Maureen und die Sache mit Adele - Katica Fischer - E-Book

Maureen und die Sache mit Adele E-Book

Katica Fischer

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Beschreibung

Wenn man an einem Freitag, dem Dreizehnten, schon beim Erwachen mit etwas Unerfreulichem konfrontiert wird, bleibt man am besten im Bett, um dem Pechteufel aus dem Wege zu gehen. Für Maureen ist diese scheinbar vernünftig klingende aber nicht wirklich praktikable Empfehlung ihrer Großmutter eher ein Grund zum Schmunzeln, denn sie ist nicht abergläubig. Als sie jedoch an ihrem Arbeitsplatz mit ihrem Vorgesetzten aneinandergerät und dann auch noch folgenschwer stürzt, beginnt für sie eine Zeit, in der ein frustrierendes Erlebnis aufs andere folgt. Und so wünscht sie sich bald, sie wäre am Morgen tatsächlich einfach liegen geblieben. Doch dann lernt sie eine sympathische alte Dame kennen, nicht ahnend, dass diese keineswegs so gewöhnlich ist, wie es auf den ersten Blick scheint.

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Seitenzahl: 267

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Maureen und die Sache mit Adele

Eine Begegnung der besonderen Art

K. Fischer

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutsche Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, einschließlich des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten.

Copyright © 2016 Katica Fischer

www.katica-fischer.de

Alle Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten der Namen oder Beschreibungen realer Menschen sind rein zufällig und nicht absichtlich entstanden.

Korrektorat: A. J. Fuchs

Einbandgestaltung: K. Fischer

Foto: K. Fischer (erstellt mit Microsoft-Designer)

Vertrieb: Epubli (Neopubli GmbH, Berlin)

1

Freitag – 13. Dezember 2013

Manche Tage sollten einfach aus dem Kalender gestrichen werden. Das war ein Wunsch, der Maureen immer dann in den Sinn kam, wenn alles schief zu laufen schien, was schieflaufen konnte.

Wieso der Wecker nicht wie gewohnt gerappelt hatte, konnte sie sich nicht erklären, als sie gegen neun Uhr wach wurde. Aber lange darüber nachdenken konnte sie nicht, denn nun war Eile angesagt. Und so hetzte sie nach einer schnellen Katzenwäsche ungeschminkt aus dem Haus. Dabei raffte sie ihr schulterlanges, kastanienbraunes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen, den sie mit einem einfachen Haargummi fixierte. Insgeheim hoffte sie, ihr Vorgesetzter würde an diesem Tag zu beschäftigt sein, um ihr Zuspätkommen zu bemerken. Als sie jedoch völlig außer Atem am Personaleingang des Lebensmittelmarktes ankam, in welchem sie seit einigen Monaten arbeitete, stand der sichtlich verärgerte Mittvierziger wartend da und schaute demonstrativ auf seine Armbanduhr.

„Die Zeit werden Sie nacharbeiten“, wurde ihr im autoritären Ton beschieden, während sie sich an dem Mann vorbeidrängte, der sich so breitmachte, als sei er tatsächlich sehr groß und dick. „Und wenn so etwas noch mal vorkommt, können Sie gleich ganz daheimbleiben. Es gibt genug andere arbeitslose Verkäuferinnen, die ihre Arbeit garantiert besser machen als Sie.“

Wäre sie sich nicht im Klaren darüber gewesen, dass sie den Job brauchte, um ihre Brötchen bezahlen zu können, Maureen hätte sich entschieden dagegen gewehrt, dass man in solch einem unverschämten Ton mit ihr sprach. Sie war bisher nicht ein einziges Mal zu spät gekommen und war mithin die Letzte ihrer Schicht, die den Laden verließ. Also hatte er gar keinen Grund über ihre Arbeitsmoral zu meckern. Vielmehr wurmte ihn etwas anderes. Doch das konnte er ihr nicht offen zum Vorwurf machen, weil es in der Tat ihr gutes Recht war, Grenzen zu setzen, die niemand ohne ihre ausdrückliche Erlaubnis überschreiten durfte.

„Ich wünsche Ihnen auch einen guten Morgen, Herr Fuchs“, ließ sie mit einem Lächeln auf den Lippen verlauten, welches deutlich machte, dass sie ihn keineswegs fürchtete. „Sie sind doch sicher auch schon mal von Ihrem Wecker im Stich gelassen worden.“ Insgeheim fest entschlossen, ihm nie wieder eine Gelegenheit geben zu wollen, ihr noch einmal so nahezukommen, wie gerade eben, eilte sie davon.

Zwei Stunden nach Geschäftsöffnung waren bereits alle Kassen durch ihre Kolleginnen besetzt. Daher blieb für Maureen nur die Knochenarbeit übrig, die aus dem Auspacken der Ware und dem Einräumen der einzelnen Artikel in die Verkaufsregale bestand. Doch wirklich traurig war sie momentan nicht darüber, denn diese Tätigkeit ersparte ihr heute nicht nur die stets freundlich und zuvorkommend klingende Begrüßung eines jeden Kunden. Auch die Anstrengung, selbst bei griesgrämigen oder gar unverschämten Zeitgenossen ruhig und besonnen zu bleiben, würde an diesem Tag nicht nötig werden. Sie war eigentlich ein sehr kontaktfreudiger und geduldiger Mensch, den kaum etwas aus dem Gleichgewicht bringen konnte. Aber während der Vorweihnachtszeit wünschte sie sich jedes Mal aufs Neue, sie könnte diese Zeit einfach überspringen – oder doch zumindest im Schnelldurchlauf und aus sicherer Ferne erleben. Für sie waren die Adventwochen nämlich nichts weiter als eine riesengroße Kommerz-Orgie. Statt das Jahr ruhig ausklingen zu lassen und sich auf wirklich wichtige Dinge zu besinnen, hetzten die Leute wie ferngesteuert durch die Kaufhäuser und sonstige Läden. Obwohl man praktisch von morgens bis spätabends offene Geschäftstüren vorfand, schienen sie zu fürchten, am nächsten Tag leere Regale vorzufinden, weil der Warennachschub nicht funktionierte. Ja, manch ein Zeitgenosse schien tatsächlich von Weihnachten überrascht zu werden, so als gäbe es diese Feiertage erst seit kürzester Zeit. Nun, sie selbst hatte schon alles erledigt. Das heißt, das Eisfach ihres Kühlschrankes und ihr Vorratsschrank waren gut gefüllt mit den haltbaren Zutaten, die sie für die Zubereitung verschiedener festlicher Menüs benötigte. Auch die Weihnachtsgeschenke lagen schon bereit. Aber das war eigentlich kein Kunststück. Sie musste im Grunde nur drei Menschen beschenken. Gisa, ihre kleine Schwester, sollte einen sündhaft teuren Kaschmire-Pullover bekommen, der hervorragend zu ihrer Augenfarbe passte. Für Berit, ihre beste Freundin, hatte sie eine CD-Box von deren Lieblings-Popgruppe gekauft. Und Sören, ihr Freund, konnte sich auf einen gemeinsamen Abend in der Stadthalle freuen, wo sein Lieblings-Comedian auftreten würde. Sören … Ob er wohl auch ein Geschenk für sie hatte? Sicher, wenn er etwas nicht hören wollte, dann stellte er die Ohren auf Durchzug. Aber ihr wiederholter Hinweis darauf, dass ihre einzige Armbanduhr nicht mehr richtig funktionierte …

Maureen kam nicht mehr dazu, länger über ihren Freund nachzudenken, denn mit einem Mal standen gleich mehrere Kunden neben ihr, die alle wissen wollten, wo sie einen bestimmten Artikel finden könnten. Zudem musste sie ein weiteres Mal für Warennachschub sorgen, weil einige Produktgruppen schon wieder gähnende Lücken aufwiesen. Und so flog die Zeit dahin. Allein während ihrer Mittagspause lief sie schnell nach Hause, um in Ruhe einen Kaffee und ein Sandwich zu genießen.

Dem finsteren Blick ihres Vorgesetzten mit einem überaus freundlichen Lächeln begegnend, erschien Maureen nach einer halbstündigen Auszeit wieder im Geschäft, um ihre Tätigkeit fortzuführen. Und so schnell, wie die Zeit am Vormittag vorbeigegangen war, raste sie auch am Nachmittag voran. Doch kurz vor Ende ihrer Arbeitszeit geriet ihr eine kaputte Packung getrockneter Erbsen in die Hand, die ihren Inhalt sogleich freigab, sodass sich die Hülsenfrüchte im Nullkommanichts auf dem Steinboden verteilten.

„Mist“, quetschte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus, während sie auch schon losging, um Besen samt Kehrblech zu holen. Jetzt war schon viertel vor sieben, was für sie hieß, dass sie es selbst nach der Beseitigung der zerstreuten Erbsen nicht mehr rechtzeitig schaffen würde, ein leckeres Essen auf den Tisch zu bringen. Dabei hatte sie sich extra ein neues Kochbuch angeschafft, in dem auch ausgefallene Rezepte zu finden waren, um Sören immer mal wieder mit ungewohnten Geschmacksvariationen überraschen zu können.

Der Gedanke an ihren Freund ließ die unmutige Falte auf Maureens Stirn nur kurz verschwinden. Doch gleich darauf war diese wieder da, denn ihr fiel etwas ein, was sie bisher sehr erfolgreich verdrängt hatte. Seit sie sich kannten, hatte Sören nämlich noch kein einziges Mal für sie gekocht. Und wenn sie es richtig bedachte, dann war er auch noch kein einziges Mal mit vollen Einkaufstaschen bei ihr aufgekreuzt. Nun, vielleicht sollte sie ihm mal vorschlagen, dass er sie zum Essen einlud? Es musste bestimmt nicht gleich ein Sternerestaurant sein. Dafür wäre er ohnehin nicht zu begeistern, denn das hätte zu viel gekostet. Aber eine Pizza beim Italiener passte sicher in das Budget eines Landschaftsgärtners. Es war ja im Grunde gar nicht weit bis zu der Pizzeria am Hansenhaus. Sie könnten hinlaufen und sich im Restaurant an einen der Tische setzen, von welchen aus man über Marburg hinweg zum beleuchteten Landgrafenschloss schauen konnte. … Ja, das war eine gute Idee, entschied sie. Sören sollte endlich mal die Chance erhalten, sich dafür zu revanchieren, dass sie ihn mehrmals in der Woche bekochte!

Maureen wollte gerade Besen und Kehrblech samt Erbsen wegbringen, da sah sie einen Einkaufswagen auf sich zu rasen, an dessen Haltegriff sich Affen-gleich ein kleiner Junge festklammerte, der sichtlich begeistert darüber war, wie schnell er vorankam. Um dem Zusammenstoß auszuweichen, machte sie einen Schritt zur Seite. Weil da aber noch der Karton mit den noch nicht ausgepackten Erbsentüten stand, stolperte sie über das Hindernis und fiel am Ende der Länge nach hin. Dabei schlug sie mit ihrem Schädel so hart auf die Steinfliesen auf, dass sie kurzzeitig nur noch Sternchen wahrnehmen konnte. Mit ihrer Linken immer noch den Griff des Kehrbleches festhaltend, hörte sie das rauschende Rollen der Erbsen, die nun wieder in alle Richtungen davon kullerten. Gleichzeitig tastete sie mit ihrer Rechten nach ihrem Hinterkopf, um die schmerzende Stelle zu befingern, wo sich jetzt eine Beule zu wölben begann.

„Verdammt!“ In ihrem Bestreben, so schnell als möglich wieder auf die Füße zu kommen, rappelte sich die Gestürzte hastig auf. Dabei wurde ihr so schwindelig, dass sie kaum geradeaus gucken konnte. Zudem gerieten ihre Füße diesmal auf ein paar herumliegende Erbsen, was fatale Folgen hatte: Als hätte eine Riesenhand den Boden unter ihren Sohlen gepackt und weggezogen, kippte sie im nächsten Moment seitlich weg. Bei ihrem reflexartigen Versuch, neuen Halt zu finden, verdrehte sie sich den linken Fuß und fiel dann auch noch über den Besen, der mittlerweile quer über dem Kehrblech lag.

„Au!“ Die Verunglückte sog zischend den Atem ein, während sie sich langsam aufsetzte und dabei ihre verdrehten Glieder wieder ordnete.

„Kann ich helfen?“ Der riesenhafte Typ im schwarzen Parka und einer grauen Wollmütze auf dem Kopf schien just aus dem Boden gewachsen zu sein, so plötzlich ragte er neben ihr auf.

„Ich glaub, der ist gebrochen.“ Maureen fühlte heiße und kalte Schauer über ihren Rücken jagen, während sie voller Furcht ihren Knöchel betrachtete, der zusehends anschwoll. Zu blöd, dachte sie. Wenn sie ausgerechnet jetzt ausfiel, konnte sie sich das Weihnachtsgeld garantiert ans Bein streichen. Es war zwar nicht viel, was man ihr beim Einstellungsgespräch in Aussicht gestellt hatte. Dennoch wäre es ihr im Hinblick auf die pünktlich zum Jahresende eingehenden Rechnungen sehr willkommen gewesen. Aber Fuchs wartete definitiv nur darauf, sie auf irgendeine Weise abstrafen zu können …

„Lass sehen.“ Ohne große Umschweife hockte sich der freiwillige Helfer zu der Verunglückten, um sich die Sache aus der Nähe anzusehen. Gleich darauf tastete er vorsichtig das Bein der Verletzten vom Knie abwärts ab, bis er am Knöchel anlangte und aufgrund des ausgestoßenen Schmerzlautes innehielt. „Verstaucht“, ließ er schließlich verlauten. „Aber du solltest das sicherheitshalber mal röntgen lassen.“

„Sind Sie ’n Doktor, oder was?“ Maureen fand im Grunde nichts dabei, wenn man sie duzte, denn sie sah sich nicht unbedingt als Respektsperson, der man immer und überall mit ausgesuchter Höflichkeit begegnen musste. Doch an diesem Tag war ihre Geduld schon mehrfach arg strapaziert worden. Und so reagierte sie entsprechend ihrer gereizten Stimmung ziemlich angriffslustig.

„Ne“, erwiderte der Fremde ernst, indem er sie aufmerksam musterte. „Aber langjähriger Trainer einer Jugend-Fußballmannschaft und darum mit allen möglichen Sturzverletzungen vertraut.“ Plötzlich grinste er. „Du erkennst mich nicht, hab’ ich recht?“

Maureen blickte in ein paar grüne Augen, die sie voller Wärme anstrahlten, und vergaß für einen Moment sowohl das heiße Stechen in ihrem Knöchel als auch die unangenehme Kälte des Steinbodens, die durch ihre Kleidung an ihren Hintern drang.

„Wir wohnen seit November im selben Haus“, klärte der Mann sie auf, indem er gleichzeitig die Mütze vom Kopf zog und dadurch einen Schopf wirrer brauner Haare befreite. „Sind uns allerdings nur ein oder zweimal im Aufzug begegnet, wobei du in Begleitung warst und mich daher bestimmt nicht wahrgenommen hast.“

Doch, das hatte sie durchaus, stellte Maureen es insgeheim richtig, sobald sie begriff, wer da vor ihr kauerte. Wie hätte sie ihn auch übersehen können, wo er doch fast zwei Meter groß war und so ziemlich genau dem Typ Mann entsprach, von dem sie immer geträumt hatte. Weil da aber nicht nur Sören war, sondern auch die umwerfend schöne Rothaarige mit den grünen Katzenaugen, die bei ihrem attraktiven Nachbarn ein und ausging, hatte sie für sich beschlossen, ihrem neuen Hausmitbewohner keinesfalls erlauben zu wollen, ihren Seelenfrieden zu stören. Schließlich war sie Realistin und darum absolut sicher, dass er seine sexy Begleiterin keinesfalls gegen eine graue Maus, wie sie, eintauschen würde. Zudem gehörte sie zu den Frauen, die konsequent daran festhielten, dass man sich erst dann nach einem anderen umsah, wenn man selbst keinen Partner mehr hatte.

„Robin Kästner.“ Während er sprach, fasste der Helfer die Verletzte um die Taille und zog sie behutsam hoch. „Das ist mein Name. Und jetzt fahren wir erst mal ins Krankenhaus.“

„Aber …“, wollte sie einwenden.

„Nix aber“, winkte er ab. „Die Arztpraxen sind schon alle zu. Du hast nur ’ne Chance, wenn wir direkt ins Klinikum fahren. Wirst da aber bestimmt auch ziemlich lange warten müssen, denn ab Freitagabend ist da immer die Hölle los.“

„Ich muss trotzdem erst meinen Vorgesetzten informieren“, beharrte sie.

„Na, wenn ich das richtig deute, dann musst du nicht erst zu ihm gehen.“ Er nickte in die Richtung, aus welcher ihr Boss heranstürmte.

Was folgte, war eine recht unerfreuliche Diskussion zwischen Maureen und dem Marktleiter, die am Ende durch Robin mit dem Hinweis beendet wurde, dass sich der Mittvierziger der Missachtung seiner Fürsorgepflicht und Nötigung schuldig machte, wenn er einer bei der Arbeit verunglückten Angestellten untersagte, zum Arzt zu gehen.

„Sind Sie Anwalt?“, wollte der Zurechtgewiesene daraufhin im autoritären Ton wissen.

„Sowas in der Art“, erwiderte Robin, indem er sich die Verletzte kurzerhand auf die Arme lud. „Und darum würde ich Ihnen dringend raten, das aktuelle Arbeitsrecht gründlich zu studieren. Könnte nämlich sein, dass die Kenntnis der wichtigsten Paragrafen Ihnen hilft, nicht vor dem Arbeitsrichter zu landen.“ Damit ließ er den hageren Mann einfach stehen.

„Das wird er mir bestimmt nicht so einfach durchgehen lassen.“ Maureen richtete ihre Aufmerksamkeit bewusst auf ihren zurückbleibenden Chef, der ihnen offenen Mundes und sichtlich empört nachsah, um sich nicht mit den Empfindungen auseinandersetzen zu müssen, die in diesem Augenblick in ihr tobten.

„Er kann dir gar nichts.“ Robin machte eine wegwerfende Kopfbewegung. „Ich hab’ deinen Unfall gesehen und werde darum als Zeuge auftreten, falls er es tatsächlich auf die harte Tour ausfechten will. Selbst eine Abmahnung ist nicht drin, weil du dich ja nicht absichtlich hingeworfen hast, um eine bezahlte Auszeit herauszuschinden.“

„Wenn du meinst. Äh … Wir müssen erst in die Personalumkleide“, gab sie zu bedenken, als er direkt auf den Ausgang zusteuern wollte. „Ich brauche meine Jacke und meine Tasche.“

„Okay.“ Ihrem Fingerzeig folgend, änderte er sogleich die Richtung.

Hätte sie laufen können, sie wäre ihm umgehend von den Armen gesprungen, denn so hilflos einem anderen Menschen ausgeliefert zu sein, war ihr sehr unangenehm. Zudem riefen seine Nähe und der Duft seines Aftershaves sehr eindeutige Gefühle in ihr wach, was sie noch nervöser machte. Mit einem verrenkten Fuß war jedoch gar nicht an Flucht zu denken. Also biss sie die Zähne aufeinander und zwang ihre Gedanken auf andere Wege.

2

Freitag - 13. Dezember - 20:30 Uhr

Der Wartebereich der Notaufnahme wirkte in der Tat proppenvoll. Dennoch schaffte es Robin, die Verunglückte auf einen Rollstuhl zu platzieren, bevor er davoneilte, um sie anzumelden. Anschließend brachte er ihr die Versichertenkarte zurück und bot an, dass er sie wieder abholen würde, sobald sie fertig war.

„Danke, das wird nicht nötig sein“, winkte sie ab. „Ich komm schon irgendwie nach Hause.“

„Sei nicht albern“, tadelte er. „Mit einem verstauchten Fuß …“

„Ich weiß doch gar nicht, wie lange das hier dauern wird“, unterbrach sie. „Sollte es sehr spät werden, nehme ich mir eben ein Taxi.“

„Ich muss bloß zu einem Elterngespräch und bin dann wieder verfügbar“, versuchte er sie zu überzeugen. „Du musst mich dann nur … “

„Was ist an einem nein danke nicht zu verstehen?“, unterbrach sie genervt. „Ich komm’ schon klar.“

„Ist ja wieder gut. Hab’ es kapiert.“ Er wirkte keineswegs beleidigt. Es schien eher so, als amüsiere er sich insgeheim darüber, dass sie wie eine in die Enge getriebene gereizte Katze reagierte, die sich über ihre eigene Machtlosigkeit ärgerte. „Soll ich dir vielleicht einen Kaffee oder ein Wasser organisieren, bevor ich gehe?“

„Hab keinen Durst.“ Sie war ihm wirklich sehr dankbar für seine Hilfe. Dennoch wünschte sie sich, er würde endlich verschwinden, damit sie wieder normal atmen und denken konnte. Außerdem hatte sie furchtbares Kopfweh und wollte nur noch in Ruhe gelassen werden.

„Wie du willst.“ Aus seiner Miene war nicht herauszulesen, was er tatsächlich dachte, als er sich abwandte und mit langen Schritten davonging. Allein sein Mund wirkte ein wenig verkniffen, was erkennen ließ, dass er keineswegs so unberührt war, wie er tat.

„Ein hübscher junger Mann“, drang plötzlich eine angenehm klingende Frauenstimme an Maureens Ohr. „Und er passt so gut zu Ihnen.“

Die Angesprochene meinte, sie habe die zierliche alte Dame schon mal irgendwo gesehen, konnte sich aber nicht mehr erinnern, wo das gewesen war. Schlohweißes, sorgfältig frisiertes Haar umrahme ein fein geschnittenes Gesicht, aus dem ihr hellwache Augen entgegenblickten, welche die intensive Farbe eines Sommerhimmels aufwiesen. Allein ihre schlicht wirkende Kleidung machte deutlich, dass sie nicht unbedingt auffallen wollte, aber Wert auf Qualität legte, denn die Sachen waren allesamt aus hochwertigen Materialien gefertigt.

„Er gehört nicht zu mir“, reagierte sie endlich auf die Feststellung ihrer Sitznachbarin. „Ist bloß ein hilfsbereiter Nachbar, der mich hergebracht hat.“ Die Worte waren kaum heraus, da ärgerte sie sich auch schon über sich selbst. Wieso sagte sie so etwas? Es ging doch nun wirklich niemanden etwas an, wie sie und Robin zueinander standen.

„Oh.“ Die alte Dame schien für einen Moment überrascht über die Antwort. Doch gleich darauf rötete sich ihr Gesicht ein wenig, was vermuten ließ, dass sie sich ihrer Indiskretion bewusstgeworden war und nun dafür schämte. „Tut mir leid, ich dachte … Na ja, ist ja nix weiter passiert, nicht wahr? Obwohl … Er ist so aufmerksam Ihnen gegenüber, dass es wirklich so aussah … Äh … Entschuldigen Sie, Ihre Privatangelegenheiten gehen mich wirklich nichts an.“ Sie wandte sich ab, um sich wieder ihrem Gesprächspartner zu widmen, der auf der anderen Seite ihres Stuhles saß.

Maureen hörte nicht bewusst zu, bekam jedoch gezwungenermaßen mit, was gesprochen wurde. Der Mann in verdreckter Arbeitskleidung und einem durchbluteten Verband an seiner linken Hand gab weder Antwort noch sah er seine Stuhlnachbarin an. Trotzdem plapperte die alte Dame in einem fort davon, wie übel sich Schnitt-oder Risswunden entzünden konnten, wenn man sie nicht richtig versorgte.

Als der Hand-Verletzte aufgerufen wurde und aufstand, wirkte die Dozierende für einen Moment unschlüssig, hinsichtlich ihrer nächsten Aktion. Doch dann wandte sie sich wieder an die junge Frau mit dem dick geschwollenen Knöchel.

„Ich weiß, es geht mich nicht das Geringste an, was Sie tun oder lassen“, begann sie. „Aber der junge Mann vorhin, den sollten Sie sich besser einfangen, bevor er von einer anderen eingewickelt wird.“

„Ich hab’ schon einen Freund“, erwiderte die Angesprochene höflich aber im unüberhörbar ablehnendem Tonfall.

„Schade“, bedauerte die alte Dame mit offenkundiger Enttäuschung. Eine Begründung für ihre Feststellung konnte sie jedoch nicht mehr loswerden, weil die Aufmerksamkeit ihrer Gesprächspartnerin durch das Klingeln ihres Handys gefesselt wurde.

Maureen meldete sich mit einem kurzen Hallo und wollte gerade erzählen, was geschehen war, da unterbrach Sören sie mit einer Feststellung, die sie nicht nur sprachlos, sondern auch zutiefst betroffen machte.

„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“ Eine weitere Frage war nicht mehr möglich, weil man am anderen Ende der Leitung bereits aufgelegt hatte. „Das glaub ich jetzt nicht.“ Sie starrte das Display des Gerätes an, als könne sie nicht wirklich verstehen, was sie sah.

„Schlimme Nachrichten?“, wollte ihre Sitznachbarin wissen.

„Was? Ich …“ Die Gefragte begann nun langsam zu begreifen, dass sie von jetzt auf sofort wieder Single war. „Das kann man wohl sagen.“ Sie schluckte hart, wobei sich ihre Augen mit Tränen füllten.

„Ich hoffe doch, es ist niemand gestorben, der Ihnen wichtig war“, tastete sich die alte Dame behutsam vor.

„Gestorben?“ Maureen zog die Nase hoch. „Nein, gestorben ist keiner. Mein Freund hat mir bloß gerade mitgeteilt, dass er eine Beziehungspause braucht, um sich über seine Gefühle für mich klar zu werden.“ Eine weitere Befragung wurde ihr glücklicherweise erspart, weil sie just in diesem Moment aufgerufen wurde. Und so quälte sie sich in ihrem Rollstuhl sitzend auf den Durchgang zu, hinter welchem sich die Behandlungsräume befanden, nicht merkend, dass ihr gleich mehrere Leute leicht irritiert nachsahen.

Es dauerte gut zwei Stunden, bis Maureen mit einem stützenden Verband am linken Fuß und zwei geliehenen Gehhilfen wieder in den Warteraum und somit auch zum Ausgang der Notaufnahme zurück humpeln durfte. Zu ihrer Überraschung war ihre Gesprächspartnerin immer noch da und redete auf ihren neuen Stuhl-Nachbarn ein.

„Aaa, da sind Sie ja!“ Die alte Dame sprang sofort auf und eilte mit erstaunlich flinken Schritten zu der gehandicapten jungen Frau, die sich nur mühsam fortbewegte. „Kommen Sie, lassen Sie sich helfen“, verlangte sie, indem sie versuchte, den Schuh an sich zu nehmen, den Maureen unter den Arm geklemmt hatte. Allerdings gelang es ihr nicht, diesen tatsächlich in die Hand zu bekommen, weil man sie gar nicht erst in dessen Nähe ließ. „Ich begleite Sie jetzt nach Hause“, bestimmte sie, sobald ihr Gegenüber die Jacke geschlossen und sich den Riemen der Umhängetasche über den Kopf geschoben hatte, sodass er nun quer über Rücken und der Brust lag. „Nein, keine Widerrede“, blockte sie die offenkundig beabsichtigte Ablehnung sogleich ab. „Ich bin schon viel zu lange hier. Und Sie brauchen jetzt ein bisschen Ablenkung.“

Maureens Kopfweh war mittlerweile zu ertragen, weil man ihr freundlicherweise gleich nach ihrem Aufruf eine Schmerztablette gereicht hatte. Dennoch verspürte sie absolut keine Lust darauf, sich von der aufdringlichen Alten schwindelig quasseln zu lassen. Da sie aber nicht so unhöflich sein wollte, sie einfach stehenzulassen, versuchte sie es mit Diplomatie: „Ich steige grundsätzlich nicht in ein Auto, wenn ich den Fahrer nicht kenne.“

„Bleiben Sie mal ganz locker“, wischte die alte Dame den jämmerlichen Versuch einfach beiseite. „Zum einen fahre ich nicht selbst, sondern mit Ihnen im Bus. Und zum anderen lasse ich Sie auf keinen Fall alleine, bis Sie sicher zu Hause angekommen sind. Sie sind momentan nämlich nicht wirklich bei sich.“ Während sie nun ihren eigenen Mantel von der Garderobe nahm, schenkte sie ihrem Gegenüber ein aufforderndes Lächeln.

„Aber … Wieso … Waren Sie denn schon dran?“ Maureen verharrte mitten in der Ausgangstür, die sich automatisch geöffnet hatte, sobald die Lichtschranke durchquert war.

„Machen Sie sich mal um mich keine Gedanken, Schätzchen“, erwiderte die Gefragte mit einem breiten Lächeln. „Mit mir ist alles in Ordnung.“

Das bezweifelte Maureen doch sehr stark.

„Wenn Ihnen nichts fehlt, warum sitzen Sie dann stundenlang hier?“, fragte sie vorsichtig.

„Weil ich hier immer jemanden zum Reden finde“, antwortete die alte Dame offen. „Und glauben Sie mir, nirgends sonst kommt man so einfach mit den Leuten ins Gespräch, wie hier.“ Sie lachte, was sich wie das Kichern eines jungen Mädchens anhörte, welches höchst zufrieden über einen gelungenen Streich war.

„Oh.“ Maureen vergaß für einen Augenblick, dass das Reden für sie immer noch sehr anstrengend war. „Haben Sie denn keine Freunde, zu denen …“

„Sind alle weit weg oder schon verstorben“, unterbrach die Gefragte. „Und Familie hab’ ich auch keine. Aber ich bin so ungern allein. Deshalb gehe ich dorthin, wo immer jemand anzutreffen ist, wenn mir zu Hause mal wieder die Decke auf den Kopf fällt.“ Mittlerweile draußen angekommen, sah sie besorgt zu ihrer Begleiterin hinauf, die um mehr als eine Kopflänge größer war als sie selbst. „Schaffen Sie es bis zur Bushaltestelle? Oder sollen wir lieber ein Taxi rufen?“, fragte sie. „Die Nummer kann ich Ihnen diktieren.“

„Ich hab’ leider nur fünf Euro bei mir.“ Maureen nahm nie viel Geld mit, wenn sie zur Arbeit ging, denn man hatte schon zweimal ihren Spind in der Personalumkleide geknackt und den Inhalt ihres Portemonnaies gestohlen. Seitdem trug sie ihren Wohnungsschlüssel und das Mäppchen mit den wichtigsten Ausweisen stets in ihren Hosentaschen mit sich herum.

„Dann also mit dem Bus.“ Die alte Dame seufzte ergeben. „Und das wird sicher ein bisschen dauern, auch wenn es eigentlich nicht weit ist.“

„Woher wollen Sie das wissen?“, wunderte sich Maureen.

„Sie wohnen doch in der Sudetenstraße, nicht wahr?“ Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. Dennoch sah die alte Dame ihre Begleiterin erwartungsvoll an.

„Ja“, gab die Gefragte zögernd zurück. „Aber woher wissen Sie das? Haben Sie mir etwa nachspioniert?“ Eine absurde Idee, sicher. Aber es gab genug verrückte Menschen auf der Welt, die aus den verschiedensten Gründen andere Leute verfolgten!

„Weil ich in der gleichen Straße wohne“, antwortete die alte Dame unterdessen so heiter, als wäre diese Tatsache tatsächlich sehr lustig. „Und Sie laufen jeden Morgen bei mir vorbei, wenn Sie zur Arbeit gehen. Ich seh’ Sie von meinem Küchenfenster aus, wenn ich meinen Frühstückskaffee aufbrühe. … Oje!“ Sie schlug sich sichtlich betroffen die Hand auf den Mund und sah dann ihre Gesprächspartnerin mit großen Augen an. „Mein altes Hirn. Ich hab’ mich ja noch gar nicht vorgestellt. Ich bin Adele.“ Sie streckte die Rechte vor, um kurz den Arm ihrer Begleiterin zu berühren. „Alle nennen mich nur Adele, wissen Sie. Und das reicht auch vollkommen. Das bin ich schon von meinen Schülern her gewohnt. Die haben mich auch immer nur Fräulein Adele gerufen, die Süßen.“ Ihre Augen schimmerten mit einem Mal feucht. Allerdings schien sie nicht zulassen zu wollen, dass die Tränen tatsächlich auf Reisen gingen, denn sie wischt sie mit der Linken schnell weg.

Maureen indes maß die kleine Frau an ihrer Seite mit einem schnellen, diesmal jedoch sehr aufmerksamen Seitenblick. Ja, ihr erster Eindruck war richtig gewesen. Man war sich in der Tat schon mehrfach über den Weg gelaufen. Die sympathische alte Dame – offenbar eine längst pensionierte Lehrerin – hatte schon ein paar Mal an ihrer Kasse gestanden und versucht, ein Gespräch anzufangen. Doch dazu war während des Betriebes kaum Zeit gewesen. Und so war es beim Small Talk geblieben, der schon bei der Begrüßung des nächsten Kunden in Vergessenheit geraten war. Aber jetzt konnte sie nicht verhindern, dass man ihr von Dingen erzählte, von denen sie gar nichts wissen wollte.

Es vergingen insgesamt eineinhalb Stunden, bis die beiden Frauen vor der Eingangstür des Hochhauses ankamen, in dem Maureen wohnte, denn nach zwanzig Uhr fuhren die Busse nur noch stündlich und dann auch nur bestimmte Routen nehmend. Und während dieser ganzen Zeit hörte Adele nicht auf zu reden. Erstaunlicherweise erzählte sie nichts über ihre Jugend oder ihre Familie. Vielmehr beschränkte sie sich auf die Zeit, seit sie in Marburg lebte und ihre Tätigkeit als Lehrerin, was ihre unfreiwillige Zuhörerin ein wenig wunderte, hatte sie doch vor dem Klinikums-Eingang noch gefürchtet, die äußerst mitteilungsbedürftige alte Dame wolle nun ihr gesamtes Leben vor ihr ausbreiten.

„So, da wären wir.“ Mauren hätte sich jetzt am liebsten verabschiedet, fand sich jedoch genötigt, ihre neue Bekanntschaft auf einen Tee zu sich einzuladen, weil sie es trotz des nervigen Geplappers nicht übers Herz brachte, ihre fürsorgliche Begleitung ohne ein Dankeschön ziehen zu lassen.

„Oh, das ist aber lieb.“ Die himmelblauen Augen der kleinen Frau strahlten. „Dann können wir ja noch ein bisschen plaudern.“

Eine halbe Stunde musste ausreichen, um ihren guten Willen deutlich zu machen, entschied Maureen. Danach wollte sie Müdigkeit vorschützen, was sicher dazu führen würde, dass ihre nicht wirklich willkommene Besucherin ging.

„Auch das noch!“ Sie standen mittlerweile vor dem Aufzug. Doch der war wieder einmal defekt und würde vermutlich nicht so bald repariert werden, weil die dafür zuständige Firma genauso unter Personalmangel litt, wie viele andere Kleinunternehmen. „Blödes Mistding!“ Sie hätte am liebsten gegen die Tür des Lifts getreten, um sich dadurch abzureagieren. Weil das aber in der Tat sehr kindisch ausgesehen hätte, ließ sie es sein. Normalerweise machte ihr Treppensteigen nichts aus. Aber mit einem schmerzenden Fußknöchel und Krücken, mit deren Gebrauch sie nach wie vor nicht richtig zurechtkam, würde es ein wahrer Kraftakt werden, in den fünften Stock zu gelangen.

Es dauerte tatsächlich eine Weile, bis die beiden Frauen an Maureens Wohnungstür ankamen. Auch brauchte die Gastgeberin eine gewisse Zeit, um Jacke und Schuhe wegzuräumen, bevor sie sich in die Küche schleppte, um Wasser zum Kochen zu bringen und den versprochenen Tee aufzubrühen. Dann, endlich, konnte sie sich hinsetzen und ihre Gehhilfen beiseite stellen.

„Entschuldigen Sie, dass es so kalt bei mir ist“, sagte sie etwas lauter, damit man sie im Nebenraum gut hören konnte. „Ich hab’ heute Mittag wahrscheinlich vergessen, das Thermostat höher zu drehen. Wenn Sie mögen, können Sie sich die Decke über die Beine legen, die auf dem Sessel liegt.“ Insgeheim ein wenig verwundert darüber, dass man ihr keine Hilfe anbot, war sie gleichzeitig auch froh drum, denn im Grunde hatte sie entschieden was dagegen, dass fremde Menschen in ihre Schränke und Schubladen hineinguckten oder gar darin herumkramten.

„Nicht nötig.“ Adele lächelte ihre Gastgeberin dankbar an. „Machen Sie sich mal keine Gedanken um mich.“ Das Wohnzimmer mit langsamen Schritten durchquerend, sah sie sich aufmerksam um. Der etwa sechzehn Quadratmeter große Raum war ein sogenanntes Durchgangszimmer, von dem aus man in die fensterlose Küche, das winzige Schlafzimmer und den Flur gelangte. Doch trotz der drei Türen und der breiten Fensterfront samt Balkontür war er so geschmackvoll eingerichtet, dass man sich sofort darin wohlfühlte. Da war eine halbhohe, überwiegend offen gestaltete Schrankwand aus Kirschbaum, in welcher viele Bücher und CDs zu finden waren. Gleich daneben befand sich ein TV-Reck mitsamt einem kleinen Fernseher und einer Mikro-Musikanlage. Für eine große Couch war kein Platz. Aber es gab einen gemütlich aussehenden Zweisitzer und einen Ohrensessel, die beide mit einem cremeweißen Stoff bezogen und durch bunte Kissen dekoriert waren. Dazwischen stand ein kleiner runder Glastisch, dessen Gestell ebenfalls aus Kirschbaum gefertigt war. Allein die Bilder an den Wänden wirkten auf den ersten Blick ein wenig verwirrend, denn man konnte nicht gleich erkennen, was sie darstellen sollten. Bei näherem Hinsehen wurde jedoch schnell klar, dass es sich keineswegs um Farbkleckse handelte, die jemand völlig planlos aufs Papier geschmiert hatte. Vielmehr wurden fantastische Landschaften und Geschöpfe erkennbar, die den Betrachter erst nach und nach in ihren Bann zogen. „Wunderbar“, lobte sie, sobald sie alle Einzelheiten inspiziert hatte. „Ich hätte nicht gedacht, dass Sie Antiquitäten mögen.“

„Die meisten Sachen hab’ ich von einem Bekannten, der Haushaltsauflösungen macht und Trödel verkauft“, winkte Maureen ab, die durch die offene Küchentür ihren Wohnraum überblicken und somit auch ihren Gast im Auge behalten konnte. „Sind nicht wirklich viel wert, aber in der Regel viel stabiler als das, was man momentan für billiges Geld kriegt.“ Weil ihre Besucherin gerade vor ihrem antik anmutenden Sekretär stand, den sie zwischen Küchentür und Durchgang zum Flur aufgestellt hatte, lächelte sie leicht. Es war mithin das schönste Möbelstück, das sie ihr Eigen nennen durfte, sodass sie wirklich sehr stolz darauf war. Aus massivem Kirschbaum gefertigt, wies es diverse Einlegearbeiten auf der herunterklappbaren Tür und den Seiten auf, während es im Inneren mehrere offene, sogenannte Brief-und Ablagefächer sowie drei Schubladen beherbergte. „Das mag ich sehr“, erklärte sie. „Ich hab’ es vor ein paar Wochen auf dem Wagen von meinem Bekannten entdeckt und mir das Ding gleich nach Hause bringen lassen. Und dann hab’ ich es ein bisschen aufgearbeitet, weil es ein paar Kratzer hatte. Und poliert. Na ja, ich bin kein Fachmann. Aber ich denke, ich hab’ es relativ gut hingekriegt.“ Allein das abschließbare Wert-Fach im Inneren war derzeit noch nicht zu öffnen, erinnerte sie sich, weil bisher noch kein passender Schlüssel zur Hand gewesen war. Doch das hatte sie bisher weder gekümmert noch sonderlich belastet, denn sie brauchte das Fach ja nicht wirklich. Der Platz in Inneren des Sekretärs reichte vollkommen aus, um ihre Dokumentenordner und Schreibutensilien aufzunehmen. Und auch ihr Haushaltskasse samt ihrem Laptop waren darin untergekommen.

„Ja“, nickte die alte Dame unterdessen. „Das haben Sie in der Tat.“ Sie hatte mittlerweile ihren Mantel ausgezogen und legte diesen nun über die Rückenlehne des Sessels. Anschließend kam sie in die Küche, um sich an den Tisch zu setzen, auf dem ihre Gastgeberin Zucker und ein paar Kekse bereitgestellt hatte. „Haben Sie noch Geschwister?“, wollte sie wissen, derweil die Teebeutel aus den Bechern genommen und sogleich entsorgt wurden.