Bis zum letzten Atemzug - Katica Fischer - E-Book

Bis zum letzten Atemzug E-Book

Katica Fischer

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2021
Beschreibung

Luisa arbeitet als Kellnerin in einer Diskothek. Dabei lernt sie viele junge Leute kennen, deren Charaktere von unterschiedlicher Natur sind. Unerwünschten Annäherungsversuchen begegnet sie meist mit humorvoller Schlagfertigkeit oder geschickten Ausweichmanövern, was in der Regel ausreicht, um von weiteren Belästigungen verschont zu bleiben. Als sie jedoch an einem völlig unspektakulären Abend zwei befreundeten jungen Männern begegnet, soll das ungeahnte Folgen für sie haben. Für Patrick ist Luisa seine absolute Traumfrau. Eddy hingegen sieht in ihr bloß eine Vermittlerin, die ihm ein Treffen mit der geheimnisvollen Nadja ermöglichen soll. Da sie jedoch nicht bereit ist, auf die Wünsche der Freunde einzugehen, gerät sie schon bald in ernste Gefahr.

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Seitenzahl: 468

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Katica Fischer

Bis zum letzten Atemzug

Du kannst mir nicht entkommen

Thriller

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutsche Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.

Alle Rechte, einschließlich des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten.

© 2014 Katica Fischer

www.katica-fischer.de

Covergestaltung: K. Fischer

Fotos: www.Clipdealer.de

Bereitstellung und Vertrieb:

Epubli (Neopubli GmbH, Berlin)

1

Das wiederholte, jedes Mal länger dauernde Hupen eines Autos löste bei Patrick einen gereizten Seufzer aus. Er war erst eine Viertelstunde zuvor nach Hause gekommen, weil er Überstunden machen musste, um einen dringenden Auftrag zu Ende zu bringen. Und weil er völlig verdreckt und verschwitzt gewesen war, hatte er sich zuallererst eine ausgiebige Dusche gegönnt. Doch nun blieb ihm noch nicht einmal Zeit genug, um sich zu rasieren, geschweige denn seinen Bärenhunger zu stillen.

Sein modisch kurz geschnittenes, immer noch feuchtes Haar kurz mit den Fingern durchkämmend, schlüpfte der groß gewachsene Mittzwanziger gleich darauf in die frische Kleidung, um anschließend in seine Schuhe zu steigen. Und sobald seine Schnürsenkel gebunden waren, ging er zum Fenster, um einen kurzen Blick auf die Straße hinabzuwerfen. Der Kerl war einfach unmöglich, grollte er. Eddy scherte sich offenbar den Teufel darum, dass sein Verhalten eine Zumutung für andere war. Also würde es wieder einmal Beschwerden vonseiten der genervten Nachbarn hageln, die sich durch den Lärm belästigt fühlten.

Trotz seiner zunehmenden Gereiztheit langte Patrick nach seinem Geldbeutel, um ihn in die Gesäßtasche seiner Jeans zu schieben. Gleich darauf griff er sich seine Jacke und verließ dann sein Apartment, um die Treppe hinunterzulaufen. Fast schon an der Haustür angelangt, hörte er den Mieter aus der ersten Etage hinter sich her schimpfen. Also schickte er umgehend eine Entschuldigung zurück, um den Mann zu beschwichtigen, der mit einem Anruf bei der Polizei gedroht hatte. Danach trat er eilig aus dem Haus, was ein weiteres Hupkonzert verhinderte.

„Hab’ ich dir nicht gesagt, dass du das lassen sollst?“, grollte er, sobald Eddys Sportcoupé erreicht und die Beifahrertür geöffnet war. „Ich hab’ keine Lust, vor die Tür gesetzt zu werden, nur weil es dir nicht schnell genug geht!“ Sein Golf stand mit defekter Lichtmaschine in der Werkstatt. Also stieg er nun in den Wagen seines Kumpels ein, wobei er sich immer noch darüber ärgerte, dass man ihn auf solch unverschämte Weise zur Eile getrieben hatte.

„Jetzt krieg dich mal wieder ein“, erwiderte der Getadelte im amüsierten und zugleich herablassend klingenden Tonfall. „So ’ne billige Bude passt eh nicht zu dir. Warum suchst du dir nicht was Besseres? Du weißt doch, wenn deine Kohle nicht reichen sollte, musst du nur was sagen.“ Damit startete er den Motor und fuhr umgehend los.

Patrick sparte sich eine entsprechende Erwiderung, wohl wissend, dass sie ohnehin nur zu einer fruchtlosen Diskussion führen würde. Sicher, seine Wohnung war im Vergleich zu Eddys Penthouse winzig. Und luxuriös konnte man sie schon gar nicht nennen. Aber sie war seine Festung! Eben ein richtiges Zuhause und kein angeberisches Vorzeigeobjekt. Außerdem dachte er nicht im Traum daran, sich von Eddy unter die Arme greifen zu lassen, weil er diesem nichts schuldig sein wollte.

„Können wir erst mal zu Francesco fahren?“, verlangte er. „Bin eben erst heimgekommen. Hab’ einen Mordshunger.“

„Dass du immer noch in diesen Saftladen gehst, um für einen Hungerlohn bis in die Nacht zu schuften, ist mir nach wie vor ein Rätsel.“ Vor einer roten Ampel stehend, bedachte Eddy seinen Freund mit einem mitleidig anmutenden Blick. „Wann wirst du endlich vernünftig?“

Der Gefragte presste bloß die Lippen aufeinander. Immer die gleiche Leier, dachte er genervt. Eddy konnte einfach nicht begreifen, dass man als Normalsterblicher arbeiten musste. Er brauchte sich ja um nichts zu kümmern, denn er war von Haus aus bestens versorgt.

„Ich hab’ Hunger“, beharrte er. „Wenn dir das mit der Pizzeria zu lange dauert, musst du mich halt bei Francesco absetzen und dann ohne mich ins Westside.“

„Westside ist ’n alter Hut“, winkte Eddy ab. „Die Jungs und ich haben nämlich vor drei Wochen was ganz Besonderes aufgetan. Wirst staunen, alter Junge. Und für deinen leeren Magen kriegst du da auch was.“

Patrick schwieg, denn er wusste nun, wo der Abend enden würde – nämlich in irgendeiner Diskothek, wo ein paar schöne Mädchen herumliefen, die, mehr oder weniger angezogen, die Getränke und vielleicht auch ein paar Snacks an den Kunden brachten. Er hatte sich fast vier Wochen lang erfolgreich davor drücken können, mitzugehen. Aber als Eddy am Nachmittag angerufen hatte, war es ihm einfach nicht gelungen, sein Nein unmissverständlich klarzumachen, weil sein Chef grundsätzlich darauf bestand, dass niemand während der Arbeitszeit telefonierte – es sei denn, es lag ein Notfall vor. Und da Eddy so penetrant gewesen war, hatte er sich auf die Schnelle eine Zusage abringen lassen, damit Ruhe war.

„Also, wohin?“, fragte er ergeben.

„Ins ehemalige Dancefloor“, antwortete Eddy.

Ein hässlicher Schuppen im Industriegebiet, schoss es Patrick daraufhin durch den Kopf. Den hatte man eigentlich schon vor einem Jahr abgehakt, weil es da bloß nervige Musik und schlecht gemixte Drinks gab, die meist zu viel minderwertigem Alkohol enthielten. Außerdem konnte er sich noch gut daran erinnern, wie blöd er sich jedes Mal vorgekommen war, sobald er sich der Gesichtskontrolle stellen musste, die von schrankbreiten, wie Schwerverbrecher aussehenden Türstehern durchgeführt wurde. Zudem hatte das Publikum im Dancefloor aus Leuten bestanden, die er nicht unbedingt näher kennen wollte. Also, wenn’s nach ihm gegangen wäre, dann hätte er jetzt liebend gern kehrt gemacht und den Abend zu Hause verbracht!

„Das Ding ist von ’nem neuen Mann übernommen und umbenannt worden“, schwatzte Eddy unterdessen weiter. „Wirst staunen, was der aus dem Laden gemacht hat.“

Bereits auf dem weitläufigen Parkplatz der Diskothek, die sich jetzt Playground nannte, wurde Patrick klar, dass der neue Inhaber in den vergangenen Monaten tatsächlich ein paar erfreuliche Veränderungen vorgenommen hatte. Die grellen Farben der ehedem weit sichtbaren Fassade waren einem neutralen Anstrich gewichen, sodass der Namenszug der Diskothek, der an drei Seiten des Bauwerks als fantasievolles Graffiti aufgebracht war, gut sichtbar zur Geltung kam. Auch der Eingangsbereich, der einem Treppenaufgang vorgelagert war, wirkte nun viel freundlicher.

Die Türsteher gab es immer noch. Allerdings waren es jetzt gänzlich andere Gesichter, die, nun direkt vor der schallgedämmten Tür zum eigentlichen Vergnügungstempel stehend, den Besuchern freundlich aber sehr wachsam entgegensahen. Hin und wieder musste ein Gast eine gründliche Durchsuchung seiner Taschen über sich ergehen lassen. Doch erfolgte dies offenbar aus begründetem Misstrauen, denn in den meisten Fällen kamen dabei Dinge zum Vorschein, die in einer Diskothek nichts zu suchen hatten.

„Wir gehen erst mal da rauf, bestimmte Eddy, indem er zur Treppe zeigte. „Der neue Inhaber hat da nämlich eine kleine aber feine Futterbude eingerichtet. Sozusagen als zweites Standbein. Musst du dir unbedingt ansehen.“

„Okay.“ Während er seinem Begleiter folgte, der nun im Eiltempo die Stufen hinauf stieg, überprüfte Patrick den Inhalt seines Geldbeutels.

„Komm schon“, befahl Eddy, dem es nicht schnell genug ging. „Schwing die Hufe, Mann!“

Der so Gedrängte gehorchte, auch wenn ihm das herrische Gebaren seines Kumpels entschieden gegen den Strich ging. Als er schließlich am Eingang des Restaurants ankam, blieb er wiederum stehen, um sich den Namenszug anzusehen, der über der Tür hing. Nun, Salt & Pepper war jetzt nicht unbedingt sehr originell, stellte er fest. Aber es kam ja nicht auf Äußerlichkeiten an, sondern auf die Qualität des Essens und die Leute, die sich um das Wohl der Gäste kümmerten.

Das Restaurant selbst war in der Tat nicht besonders groß. Ungeachtet Eddys offenkundiger Ungeduld, warf Patrick einen kurzen Blick durch die halbhohe Pendeltür in die Küche hinein, um sich dann der Betrachtung der Einrichtung zu widmen, die hell und modern wirkte. Allein die Enge gefiel ihm nicht, denn er mochte es nicht besonders, wenn man ihm vom Nachbartisch aus auf den Teller glotzen konnte.

Endlich bei seinem Begleiter angelangt, ließ er sich auf einen der Stühle gleiten und griff gleichzeitig nach der ausgelegten Speisekarte. Er hatte die Auflistung kaum überflogen, da blieb auch schon eine Kellnerin an ihrem Tisch stehen.

„Ich nehme das Schweinesteak vom Grill“, sagte er, indem er die junge Frau kurz musterte, die anhand eines Order Mailers ihre Bestellung direkt an die Küche übermitteln wollte. „Dazu ein Mineralwasser.“ Das schlichte weiße Herrenhemd, samt Fliege unter dem Kinn, und die schmal geschnittene schwarze Hose standen ihr wirklich hervorragend, lobte er im Stillen. An einem breiten Gürtel um ihre schmale Taille hingen jeweils an einer festen Gliederkette ihr Aufnahmegerät sowie der große Geldbeutel. Und ihre Füße steckten in flachen Schnürschuhen, die auf Hochglanz poliert waren. Ihre Aufmachung ließ sie zwar größer erscheinen, aber mehr als einssiebzig konnte sie auf keinen Fall sein. Das vermutlich schulterlange Haar war streng nach hinten gekämmt und im Nacken zu einem Zopf gebunden worden, was einen perfekt geformten Kopf sichtbar machte. Ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen und einer kleinen geraden Nase über einem sinnlichen Mund schien in einer unverbindlich wirkenden Miene eingefroren. Allein die blaugrauen Augen, die durch ein modernes Brillengestell auf den Betrachter herabsahen, wirkten leicht amüsiert und wachsam zugleich.

„Für mich ein Lachs-Sandwich und eine Cola.“ Während er sprach, ließ sich auch Eddy lässig in seinem Stuhl zurücksinken, um die Bedienung ausgiebig zu mustern. „Muss ja nachher meinen Sportflitzer heil nach Hause bringen.“ Als sie daraufhin nur nickte und dann zum nächsten Tisch ging, presste er kurz die Lippen aufeinander. „Ist zwar niedlich, die Kleine, aber kalt wie ’n Fisch“, stellte er fest, indem er sich wieder seinem Begleiter zuwandte.

Patrick lächelte das sichtlich nervöser werdende Mädchen am Nachbartisch ein letztes Mal an, um sich anschließend wieder auf seinen Begleiter zu konzentrieren. Das waren ja ganz ungewohnte Töne von Eddy, dachte er überrascht. Der sonst scheinbar durch nichts zu erschütternde Macho wirkte ja fast so, als wäre er enttäuscht! Allein seine aufgesetzte Gleichgültigkeit, und der Vergleich mit dem kalten Fisch, sollten wohl darüber hinwegtäuschen, wie sehr ihn die desinteressierte Herablassung der Bedienung wurmte.

Nun, nicht alle Frauen ließen sich mit Geld oder luxuriösen Statussymbolen locken, dachte Patrick voller Schadenfreude, während er seinen Blick vom Gesicht seines Gegenübers zu der Bedienung fliegen ließ, die, jetzt ein beladenes Tablett vor sich her tragend, auf ihren Tisch zusteuerte. Es gab gottlob noch genügend andere, denen ihre Würde wichtiger war als ein teures Geschenk aus der Hand eines selbstherrlichen Lackaffen. Und so wie es aussah, war diese Kellnerin eine von ihnen.

Während man den Teller mit dem Besteck und sein bestelltes Getränk vor ihn hinstellte, hatte Patrick Gelegenheit, die langen, dichten Wimpern und den schön geformten Mund der jungen Frau zu bewundern.

„Ich will das Lachs-Sandwich nicht“, ließ Eddy hören, als sie sich schon wieder zum Gehen bereit machte. „Ein Toast vom Chefkoch wär’ mir lieber.“

Die Angesprochene verzog keine Miene. Sie nickte bloß und sandte die Bestelländerung sogleich in die Küche. Danach ging sie zum Nachbartisch, um abzukassieren.

„Du bist unmöglich“, zischte Patrick erbost. „Was soll das?“

„Ich bin Gast hier“, erwiderte Eddy im herablassenden Tonfall. „Und der Gast ist immer König. Also kann ich meine Meinung ändern, sooft ich das will. Schließlich steht nirgends geschrieben, dass ich mich sofort und unwiderruflich für etwas Bestimmtes entscheiden muss. Und wenn ich’s recht bedenke, dann habe ich gar keinen Hunger. Na ja, wird die Schnecke halt den Teller wieder in die Küche bringen und dem Koch erklären müssen, dass seine Kreation noch einige Wünsche offen lässt.“

Arroganter kleiner Scheißer, dachte Patrick. Allerdings verkniff er sich eine weitere laut geäußerte Kritik, weil er nicht riskieren wollte, dass sein Gegenüber wie eine Rakete hochging und in Gegenwart der anderen Gäste ausfallend wurde.

Es dauerte ein paar Minuten. Dann kam die Bedienung mit dem Essen zurück. Zunächst den Teller vor Patrick abstellend, platzierte sie gleich darauf auch die andere Bestellung vor den sichtlich unzufriedenen Eddy.

„Sonst noch Wünsche?“ Ihre Miene war nach wie vor undurchdringlich. Doch der Blick, mit dem sie ihren Gast jetzt maß, war wachsam und voller Misstrauen.

Die Kellnerin stand so nahe bei ihm, dass Patrick meinte, die Wärme, die von ihr abstrahlte, an seiner Schulter spüren zu können. Zudem stieg ihm der Duft eines zarten Parfüms in die Nase, was ihn sogleich an eine bunte Sommerwiese erinnerte. Doch keine dieser beiden Wahrnehmungen war dafür verantwortlich, dass nun ein wohliger Schauer über seinen Rücken kroch. Vielmehr war es ihre dunkle, samtig weiche Stimme, die jedes Härchen seines Körpers in Hab-Acht-Stellung gehen ließ. So als wäre sie ein aufreizendes Streicheln, löste sie ein Kribbeln auf seiner Kopfhaut und in seiner Magengegend ein merkwürdiges Ziehen aus. Und da auch der Rest seines Körpers in höchst verräterischer Weise reagierte, sog er zischend den Atem ein. Das konnte ja wohl nicht wahr sein! Wieso sprang er allein auf die Stimme einer völlig Fremden dermaßen heftig an? War es nicht vielleicht doch etwas anderes an ihr? Vielleicht ihr Parfüm? …

„Wünsche schon“, ließ Eddy unterdessen im süffisanten Tonfall hören. „Weiß nur nicht, ob du sie mir auch erfüllen würdest, wenn ich sie dir verriete.“ Damit erhob er sich von seinem Stuhl und stellte sich anschließend so hin, dass sie nicht an ihm vorbeikonnte. Seine ursprüngliche Absicht, sie schikanieren zu wollen, war längst wieder vergessen, weil jetzt etwas anderes in seinem Kopf herumspukte.

„Sorry.“ Die junge Frau kniff die Augenlider zu schmalen Schlitzen zusammen, um ihr Gegenüber mit plötzlich offen gezeigtem Widerwillen zu taxieren. „Wenn du mir nicht sagst, was du willst, kann ich nichts mehr für dich tun.“ Sie wollte rückwärtsgehend ausweichen und dann weiter, denn ein anderer Gast winkte nach ihr. Allerdings kam sie nicht von der Stelle, weil man sie unverhofft am Arm packte und so zurückhielt.

„Lass mich sofort wieder los“, zischte sie ungehalten.

„Warum so zickig?“ Eddy grinste ihr frech ins Gesicht. „Ich bin zahlender Kunde. Also musst du nett zu mir sein.“

„So? Muss ich das?“ Sie funkelte ihr dreistes Gegenüber zornig an. „Wer sagt das?“

„Ich sage das“, beharrte er, wobei er sie nach wie vor unverschämt angrinste. „Außerdem finde ich, dass du viel zu zugeknöpft bist.“

Patrick ahnte die Bewegung mehr, als dass er sie tatsächlich sah. Aber mit einem Mal lag die freie Hand seines Begleiters auf der Brust der Bedienung.

„Ist das alles echt? Oder ist da eine mobile Überraschung drin?“, wollte der aufdringliche Grapscher wissen.

„Ich hab’ nix zu verbergen“, zischte die Betatschte angriffslustig, indem sie ihrerseits die Hand auf den Brustkorb ihres Widersachers legte, sodass dessen Brustwarze genau zwischen ihrem Daumen und dem Zeigefinger lag. „Und du?“

Auf Patrick wirkten die beiden Gegner wie zwei gleich große Kampfhähne, die kurz davor standen, sich gegenseitig anzuspringen.

Und dann ging alles ganz schnell.

Die junge Frau, die man nach wie vor gegen ihren Willen am Arm festhielt, kniff mit aller Kraft in die Brust des Zudringlichen. Eddy indes stöhnte schmerzerfüllt auf und gab daraufhin den Arm der Kellnerin frei. Doch bevor er zu einem Vergeltungsschlag ausholen konnte, sprang Patrick auf und drängte sich zwischen die beiden Kontrahenten.

„Lass gut sein“, versuchte er den Aufgebrachten zu beschwichtigen. „Du hast es provoziert. Also wirst du sie nicht wieder anfassen! Okay?“

„Dieses Miststück! Das wird sie mir büßen!“ Eddys Gesicht war mittlerweile puterrot vor Wut. „Geh mir aus dem Weg“, verlangte er. „Sie hat ’ne Abreibung verdient!“

„Du wirst sie nicht noch einmal anfassen“, wiederholte der Angeblaffte unbeeindruckt, indem er mit eisernem Griff die Schulter seines Begleiters packte und ihn so an weiteren Aktivitäten hinderte.

„Was soll das, du Idiot?“ Eddy wähnte sich durch die wehrhafte Bedienung öffentlich blamiert und verübelte nun seinem Freund zutiefst, dass dieser die Rache-Aktion verhinderte, die ihm selbst Genugtuung verschaffen sollte. „Wieso schützt du die Schlampe, statt mir zu helfen?“ Seine Stimme drohte zu kippen, so aufgebracht war er.

„Dir helfen?“ Der Beschimpfte runzelte verwundert die Stirn. „Hast du ernsthaft geglaubt, ich lasse zu, dass du eine Frau schlägst? Nur weil …“

„Gibt’s Probleme, meine Herren?“

Patrick schüttelte den Kopf, sah die groß gewachsene Person mit dem brünetten Haar jedoch nicht an, die soeben zu ihnen getreten war. Seine ganze Aufmerksamkeit galt allein seinem Kumpel, weil dieser sich vehement gegen den Griff wehrte, der ihn von seiner Gegnerin fernhalten sollte.

„Alles in Butter“, erklärte er beherrscht. „Er ist nur ein bisschen hibbelig, weil er heute ’nen Espressos zu viel hatte.“

„Wenn das so ist“, erwiderte die Brünette betont freundlich, „dann darf ich euch die Lady sicher entführen.“ Sie wandte sich an die Bedienung: „Luka, schau doch bitte mal nach, wo Nadja bleibt.“

Die fest geballten Fäuste langsam öffnend, ließ die Angesprochene zunächst ihrem zornigen Gegner einen kurzen aber höchst angewidert anmutenden Blick zukommen. Anschließend musterte sie dessen Begleiter von Kopf bis Fuß. Dabei machte sie den Eindruck, als wolle sie etwas sagen. Doch dann ging sie ohne ein Wort davon.

Patrick schaute ihr einen Augenblick lang fasziniert nach, wurde dann aber durch das heftige Zerren seines Begleiters wieder daran erinnert, dass er ihn immer noch festhielt.

„Verflucht noch mal!“ Eddy schien vor lauter Wut nicht zu wissen, was er als Nächstes machen sollte. „Was fällt dir eigentlich ein, du Arsch? Mach das ja nicht noch mal! Kapiert?“ Seine Schulter gewaltsam befreiend, schob er anschließend seine Kleidung wieder in die richtige Lage zurück. „Ich lass mich doch nicht wie einen Deppen behandeln“, schimpfte er. „Von niemandem!“

„Du solltest deinem Freund dankbar sein, dass er dich zurückgehalten hat.“ Der Mund der Brünetten lächelte zwar, doch war an ihren leicht zusammengekniffenen Augen deutlich erkennbar, dass sie verärgert war. „Unsere Mädchen verdienen Respekt, verstehst du! Sie arbeiten hier ziemlich hart, um die Gäste zufriedenzustellen. Aber sie müssen sich körperliche Zudringlichkeiten nicht gefallen lassen, auch wenn Leute, wie du, meinen, dies gehöre zum Service.“

Die Stimme der Frau, die offenbar Chefin des Restaurants war, hatte einen eigenartigen Klang, was Patricks Interesse weckte. Also musterte er die gepflegte, ungewöhnlich große Erscheinung unauffällig von der Seite. Sie war sehr schlank, und in gleicher Weise wie ihre Angestellten gekleidet. Allerdings hatte sie auch noch einen schwarzen, knielangen Gehrock an, an dessen Revers eine rote, seidene Rose befestigt war. Auch sie hatte ihr kastanienbraunes, langes Haar im Nacken zusammengebunden. Allerdings war es bei ihr bis zur Zopfspitze mit einem schwarzen Band umflochten. Allein das Make-up erschien ihm ein wenig übertrieben. Etwas weniger Rouge und Lippenstift hätten es auch getan! Trotzdem fand er sie sympathisch, denn ihr vorangegangener Einsatz für ihre Angestellte ließ erkennen, dass ihr die Menschen, die für sie arbeiteten, tatsächlich wichtig waren.

„Keine Sorge“, versuchte er nun zu beschwichtigen, „Es wird nicht wieder vorkommen. Mein Kumpel hat sich nur einen dummen Scherz erlaubt.“

„Scherz?“, knirschte Eddy dazwischen. „Wenn ich die Mistkröte in die Finger kriege, dann kann sie was erleben!“

„Wenn das so ist, meine Herren, dann will ich mal Klartext reden. Du …“ Die Brünette tippte Eddy mit dem Zeigefinger ans Brustbein, wobei sie sich so nah zu ihm hin beugte, dass ihre Nasenspitze nur noch zwei Handbreit von der seinen entfernt war. „Du bist hier schon ein paar Mal unangenehm aufgefallen. Wenn ich dich nicht jetzt gleich vor die Tür setzen und mit mindestens einem halben Jahr Hausverbot belegen soll, dann benimmst du dich ab sofort anständig. Haben wir uns verstanden?“

Die Empörung des Zurechtgewiesenen war beinahe mit Händen greifbar. Dennoch sagte er nicht ein Wort mehr. Stattdessen warf er sich herum und stürmte mit langen Schritten davon.

Patrick indes stand immer noch auf der Stelle und sah dem Davoneilenden überrascht nach. Eddy ließ sich normalerweise von keiner Frau etwas sagen, geschweige denn vorschreiben! Wieso kuschte er jetzt plötzlich, ganz so, als hätte er es mit jemandem zu tun, der ihm tatsächlich befehlen durfte? Warum wollte er unbedingt vermeiden, dass man ihn hinauswarf?

Weil er auf seine Fragen keine vernünftige Antwort fand, wandte sich Patrick erneut der Restaurant-Chefin zu, um sich noch einmal für den peinlichen Vorfall zu entschuldigen. Anschließend setzte er sich wieder hin und aß sein mittlerweile nur noch lauwarmes Fleisch. Danach vertilgte er auch noch das völlig vergessene Toaste. Als er schließlich seinen Hunger gestillt und die Rechnung bezahlt hatte, kreiste der Zwischenfall immer noch in seinem Kopf herum. Und so überdachte er zum x-ten Mal sein Verhältnis zu seinem ehemaligen Schulkameraden, während er sich gleichzeitig auf den Weg ins Erdgeschoss machte. Er war sich mittlerweile selbst nicht ganz sicher, was sein Jugendfreund wirklich für ihn war. Die anderen betrachteten sie schon seit ihrer Kinderzeit als unzertrennliches Duo. Auch Eddy ging offenbar davon aus, dass sich nichts zwischen ihnen geändert hatte. Aber er selbst legte nicht mehr den geringsten Wert darauf, von Eddy „mein bester Kumpel“ gerufen zu werden, weil ihre Auffassung von Freundschaft ziemlich unterschiedlich war. Zudem besaß jeder von ihnen eine völlig andere Lebenseinstellung, was in letzter Zeit zu einigen Spannungen geführt hatte. Es würde also vermutlich nicht mehr lange dauern, bis sie sich tatsächlich ernsthaft in die Haare gerieten. Vielleicht … Nein, nicht heute Abend! Er hatte heute schon genug Ärger mit seinem Chef gehabt, der mit der geleisteten Arbeit nicht zufrieden gewesen war. Da brauchte er nicht auch noch eine Auseinandersetzung mit Eddy, die bestimmt richtig fies werden würde, sobald dieser begriff, dass man sich schon lange nicht mehr zu seinen Gefolgsleuten zugehörig fühlte.

Als Patrick hörte, wie viel er bezahlen sollte, um in die Diskothek eingelassen zu werden, schluckte er erst einmal. Weil er jetzt aber doch neugierig war, wie es wohl im Inneren aussehen mochte, legte er die verlangte Summe zähneknirschend auf die offene Handfläche eines Türstehers. Ja, dachte er, während einer der anderen Aufpasser einen fluoreszierenden Stempelabdruck auf seinem Unterarm platzierte, so konnte man auch dafür sorgen, dass das Lokal nur von gut betuchtem Publikum frequentiert wurde. Ein Normalsterblicher überlegte es sich nämlich zweimal, ob er wirklich so viel investieren wollte, nur um hineingelassen und so zu einem vermeintlich exklusiven Kreis dazu gezählt zu werden.

Obwohl er in der Vergangenheit oft da gewesen war, erschien Patrick das Innere der Disco auf den ersten Blick völlig fremd. Die Tanzhalle wirkte jetzt um einiges größer und heller, obwohl die Einrichtung immer noch aus dunklem Holz bestand. Allein die vielen überdimensionalen Spiegel, die man in die Wand-Vertäfelungen eingelassen hatte, gaukelten einem jetzt eine Weite vor, die nicht wirklich vorhanden war. Nun, Halle war nicht unbedingt das richtige Wort, denn der ebenerdige Bereich wurde von einer breiten und rundum laufenden Galerie eingerahmt, zu welcher zwei geschwungene Treppenaufgänge hinaufführten. Allein die Decke schien neu gemacht, denn da waren keine Disco-Kugeln und auch keine sichtbaren Scheinwerfer mehr.

Patrick verharrte für einen Moment auf der Stelle, um den Kopf in den Nacken zu legen und hinaufzuschauen. Dabei bekam er plötzlich den Eindruck, er stünde in einem überdachten Amphitheater, dessen vermeintlich durchsichtige Kuppel so real wirkte, als wäre da tatsächlich ein nachtschwarzer Himmel mit hell blinkenden Sternen. Später sollte er erfahren, dass man allerlei elektrische Spielereien sowie notwendige Beleuchtungseinheiten in die neue Deckenkonstruktion integriert hatte, um genau diesen Eindruck hervorrufen zu können.

Die ehedem aus allen Richtungen frei zugängliche Galerie bestand jetzt aus zwei Bereichen, stellte Patrick bei näherem Hinsehen fest. Der Großteil war nach wie vor mit Sitzgelegenheiten und niedrigen Beistelltischen vollgestellt, was schon zu Dancefloor-Zeiten für die Besucher gedacht gewesen war, die sich nicht stundenlang im Gedränge der Massen herumschubsen lassen wollten. Aber aus dem Teil, der sich über dem Eingangsbereich der Tanzhalle befand, hatte man offenbar so etwas wie eine komplett durch Trennwände separierte Bühne geschaffen, die man durch eine transparente Balustrade hindurch bis zum letzten Winkel einsehen konnte. Und genau dort hatte der DJ seinen neuen Platz erhalten. Wozu er so viel Raum benötigte, war allerdings nicht nachvollziehbar, denn der hyperaktive Typ brauchte, trotz seines Gekaspers und dem umfangreich scheinenden Equipment, maximal eine Fläche von acht Quadratmetern. Doch länger darüber nachzudenken, schien ihm müßig, weil er davon ausging, dass diese Maßnahme bestimmt einen Grund hatte, den er schon bald erfahren würde. Also sah er sich weiter neugierig um, denn da gab es noch einiges zu entdecken.

Patricks Blick blieb für ein paar Sekunden an einer auffällig gestylten Blondine mit Cocktail-Glas in der Hand hängen, die nur ein paar Schritte entfernt von ihm scheinbar gelangweilt an der Theke der ellenlangen Bar lehnte. Da sie jedoch für seinen Geschmack zu stark geschminkt und zudem schon ziemlich angetrunken war, schaute er sich die nächste Schöne an. Und das war wiederum eine Kellnerin im bis zum Kinn zugeknöpften Outfit. Wie es den anderen Jungs ging, wusste er nicht. Aber ihm schien die aufmerksam und zugleich distanziert wirkende junge Frau weitaus interessanter als die Mädchen, welche vor einem Jahr im extravaganten Minimum-Look – also wirklich nur mit dem Allernotwendigsten am Leibe – ihren Dienst verrichtet hatten. Nur eines war nicht geändert worden, stellte er ein bisschen enttäuscht fest, sobald ihm aufging, zu welchem Zweck die frei gebliebenen Flächen auf dem DJ-Balkon dienten. Auch der neue Manager wollte offenbar nicht darauf verzichten, sein Publikum durch Animateurinnen anheizen zu lassen. Gut, die Mädchen, die jetzt links und rechts des Platten-Auflegers in Position gingen, waren bei Weitem nicht so entblößt, wie ihre Vorgängerinnen, denn statt knapper Hotpants und Bikini-Tops trugen sie silbergraue lange Hosen und hüftlange Tunika, was an die futuristischen Uniformen von All-Reisenden erinnerte. Dennoch wirkten sie auf ihn ziemlich albern, wie sie da im sorgsam einstudierten Einklang ihre Choreografie abspulten.

Seinen Blick von den Tänzerinnen abwendend, entdeckte Patrick seinen Begleiter am entgegengesetzten Ende der Bar, wo dieser sich gerade einen Cocktail nach eigenen Wünschen mixen ließ. Im Grunde hatte er gar keine Lust, noch länger zu bleiben, denn es gab nichts Neues mehr zu sehen. Selbst die Möglichkeit einer neuen Eroberung reizte ihn nicht, weil die Mädchen, die ohne Begleitung da waren, allesamt nicht seinen Erwartungen entsprachen. Dennoch bestellte er sich ein Gin-Tonic und ging dann langsam in die Richtung, wo Eddy stand. Blöd, dachte er dabei für sich, dass er nicht mit dem eigenen Wagen da war. Na ja, sobald er ausgetrunken hatte, würde er sich verabschieden und dann zusehen, dass er einen Bus erwischte, der in seine Richtung fuhr. Und falls das nicht klappte, gab es auch noch Taxis.

„Du Verräter“, zischte Eddy böse, sobald er seinen Freund bemerkte. „Das hätte ich echt nicht von dir erwartet!“

„Was denn?“ Patrick war sich keiner Schuld bewusst. „Hätte ich vielleicht zulassen sollen, dass du dich an einem schwachen Mädchen vergreifst, nur weil es sich nicht befummeln lassen wollte? Außerdem: Wär’ ich nicht dazwischengegangen, wärst du jetzt nicht mehr hier drin!“

Da war was Wahres dran, musste sich Eddy eingestehen. Sein bester Kumpel hatte wirklich verhindert, dass man ihn auf höchst peinliche Weise rausschmiss. Dennoch wühlte der Zorn immer noch so heftig in seinem Bauch, dass er unbedingt ein Ventil brauchte, um sich abzureagieren.

„Diese elende Tunte!“ Das neue Ziel seiner Wut, in Gestalt der brünetten Frau aus dem Restaurant, stand gerade ein paar Schritte entfernt und unterhielt sich mit einem der Gäste. „Auch wenn ihm der Laden gehört, kann er nicht so mit mir umspringen! Der wird noch sein blaues Wunder erleben!“ Er hatte das letzte Wort kaum ausgesprochen, da registrierte er die Verständnislosigkeit im Gesicht seines Gesprächspartners, und lachte daraufhin schallend los. „Hast du das etwa nicht mitgekriegt?“, japste er schließlich. „Die Lady da drüben“, er deutete mit dem Zeigefinger auf die Person, die er meinte. „Das ist ein Kerl! Genauso wie einige seiner Lakaien! Jetzt guck nicht so doof. Ist doch ein offenes Geheimnis hier! Deshalb hab’ ich auch bei der Kleinen im Salt & Pepper mal nachgefühlt. Wollte einfach nur wissen, was sie wirklich ist.“

Patrick schluckte erst einmal kräftig, denn die Tatsache, dass man es geschafft hatte, ihn derart gründlich hinters Licht zu führen, überraschte ihn selbst am meisten. Er besaß doch sonst so ein gutes Auge für das schöne Geschlecht! Ja, er bildete sich sogar ein, sofort erkennen zu können, was bei einer Frau echt oder was ein künstlich erzeugter Eye-Catcher war! Also: Warum war ihm nicht gleich aufgefallen, dass die Gestalt im Gehrock keine typisch weibliche Stimme besaß? Wieso … Na ja, bei Luka klang sie ja auch ziemlich tief. … Aber die war auf jeden Fall weiblich! Ja, da war er sich absolut und hundertprozentig sicher!

Dem Manager, der sich nun durch die Tanzenden schlängelte, einen langen Blick nachschickend, grinste Patrick mit einem Mal über das ganze Gesicht. Das war also der besondere Kick in diesem Laden! Es waren vermutlich nicht nur die Kellnerinnen, die das Publikum darüber rätseln ließen, mit welchem Geschlecht man es nun wirklich zu tun hatte. Vielmehr war davon auszugehen, dass sich in der Menge auch einige Gäste tummelten, die man sonst nur in Travestie-Shows oder speziellen Clubs fand. Zugegeben, Männer in Frauenkleidern waren nicht unbedingt sein Ding. Aber er hatte auch nichts dagegen, wenn abseits der Norm veranlagte oder experimentierfreudige Menschen ihre Fantasien auslebten. Vorausgesetzt, es wurde niemandem etwas gegen seinen Willen aufgezwungen!

„Wir sollten uns zu den Jungs setzen“, unterbrach Eddy die Überlegungen seines Freundes. „Die Show fängt gleich an.“ Damit nahm er seinen fertigen Drink und machte sich anschließend auf den Weg zur Galerie. Oben angekommen, steuerte er sogleich eine der Sitzgruppen an, die in der Nähe der Abtrennung zur Bühne stand. Dabei sah er sich immer wieder nach seinem Begleiter um, um so sicherzustellen, dass dieser ihm auch wirklich folgte.

Obwohl ihm der Rest der Clique ziemlich zuwider war, folgte Patrick seinem Vordermann auf den Fuß. Na ja, er konnte nichts Konkretes beweisen, gestand er sich ein. Aber die Gestalten, die sein ehemaliger Schulkamerad seit einiger Zeit um sich scharte, waren allesamt irgendwie schräg drauf. Sie taten entweder sehr herzlich miteinander, oder sie gingen sich gegenseitig an die Gurgel. Nun, heute Abend würde er zum letzten Mal mit ihnen an einem Tisch sitzen, schwor er sich. Und das auch nur, weil er zum einen sein Gin-Tonic in Ruhe austrinken und zum anderen herausfinden wollte, warum Eddy so erpicht darauf war, die nächste Vorführung zu sehen.

„Geht gleich los“, versprach dieser, indem er seinen besten Freund zu sich auf den Zweisitzer zog, den man in aller Eile für ihn freigemacht hatte. „Pass auf, gleich wirst du was sehen, was dich garantiert aus den Schuhen haut.“

Der Angesprochene hatte keine Gelegenheit mehr, eine Frage zu stellen oder eine Bemerkung zu machen, denn in diesem Augenblick wurde die ohnehin gedämpfte Beleuchtung der Diskothek um eine weitere Stufe herunter gedimmt. Gleich darauf richteten sich mehrere kleine Scheinwerfer auf einen bestimmten Punkt rechts neben dem DJ-Platz, wobei ihr Licht wie silberner Regen wirkte. Und so schien es tatsächlich so, als habe sich die Gestalt, die im nächsten Moment wie aus dem Nichts dort auftauchte, buchstäblich aus den unzähligen Lichtpunkten materialisiert.

Im Gegensatz zu den beiden Mädchen, die sich vor ihr gezeigt hatten, trug die schwarzhaarige Solotänzerin kein sonderlich farbenfrohes Make-up. Dafür aber ein knöchellanges, beidseits geschlitztes Kleid aus dunkelroter schwerer Seide, welches ihren Körper locker umspielte. Dünne Spaghettiträger ließen golden schimmernde Haut an Armen und Schultern sehen, während die Konturen von Brust, Taille und Hüften durch die wechselnden Schatten auf dem leicht glänzenden Stoff mal verschwommen und mal ganz deutlich zu erkennen waren. Die Beine, die seitlich aus den Schlitzen des Kleides hervorblitzten, wirkten dadurch ungewöhnlich lang. Und die Füße steckten in schwarzen Riemchen-Sandaletten, deren hohe Absätze dafür sorgten, dass sich die gesamte Frauengestalt sehr aufrecht hielt.

Der Moment der Stille war beabsichtigt und führte wie erwartet dazu, dass die Aufmerksamkeit der Leute auf die Sonder-Darbietung gerichtet wurde. Als die Musik dann in gewohnter Lautstärke wieder einsetzte, zuckten einige leicht zusammen, wandten jedoch den Blick nicht ab.

Es war ein relativ langsames Stück, das entfernt an sphärische Entspannungsmusik erinnerte. Auch die Bewegungen der Tänzerin waren langsam und fließend, so als zelebriere sie ein besonderes Beschwörungsritual. Allein ihre enorme Gelenkigkeit entlockte dem einen oder anderen Zuschauer ein anerkennendes Murmeln. Es war nichts Aufreizendes und schon gar nichts Vulgäres an der Darbietung. Und doch waren die männlichen Beobachter allesamt wie gebannt, nicht fähig und auch nicht willens, die Solokünstlerin aus den Augen zu lassen.

Auch Patrick schaute einen Moment lang fasziniert zu, um seinen Blick schließlich über die Zuschauer wandern zu lassen, die in seiner Nähe saßen. Was in den einzelnen Köpfen vorging, konnte er nur ahnen. Allerdings glaubte er, genau zu wissen, was im Hirn des einen oder anderen vor sich ging, denn auch seine Fantasie hatte kurz zuvor einen Tagtraum produziert, der sich nur schwer wieder verscheuchen ließ. Sicher, die Tänzerin war weit davon entfernt, dem Typ Frau zu entsprechen, den er sonst bevorzugte. Dennoch gefiel sie ihm fast so gut wie die Kellnerin aus dem Restaurant. Und das nicht nur wegen ihrer gekonnt dargebotenen Show!

„Die muss ich haben“, murmelte Eddy, als die Musik endete und die Frau in Rot genauso schnell und spektakulär verschwand, wie sie aufgetaucht war.

Patrick hatte seinen ehemaligen Schulkameraden nie zuvor so verklärt grinsen gesehen. Doch die Vermutung, die mit seiner letzten Wahrnehmung einherging, schien ihm so absurd, dass er den Kopf schüttelte, ganz so, als müsse er eine lästige Fliege verscheuchen.

„Wie meinst du das?“ Er hatte eigentlich nicht fragen wollen, weil er ja bereits wusste, welche Antwort er erhalten würde. Dennoch waren ihm die Worte entschlüpft, ohne dass er sie zurückhalten konnte.

„Ich will sie haben!“ Die Stimme des Sprechers klang belegt, was deutlich machte, wie aufgewühlt er war. „Egal, wie viel es mich kostet!“

„Du willst sie kaufen?“ Patrick erinnerte sich, dass sein Sitznachbar oft teure Geschenke verteilte, um sich damit die Aufmerksamkeit und Zuwendung zu sichern, die er sich wünschte. Aber Sex für Geld war eigentlich noch nie infrage gekommen, weil dies nicht zu seinem Glauben passte, er sei ein Kerl, den eigentlich die Frauen für seine Mühe bezahlen müsste!

„Nadja ist doch keine Nutte!“ Eddy ärgerte sich, weil man ihn offenbar mit Absicht missverstand. „Ich will sie aus der Nähe sehen und mit ihr reden. Und wenn wir uns dann besser kennen, will ich auch andere Sachen mit ihr machen. Was ist daran so schwer zu begreifen?“

„Wo ist das Problem?“, wunderte sich Patrick.

„Das Scheiß Problemist, dass ich gar nicht erst an sie herankomme, um sie selbst nach einem Date zu fragen“, erwiderte Eddy böse. „Hab’ schon ein paarmal versucht, mit ihr in Kontakt zu kommen. Aber man hat mich immer wieder mit einer albernen Ausrede abgespeist. Angeblich weiß keiner, wohin sie nach ihrem Auftritt verschwindet. Und ihre Telefonnummer hat auch keiner. Aber irgendwann, glaub mir, irgendwann krieg ich sie zu fassen! Ich schwör’ dir, ich finde heraus, wo ich sie finden kann. Und dann …“

Patrick hörte schon gar nicht mehr hin, denn die Fantasien und Pläne seines Nebenmannes interessierten ihn nicht wirklich.

„Ich bin erledigt.“ Er stand bereits auf den Füßen und sah auf seinen ehemaligen Schulkameraden hinunter. „Ihr könnt ja ohne mich weitermachen.“

„Spielverderber!“ Eddy schien schon wieder vergessen zu haben, dass er gerade noch wütend gewesen war, denn er lachte breit. „Dabei wollten wir jetzt weiter ins Westside. Willst du die Kleine vom letzten Mal wirklich umsonst warten lassen? Wenn ich mich nicht irre, war die ziemlich scharf auf dich!“

„Wir haben nur ein paar Mal zusammen getanzt, weil ihr Freund keine Lust dazu hatte“, erwiderte Patrick gleichmütig. „Und das ist jetzt schon vier Wochen her. Sie hat mich längst vergessen. Also, wenn jemand auf mich wartet, dann ist das meine Matratze zu Hause.“ Damit ging er.

2

In Gedanken versunken ging Tim die Straße entlang. Doch mit einem Mal fühlte er sich verfolgt, sodass er schnell über die Schulter zurücksah, um zu prüfen, wer oder was ihm da hinterherlief.

„Na du kleiner Streber.“ Tobi war nur noch ein paar Schritte entfernt, holte aber beständig auf. „Hast ja wieder mal ’nen tollen Auftritt gehabt.“

Der Gerufene indes dachte nicht im Traum daran, stehenzubleiben, um auf seinen Klassenkameraden zu warten. Ganz im Gegenteil wurde er jetzt immer schneller, sodass sich der Abstand zwischen ihnen wieder ein bisschen vergrößerte. Dabei bedauerte er, dass er sich nicht wie gewohnt versteckt hatte, bis sein Erzfeind an ihm vorbei war, was ihm die nun bevorstehende Auseinandersetzung erspart hätte. Sein Verfolger war genauso alt wie er selbst. Aber er war um eine gute Kopflänge größer. Außerdem schien Tobi wieder einmal ziemlich scharf darauf zu sein, seine Fäuste fliegen zu lassen. Der Grund dafür war diesmal das Ergebnis der Deutscharbeit, welches kurz vor Schulschluss von ihrer Klassenlehrerin bekannt gegeben wurde. Na ja, der Vergleich zwischen dem besten und dem schlechtesten Schüler hatte beim Rest der Klasse nicht nur Schadenfreude, sondern auch hämisches Lachen hervorgerufen, obwohl dies ganz sicher nicht die Absicht von Frau Dietrich gewesen war. Und Tobi, das großmäulige Mitglied einer schlagfreudigen Bande von Schulversagern, hatte dies als weitere Beleidigung aufgefasst, was seine Wut nur noch angestachelt hatte. Es lag also auf der Hand, dass er sich für die angebliche Erniedrigung rächen wollte. Das Problem war nur, dass er selbst so gar keine Lust darauf verspürte, als Box-Sack herzuhalten, damit sich der andere wieder besser fühlen konnte.

„He, Streber! Bleib endlich stehen“, schrie Tobi. „Du kannst mir eh nicht davonlaufen! Ich krieg dich ja doch!“

Obwohl Tim wusste, dass es im Grunde wirklich keine Chance für ihn gab, ungeschoren davonzukommen, begann er dennoch zu rennen. Der vollgepackte Schul-Rucksack auf seinem Rücken hüpfte dabei im Rhythmus seiner Schritte auf und ab, wobei er jedes Mal schmerzhaft in sein Kreuz schlug. Schon konnte er die Straßenecke sehen, an welcher er die Autowerkstatt wusste, in die er sich notfalls retten und hinter einem der Wagen verstecken konnte. Nur noch ein paar Schritte, dann wäre er in Sicherheit!

Japsend vor Anstrengung rannte der Verfolgte den Bürgersteig entlang. Doch dann tauchte in einiger Entfernung eine Hürde auf, die ihn zunächst ratlos machte, weil er nicht auf Anhieb wusste, wie er sie am besten meistern sollte.

Der Besitzer eines kleinen Schreibwarenladens hatte am Vormittag direkt neben seinem Ladeneingang mehrere Stapel alter Kartons für die Müllabfuhr bereitgestellt. Unglücklicherweise nahmen diese Abfallpakete fast die gesamte Breite des Trottoirs ein, sodass kaum noch Platz für die Fußgänger blieb. Man konnte zwar auf die Fahrbahn ausweichen, um das Hindernis zu umgehen, doch war das nicht ungefährlich, denn dort herrschte reger Verkehr.

Tim versuchte trotz seiner Eile auf dem Fußweg zu bleiben und den aufeinandergestapelten Kartons so gut es ging auszuweichen. Er war schon fast vorbei, da kam er doch noch ins Stolpern und fiel der Länge nach hin. Gleich darauf fühlte er sich gepackt und wieder auf die Füße gezerrt.

„Ich hab’ dir doch gesagt, du kannst mir nicht abhauen“, keuchte Tobi, während er seinen Gegner wie einen alten Mehlsack zu schütteln begann. „Jetzt kannst du was erleben, du Pfeife! Nur weil du nicht auf mich gewartet hast, hab’ ich meine Tasche in den Dreck schmeißen müssen!“ Mit einer Faust mehrmals gegen Tims Unterarme boxend, mit welchen dieser seinen Kopf schützen wollte, hielt er ihn mit der anderen Hand weiterhin am Schultergurt seines Rucksacks fest. „Du wirst jetzt gefälligst mitkommen und meine Tasche sauber machen. Und danach machst du meine Aufgaben. Hast du mich verstanden? Erst wenn du das gemacht hast, lass ich dich vielleicht zu Mami nach Hause gehen.“

Tims abwehrende Armhaltung konnte nicht verhindern, dass ihn der nächste Faustschlag schmerzhaft am Kinn traf. Und nur einen Augenblick später blieb ihm buchstäblich die Luft weg, weil man ihn mit aller Kraft in den Magen boxte. Also schlang er seine Arme um seine Mitte und krümmte sich vor Schmerz. Doch damit gab er den Schutz seines Kopfes auf, was umgehend ausgenutzt wurde. Tränen des Zorns und der Hilflosigkeit trübten seinen Blick. Dennoch traute er sich nicht, irgendeine Gegenwehr zu zeigen, aus Angst, sein Widersacher könnte dann noch brutaler werden.

Der Misshandelte meinte schon, sein Peiniger wolle gar nicht mehr aufhören, da wurde er plötzlich losgelassen. Für ein oder zwei Sekunden unschlüssig, ob er es wagen könne, den Kopf zu heben, stellte er sich dann doch gerade hin, um sich verwundert umzuschauen. Allerdings schien ihm das, was er nun zu sehen bekam, so unwirklich, dass er zunächst glaubte, es handele sich um einen Traum oder eine Wunschfantasie. Hatte Tobi bis eben noch ihn festgehalten und geboxt, wurde er nun selbst am Kragen gehalten und wie ein junger, ungehorsamer Hund durchgeschüttelt. Woher der Mann in der schwarzen Jeans und dem hellblauen Polohemd gekommen war, konnte er nicht nachvollziehen. Aber er war höchst dankbar dafür, dass der jetzt den aggressiven Schläger in der Mangel hatte!

„Elender Feigling!“ Der Unbekannte ließ das Schütteln endlich sein. Stattdessen stellte er den offenkundig zutiefst schockierten Jungen so vor sich hin, dass er ihm in die Augen sehen konnte. „Legst dich mit Schwächeren an, weil du dich nicht an deinesgleichen herantraust, ja? Wie armselig!“ Er hob einen Arm, ganz so, als wolle er zu einer Ohrfeige ausholen. Aber er griff sich bloß das linke Ohr seines Gegenübers und zog einmal kurz daran. „Hau bloß ab, du blöde Arschgeige“, schimpfte er. „Und komm ja nicht noch mal auf die Idee, meinen Freund anzufassen. Haben wir uns verstanden?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er den immer noch vor Schreck ganz starren Tobi grob an dessen Schulter herum und schubste ihn weg. „Mach schon“, befahl er im strengen Tonfall. „Hau endlich ab!“

Tim sah seinen gefürchteten Erzfeind flüchten, so als wäre eine ganze Horde wilder Affen hinter ihm her, und hätte am liebsten gelacht. Doch die aufgerissene Unterlippe machte dies völlig unmöglich. Also musterte er seinen Retter mit einem vorsichtigen Grinsen. Doch nicht so groß, wie er zuerst gedacht hatte, stellte er überrascht fest. Aber das war nicht weiter wichtig. Immerhin war er ja stark genug gewesen, um den Schläger wegzujagen! Er hatte rotblonde Haare und blaue Augen. Und seine Nase sah ein bisschen schief aus. Na ja, vielleicht hatte er ja auch mal gegen einen Tobi kämpfen müssen und sich dabei den Riechkolben verbogen!

„D… Danke“, brachte er endlich heraus.

„Was wollte der denn von dir?“, fragte der Fremde, indem er sich die Hände an seiner Jeans abrieb, so als wären sie schmutzig oder feucht.

„Weiß nich’“, erwiderte der Gefragte mit einem scheinbar gleichmütigen Schulterzucken. „Vielleicht nur seinen Spaß haben. Macht der öfter. Nur so aus Jux.“

„Und du wehrst dich nicht?“, wunderte sich sein Retter.

„Nö“, entgegnete Tim. „Hat keinen Sinn. Wenn ich es täte, würde es wahrscheinlich noch viel schlimmer werden.“

„Hast du denn keine Freunde, die dir helfen könnten?“, fragte sein Gegenüber.

„Nö.“ Tim fühlte, wie sich sein Magen zusammenzog, und hoffte insgeheim, dass man ihm nicht ansah, wie sehr er darunter litt, dass man ihn wie einen Aussätzigen behandelte. Tobi war nur einer von vielen, die ihn nicht leiden konnten! „Die wollen alle nichts mit mir zu tun haben.“ Bewusst eine gelangweilt-gleichgültige Miene zur Schau tragend, versuchte er erneut, ein Grinsen zustande zu bringen. „Sie können nicht verstehen, warum ich bei ihren albernen Streichen nicht mitmachen will. Aber das ist alles blöder Kinderkram, verstehen Sie. Außerdem mag ich auch gar nicht zu ihnen gehören. Ich bin gern allein.“ Eine Lüge, ja. Aber das musste der Fremde ja nicht wissen!

„Was dagegen, wenn ich dein Freund werde?“ Der Mann streckte die Hand aus. „Ich bin Eddy. Und wie heißt du?“

„Nein, ich … Tim. Mein Name ist Tim.“ Er zögerte kurz, bevor er die Hand seines Gegenübers ergriff, um sie kurz zu drücken. „Alle nennen mich bloß Tim“, fügte er erklärend hinzu. „Aber eigentlich heiße ich Tillmann.“

„In Ordnung, Tim.“ Eddy grinste befriedigt, denn er fühlte sich äußerst wohl in seiner Haut. Er wusste genau, wie es in dem Jungen aussah. Schließlich hatte er während seiner Grundschulzeit ähnliche Erfahrungen machen müssen, wie sein schmächtiger Schützling heute. Und die Tatsache, dass er nun wie ein unbesiegbarer Held verehrt wurde, bescherte ihm ein schier grenzenloses Hochgefühl. „Da wir nun Freunde sind, bringe ich dich auch nach Hause. Wo wohnst du denn?“

„Das … Ich …“ Tim erinnerte sich mit einem Mal an alle Ermahnungen und Ratschläge, die seine Mutter immer wieder herunterbetete. Dennoch wollte er seinen Retter nicht vor den Kopf stoßen, indem er rundweg Nein sagte. „Ich wohne gar nicht weit von hier“, versuchte er sich herauszureden.

„Muss nur noch um die nächste Straßenecke, dann bin ich schon da.“

„Hast du etwa Angst, ich könnte dich entführen, um dich an Kinderhändler zu verkaufen?“ Eddy sah den Jungen mit hochgezogenen Augenbrauen fragend an, wobei seine amüsierte Miene deutlich verriet, dass er sich keineswegs beleidigt fühlte.

„Ne, ich … Also, so war das ganz bestimmt nicht gemeint“, wehrte sich Tim. „Sie haben …“

„Du“, unterbrach Eddy.

„Was? Ich …“ Tim stand irgendwie auf der Leitung. „Was meinen Sie?“

„Freunde duzen sich“, erklärte Eddy im bewusst geduldigen Tonfall. „Wir haben unsere Freundschaft doch eben erst mit einem Handschlag besiegelt. Weißt du nicht mehr? Freunde duzen sich nicht nur, sie haben auch Vertrauen zueinander. Oder liege ich da falsch?“

Der Zurechtgewiesene biss sich auf die Unterlippe, was ihn sogleich vor Schmerz zusammenfahren ließ. Er wusste, dass man ihn für feige und undankbar halten würde, wenn er sich weiterhin weigerte, in ein Auto einzusteigen, welches von einem hilfsbereiten Menschen gefahren wurde. Aber so ohne Weiteres nachgeben wollte er trotzdem nicht, denn Eddy war doch nach wie vor ein völlig fremder Mann für ihn!

„Es ist wirklich nicht weit“, brachte er schließlich heraus. „Ich wohne in der Bahnhofstraße drei. Sie, äh … Du hast doch bestimmt Wichtigeres zu tun, als mich nach Hause zu chauffieren. “

„Okay.“ Eddy hatte keine Lust, sein Angebot noch einmal zu wiederholen. Im Grunde war er sogar ganz froh, dass er nun auf direktem Weg zu Patrick in die Werkstatt fahren konnte, um die anstehende Inspektion durchführen zu lassen. „Man sieht sich.“ Damit machte er auf dem Absatz kehrt und ging dann in die Richtung seines Autos, welches er am Straßenrand abgestellt hatte.

Tim stand unterdessen mit weit aufgerissenen Augen immer noch auf dem gleichen Fleck und bekam den Mund nicht mehr zu. Das war ja ein Hammerteil! Ein Mercedes-S-65-AMG in schwarz metallic! Boah! Ein Wagen, der laut Tacho-Skala locker an die dreihundertsechzig Sachen fahren konnte! Technik und Ausstattung vom Allerfeinsten! AMG-Schmiede-Räder im Vielspeichen-Design und Zweihundertfünfundfünfziger Schlappen vorne drauf! Ein Teil wie ein Traum! Und er hatte die Gelegenheit verpennt, wenigstens einmal in so einem Wahnsinnsauto mitzufahren!

„Na?“ Eddy war schon an der Fahrertür angelangt, da fiel ihm endlich auf, dass der Junge noch nicht gegangen war. Und weil der Kleine in der Tat hin und weg zu sein schien, angesichts des tollen Wagens, entschied er spontan, dass er sich noch ein bisschen in dessen Bewunderung sonnen wolle. „Vielleicht denkst du noch einmal über mein Angebot nach?“

„Ich … Das …“ Tim hatte keineswegs vergessen, was ihm blühen könnte, falls sich seine neue Bekanntschaft am Ende doch als ein schräger Vogel entpuppte. Aber die Verlockung war einfach zu groß! „Aber nur wenn’s keine Umstände macht.“

„Na dann komm“, forderte Eddy ihn auf.

Das ließ sich Tim nicht noch einmal sagen. Fast rannte er, um zu dem Wagen zu kommen, den er bisher nur aus der Ferne oder in Zeitschriften bewundert hatte. Dass er sich jetzt wirklich und wahrhaftig in so einen Wahnsinnsschlitten hineinsetzen durfte, machte ihn sprachlos vor Glück. Und so schob er sich mit vor Ehrfurcht weit aufgerissenen Augen auf das rote Leder des Beifahrersitzes, um von dort aus alle Einzelheiten des Innenraumes genau zu studieren. Da steckte wirklich viel Geld drin. Oh ja. Er kannte sich mit den Automarken und deren speziellen Eigenheiten gut aus, denn das waren Themen, mit denen er sich stundenlang beschäftigen konnte. Für ihn stand nämlich schon lange fest, dass er, wenn er mal mit der Schule fertig war, Automechaniker werden wollte. Am liebsten so einer, der in einem berühmten Rennstall für einen wie Sebastian Vettel arbeitete und mit seinem Team um die Welt reiste.

„Die Kiste gefällt dir wohl?“, fragte Eddy, sobald sie beide im Auto saßen.

Tim nickte bloß.

„Hab’ ich mir selbst erarbeitet“, verkündete Eddy stolz, indem er den Motor startete. „Wenn du mal größer bist, zeige ich dir, wie man so was macht. Ist gar nicht so schwer. Man muss nur einen guten Riecher für bestimmte Geschäfte haben, dann läuft die Sache fast von selbst.“ Da er schon kurz nach dem Start an einer roten Ampel stehen bleiben musste, nutzte er die Gelegenheit, um seinen Beifahrer ausgiebig zu mustern. Hellbraunes Haar, graublaue Augen und eine ziemlich schwächlich anmutende Statur, stellte er fest. Im Grunde nichts Besonderes. Dennoch – Irgendwie gefiel ihm der Kleine. „Wie alt bist du eigentlich?“, wollte er wissen.

„Dreizehn.“ Tim hatte das Wort kaum ausgesprochen, da bemerkte er die Überraschung im Gesicht seines Chauffeurs. „Ich weiß, ich seh’ nicht so aus“, beeilte er sich zu erklären. „Aber es stimmt. Bin halt ein bisschen klein geraten. Na ja, vielleicht ändert sich das mal. Aber eigentlich ist mir das ziemlich egal.“ Wieder eine Lüge, dachte er bekümmert. Es war ihm nicht egal. Aber das musste man ja nicht gleich jedem erzählen.

Eddy indes hörte gar nicht mehr richtig zu, denn seine Aufmerksamkeit wurde von einer schwarzhaarigen jungen Frau abgelenkt, die gerade vor seinem Auto über die Straße rannte, weil die Fußgängerampel schon wieder auf Rot umgesprungen war.

„Scharfes Teil, oder?“ Ein breites Grinsen auf den Lippen sah er Beifall heischend zu seinem Beifahrer hinüber. Als er jedoch dessen verständnislosen Blick auffing, fiel ihm jäh wieder ein, dass er es gerade mit einem Jungen zu tun hatte, der vermutlich noch nicht einmal richtig aufgeklärt war. „Die Tussi da meine ich“, versuchte er zu verdeutlichen, indem er mit dem Zeigefinger seiner Rechten auf das Mädchen deutete, welches mittlerweile auf der anderen Straßenseite angelangt war. Ein ultrakurzer Rock ließ lange Beine in kniehohen Stiefeln sehen, während ihr Busen die Jacke zu sprengen drohte, die knapp über ihrer Taille endete.

„Das ist Lisa“, stellte Tim daraufhin völlig unbeeindruckt fest. „Die kenn’ ich aus der Schule.“

„Ne, oder?“ Eddy schaute sich sichtlich verblüfft nach dem Mädchen um, während er langsam anfuhr.

„Doch“, beharrte Tim. „Sie ist fünfzehn und geht in die achte Klasse auf meinem Gymnasium.“

„Hm.“ Was raffiniert aufgetragene Schminke und sexy Klamotten doch ausmachten, dachte Eddy mit widerwilliger Anerkennung. Nun, man war offenbar gut beraten, wenn man seine nächste Eroberung zuerst nach ihrem Alter fragte, bevor man mit ihr in die Kiste stieg. Wär’ nämlich hirnverbrannt, in den Knast zu wandern, nur weil man einem knackigen Hintern nicht widerstehen konnte, der einer Minderjährigen gehörte. „Trotzdem scharfes Teil“, beharrte er. „Findest du nicht?“

„Nö.“ Tim konnte das Mädchen tatsächlich nicht leiden, weil er es für eingebildet hielt und zudem genau wusste, dass sie seinen Lieblings-Lehrer durch eine absichtliche Lüge fast um seinen Job gebracht hätte. „Ich finde Autos toll. Und Videospiele.“

„Ach ja?“ In Eddys Hinterkopf flammte sogleich eine Idee auf. „Hast du denn welche?“, wollte er wissen.

„Nö.“ Tim biss sich auf die malträtierte Unterlippe, was ihn ein weiteres Mal vor Schmerz zusammenfahren ließ. „Die Dinger sind sauteuer, weißt du. Und wir haben … Also …“ Jetzt ärgerte er sich darüber, dass er überhaupt davon angefangen hatte. „Es gibt Wichtigeres.“ Den Blick starr geradeaus gerichtet, hoffte er im Stillen, sein Chauffeur würde nicht weiter bohren, denn er wollte einem Fremden nicht unbedingt auf die Nase binden, wie angespannt die finanzielle Situation seiner Familie war.

„Ich hab’ ein paar zu Hause, die ich nicht mehr brauche.“ Eddy besaß in der Tat noch eine technisch überholte Spielkonsole samt dazugehörigen Spielen, die er eigentlich für die Mülltonne vorgesehen hatte. Aber nun tat sich eine weitere Möglichkeit auf, um Pluspunkte zu sammeln. „Die kannst du haben, wenn du willst“, bot er an.

„Und was müsste ich dafür tun?“ Tim war beileibe nicht auf den Kopf gefallen. Niemand verschenkte solche Sachen einfach so. Schon gar nicht an jemanden, den man noch gar nicht richtig kannte.

„Na hör mal.“ Eddy war ehrlich empört, denn die beabsichtigte Schenkung war in der Tat völlig uneigennützig offeriert worden. „Was denkst du denn von mir?“ Die plötzlich hochroten Wangen seines jugendlichen Beifahrers ließen nicht nur seine Verärgerung gleich wieder abflauen, sondern auch einen Gedanken durch seinen Kopf geistern, den er jedoch gleich wieder beiseiteschob. „Ich dachte nur, bevor ich sie wegwerfe, geb’ ich sie lieber jemandem, der noch was damit anfangen kann.“

„Okay.“ Tim war immer noch nicht ganz wohl bei der Sache. Dennoch wollte er nicht riskieren, dass sich sein neuer Freund aufgrund seiner kindischen Sturheit gleich wieder von ihm lossagte.

„Gut.“ Eddy war jetzt wieder bester Laune, denn die Vorstellung, mit was für einem Gesicht der Kleine am nächsten Tag sein Geschenk betrachten würde, erfüllte ihn mit freudiger Erwartung. „Ich hole dich morgen Mittag von der Schule ab. Einverstanden?“

„Okay.“ Tim hasste es zwar, sich wie ein Papagei zu wiederholen, hatte aber keine andere Antwort parat.

3

Die Stufen zum Büro des Managers eilig hinaufsteigend, versuchte Luisa, die von ihren Freunden allgemein nur Luk oder Luka genannt wurde, zu erraten, was ihr Boss von ihr wollen könnte. Er hatte schon vor zehn Minuten nach ihr geschickt, erinnerte sie sich. Aber sie war bis jetzt nicht dazu gekommen, der Aufforderung zu folgen. Nein, Angst vor einer Strafpredigt oder gar einer Kündigung hatte sie nicht. Warum auch, wo sie doch allein durch ihre Arbeit in der Disco aufgehalten wurde. Dennoch wollte sie ihren Chef nicht noch länger warten lassen, weil sie genau wusste, wie unausstehlich dieser werden konnte, wenn ihm etwas zu lange dauerte. Wie eine Diva, dachte sie grinsend. Roxy, alias Rolf Wegener, spielte seine Rolle stets konsequent und absolut überzeugend, sodass es immer schwerer fiel, sich daran zu erinnern, dass er gar keine Frau war!

„Na endlich!“ Die groß gewachsene Gestalt im obligatorischen Gehrock vollführte eine ungeduldige Wink-Bewegung, sobald sich die Tür weit genug geöffnet hatte, um den Neuankömmling sehen zu lassen. „Wurde ja auch langsam Zeit. Wo hast du denn bloß gesteckt?“

Die Angesprochene wollte gerade zu einer ironischen Antwort ansetzen, da bemerkte sie den Fremden, der bisher neben Rolfs Schreibtisch gesessen hatte, der jetzt aber aufstand, um ihr erwartungsvoll entgegenzuschauen. Ein Durchschnittstyp, urteilte sie spontan. Nicht viel größer als sie selbst, aber von gedrungenem Körperbau. Er besaß ein Dutzendgesicht, welches von silbergrauem, sehr sorgfältig geschnittenem Haar sowie einem gleichfarbigen Vollbart umrahmt wurde. Allein der unverwandte Blick seiner grauen Augen weckte ein unangenehmes Gefühl in ihr, denn er schien sie wie eine Ware zu taxieren, die es vor dem Kauf sorgsam zu prüfen galt.

„Nu steh doch nicht wie ein Ölgötze da!“ Rolf fuchtelte immer noch mit den sorgfältig manikürten Händen herum, so als könne er seine Angestellte dadurch schneller herbeiholen. „Komm her und sag meinem Freund Hallo.“

„Guten Abend.“ Mittlerweile am Schreibtisch angelangt, übersah Luisa mit voller Absicht die ausgestreckte Hand, die man ihr zum Gruß reichte.

„Ich hab’ keine ansteckende Krankheit, falls Sie sich davor fürchten“, stellte der Fremde daraufhin mit einem ironischen Lächeln fest.

„Das hat nichts mit Ihnen zu tun“, wehrte sie sich. „Ich habe nur grundsätzlich etwas gegen Körperkontakt mit Fremden.“

„Okay.“ Er zog seine Hand zurück. „Mein Name ist Benno Hoffmann. Schön, Sie kennenzulernen, Frau Kant.“

Da ihr Gegenüber nun schwieg, sah sie ihn fragend an, denn sie erwartete eine Erklärung dafür, wieso sie so dringend ins Büro kommen sollte. Allerdings schienen weder Benno noch ihr Chef gewillt, diese Aufgabe von sich aus zu übernehmen.

„Okay.“ Sie richtete ihre Aufmerksamkeit nun ausschließlich auf Rolfs Freund. „Wenn Sie ein Foto von mir haben wollen, hätten Sie eine Kamera mitbringen sollen.“ Sie wählte bewusst einen angriffslustigen Ton, um ihren Ärger über sein unhöfliches Starren deutlich zu machen. „Erzählen Sie mir jetzt endlich, was Sie von mir wollen. Wenn nicht, gehe ich wieder. Schließlich macht sich meine Arbeit nicht von selbst.“

Statt wie ein ertappter Sünder den Blick abzuwenden, lachte Benno bloß erheitert auf, während er ihre Erscheinung ein weiteres Mal von Kopf bis Fuß begutachtete.

„Ich bin vor ihrem Mundwerk gewarnt worden“, begann er schließlich. „Aber dass Sie so direkt sind, damit hab’ ich nicht gerechnet. Nun gut. Sie sollen für mich vermitteln.“ Das amüsierte Lächeln schwand, um einer geschäftsmäßig ernsten Miene Platz zu machen. „Ich möchte nämlich Ihrer Freundin Nadja ein sehr lukratives Angebot machen.“

„Wenn Sie ein Betthäschen suchen, hätten Sie sich besser in der Warteschlange vor dem Eingang umgesehen. Nadja ist Tänzerin, keine …“

„Das reicht jetzt, Luka“, unterbrach Rolf mit strenger Stimme. „Wo bleibt deine gute Erziehung, meine Liebe?“ Den Arm seiner Angestellten so fest umfassend, dass sie sich nicht befreien konnte, zog er sie gleich darauf mit sich zu der Sitzgruppe, welche eine der Ecken in dem weitläufigen und mehreren Zwecken dienenden Raum einnahm. „Benno hat mir ein Geschäft vorgeschlagen“, erklärte er dabei. „Und ich denke, ich sollte darauf eingehen. Jetzt muss ich nur noch wissen, ob ich auf Nadja zählen kann.“

Luisa konnte sich immer noch keinen Reim darauf machen, was sie