnten versteckt wurden. Von dort aus sollte er mit seinen Leuten weitermarschieren, um gefangen genommene Kameraden aus einem Lager in irgendeinem der umliegenden Dörfer zu befreien. Viel Zeit war ihm für den privaten Anruf nicht geblieben, stellte sie schaudernd für sich fest, derweil sie sich ein Glas mit Wasser füllte, um es sogleich hinunterzustürzen. Er hatte bloß seinen Aufenthaltsort genannt und seinen Auftrag kurz umrissen, bevor die Verbindung so schlecht geworden war, dass sie nur noch Bruchstücke seiner Rede verstehen konnte. Am Ende hatte er „…Jelena und die Kinder nach Sarajevo, zur Familie von meinem Freund Gregor gegangen …“, und: „… nicht genug Geld für ein Flugticket …“, in den Hörer gebrüllt, bevor aus dem Hintergrund Geschützfeuer und Geschrei seine Stimme übertönt hatten. Danach war die Verbindung abrupt abgebrochen. Also hatte sie den Fernseher eingeschaltet, um die Nachrichten zu sehen. Dabei hatte sie dann auch erfahren, dass sowohl im Stadtzentrum als auch am Flughafen von Sarajevo geschossen wurden, was zur Folge hatte, dass man alle Flüge dorthin umleitete, oder ganz strich, und die in Sarajevo am Boden befindlichen Flieger gar nicht erst starten ließ. In der letzten Meldung hieß es dann, der Flughafen sei wieder geöffnet – auch für den Zivilverkehr. Aber wie lange dies anhalten würde, das konnte niemand mit Sicherheit sagen.

Als hätte man sie aus heiterem Himmel auf der Stelle festgenagelt, blieb Gordana mitten in ihrem Wohnzimmer stehen. Sie wollte nicht länger tatenlos herumsitzen, entschied sie. Martonek hatte schließlich nicht nur angerufen, um mit ihr zu plaudern. Vielmehr sah es für sie so aus, als habe er sie um Hilfe bitten wollen, dies jedoch nicht mehr geschafft, weil die Telefonverbindung unterbrochen worden war!

Für einen kurzen Moment dachte Gordana daran, ihren Mann zu bitten, dass er sie begleitete. Doch dann entschied sie sich dagegen, weil sie wusste, dass Julian gerade alle Hände voll damit zu tun hatte, die geschäftlichen Dinge so vorzubereiten, dass er nach dem Wochenende beruhigt seinen Urlaub antreten konnte. Nein, es war wirklich nicht nötig, dass er mitfuhr, redete sie sich ein. Wenn nämlich alles so verlief, wie sie sich das vorstellte, dann würde sie ohnehin am Sonntagabend wieder zu Hause sein.

Julian hatte kaum die Haustür hinter sich geschlossen, da wurde ihm von Gordana mitgeteilt, dass sie nach Bosnien reisen wolle, um die Frau und die Kinder ihres Onkels zu holen. Daraufhin entstand eine ernste Diskussion, die immer lauter wurde, je nachdrücklicher beide ihren Standpunkt vertraten.

„Wenn du das wirklich tust, werde ich … Dann … Dann wirst du auch die Konsequenzen dafür tragen müssen!“ Der groß gewachsene Mann war mittlerweile völlig außer sich, denn die Angst um die Liebe seines Lebens und die Mutter seiner Kinder ließ ihn kaum noch klar denken. „Du hast offenbar vergessen, dass du eine Familie hast, die dich braucht – und zwar hier! Nichts, aber auch absolut gar nichts kann mich davon überzeugen, dass dein Vorhaben wirklich nötig ist!“

In Gordanas Augen glomm der Ärger, während sich ihr sonst sinnlich wirkender Mund zu einem schmalen weißen Strich zusammenpresste. Sie hatte sich auf eine unerfreuliche Auseinandersetzung eingestellt, erinnerte sie sich. Dass er aber so uneinsichtig reagieren würde, das hatte sie nicht erwartet.

„Nun komm mal wieder runter!“ Sie bemühte sich um eine beherrschte Stimme. „Was ist denn so schlimm an meiner Absicht? Du weißt doch, dass Jelena von sich aus nie um Hilfe bitten würde. Ich könnte …“

„Was?“, unterbrach Julian angriffslustig. „Was könntest du schon ausrichten? Du bist dir ja noch nicht einmal sicher, ob sie überhaupt da ist, wo sie angeblich hinwollte!“ Bevor man ihn unterbrechen konnte, redete er schnell weiter: „Vielleicht ist sie mit den Kindern längst über alle Berge und hat sich nur nicht gemeldet, weil kein Telefon verfügbar war! Willst du wirklich dein eigenes Leben riskieren, um ein paar Menschen in einem Land zu suchen, welches durch einen der blutigsten Bürgerkriege dieses Jahrhunderts beherrscht wird? Bist du bekloppt oder was? Oder bist du wirklich so naiv, zu glauben, dass dir, als einer hochnoblen Samariterin nichts geschehen kann? Dass man dich nicht antasten wird, nur weil du einen deutschen Pass bei dir hast? Oder dass man dich mit einem roten Teppich empfangen wird, weil du ja schließlich ein löbliches Anliegen hast?“

„Sprich nicht in diesem Ton mit mir“, verlangte Gordana. „Ich bin schon lange erwachsen und muss mich von dir nicht wie ein unmündiges Kind behandeln lassen!“ Er konnte einfach nicht damit aufhören, grollte sie innerlich. Obwohl er genau wusste, wie verhasst es ihr war, wenn er sie so von oben herab belehrte! Selbst nach über zwanzig Jahren Ehe meinte er immer noch den Teenager vor sich zu haben, den er hatte heiraten müssen, weil er Vaterfreuden entgegensah, und den es danach noch zu formen und im eigenen Sinne zu erziehen galt! … Nein, berichtigte sie sich gleich darauf selbst. Er hatte es nicht gemusst. Es war auf beiden Seiten Liebe auf den ersten Blick und praktisch schon vom ersten Aufeinandertreffen an unabwendbar gewesen, dass sie ein Paar wurden. Im Grunde hätte ohnehin keiner von ihnen ohne den anderen leben können, denn sie waren im wahrsten Sinne des Wortes füreinander bestimmt. Doch das hieß noch lange nicht, dass nicht jeder von ihnen eine eigene und ganz persönliche Meinung zu bestimmten Dingen haben durfte. Bisher war es auch immer so gewesen, dass man die Ansichten des anderen akzeptierte – oder doch zumindest tolerierte. Aber jetzt sah es so aus, als ob sie zum ersten Mal an einem Punkt angelangt wären, an dem es keinen Kompromiss zu geben schien. Sie war nicht bereit, ihren Wunsch aufzugeben! Und er zeigte sich ungewöhnlich hartnäckig, obwohl er ihr doch sonst jeden Wunsch an den Augen ablas, um diesen dann beinahe umgehend zu erfüllen.

Julian atmete einmal tief durch, um sich dadurch ein wenig zu beruhigen. Sie war unmöglich, urteilte er im Stillen. Stur, eigensinnig, vollkommen unberechenbar – und wunderschön in ihrem selbstgerechten Eifer. Dennoch war er diesmal nicht bereit, nachzugeben! Auch wenn sie ganz genau wusste, wie sie ihn einwickeln konnte, würde sie diesmal keinen Erfolg haben! Vielleicht … Ja! Sie würde sich garantiert anders besinnen. Sie musste! Wenn man sie nämlich vor die Wahl stellte, konnte sie nur eine Entscheidung fällen!

Der groß gewachsene Mann wäre nicht im Traum darauf verfallen, zu glauben, dass es irgendetwas geben könnte, was für seine Frau wichtiger war, als ihre Kinder. Selbst er schien stets an zweiter Stelle zu stehen, obwohl er eigentlich niemals Grund gehabt hatte sich über Vernachlässigung zu beklagen. Warum auch immer sie dieses hirnrissige Vorhaben geplant haben mochte – er würde sie davon abhalten!

„Ich meine es vollkommen ernst“, bekräftigte er nun. „Wenn du jetzt wirklich gehst, dann brauchst du nicht mehr zurückkommen. Entweder, du entscheidest dich für uns vier und bleibst bei uns. Oder du setzt deinen Kopf durch und versuchst eine Heldin zu werden.“ Genau das war es nämlich, stellte er im Stillen für sich fest. Offenbar war die Zeit wieder einmal reif für eine neue Herausforderung! „Du kannst nicht alles haben. Entweder Mann und Kinder, oder Abenteuer und Nervenkitzel. So ist nun mal das Leben, mein Schatz.“

Gordana wollte ihren Ohren nicht trauen. Er wagte es tatsächlich, dachte sie verblüfft. Er stellte sie vor die Wahl, obwohl er wusste, in welchen Gewissenskonflikt er sie damit stürzte? Wie barbarisch! Wie unmenschlich! Wie konnte er nur? Hatte er denn kein Herz im Leibe?

„Ich denke“, brachte sie endlich hervor, „unsere Kinder sind alt genug, um nicht unbedingt auf ihre Mutter angewiesen zu sein. Möglicherweise werden sie nicht gleich verstehen, was mich zu meinem Entschluss bewogen hat. Aber sie werden die kurze Zeit meiner Abwesenheit sicher verschmerzen. Immerhin bist du ja auch noch da, um ihnen beizustehen. Und ich … Ich kann nicht anders. Du weißt … Es … Er kann selbst nichts machen, weil er bei seiner Truppe bleiben muss. Aber ich … Ich muss etwas tun!“ Sie meinte an dem riesigen Kloß ersticken zu müssen, der sich mit einem Mal in ihrer Kehle breitmachte. „Warum sonst hätte er mich inmitten eines feindlichen Angriffes angerufen.“ Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich ab und verließ mit eiligen Schritten den Raum. Im Flur angekommen, stürmte sie sogleich die Treppe zum Obergeschoss hinauf. Sie wollte nicht nachdenken, nahm sie sich vor. Weder über Julian und sein Ultimatum, noch über sich selbst und die Richtigkeit ihrer Entscheidung. Wenn sie es nämlich tat, würde sie wahrscheinlich einen Rückzieher machen – und diesen dann für den Rest ihres Lebens bereuen!

Im Schlafzimmer angekommen, zurrte sich Gordana ihren Rucksack auf den Rücke und nahm dann die vorbereitete Reisetasche vom Bett. Pass, Scheckkarte und den Umschlag mit dem Bargeld hatte sie kurz vor Julians Heimkehr in der Gürteltasche verstaut, die jetzt noch im Rucksack lag, die sie sich aber später um die Taille befestigen wollte. Die nicht unerhebliche Summe hatte sie ursprünglich an Jelena überweisen wollen, dann aber doch liegen lassen, weil sie dem Postsystem im Krisengebiet nicht traute. Doch nun sollte das Geld seine Bestimmung erfüllen, dachte sie, indem sie sich auf den Weg zur Haustür machte.

Ungeachtet ihres Ehemannes, der mit verschränkten Armen im Durchgang zum Wohnzimmer stand und ihr offenbar noch etwas sagen wollte, stürmte Gordana aus dem Haus. Weder Julians besorgt klingender Ruf, noch sein anschließender Fluch konnten sie dazu bewegen, sich noch einmal herumzudrehen. Wie von Furien gehetzt rannte sie zum nächsten Taxistand, wo sie den Fond des erstbesten Wagens aufriss, um zuerst ihre Reisetasche und dann sich selbst auf die Rücksitzbank zu werfen.

„Zum Bahnhof“, verlangte sie atemlos.

„Ich dachte, es geht erst nächste Woche los“, wunderte sich der Fahrer. „Haben Sie nicht gesagt, Sie würden erst Montag in Urlaub fah...“ Er brach mitten im Wort ab, als ihm die abweisende Miene seines Fahrgastes bewusstwurde. „Tschuldigung“, murmelte er beschämt. „Geht mich wirklich nichts an.“

Während der Taxifahrer startete, setzte sich Gordana mit zusammen gepressten Lippen zurecht. Sie kannte ihren Chauffeur gut, denn er war Stammkunde in Julians Getränke-Shop. Und normalerweise gab sie sich nie so unzugänglich. Aber heute hatte sie keine Lust auf einen lockeren Plausch, weil sie erstens viel zu angespannt und außerdem vollkommen durcheinander war. Wenn sie Glück hatte, überlegte sie, würde sie sofort – oder wenigstens so schnell wie möglich! – eine Zugverbindung nach Frankfurt bekommen. Und wenn sie weiterhin Glück hatte, würde sie vielleicht schon bald in einem Flugzeug sitzen, auf dem Weg in das Land, in welchem sie geboren war und wo sie die ersten Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Für sie war es immer noch ein Land, auch wenn es mittlerweile in noch nicht offiziell anerkannte Einzelrepubliken unterteilt wurde!

Vier Stunden nach ihrem Aufbruch stand Gordana endlich am entsprechenden Abfertigungsschalter des Frankfurter Flughafens, ungeduldig darauf wartend, dass die Formalitäten beendet wurden.

„Sind Sie sicher, dass Sie da hinwollen?“ Der junge Mann hinter dem Schalter sah sein Gegenüber skeptisch an. „Nichts für ungut“, setzte er sofort nach, als er den finsteren Blick seiner Kundin bemerkte. „Aber wir sind dazu angehalten worden, unseren Fluggästen die Gefahr noch einmal deutlich zu machen. Außerdem besteht jederzeit die Möglichkeit, dass man uns die Landeerlaubnis verwehrt, was im Klartext bedeutet, dass Sie vielleicht gar nicht dort ankommen, wo Sie eigentlich hinwollen.“

„Schon gut.“ Gordanas Auftreten wirkte überaus arrogant, resultierte jedoch allein aus der Unsicherheit heraus, die ihr Inneres beherrschte. Darum bemüht, niemanden merken zu lassen, dass sie im Grunde Angst vor der eigenen Courage hatte, spielte sie die Selbstsichere so gut, dass selbst Menschen, die sie gut kannten, in diesem Moment nicht an ihrer Stärke und Überlegenheit gezweifelt hätten. „Mir ist die momentan angespannte Lage durchaus bekannt. Trotzdem will ich das Ticket haben. Und außerdem möchte ich einen Fensterplatz.“

Der Angestellte der Fluggesellschaft hatte unwillkürlich den Kopf eingezogen, denn der plötzlich scharfe Ton seiner Kundin hatte ihn überrascht. Eigentlich hatte er sie als sehr höflich und überaus sympathisch eingestuft. Aber nun war er ein wenig irritiert, weil sie so ganz und gar nicht seinem Urteil zu entsprechen schien. Abgesehen von ihrer Unfreundlichkeit war sie jedoch eine äußerst faszinierende, sehr gepflegt wirkende Mittdreißigerin. Sie musste mindestens einsachtzig groß sein. Auch besaß sie eine Figur, die nichts zu wünschen übrigließ – der grüne Pullover und die enge schwarze Jeans ließen wohlproportionierte Rundungen erkennen! Ihr Haar war so rot, wie das Laub herbstlich verfärbter Ahornbäumen. Zudem waren Strähnen hineingearbeitet worden, die um einige Nuancen dunkler erschienen, was ihr besonders gut stand. Ja, sie gehörte unübersehbar zu den Frauen, die eine zeitlose und somit unvergänglich scheinende Schönheit besaßen. Ihr Mund schien allein zum Küssen geschaffen. Und die großen von dichten langen Wimpern bekränzten braunen Augen schimmerten verführerisch – wobei in ihren unergründlichen Tiefen nun auch unübersehbare Ungeduld aufglomm.

Mit einem Mal hatte der junge Mann das Gefühl, sein Gegenüber wüsste genau, was in seinem Kopf vorging. Also wandte er sich schleunigst ab, um die Daten in seinen Computerterminal einzugeben. Während dann das Flugticket und die Bordkarte ausgedruckt wurden, hatte er ein wenig Zeit, um sich zu fangen, sodass er am Ende sogar ein ungezwungenes Lächeln zustande brachte.

„Bitte sehr“, sagte er mit belegter Stimme, indem er die Dokumente seiner Kundin entgegenhielt. „Check-in ist in zehn Minuten.“

Gordana war der bewundernde Blick nicht entgangen, der ihrer Erscheinung gegolten hatte. Und normalerweise wäre sie geschmeichelt gewesen, zumal ihr Gegenüber ein relativ junger Mann war – vermutlich nicht viel älter als fünfundzwanzig. Doch heute stand ihr der Sinn weder nach Komplimenten – egal ob laut ausgesprochen, oder anhand entsprechender Körpersprache deutlich gemacht! – noch nach zusätzlichen Belehrungen oder Warnungen, denn davon hatte sie bereits genug gehört. Also ließ sie bloß ein knapp bemessenes Kopfnicken sehen, derweil sie die Papiere an sich nahm. Mit ihren Gedanken bereits in einer völlig anderen Welt, eilte sie anschließend in die gewiesene Richtung.

Selbstverständlich wusste sie genau, worauf sie sich einließ, stellte sie im Stillen für sich fest, während sie die riesige Empfangshalle des Frankfurter Flughafens durchquerte. Schließlich war sie weder blind noch taub, noch blöd. Und dass sie sich in höchste Gefahr begab, war ihr auch bewusst. Na ja, wenn sie ehrlich mit sich selbst war, dann wäre sie jetzt am liebsten umgekehrt, um sich in die Sicherheit von Julians Armen zu flüchten. Ja, sie hätte liebend gern Augen und Ohren zugekniffen und sich dabei einzureden versucht, dass es absolut unnötig war, den sicheren Alltag eines glücklichen Familienlebens hinter sich zu lassen, um in einem weit entfernten Land sein Leben aufs Spiel zu setzen. Andererseits konnte sie gar nicht anders! Da war ein Zwang zum Handeln in ihrem Inneren, der drängender war, als jedes andere Gefühl, das sie bisher verspürt hatte. Es ließ sich nicht ignorieren, geschweige denn bekämpfen! Ja, es kam ihr so vor, als hinge ihr eigenes Leben davon ab, dass sie gehorchte. Außerdem war sie wahrscheinlich die Einzige, die noch irgendetwas ausrichten konnte!

Jelena war drei Jahre jünger als sie selbst, aber vollkommen auf sich allein gestellt, erinnerte sich Gordana. Ihre Eltern waren bereits zu Anfang des Krieges von marodierenden Plünderern niedergemetzelt worden. Und ihr Ehemann Martonek gehörte schon seit den ersten Kriegstagen einer Freiwilligenarmee an, welche sich gegen die serbischen Aggressoren stellte und gleichzeitig den Menschen zu helfen versuchte, die sich nicht allein gegen den Feind wehren konnten. Vom eigenen Hof vertrieben, so wie viele andere aus ihrem Heimatdorf, war sie mit den Kindern zur Adriaküste geflohen, wo sie bei einem engen Freund ihres Vaters vorübergehend Unterschlupf gefunden hatte. Doch war sie auch dort vom Krieg eingeholt worden, sodass sie wiederum mit ihren Kindern geflüchtet war – diesmal zu einer Bekannten nach Mostar. Obwohl man sie bereits mehrmals aufgefordert hatte, sie solle nach Deutschland kommen, wo sie in der Tat absolut sicher gewesen wäre, hatte sie sich strikt geweigert, weil sie weder ihr Heimatland noch ihren Mann verlassen wollte. Auch wenn dieser nur hin und wieder vorbeikam, um ihr Geld zu bringen und nach seiner Familie zu sehen, hatte sie in erreichbarer Gegend bleiben wollen, damit sie ihn wenigstens ab und zu zu Gesicht bekam. Allerdings war es Martonek in den letzten Wochen nicht möglich gewesen, seine Familie zu besuchen, weil er in seiner Einheit gebraucht wurde. Seinem ausdrücklichen Wunsch folgend, war Jelena vor ein paar Tagen nach Sarajevo weitergezogen, wo sie laut seiner letzten Aussage bei einer ehemaligen Schulfreundin bleiben konnte. Doch war dies offenbar auch nur eine vorübergehende Lösung gewesen, denn sie schien mittlerweile doch noch zur Vernunft gekommen zu sein. Das Problem war nur, dass sie jetzt keine finanziellen Mittel mehr besaß und daher auf Hilfe von anderen angewiesen war, um nach Deutschland ausreisen zu können.

Dem Aufruf folgend, der die Passagiere für den Flug nach Sarajevo zur Maschine rief, ging Gordana mit ihren Mitreisenden die Gangway entlang, nahm dabei jedoch keines der Gesichter bewusst wahr. Im Geiste damit beschäftigt, die Einzelheiten ihrer sogenannten Hilfsaktion noch einmal zu überdenken, folgte sie den Anweisungen der Flugbegleiterin mehr automatisch als aufmerksam. Allein das Drängeln eines Mittfünfzigers brachte ein unmutiges Runzeln auf ihre Stirn. Doch war der Mann gleich wieder vergessen, sobald er an ihr vorbei war. Stattdessen verstaute sie ihr Handgepäck in dem dafür vorgesehenen Fach und setzte sich dann hin.

Entgegen Julians Annahme, seine Frau suche bloß eine neue Herausforderung, um ihr Können und ihre Willensstärke auf eine weitere Probe zu stellen, war Gordanas Motiv in diesem Fall ein ganz und gar gewöhnliches – nämlich die Liebe zu ihrer Familie. Allein das Wissen, dass einer ihrer Angehörigen in Not war, hätte schon ausgereicht, damit sie alles andere stehen und liegen ließ, um den Hilfsbedürftigen beistehen zu können. Doch war es in diesem Fall noch etwas anderes, was sie zusätzlich antrieb, ihre eigene Angst zu überwinden – und alle Vernunft ausschaltete: Jula, Gordanas Großmutter, hatte den eigenen Nachzügler und die Enkelin gemeinsam aufgezogen, bis zu dem Zeitpunkt, da das Mädchen der Mutter nach Deutschland folgte. Aus diesem Grund sah Gordana so etwas wie einen Zwilling in Martonek und liebte ihn daher womöglich noch mehr als Peter, ihren acht Jahre jüngeren leiblichen Bruder. Entsprechend dieser engen Bindung und trotz der räumlichen Trennung, hatten die beiden den Kontakt nie abbrechen lassen, was nicht nur der Post, sondern auch den jährlichen Familientreffen zu verdanken war, die selbst nach dem Tod seiner Eltern und der Auswanderung des älteren Bruders nach Amerika durchgeführt wurden. Als der Krieg ausbrach, hatten sie zwar nur noch sporadisch voneinander gehört, waren aber eigentlich immer auf dem Laufenden, was das Befinden des anderen betraf.

Während das Flugzeug zum Start ansetzte, schweiften Gordanas Gedanken weit in die Vergangenheit zurück, wobei die Erinnerungen an ihre früheste Kindheit sehr widersprüchliche Gefühle in ihr hervorriefen. Selbstverständlich war sie sich der Liebe ihrer Mutter stets sicher gewesen, obwohl diese so gut wie gar keine Zeit für sie aufbrachte, weil sie als geschiedene Frau den Lebensunterhalt für sich und ihr Kind hatte verdienen müssen. Aber die Hänseleien der anderen Kinder, weil sie ohne Vater aufwuchs, wo doch jeder einen Vater aufzuweisen hatte, und das frühe Wissen, dass sie von ihrem Erzeuger bereits vor ihrer Geburt abgelehnt worden war, hatte sie stets zornig gemacht. Allein Martonek war stets zur Stelle gewesen, wenn sie jemanden zum Reden brauchte. Auch war er stets ein verlässlicher Verbündeter gewesen, wenn es darum ging, hinterlistige Angreifer abzuwehren oder Großmäuler in ihre Schranken zu weisen. Sie konnte also gar nicht anders! Sie musste seiner nicht ausgesprochenen Bitte nachkommen, denn das war sie ihm einfach schuldig.

Erschöpft durch die psychische Anstrengung der letzten Stunden lehnte sich Gordana seufzend zurück. Sie wusste, kaum einer würde wirklich Verständnis für ihr Verhalten haben. Dennoch bereut sie nicht eine Sekunde lang, sich auf den Weg gemacht zu haben.

Samstag – 31. Oktober – 04:00 Uhr

Es war noch stockfinster, als das Flugzeug zur Landung ansetzte. Gleich darauf bremste der Pilot mit quietschenden Reifen die Geschwindigkeit herunter und ließ dann seine Maschine in die Richtung des Flughafengebäudes rollen, um die Passagiere so schnell als möglich abzuladen.

Gordana streifte sich die dick gefütterte Jacke über und holte ihr Handgepäck heraus. Anschließend folgte sie den Anweisungen der Stewardess, welche zwar nach außen hin Ruhe und Gelassenheit zur Schau trug, im Grunde jedoch genauso angespannt und nervös war, wie alle anderen auch.

„Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt“, bekam Gordana am Ausstieg zu hören und war in diesem Moment viel zu verblüfft, über diese zwar gut gemeinte aber vollkommen unüberlegte Äußerung, als dass sie auf den Gedanken gekommen wäre, eine höfliche Erwiderung zu formulieren. Stattdessen verzog sie die Lippen zu einem sparsamen Lächeln, bevor sie die Gangway hinunterstieg, um sich zur Gepäckausgabe zu begeben, wo ihre Reisetasche auf sie wartete. Gleich darauf wollte sie zum Ausgang des Gebäudes, wurde jedoch durch einen uniformierten Zollbeamten in eine andere Richtung geschickt, wo ein Kollege von ihm wartete.

„Aus welchem Grund sind Sie hier?“, fragte dieser auf Deutsch, nachdem er einen kurzen Blick auf den Einband ihres Reisepasses geworfen hatte.

„Ich möchte eine Verwandte abholen“, antwortete Gordana wahrheitsgemäß.

„Haben Sie Waffen oder Sprengstoff dabei?“, wollte er wissen, indem er den Reiseausweis aufschlug.

„Brauchen Sie denn etwas davon?“ Sie hatte kaum ausgesprochen, da hätte sie sich am liebsten die Zunge abgebissen, denn die Miene ihres Gegenübers schlug innerhalb eines Sekundenbruchteils von Gleichgültigkeit in lauerndes Misstrauen um. Wie blöd! Ausgerechnet hier und jetzt so unbedacht zu reagieren! Zu Hause wäre ihre schlagfertige Antwort sicherlich mit wieherndem Gelächter quittiert worden. Aber hier waren solch provozierende Äußerungen völlig fehl am Platz. „Verzeihung“, versuchte sie ihren Schnitzer wieder auszubügeln, indem sie in ihrer Muttersprache fortfuhr, in der Hoffnung, ihn dadurch vielleicht wieder besänftigen zu können. „Ich bin ziemlich müde und deshalb wahrscheinlich überreizt. Es war nicht so gemeint. Bitte, Sie können mich und meine Sachen ruhig durchsuchen. Ich habe wirklich nichts Verbotenes dabei.“

Der Mann taxierte sie zunächst mit einem langen undeutbaren Blick. Danach studierte er ihren Reisepass so ausgiebig, dass sie schon meinte, er wolle sich tatsächlich jede Einzelheit genau einprägen. Am Ende warf er das Büchlein auf den Tisch vor sich, um sich dann mit einem abfälligen Grinsen ihrer Reisetasche zuzuwenden. Alles, auch die darin enthaltene Unterwäsche wurde nun gründlichst begutachtet. Dabei nahm er jedes Stück einzeln in die Hände, um es auszuschütteln und dann lange und sichtlich interessiert zu betrachten, bevor er es – mit aufreizender Gleichgültigkeit – neben sich auf den Boden fallen ließ, um sich dann ein neues Teil aus der Tasche herauszuholen.

Gordanas Wangen waren mittlerweile hochrot. Zum einen war es ihr peinlich, dass ein Fremder ihre persönlichsten Dinge so genau inspizierte. Zum anderen ärgerte sie sich maßlos über die impertinente Art des Zöllners, der offenbar nur darauf wartete, dass sie irgendetwas sagte. Aber, obwohl sie ihn am liebsten gefragt hätte, ob er noch nie weibliche Dessous gesehen habe, beherrschte sie sich. Es hatte keinen Sinn, sich mit ihm anzulegen, ermahnte sie sich. Er war immerhin eine Amtsperson, die man schon allein wegen seiner Amtsautorität zu respektieren hatte. Außerdem konnte sie gut darauf verzichten, dass man sie aus purer Schikane stundenlang festhielt oder gar in den nächstbesten Flieger setzte, um sie loszuwerden! Mund halten und abwarten, redete sie sich selbst gut zu. Die Tasche war ohnehin so gut wie leer. Also würde sie nicht mehr lange hier stehen müssen.

Der Zollbeamte untersuchte währenddessen Futter und Boden der Reisetasche, fand aber nichts Verdächtiges. Also richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Frau.

„Ziehen Sie die Jacke aus“, verlangte er barsch. „Und öffnen Sie den Rucksack.“

Gordana gehorchte wortlos. Als er jedoch auf sie zu trat, wich sie zurück.

„Ach“, tat er überrascht. „Sie haben wohl doch etwas zu verbergen?“

Sich mit aller Gewalt zur Ruhe zwingend, blieb sie nun auf der Stelle stehen. Die Unterlippe zwischen die Zähne geklemmt, ließ sie die nun folgende Leibesvisitation stumm über sich ergehen, derweil sie einen Punkt an der Raumdecke fixierte, um dem Mann nicht in das hämisch grinsende Gesicht sehen zu müssen. Selbst schuld, grollte sie innerlich, während sich aufdringlich tastende Finger über ihren Körper hinwegbewegten. Hätte sie ihr vorlautes Mundwerk im Zaum gehalten, wäre ihr diese widerliche Szene erspart geblieben!

„Was ist da drin?“, wollte er am Ende der Prozedur wissen, indem er auf die Gürteltasche deutete, welche sie um die Taille trug.

„Der Rest meiner Papiere und meine Reisekasse“, antwortete sie bereitwillig, wobei sie gleichzeitig die Schließe öffnete und dann die Tasche ein wenig aufklappte, um ihn von der Wahrheit ihrer Aussage zu überzeugen.

„Hm.“ Er sah nur flüchtig auf den dargebotenen Inhalt und warf dann einen gleichgültigen Blick in ihren Rucksack hinein, der nur noch ihren Reiseproviant enthielt. „Sie können Ihre Sachen wieder einpacken“, befahl er, schaute sie jedoch nicht mehr direkt an.

Innerlich so aufgebracht, wie schon lange nicht mehr, sammelte Gordana ihre Habseligkeiten zusammen, um sie sogleich in die Reisetasche hineinzustopfen. Gleichzeitig schwor sie sich, dass sie ihr loses Mundwerk in Zukunft besser unter Kontrolle halten würde, denn solch eine Erfahrung, wie die eben gemachte, zählte ganz bestimmt nicht zu jenen, die sie noch einmal erleben wollte.

Vor dem Flughafengebäude angekommen, suchte Gordana vergeblich nach einem Taxi. Als sie schließlich begriff, dass entweder gerade alle unterwegs oder aber gar keine mehr vorhanden waren, stieß sie einen unterdrückten Fluch aus. Bereits drauf und dran, zu Fuß in die Stadt zu laufen, sah sie einen ziemlich ramponiert wirkenden Bus kommen und sprang dankbar hinein, sobald das Gefährt anhielt.

Samstag – 31. Oktober – 07:40 Uhr

Nach einer Nerv tötend langen Fahrt, die scheinbar kreuz und quer durch Sarajevos stockfinstere Vororte verlaufen war, erreichte Gordanas Bus endlich das Stadtzentrum. Also stieg sie aus, um sich zunächst einmal umzusehen, denn jetzt endlich war es hell genug, um Einzelheiten erkennen zu können.

Die Atmosphäre war merkwürdig ruhig und bedrohlich zugleich, stellte sie mit einem leichten Schaudern fest. Viele Häuserfassaden wiesen Einschusslöcher auf, deren Durchmesser von unterschiedlicher Größe war, was darauf hinwies, dass ganz unterschiedlich Waffen zum Einsatz gekommen waren. Auch bei den vereinzelten Kratern, welche die Asphaltdecke der Straßen unterbrachen, verhielt es sich ähnlich. Man hatte die Fahrbahnen zwar notdürftig geräumt, damit sowohl Zivilfahrzeuge als auch die Krankenwagen passieren konnten. Aber offenbar war noch keine Zeit gewesen, um die Schäden richtig zu reparieren, sodass die Autos Slalom fahren mussten, wollten sie sich nicht Achsen und Räder ruinieren. Die Menschen selbst bewegten sich in einem merkwürdig eintönigen Trott, wobei jeder eine gewisse Eile an den Tag legte. Auch blieb keiner von ihnen längere Zeit an einem Ort stehen. Den Kopf zwischen die Schultern geklemmt, hasteten sie vorwärts. Dabei schauten sie weder nach links noch nach rechts. Sie beachteten einander auch nicht, was die unnatürliche Stille erklärte, die sich sofort in den Straßenschluchten breitmachte, sobald das Brummen der Fahrzeuge verklungen war. Aber am auffälligsten war die Tatsache, dass keine Kinder zu sehen waren – obwohl es Zeit war, um in die Schule zu gehen!

Gordana lief durch die Straßen, den Stadtplan in der einen Hand, den Henkel ihrer Reisetasche in der anderen, und versuchte so schnell als möglich zu der Adresse zu gelangen, wo sie Jelena und deren Kinder anzutreffen hoffte. Obwohl sie im Flugzeug ein wenig gedöst hatte, war sie jetzt so müde, dass es ihr schwerfiel, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

Plötzlich knallte es, was sich so ähnlich anhörte, wie die Fehlzündung eines Kraftfahrzeugmotors. Doch schon im nächsten Augenblick wurde Gordana klar, dass es sich um etwas anderes handeln musste, denn die Menschen um sie herum duckten sich noch ein wenig tiefer und begannen dann unvermittelt zu rennen, wobei sie sich eng an den Hausmauern entlang drückten.

„Geh in Deckung, Mädchen“, zischte es plötzlich aus einer direkt an Gordanas Seite befindlichen überdachten Einfahrt, die zu einem nicht einsehbaren Hinterhof führte. Gleichzeitig fasste jemand nach dem Schulterriemen ihres Rucksacks und begann daran zu zerren.

Überrascht durch den dreisten Angriff am helllichten Tag, schaute Gordana in die Richtung des mutmaßlichen Räubers. Da dessen Gestalt jedoch mit dem Hintergrund verschmolz und daher kaum zu erkennen war, konnte sie nicht bestimmen, ob sie es mit einem Mann oder mit einer Frau zu tun hatte. Allerdings erschien ihr die Klärung dieser Frage ohnehin nicht wichtig, denn egal wer sie bestehlen wollte, es sollte ihm nicht gelingen! Sie wollte gerade zu einer unwirschen Zurechtweisung ansetzen, da wurde sie erneut und so heftig gezogen, dass sie seitwärts stolperte und der Lange nach hinfiel. Sich sofort wieder aufrappelnd, quetschte sie einen derben Fluch hervor, insgeheim fest dazu entschlossen, die an ihr verübte Tätlichkeit entsprechend zu strafen. Doch stand sie kaum wieder auf den Füßen, da wurde ihr bewusst, dass sie im Begriff war, eine uralt scheinende, vollkommen in Lumpen gekleidete Frau zu attackieren. Eine Zigeunerin, schoss es ihr durch den Sinn, während sie sich merklich entspannte. Offenbar eine von diesen hinterhältigen Streunerinnen, die ihren Lebensunterhalt durch Bettelei und Diebstahl bestritten!

„Was fällt dir eigentlich …?“ Ein weiterer Knall, dem ein seltsames Pfeifen folgte, unterbrach ihren Satz. Gleich darauf erfolgte eine ohrenbetäubende Explosion. Und im nächsten Moment flogen Asphaltbrocken, Pflasterfragmente und Putzstücke in alle Himmelsrichtungen.

Gordana indes hatte reflexartig einen Arm über den Kopf geworfen, um sich so vor den herumfliegenden Trümmern zu schützen, derweil sie von der Druckwelle der Detonation noch weiter in die Einfahrt geschoben und gleichzeitig von einer Staubwolke umfangen wurde. Im ersten Moment nicht fähig, zu begreifen, was da soeben geschehen war, lehnte sie sich Halt suchend an die hinter ihr aufragende Wand. Als sich Rauch und Staub schließlich ein wenig verflüchtigten, sah sie einen tiefen Krater im Gehweg klaffen – genau an der Stelle, an der sie gerade eben noch gestanden hatte! – und schluckte entsetzt, weil ihr mit einem Mal klar wurde, dass sie nur um Haaresbreite einer Katastrophe entgangen war.

„Du bist wohl nicht von hier?“, krächzte die Alte. „Wenn du nämlich schon länger in der Stadt wärst, wüsstest du, dass die Mistkerle in den Türmen nur darauf warten, dass sie uns abknallen können. Sie haben ihren Spaß daran, weißt du? Sitzen da oben, wo keiner an sie ’rankommt, und warten nur darauf, bis sie was vor die Flinte kriegen. Verfluchte, blutrünstige Monster sind das, kann ich dir sagen. Kaufen sich automatische Gewehre, tragbare Granatwerfer und sonstiges Mordwerkzeug, und kommen dann von weither angereist, nur um Blut fließen zu sehen! Und wenn sie genug haben, steigen sie von ihrem Schießstand runter, ziehen sich den Schlips wieder an und fahren zurück nach Hause, zur Frau und Kindern. Andere nennen sie Heckenschützen. Aber ich sage: Es sind Feiglinge, die sich nicht trauen, richtige Soldaten zu sein, weil sie Angst davor haben, dass man ihnen im Ernstfall wehtut. Stattdessen stillen sie ihre Mordgier hier, indem sie Frauen, Kinder und alte Leute umbringen. Satansbrut, alle miteinander! Jawohl! Das sind keine Menschen! Ausgeburten der Hölle sind sie! Kein Herz und keine Seele haben sie!“ Während sie sich so ereiferte, langte sie nach Gordanas Hand. Gleich darauf drehte sie den Handteller ihres Gegenübers nach oben, um zunächst gleichgültig darauf hinabzuschauen. Doch dann runzelte sie die Stirn, zog die Hand der Fremden ein wenig näher an ihre Augen heran und sog dabei hörbar den Atem ein.

„Nimm dich in Acht, Mädchen“, stieß sie plötzlich hervor. „Sei immer auf der Hut. Licht kann Sicherheit und Vertrauen einflößen. Aber wenn du deine innere Stimme ignorierst, wird es dich töten.“ Sie sah ihr hochgewachsenes Gegenüber eindringlich an, wobei sie weiterredete: „Du bist zwar eine von uns, aber du kommst von weit her. Von sehr weit. Und du wirst etwas hier finden, was du eigentlich gar nicht gesucht hast. Ja“, bekräftigte sie im nachdenklichen Tonfall. „Nicht gesucht, nein … Und im Grunde vor langer Zeit schon aufgegeben.“

Gordana hielt die Zigeunerin für verrückt, ließ sich jedoch nichts anmerken. Eigentlich war es ganz egal, was die Alte da plapperte, dachte sie für sich, indem sie ihre Hand durch eine sanfte Drehung befreite. Hauptsache war doch, dass sie nun von den Scharfschützen wusste und sich entsprechend darauf einstellen konnte.

„Können Sie mir sagen, in welcher Richtung die Grundschule liegt?“, fragte sie, wobei sie sich Staub und kleinere Steinchen aus den Haaren und von der Kleidung schüttelte. „Ich muss zu dem Kaufladen, der direkt daneben ist.“ Irgendwie hatte sie die Orientierung verloren, gestand sie sich ein. Obwohl sie den Straßenplan mittlerweile fast auswendig kannte, wusste sie nicht mehr, ob sie tatsächlich richtig war oder nicht, denn die Straßenschilder, die sie bisher entdeckt hatte, waren allesamt nicht mehr zu entziffern gewesen.

„Da wird dir keiner mehr helfen können“, erwiderte die alte Frau. „Vorgestern ist da nämlich ’ne Granate direkt ins Fenster rein und hat so ziemlich alles zu Kleinholz gemacht, was da ’rumgestanden hat. Sind sogar einige Leute von umgebracht worden, die nach Brot angestanden haben. Ich war dabei, verstehst du. Bin bloß davongekommen, weil ich ziemlich am Ende der Warteschlange gestanden hab. Und das war fast zwei Häuser weit weg.“

„Aber … Aber …“ Gordana schluckte schockiert. „Das Haus … Steht es noch? Oder ist es eingestürzt?“

„Soviel ich weiß, steht noch alles“, erwiderte die Gefragte. „Nur wohnen kann da keiner mehr. Ist nämlich nicht sicher, ob es nicht doch noch zusammenkracht.“

„Das … Was ist mit den Leuten?“, wollte Gordana wissen. „Über dem Laden waren doch Wohnungen, wo Menschen gelebt haben. Wo sind die hin?“

„Du fragst mich vielleicht Sachen, Mädchen. Woher soll ich denn das wissen?“ Die alte Frau machte ein bekümmertes Gesicht, so als täte es ihr in der Tat unendlich leid, dass sie keine weiteren brauchbaren Informationen mehr parat hatte.

„Aber … Aber … Ich …“ Wieder schluckte Gordana schwer, bevor sie zu einer weiteren Frage ansetzte: „Wie komme ich von hier aus am schnellsten zum Meldeamt?“

„Die werden dir auch nicht helfen können“, stellte die Gefragte fest. „Außerdem ist das, was du finden sollst, nicht hier. Du musst nach Norden. In die Berge.“

„Was? Ach so, ja.“ Gordana nickte verwirrt, derweil sie sich abwandte, um durch die Einfahrt zur Straße hin zu tappen. „Danke, Großmutter, für die Warnung und die Hilfe“, warf sie über die Schulter zurück, während sie zunächst vorsichtig um beide Mauerecken herum lugte. „Und passen Sie weiter gut auf sich auf.“ Damit schob sie sich um das große Loch im Gehweg herum, um sogleich im Laufschritt davonzueilen. Durchgeknallt, stellte sie dabei für sich fest. Und wahrscheinlich war die alte Frau nicht die einzige in dieser Stadt. Angst konnte sich auf vielerlei Art ausdrücken, bloß dass es bei ihrer hilfsbereiten Zufallsbekanntschaft nicht in Form von Tränen und Geschrei nach außen gedrungen, sondern in nicht zu verhehlenden Wahnsinn umgeschlagen war!

Samstag – 31. Oktober – 14:00 Uhr

Im Schutze des von außen nicht einsehbarem Eingang zum Polizeirevier auf ihrer Reisetasche sitzend und ein wenig ausruhend, musste Gordana zugeben, dass ihre Lebensretterin zumindest in einem recht gehabt hatte: Weder Meldebehörde noch Polizei konnten ihr sagen, wo sie nach ihren Angehörigen suchen sollte. Die Namen Jelena, Jovanka und Pero Radic waren zuletzt unter der Adresse registriert worden, die nun nicht mehr als bewohnbares Haus angesehen werden konnte. Wo Frau Radic und ihre beiden Kinder jetzt steckten, wusste keiner. Allerdings könnte es sein, dass die internationalen Hilfsorganisationen, die sich der Flüchtlinge annahmen, mehr zu sagen wussten. Diese würden Identitäten und Herkunft der Hilfe suchenden schriftlich festhalten, weil sie sich zumindest einen kleinen, wenn auch völlig unzureichenden Überblick über die Massenbewegungen verschaffen wollten, die momentan kreuz und quer durchs Land zogen.

Mittlerweile völlig erschöpft, raffte sich Gordana noch einmal auf, um zu dem nahe gelegenen Hotel zu laufen, welches man ihr kurz zuvor auf ihre Nachfrage hin empfohlen hatte.

Das Gebäude lag ein wenig abseits der Hauptstraße und wirkte wenig einladend. Dennoch checkte sie ein, nicht mehr willens, noch einmal auf die Straße zu gehen, um eine neue Suche zu starten. Sobald die Formalitäten erledigt waren, bestellte sie sich ein warmes Essen und ging dann erst einmal in ihr Quartier, um sich ein bisschen frisch zu machen.

Es machte Gordana nichts aus, dass die fehlenden Fensterscheiben des winzigen, wenn auch sündhaft teuren Zimmers durch eine leidlich durchsichtige Folie ersetzt worden waren. Unwichtig war auch, dass es momentan kein warmes Wasser gab. Das Einzige, was ihr wirklich etwas ausmachte, war die Tatsache, dass das Telefon tot war – sowohl der Apparat in ihrem Zimmer, als auch der in der Empfangshalle!

„Tut uns sehr leid“, wurde ihr auf ihre Anfrage hin beschieden. „Man hat offenbar wieder die Hauptleitungen außerhalb der Stadt gekappt. Niemand kann momentan telefonieren. Es sei denn, er hat ein Funkgerät, oder eines dieser neumodischen Handys.“

Da sie also keinerlei Möglichkeit hatte zu Hause anzurufen, beschloss Gordana, dass sie sich erst einmal ausruhen würde. Wenn sie erst geschlafen hatte, dachte sie für sich, würde sie wahrscheinlich vernünftiger nachdenken können. In ihrem jetzigen Zustand schien nämlich jeder Gedanke ein offenes, nicht greifbares Ende zu haben.

Sonntag – 1. November – 09:00 Uhr

Nach Süden, Richtung Dubrovnik, wollte Gordana nicht, denn Jelena war garantiert nicht dahin zurückgegangen, von wo man sie schon einmal vertrieben hatte. Westen war witzlos, weil dort momentan die schlimmsten Kämpfe zwischen serbischen Soldaten und kroatischen Freiheitskämpfern tobten. Niemand, am wenigsten eine Mutter mit Kindern würde sich freiwillig in diesen Hexenkessel begeben!

Aber wohin war Jelena gegangen?

Oder war sie noch in Sarajevo?

Und wenn ja – wo war sie dann abgeblieben?

Gordana hatte gleich nach dem Aufstehen versucht, zu Hause anzurufen. Allerdings war sie erneut gescheitert, weil die Telefonleitungen zwar in der Nacht repariert, im Morgengrauen aber an anderer Stelle wieder gekappt worden waren. Also beschloss sie nach dem gewöhnungsbedürftigen Frühstück, dass sie sich erst einmal auf ihr eigentliches Anliegen konzentrieren und später noch einen Versuch machen wolle, ihrer Familie Bericht zu erstatten.

Gordana ließ nur die Reisetasche mit ihrer Kleidung im Hotel, während sie sich auf den Weg machte, um die besagten Flüchtlings-Anlaufstellen aufzusuchen, von welchen sie sich zumindest einen hilfreichen Hinweis erhoffte. Da man ihr jedoch in beiden nur mit einem hilflosen Achselzucken antwortete, begriff sie endlich, dass sie sozusagen die berüchtigte Stecknadel in Heuhaufen suchte. Trotzdem erlaubte sie sich nicht eine Sekunde lang an ein Aufgeben zu denken – auch wenn die Versuchung immens groß war, den nächstbesten Flieger zu nehmen und der scheinbar sinnlosen Suche ein Ende zu bereiten. Das Letzte, was sie wollte, war das öffentliche Eingeständnis, dass sie sich in der Tat wie eine Idiotin verhalten hatte. Man würde sich totlachen, stellte sie im Stillen für sich fest. Ja, wenn sie unverrichteter Dinge zurückkehrte, würde man ihr immer wieder unter die Nase reiben, dass man es ihr ja gleich gesagt habe! Aber: Erstens hatte sie gar keine Lust, sich zum Gespött der Leute zu machen. Und zweitens hatte sie noch nie aufgegeben, wenn eine Sache nicht sofort geklappt hatte. Sie hatte immer so lange gekämpft, bis sich ein Erfolg einstellte. Und das würde sie auch diesmal tun! Sie hatte sich selbst reingeritten. Also würde sie zusehen, dass sie auch allein wieder rauskam.

Nach ihrer Rückkehr in ihre Unterkunft studierte Gordana zum x-ten Mal die Landkarte, welche auf dem Bett ausgebreitet lag. Dabei kaute sie unbewusst an ihrer Unterlippe herum. Sarajevo war zurzeit völlig von der Außenwelt abgeschnitten, rief sie sich den Hinweis des Portiers in Erinnerung. Sowohl alle wichtigen Straßen als auch das Eisenbahnnetz waren von serbischen Truppen blockiert, vorläufig unbrauchbar gemacht oder sogar ganz zerstört worden. Abgesehen vom Flughafen, der nur stundenweise geöffnet wurde – und das auch nur, um die Maschinen mit den Hilfsgütern landen zu lassen – gab es momentan weder ein Hinein noch ein Hinaus aus der Stadt. Zumindest auf öffentlichen Wegen nicht! Also musste man nicht nur nach einer Möglichkeit suchen, wie man Sarajevo ohne größeres Risiko für die eigene Person verlassen konnte, sondern auch festlegen, in welche Richtung man sich letztlich wenden wollte. Osten wäre eine Möglichkeit, überlegte sie, obwohl das eigentlich unsinnig war. Wenn Jelena nicht doch noch irgendwo hier in der Stadt einen neuen Unterschlupf gefunden hatte, dann war sie vermutlich unterwegs in die Gegend, in der sie ihren Ehemann vermutete. Und wenn sie diesen da nicht fand, würde sie vielleicht so schlau sein, zur ungarischen Grenze weiterzuziehen, weil man von dort aus am leichtesten weiterkam.

Die Karte zusammenklappend, nickte Gordana mehrmals mit dem Kopf. Richtung Ungarn also, entschied sie. Sie musste zunächst nach Tuzla – oder zumindest in diese grobe Richtung. Von da aus irgendwie über die Berge. Dann nach Möglichkeit immer geradeaus. Vielleicht … Möglicherweise konnte sie unterwegs etwas über Jelenas Verbleib erfahren!

Jetzt, wo sie ein bestimmtes Ziel hatte, fühlte sich Gordana wie befreit. Voller Tatendrang leerte sie ihre Reisetasche aus, um die darin befindlichen Sachen zu begutachten. Davon ausgehend, dass sie von nun an jederzeit zum Sprung bereit sein musste und vermutlich auch viel zu Fuß würde laufen müssen, legte sie sich entsprechende Kleidung und Schuhwerk für den nächsten Morgen bereit. Danach suchte sie noch ein paar dringend notwendige Dinge zusammen, die sie in ihren Rucksack legte. Den Rest ihrer Habe würde sie mit der Reisetasche zurücklassen, beschloss sie. Jedes Gramm an Last zu viel, würde bloß unnötige Energie kosten, ermahnte sie sich.

Eine halbe Stunde später bestellte sich Gordana im sogenannten Hotelrestaurant einen Grillteller und fragte gleichzeitig nach einem möglichst sicheren Weg aus der Stadt.

„Wo wollen Sie denn hin?“, reagierte der Kellner mit einer scheinbar gleichgültigen Gegenfrage.

„Ungarn“, antwortete sie reserviert. Seinem zuvorkommend grinsenden Gesicht war nicht anzusehen, welche Gedanken sich tatsächlich hinter seiner Stirn abspielten. Also war sie bestimmt gut beraten, wenn sie eine gewisse Vorsicht an den Tag legte, ermahnte sie sich.

„Vielleicht kann ich sogar mehr tun, als Ihnen einen leidlich sicheren Weg aus Sarajevo zu beschreiben.“ Mit einem verschwörerischen Zwinkern strich er das Tischtuch vor seiner Gesprächspartnerin glatt, wobei er sich gleichzeitig so weit zu ihr hinab beugte, dass sie auch sein Flüstern verstehen konnte. „Wenn Sie eine, hm, angemessene Summe investieren, könnte ich dafür sorgen, dass man Sie mitnimmt.“ Da die Frau zunächst völlig verständnislos dreinschaute, um schließlich unsicher die Stirn zu runzeln, entschloss er sich zu einer weiteren Erklärung: „Mein Schwager fährt fast täglich nach Semizovac hinauf, um, sagen wir mal, ein paar wichtige Dinge abzuholen. Na ja, auf der Hinfahrt ist Platz im Wagen …“ Er hob vielsagend eine Augenbraue, wobei sich sein Mund zu einem noch breiteren Grinsen verzog.

Endlich begriff Gordana.

„Und das würde mich kosten?“ Sie hatte bereits geahnt, dass es solch eine Möglichkeit gab. Wenn eine Stadt belagert wurde, dann gab es immer ein oder sogar mehrere Schlupflöcher, durch welche man unbehelligt von den Belagerern entkommen konnte. Und sie war sich auch im Klaren darüber, dass es nicht gerade billig werden würde. Daher wollte sie nicht gleich zeigen, dass sie stark interessiert war, denn dann würde man sie garantiert über den Tisch ziehen wollen.

„Fünfhundert.“ Die Antwort des Kellners klang eher wie eine Frage, weil er sich nicht ganz sicher war, wie viel er tatsächlich verlangen konnte. Einhundert D-Mark forderte Ante, sein Schwager, pro Kopf. Also blieb alles, was er darüber hinaus aushandelte, in seiner eigenen Tasche. Wenn sie nun ablehnen sollte, überlegte er, konnte er den Preis immer noch nach unten korrigieren. Und wenn sie dann immer noch nicht wollte, würde sie sich eben allein durchschlagen müssen, was zurzeit jedoch keiner Frau zu raten war, die Leib und Leben unversehrt behalten wollte.

Gordana war für einen Moment versucht, das unverschämte Angebot rundweg abzulehnen. In letzter Sekunde zügelte sie jedoch ihr Temperament, weil ihr jäh bewusstwurde, dass sie sich zusammennehmen musste, wollte sie nicht hernach bereuen, ihn gegen sich aufgebracht zu haben. Er tat zwar freundlich und zuvorkommend, doch konnte er ein Gauner sein. Wenn sie ihm dumm kam und er sich dadurch beleidigt fühlte, schickte er später womöglich ein paar Helfershelfer hinter ihr her, um doch noch an ihr Geld zu kommen – und zwar an die gesamte Summe, die sie bei sich trug. Also war es sicherlich besser, nett zu lächeln und dann auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden! Andererseits war er vermutlich auch nicht schlimmer, als all die anderen, die aus der Not anderer Menschen ihren Vorteil zogen, sodass man ihm durchaus ein gewisses Maß an Vertrauen entgegenbringen durfte.

„Zweihundert“, sagte sie mit entschiedener Stimme.

Der Kellner wollte gerade eine neue Summe nennen, da bemerkte er den Ausdruck in den Augen seiner Gesprächspartnerin. Sie würde nicht weiter mit sich handeln lassen, erkannte er. Entweder er akzeptierte jetzt, oder er verzichtete auf das Geld! Nun, einhundert waren auch nicht zu verachten, entschied er. Immer noch besser, als nichts!

„Kommen Sie gegen neun noch einmal zu mir.“ Sein Gesicht trug jetzt eine gleichmütig ernste Miene. „Bis dahin habe ich mit meinem Schwager gesprochen.“

„Geht das Telefon wieder?“, hakte sie sofort nach.

„Leider nicht“, winkte er ab. „Aber Ante kommt jeden Abend um die gleiche Zeit hier vorbei. Also frag ich ihn, sobald er da ist.“

„Oh.“ Ihre jäh aufgeflammte Hoffnung fiel in sich zusammen, wie ein Häufchen verbranntes Papier. „Also gut.“

Da in ihrem Zimmer das Telefon immer noch tot war, brach Gordana gegen neunzehn Uhr noch einmal auf, in der Hoffnung, vielleicht einen funktionierenden öffentlichen Fernsprecher finden zu können, von dem aus sie ihre Familie kontaktieren wollte, damit sich diese nicht allzu sehr um sie sorgte. Allerdings blieb ihre Suche erfolglos, denn alle Stationen, die sie unterwegs entdeckte, waren vollkommen zerstört oder wegen gekappter Leitung unbrauchbar. Am Ende lief sie einem Mann in Polizeiuniform in die Arme, den sie sogleich nach einem sicheren Weg aus der Stadt fragte. Weil aber dieser eine im Voraus zu entrichtende Gebühr für die gewünschte Information verlangte, verzichtete sie mit einem betont höflichen Dank auf seine Unterstützung, weil sie nämlich kein Geld habe. Seinen finsteren Blick im Nacken spürend, lief sie gleich darauf davon, insgeheim über sich selbst erschrocken, weil sie allein einer Uniform vertraut und darum einem Wildfremden ihr Problem offenbart hatte.

Um sicherzugehen, dass man ihr nicht folgte, um sie doch noch zu berauben, kehrte Gordana über Umwege zu ihrer Unterkunft zurück. Sie war kaum im Haus, da wurde sie auch schon von ihrem Kellner abgepasst, der ihr in knappen Worten mitteilte, wann und wie sie sich am kommenden Morgen zu verhalten habe.

„Gut.“ Zwei zusammengefaltete Hunderter in seine verlangend ausgestreckte Hand drückend, ließ sie ihn gleich darauf stehen, um sich an der Rezeption die Rechnung aushändigen zu lassen.

Dass sie einen Wucherpreis für Kost und Logis zahlen sollte, erfüllte Gordana mit einem empörten zugleich aber auch hilflosen Zorn. Nicht zu fassen, dachte sie. In Friedenszeiten hätte sie für das gleiche Geld zwei Nächte in einer Fünf-Sterne-Herberge verbringen und dabei auch noch ein Luxusmenü verdrücken können!

2

Samstag – 31. Oktober - 09:00 Uhr – Julian

Davon ausgehend, dass Gordana zunächst zu ihrer Mutter gelaufen war, um sich mit dieser zu beraten, war Julian nach dem Abendessen vor dem Fernseher eingeschlafen. Erst als seine Jüngste ihn zum Frühstück rief, schreckte er auf.

„Wie war’s gestern?“, wollte er wissen.

„Der Nachmittag war mau. Aber die Filmnacht bei Nina hat echt Spaß gemacht“, antwortete Annika. „Bin vor einer halben Stunde gekommen“, stellte sie fest, indem sie dem Vater Kaffee eingoss. „Wo ist Mama?“ Sie war es gewohnt, jeden Morgen beide Elternteile im Speisezimmer anzutreffen und war daher leicht irritiert.

Gute Frage, dachte Julian. Sollte er lügen, um seine Tochter nicht zu beunruhigen? Oder doch lieber die Wahrheit sagen? Nein, entschied er, es war ja noch gar nicht heraus, ob sich Gordana tatsächlich über sein Ultimatum hinweggesetzt hatte oder nicht.

„Bei Oma“, regierte er endlich auf die Frage des Mädchens, insgeheim hoffend, dass seine Aussage der Wahrheit entsprach.

„Habt ihr euch gestritten?“, fragte Annika scheinbar gleichmütig.

„Ja“, gestand er. „Und sie ist deshalb über Nacht bei Oma geblieben. Aber mach dir keine Gedanken, mein Schatz. Wir haben ganz bestimmt keine Ehekrise. Es ist nur … Na, du kennst ja deine Mutter.“

„Hmhm.“ Annika verdrehte die Augen und stand auf, wobei sie den letzten Schluck aus ihrer Tasse austrank. „Ich muss dringend unter die Dusche“, erklärte sie. „Und dann hau ich mich noch mal ein bisschen aus Ohr. Tschüss Paps.“ Damit ging sie.

Julian indes wusste zunächst nicht so recht, was er als Nächstes machen sollte. Ivanka anzurufen wäre eine Option, überlegte er. Allerdings war das keine besonders gute Idee, gestand er sich ein. Wenn Gordana immer noch sauer war, dann würde sie sich vermutlich verleugnen lassen. Besser, er ging selbst hin, um von Angesicht zu Angesicht mit ihr zu reden.Da er nun eine Entscheidung gefällt hatte, räumte er erst einmal den Frühstückstisch ab. Danach wusch und rasierte er sich und verließ dann in frischer Kleidung das Haus, um zu seinem Geschäft zu gehen, welches sich in einem großzügig bemessenen Nebengebäude befand. Dort angekommen, informierte er seine beiden Angestellten darüber, dass sie erst einmal ohne ihn auskommen mussten, und machte sich schließlich auf den Weg zu seiner Schwiegermutter.

Mittlerweile nicht mehr verärgert, sondern nur noch zutiefst besorgt, saß Julian eine halbe Stunde später in Ivankas Wohnzimmer und erzählte ihr von dem offenbar doch in die Tat umgesetzten Plan ihrer Tochter.

„Dieses bekloppte Weib!“ Die kleine Frau war außer sich. „Wieso, zum Teufel, hast du sie denn überhaupt gehen lassen?“

„Soll das ein Witz sein?“, wehrte er sich. „Ich denke, du kennst deine Tochter gut genug, um zu wissen, dass sie immer nur das macht, was sie will!“

„Weißt du denn wenigstens wohin genau sie wollte?“ Den unüberhörbaren Vorwurf in der Stimme ihres Schwiegersohnes ignorierte Ivanka bewusst, denn jetzt hatte sie ganz andere Sorgen, als sich ihre Erziehungsfehler vor Augen zu halten.

„Sie sagte was von Sarajevo“, antwortete der Gefragte.

„Sarajevo?“ Ivanka schluckte erschrocken. Wieso wollte Gordana ausgerechnet dahin, wo’s momentan am gefährlichsten war? Und warum, verflucht noch mal, war er nicht mitgefahren, wenn er seine Frau schon nicht hatte umstimmen können? … Nein, sie durfte nicht ungerecht werden, rief sie sich selbst zur Räson. Er hatte vermutlich nicht die leiseste Chance gehabt, seinen Standpunkt durchzusetzen! Ihre Tochter war zwar ein sehr liebenswerter aber auch ein sehr eigenwilliger Mensch. Niemand wusste das besser, als sie selbst! „Wie wollte sie denn hinkommen?“, fragte sie.

„Ich weiß es nicht“, gestand Julian kleinlaut. „Ich habe nicht damit gerechnet, dass sie es wirklich darauf ankommen lässt. Also habe ich gar nicht nach Einzelheiten gefragt. Wir haben uns gestritten, wobei ein paar unschöne Dinge gesagt worden sind. Und danach ist sie Hals über Kopf aus dem Haus gestürzt.“

„Aber du bist sicher, dass sie nach Sarajevo wollte?“, vergewisserte sich Ivanka noch einmal. „Das hat sie nicht nur so daher gesagt?“

„Nein, das glaub ich nicht“, beantwortete er die zweite Frage.

„Na gut.“ Die kleine Frau seufzte gottergeben. „Dann wollen wir mal.“ Das Telefonbuch aufschlagend, suchte sie die Nummer des Frankfurter Flughafens heraus. Danach versuchte sie in Erfahrung zu bringen, ob und wann genau ihre Tochter ein Flugzeug nach Sarajevo bestiegen hatte.

„Heute Morgen um zwei ist ihre Maschine in Frankfurt am Main gestartet“, ließ sie Julian wissen, sobald sie die entsprechende Information erhalten hatte. Gleich darauf ließ sie sich von der Telefonauskunft die Nummer des Flughafens von Sarajevo geben, in der Hoffnung, von den dortigen Angestellten erfahren zu können, ob diese den Rückflug ihrer Tochter registriert oder doch zumindest die Buchung eines Rückfluges notiert hatten. Doch war das erste Klingelzeichen auf der Gegenseite gerade erst erklungen, da brach die Verbindung auch schon zusammen, um für lange Zeit nicht mehr zustande zu kommen.

Sonntag – 1. November – 06:10 Uhr

Während Julian zu Hause Annika zu beruhigen suchte, die sich wahnsinnige Sorgen um ihre Mutter machte, versuchte Ivanka immer wieder eine Verbindung nach Sarajevo zu bekommen. Endlich erfuhr sie, dass Frau Zeidler zwar planmäßig in Sarajevo angekommen sei, dass man aber kein Rückflugticket für sie reserviert habe.

Nach dieser unbefriedigenden Information legte die kleine Frau erst einmal den Hörer auf, um nachdenken zu können. Als sie schließlich einen hilfreichen Einfall hatte, setzte sie sich kurzerhand ins Auto und fuhr zu einem Bekannten, der ein Reisebüro betrieb. Von diesem wollte sie ein Unterkunft-Verzeichnis erbitten, welches sowohl alle entsprechenden Adressen in Sarajevo, als auch die dazugehörigen Rufnummern enthielt. Was auch immer geschehen sein mochte, überlegte sie, eines stand jedenfalls fest: Jelena hielt sich vermutlich nicht mehr dort auf, wo man sie bisher vermutet hatte. Und sollte Gordana sie nicht vor dem gestrigen Abend gefunden haben, hatte sie sich vielleicht irgendwo einquartiert, wo sie über Nacht sicher war. Nun, wenn sich herausfinden ließ, wo man sie zuletzt gesehen hatte, konnte man vielleicht auch in Erfahrung bringen, wo sie sich jetzt aufhielt!

Robert Winkler, der Reisebürobetreiber, war wenig begeistert darüber, dass man ihn am frühen Sonntagmorgen aus den Federn klingelte. Dennoch erfüllte er Ivankas Wunsch ohne zu murren, denn ihre kurze Erklärung hatte ausgereicht, um ihm ihre Besorgnis verständlich werden zu lassen.

Wieder daheim angelangt, hängte sich die besorgte Mutter wiederum ans Telefon und versuchte erneut, eine Verbindung nach Sarajevo zu bekommen. Allerdings musste sie sich den ganzen Nachmittag und die darauffolgende Nacht gedulden, bis sie endlich durchkam. Daraufhin rief sie zunächst ein Hotel nach dem anderen an, bis sie schließlich zu hören bekam, dass man ihre Tochter kenne. Gleich darauf wurde sie weiter verbunden. Als sie dann Gordanas Stimme vernahm, war sie zum Umfallen müde und bereits nahe an einem Nervenzusammenbruch.

„Ich hätte dir beizeiten den Hintern verdreschen sollen, damit du Vernunft annimmst“, stieß sie statt einer Begrüßung hervor, um sich dann in einen regelrechten Wutanfall hineinzusteigern. Im Grunde war sie heilfroh, ihre Tochter gesund und munter zu wissen, konnte die stetig anwachsende Angst um deren Sicherheit jedoch nicht bezwingen. Sarajevo war momentan wie ein Pulverfass, welches jederzeit zu explodieren drohte!

Die kleine Frau hatte genau eine halbe Minute Zeit, um ihre Meinung deutlich zu machen. Da sie aber kaum noch fähig war vernünftig zu denken, achtete sie auch nicht auf ihre Wortwahl. In der Tat war sie niemals zuvor so ausfallend gegenüber einem ihrer Kinder geworden.

Gordana indes war nicht gewillt, sich wie ein Kleinkind ausschimpfen zu lassen, und legte daher einfach auf, ohne eine Erwiderung zu dem mütterlichen Ausbruch formuliert oder gar eine Erklärung zu ihren weiteren Plänen abgegeben zu haben.

Für eine Sekunde völlig perplex knallte Ivanka den penetrant tutenden Hörer auf. Danach überlegte sie einen Moment und nahm ihn dann wieder zur Hand. Dass am anderen Ende trotz mehrmaligem Läuten nicht noch einmal abgehoben wurde, überraschte sie nicht. Dennoch wäre sie gerne noch das eine oder andere losgeworden, dachte sie wütend.

Um Beherrschung bemüht, wählte die kleine Frau die Nummer ihres Schwiegersohnes, um ihm mitzuteilen, was sie bisher in Erfahrung gebracht hatte. Im Gegenzug bekam sie zu hören, dass seine eigenen Bemühungen völlig vergebens gewesen waren, obwohl auch er nichts unversucht gelassen hatte.

„Versuch du mit ihr zu reden“, bat Ivanka am Ende. „Vielleicht kannst du wenigstens erfahren, was sie weiter vorhat.“ Sie gab ihm noch die Durchwahl und legte dann auf, weil sie sich kaum noch wach halten konnte.

Julian versuchte sofort sein Glück, wurde jedoch gleich wieder enttäuscht, denn Gordana war nicht mehr ans Telefon zu kriegen, weil sie nur zwei Minuten zuvor das Hotel verlassen hatte.

„Verflucht noch mal!“ Schon drauf und dran, das mobile Gerät an die nächstbeste Wand zu werfen, nahm er sich in letzter Sekunde zusammen. Na gut, dachte er, er wusste jetzt, wo genau sie war. Also würde er ihr nachreisen und sie notfalls mit Gewalt wieder heimholen! Mochte ja sein, dass sie es tatsächlich nur gut gemeint hatte, indem sie unter Missachtung der eigenen Sicherheit zu ihrer sogenannten Hilfsaktion aufgebrochen war. Aber er wollte nicht länger tatenlos darauf warten, dass sie zur Vernunft kam und von sich aus zurückkehrte, denn das würde sie mit Sicherheit nicht tun! Er kannte sie zu gut! Wenn sie etwas begann, dann führte sie es auch zu Ende – egal, was es sie kosten mochte!

Zwei Stunden später war Julian bereits am Frankfurter Flughafen und stritt sich dort mit der Dame am Schalter, weil sie ihm partout kein Ticket nach Sarajevo geben wollte.

Im Grunde durfte die insgeheim als dumme Nuss beschimpfte Frau den Wunsch des uneinsichtigen Kunden gar nicht erfüllen, weil zurzeit nicht ein einziges kommerzielles Flugunternehmen bereit war, seine Leute über umkämpften Gebieten kreisen, geschweige denn inmitten sich beschießender Parteien landen zu lassen.

Und so akzeptierte Julian schließlich zähneknirschend einen Flug nach Slavonski Brod, womit er einen enormen Umweg in Kauf nahm. Es ging nicht anders, stellte er zornig für sich fest. Die Entfernung war einfach zu weit, um sie ganz allein mit einem Pkw zu bewältigen. Außerdem: Auch wenn er erst in der Nacht startete, würde er mit dem Flieger immer noch schneller da sein, als mit der Bahn!

3

Montag – 2. November – 06:30 Uhr – Gordana

Trotz der Sicherheit verheißenden Stille und der nur widerwillig weichenden Dunkelheit, drückte sich Gordana nahe der Hausmauern entlang. Man hatte ihr dringend geraten, sich nicht auf der Hauptstraße blicken zu lassen, weil sich die Scharfschützen erfahrungsgemäß hauptsächlich in dieser Gegend aufhielten. Die heimtückischen Mörder säßen auf Dächern oder in verlassenen Wohnungen hinter Gardinen versteckt, nur darauf wartend, dass ihnen etwas vor den Gewehrlauf geriet. Deshalb solle sie einen sogenannten Schleichweg durch Hinterhöfe und Seitengassen nehmen, über welchen sie das Stadtzentrum relativ gefahrlos umgehen könne. Und so war in ihrem Straßenplan jetzt eine Route eingezeichnet, die angeblich ein risikoarmes Vorwärtskommen garantierte.

Nach zwei Stunden passierte Gordana die letzten Vorstadtgärten. Also blieb sie kurz stehen, um sich bezüglich der Himmelsrichtungen zu orientieren. Dann wandte sie sich wie empfohlen westwärts, um so lange geradeaus zu laufen, bis sie auf die Eisenbahnschienen traf. Diesen folgte sie eine Zeit lang, wobei sie sich immer wieder umsah. Sie musste sich in Acht nehmen, hielt sie sich immer wieder selbst vor Augen. Auch hier könnte es Scharfschützen geben. Außerdem konnte es passieren, dass sie unverhofft auf serbische Milizen oder andere Verbrecher stieß, denen das Leben einer einzelnen Frau nicht viel bedeutete. Und das war in der Tat ein stichhaltiger Grund, um Augen und Ohren offenzuhalten. Sie musste jetzt noch etwa zwanzig Minuten gehen, rekapitulierte sie die Anweisungen des geschäftstüchtigen Kellners. Dann würde sie auf das Bahnwärterhäuschen stoßen, in dem Ante eine gewisse Zeit lang auf seine Passagiere warten wollte.