BETTINAS ENTSCHEIDUNG - Katica Fischer - E-Book
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BETTINAS ENTSCHEIDUNG E-Book

Katica Fischer

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Beschreibung

Bettina will auf keinen Fall so unselbstständig und schwach sein, wie ihre Mutter. Daher beschließt sie schon sehr früh, dass sie ihr Leben in allen Dingen selbst bestimmen will. Kein Mann soll je Mittelpunkt oder alleiniger Zweck ihres Daseins werden. Als sie sich jedoch mit sechzehn zum ersten Mal verliebt, geraten ihre Vorsätze kurzzeitig in Vergessenheit. Getrieben durch ihre Sehnsucht nach einem Menschen, der sie nicht nur wegen ihres guten Aussehens begehrt, sondern auch ihren Intellekt schätzt, lässt sie sich auf einen jungen Mann ein, der all ihren Erwartungen zu entsprechen scheint. Allerdings hat diese Beziehung schon bald Folgen, sodass sie sich mit der Frage auseinandersetzen muss, wie ihre Zukunft aussehen soll. Als junge Frau Entscheidungen fällend, die ihr in der jeweiligen Situation richtig und notwendig erscheinen, muss sich Bettina später immer wieder mit den Folgen ihres Verhaltens auseinandersetzen. Dabei erkennt sie, dass das Erbe, welches sie mit ihrem Blut an ihre Nachkommen weitergibt, keineswegs gewöhnlich ist, denn ihre Kinder haben allesamt übersinnliche Fähigkeiten.

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Seitenzahl: 582

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Katica Fischer

BETTINAS ENTSCHEIDUNG

Blutbande II

Roman

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, einschließlich des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten.

Die Personen und Handlungen in diesem Roman sind allesamt erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt, sondern rein zufällig.

© 2018 Katica Fischer

www.katica-fischer.de

Covergestaltung:

Amela Mecavica und K. Fischer

Bereitstellung und Vertrieb:

neobooks (Neopubli GmbH, Berlin)

Prolog

Oktober 1961

Die Oberfläche des Sees mit den Augen absuchend, fühlte Eckhard, trotz der Wärme des Nachmittags, eine Gänsehaut an seinem Rücken hochkriechen, während er zum Ufer und dann weiter ins Wasser rannte. Er hatte den offenbar in Not geratenen Schwimmer nur durch Zufall gesehen, und wollte nun so schnell als möglich zu der Stelle gelangen, an welcher dieser versunken war. Als er schließlich den vermeintlichen Unglücksort erreichte, tauchte er umgehend ab, um sich in der Tiefe nach dem Verschwundenen umzuschauen.

Für ein oder zwei Sekunden vergeblich suchend, entdeckte Eckhard endlich die noch vollständig bekleidete, aber vollkommen bewegungslos erscheinende Mädchengestalt, die langsam Richtung Grund sank. Also packte er beherzt zu und zog sie zu sich hinauf. Nach Luft schnappend und vor Anstrengung keuchend, schleppte er anschließend die Bewusstlose zum Ufer zurück, wo er sich nur eine kurze Verschnaufpause gönnte, bevor er Wiederbelebungsmaßnahmen ergriff. Als die Verunglückte schließlich hustend und Wasser spuckend zu sich kam, richtete er sich erleichtert auf.

„Verdammt, Mädchen! Was machst du nur für Sachen?“ Es war keine wirkliche Frage, sodass er gar nicht erst auf eine Antwort wartete. „Wär’ ich nicht zufällig vorbeigekommen, du wärst jetzt wahrscheinlich schon mausetot!“

„Sie hätten mich lassen sollen, wo ich war“, brachte die Gerettete mit schmerzlich verzerrter Miene hervor, indem sie sich mühsam aufsetzte. Gleich darauf stellte sie sich mit verschämt gesenktem Blick hin und begann an ihrem nassen Kleid herum zu zupfen, damit es nicht mehr so eng auf ihrer Haut anliegen sollte, weil es ihr unendlich peinlich war, dass man jede Einzelheit ihres Körpers so deutlich sehen konnte, als wäre sie nackt.

„Was denn? Du bist doch nicht etwa …“ Jetzt zum ersten Mal bewusst ihr leichenblasses Gesicht betrachtend, erkannte er sie wieder, und fühlte sogleich sein Herz schneller schlagen. Sie hieß Maria und arbeitete seit ein paar Monaten als Dienstmädchen im Haus seines eigenen Arbeitgebers. Darüber hinaus war sie eine ganz Hübsche. Und er begehrte sie seit dem Augenblick, da sie ihm zum ersten Mal begegnet war. Allerdings musste er sich mit seinen geheimen Träumen zufriedengeben, dachte er voller Bedauern, denn sie würde bestimmt keinen Mann wie ihn nehmen, weil er, außer sich selbst, nicht viel zu bieten hatte. Außerdem ging das Gerücht, sie hätte ihr Herz schon verschenkt. … Na ja, wenn man davon ausging, dass sie mit voller Absicht ins Wasser gegangen war, dann drängte sich einem schon der Verdacht auf, dass da was passiert sein musste, woran sie arg zu knabbern hatte. Was genau vorgefallen sein könnte, vermochte er nicht zu sagen. Er wusste nur, dass sie zwar ein freundliches, aber auch sehr schüchternes Ding war, das bei jedem lauten Wort verschreckt zusammenfuhr.

„Es gibt nichts, was so schlimm wäre, dass man deswegen sein Leben wegwirft“, ging er nun mit sanfter Stimme auf ihre letzten Worte ein, indem er sich ebenfalls hinstellte.

Trotz ihrer eigenen Seelennot wunderte sich die junge Frau plötzlich darüber, dass sie ihren Retter bisher völlig falsch eingeschätzt hatte. Er war so etwas wie ein Mädchen für alles, erinnerte sie sich, denn er kümmerte sich nicht nur um den großen Garten und die Autos der Herrschaften, sondern auch um die kaputten Dinge in der riesigen Stadtvilla und den dazugehörigen Nebengebäuden. Er war ein sehr ernster Mann, der sich so gut wie nie auf ein längeres Gespräch mit den anderen Angestellten einließ. Doch seine vermeintliche Überheblichkeit war offenbar nur eine vorsichtige Zurückhaltung, die ihn vor Enttäuschungen bewahren sollte! Er wohnte irgendwo in der Stadt auf Miete. Trotzdem war er immer da, wenn man ihn brauchte.

„Doch“, reagierte sie endlich auf seine Feststellung. „Manche Dummheit lässt sich nicht anders strafen.“

Darauf fand Eckhard keine Erwiderung, da er sich nicht sicher war, wie er ihre Worte verstehen sollte. Als ihm jedoch auffiel, dass sie mittlerweile am ganzen Körper zitterte, so als würde sie geschüttelt, fühlte er Mitleid und Sorge um sie. Es war bestimmt nicht nur das nasse Zeug, was sie so flattern ließ, stellte er im Stillen für sich fest. Nein, ihr Bibern kam anscheinend mehr von den Nerven.

„Ich bring dich zurück“, bot er an. „Dann kannst du …“

„Nein!“ Beide Hände abwehrend gegen ihn ausgestreckt, sah Maria ihr Gegenüber aus weit aufgerissenen Augen erschrocken an. „Nein.“ Ihr Gesicht wandelte sich zusehends zu einer gequält wirkenden Maske. „Da will ich nie mehr hin.“ Ein ums andere Mal hart schluckend, bemühte sie sich sichtlich um Haltung. Doch die feucht schimmernden dunklen Augen machten nur zu deutlich, wie nahe sie daran war, in Tränen auszubrechen.

„Dann bring ich dich zu deinen Leuten zurück“, startete er einen neuen Versuch. „Wenn du mir sagst …“

„Da kann ich nicht mehr hin.“ Sie stand jetzt mit kraftlos herabhängenden Armen da und erschien dabei so mutlos, wie ein verstoßenes Jungtier, welches nicht wusste, wie es die nächste Zeit allein überleben sollte.

„Hm.“ Er konnte sie ja schlecht einfach stehen lassen, überlegte er. So verdreht, wie sie momentan wirkte, war davon auszugehen, dass sie sich wieder in den Bodensee stürzte, sobald sie meinte, nicht mehr beobachtet zu werden. Aber das durfte er nicht zulassen, wenn er sich seinen Seelenfrieden bewahren wollte! „Wenn du willst, kannst du mit zu mir kommen.“ Die Worte waren kaum aus seinem Mund geschlüpft, da schalt er sich selbst einen Idioten. Was würde sie jetzt wohl von ihm denken? Sie musste doch glauben, er wolle die Situation für sich ausnutzen! „Ich meine … Du musst zumindest aus den nassen Sachen raus. Und ich … Ich kann dir erst mal was von mir geben, bis dein Kleid wieder trocken ist. Ich könnte auch … Du hast doch ein Zimmer im Gesindehaus, stimmt’s. Also, wenn du willst, kann ich dir deinen Kram holen, und du kannst dann dein eigenes Zeug anziehen. Na, was sagst du?“

Maria brauchte einen Moment, um den Vorschlag ihres Retters zu überdenken. Doch dann nickte sie zustimmend.

„Aber du darfst niemandem sagen, wo ich bin. Versprichst du mir das?“ Im Nachhinein war sie über sich selbst erschrocken und jetzt heilfroh, dass Eckhard ihr Tun beobachtet und sie dann vor einer Todsünde bewahrt hatte. Er war zwar kein Kirchgänger, aber er war ein guter Mensch, dem man getrost vertrauen durfte. Ja, er war bestimmt keiner von der Sorte … Nicht mehr daran denken, ermahnte sie sich. Was geschehen war, konnte man nicht mehr rückgängig machen. Sie musste vielmehr darüber nachdenken, wie es weitergehen sollte. … Sie würde Eckhards Gastfreundschaft für eine Nacht in Anspruch nehmen und dann schnellstens weiterziehen, entschied sie. Ja, sie musste fort. Am besten so weit wie nur möglich weg. Wie sie seine gute Tat vergelten sollte, wusste sie zwar noch nicht, war sich aber relativ sicher, dass ihr irgendetwas einfallen würde, sobald sie wieder klar denken konnte.

„Na dann.“ Eckhard wollte nicht mehr länger schweigend dastehen und tatenlos zusehen, wie sie fror. „In fünf Minuten können wir bei mir sein.“ Er nickte in die Richtung, wo sein Fahrrad im Gras lag, und fasste dann vorsichtig nach ihrem Ellenbogen, um sie sanft, aber bestimmt mit sich zu ziehen. Vielleicht … Möglicherweise ließ sie sich doch dazu bewegen, ihm eine Chance zu geben, dachte er hoffnungsvoll. Sie musste ja nicht gleich in sein Bett hüpfen. Es würde ihm vollkommen ausreichen, wenn sie ihn vorerst nur als Freund betrachtete, dem sie nicht nur ihren Kummer, sondern auch sich selbst anvertraute, damit er sie vor allem Bösen schützen konnte.

„Was hältst du davon, wenn wir zusammen weggehen?“, fragte er, sobald sie bei seinem Gefährt anlangten. „Ich wollte schon immer in den Norden, weißt du.“ Eine Lüge, ja, gestand er sich ein. Die Idee war ihm nämlich gerade erst gekommen. Aber das war wahrscheinlich die beste Lösung für sie beide. Sie würde leichter vergessen können, wenn sie den Grund für ihren Kummer weit hinter sich ließ. Und er … Na ja, ohne sie wollte er auch nicht mehr dableiben.

„Norden?“ Im Geiste prüfte Maria kurz das Für und Wider seines Vorschlages und nickte dann. „Ja, Norden wäre gut. Das ist bestimmt weit genug weg.“

1

April 1977

Vergleichbar mit einem Wirbelwind, der weder Rast noch Ziel kannte, tobte der kleine Junge durch die Küche, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass er seiner Mutter im Weg war, die gerade das Abendessen zubereitete. Selbst als man ihn mit strenger Miene ermahnte, er solle anderswo spielen, gehorchte er nicht. Stattdessen hopste er wie ein Gummiball um den Stuhl seiner Schwester herum, die am Küchentisch sitzend ihre Schularbeiten machte.

„Ich bin ein Frosch“, verkündete er, indem er das Mädchen immer wieder anrempelte. „Und du bist ein Storch, der mich fangen muss!“

Die Angesprochene schien weder die Anwesenheit des Bruders wahrzunehmen noch dessen Worte zu hören. Die Lippen fest aufeinandergepresst, beugte sie sich noch ein wenig tiefer über das Schulheft und schrieb dabei weiter.

„Anni!“ Die Ungeduld des Fünfjährigen nahm sichtlich zu. „Komm schon, du musst mich fangen!“

„Lass mich zufrieden“, brummte sie ärgerlich. „Siehst du denn nicht, dass ich beschäftigt bin?“ Die Hand des Kleinen abschüttelnd, die nach wie vor an ihrer Bluse zerrte, sah sie ihn das Gesicht verziehen, so als wolle er jeden Moment anfangen zu weinen, dachte jedoch nicht im Traum daran, seinem Wunsch nachzukommen.

„Antonia, hast du nicht verstanden, was er will?“, ertönte es mit einem Mal in ihrem Rücken.

Bettina hasste es, wenn man sie mit ihrem ersten Vornamen rief, denn sie fand ihn altmodisch und zudem auch noch total blöd. Aber das war nicht der alleinige Grund, der sie ungehalten den Kopf heben ließ. Die vorwurfsvoll und zugleich angriffslustig klingende Frage ihres Vaters hatte nun auch noch den letzten Rest ihrer Konzentration zunichtegemacht. Jetzt musste sie die Erledigung ihrer Hausaufgaben auf den späten Abend verschieben, stellte sie verärgert fest, denn erst dann würde sie wieder genügend Ruhe dafür haben. Sie hatte schon eine unwirsche Erwiderung auf der Zunge, blieb aber stumm, wohl wissend, dass allein ihr Aufbegehren reichen würde, um einen völlig unsinnigen Streit auszulösen. Also klappte sie das Schulbuch und das Heft zu, und raffte anschließend alles zusammen, um es in ihre Schultasche zu schieben.

„Guck nicht so beleidigt“, beschied ihr der Vater kalt, indem er sich selbst am Küchentisch niederließ, um eine Zeitung darauf auszubreiten. „Dein Schreibkram kann warten. Aber der Junge braucht jetzt Beschäftigung. Du siehst doch, dass deine Mutter keine Zeit für ihn hat!“

„Warum spielst du nicht ein wenig mit ihm?“ Obwohl ihr bewusst war, dass sie sich besser zurückgehalten hätte, war es der Zurechtgewiesenen nicht gelungen, sich zu beherrschen, denn die jäh aufgeflammte Wut in ihrem Inneren brauchte ein Ventil. Dass ihr Vater daraufhin aufsprang, so als wolle er sich jeden Moment auf sie stürzen, um sie für ihre Frechheit zu strafen, beeindruckte sie aber ebenso wenig, wie die dunkle Zornesröte auf seinen Wangen. Sie war sich nämlich absolut sicher, dass er sie diesmal nicht anrühren würde, denn sie war fest entschlossen, ihn gar nicht erst an sich herankommen zu lassen. Den Küchentisch vor sich, der eine schützende Barriere zwischen ihr und dem wütenden Mann war, stand sie so aufrecht da, als hätte sie einen Besenstiel verschluckt. Dabei sah sie ihr Gegenüber zwischen zusammengekniffenen Lidern wachsam an.

„Du …“ Der Mittfünfziger machte den Eindruck, als wolle er jeden Moment explodieren.

„Was denn?“, tat Bettina erstaunt. „Ich hab’ doch nur wissen wollen, warum du dich nicht selbst um deinen Sohn kümmerst, wo er doch dein Liebling ist.“ Sie war keine Zehnjährige mehr, die er durch sein Geschrei erschrecken, oder die er verprügeln konnte, wann immer er meinte, seine schlechte Laune an ihr auslassen zu können, grollte sie im Stillen. Sie war mittlerweile größer als er. Und sie war vermutlich auch stark genug, um ihn notfalls abzuwehren. Außerdem war sie flinker, sodass er sie kaum zu fassen kriegen würde, wenn sie an ihm vorbeihuschte.

„Warte nur“, drohte er. „Deine Frechheit wird noch ein Nachspiel haben!“

„Hört auf zu zanken“, mischte sich endlich ihre Mutter ein, die bisher so getan hatte, als höre und sehe sie nichts von dem Disput. „Tu, was dein Vater dir gesagt hat“, wandte sie sich dann direkt an ihre Tochter. „Es dauert ohnehin nicht mehr lange, bis das Essen fertig ist. Außerdem brauche ich den Tisch gleich, damit ich aufdecken kann.“

Bettina nickte bloß, während sie gleichzeitig die Schultasche aufnahm. Anschließend packte sie ihren Bruder im Nacken, um ihn sogleich aus der Küche zu dirigieren. In ihrem Inneren brannte zwar immer noch eine mordsmäßige Wut, doch ließ sie sich davon nichts anmerken. Mit energischen Schritten zu dem winzigen Raum strebend, den sie sich mit dem kleinen Bruder teilen musste, und der gerade mal Platz für ein Etagenbett sowie einen Kleiderschrank bot, zählte sie lautlos vor sich hin, bis sie am Ziel anlangte.

„Zum Toben ist es hier zu eng. Darum werde ich dir jetzt etwas vorlesen.“ Im Grunde hatte sie nicht die geringste Lust, sich mit dem Knirps zu befassen. Da sie jedoch davon ausging, dass ihre Unterhalter-Rolle ohnehin bald durch das Abendessen beendet werden würde, griff sie nach einem Märchenbuch, um es sogleich aufzuschlagen.

Die fünfzehnjährige Tochter des Ehepaares Römer wirkte auf den ersten Blick wie eine erwachsene Frau, denn sie war hochgewachsen und besaß schon einen voll entwickelten Körper. Sie war das erste Kind ihrer Eltern, ähnelte aber weder Mutter noch Vater, die beide braunäugig und dunkelhaarig waren. In dem strahlenden Grün ihrer Augen blitzten goldene Funken. Und ihr glänzendes, Weizen-blondes Haar umrahmte ein apart geformtes Oval. Es hieß, ihr Aussehen sei das Erbe ihrer Großmutter mütterlicherseits. Nachprüfen konnte man diese Erklärung aber nicht, weil keine Fotos oder sonstige Abbildungen von dieser Vorfahrin existierten. Allerdings fanden sich im Hause Römer ohnehin nicht viele Erinnerungen an die Vergangenheit, sah man einmal von dem Hochzeitsfoto der Eltern und einigen wenigen Aufnahmen von den beiden Kindern ab.

Schon in ihrer frühesten Kindheit war sich Bettina der unterschwelligen Ablehnung ihres Vaters bewusstgeworden, und hatte daraufhin alles versucht, um seine Zuneigung zu gewinnen. Doch war es ihr nie gelungen, ihm ein anerkennendes oder gar liebevolles Lächeln abzuringen. Zu Beginn ihrer Pubertät hatte sie schließlich für sich entschieden, dass sie ihn nicht länger umschmeicheln, sondern so behandeln wollte, wie er es verdiente. Und so war aus dem braven kleinen Mädchen alsbald ein aufmüpfiger Teenager geworden, der mit seiner Meinung nicht hinterm Berg hielt, und der sich auch sonst nicht mehr viel sagen ließ. Dass das nicht nur vermehrte väterliche Aufmerksamkeit in Form von entsprechenden Strafmaßnahmen für sie selbst mit sich gebracht, sondern auch zu ungerechten Vorwürfen gegen ihre Mutter geführt hatte, war Bettina trotz aller Unannehmlichkeiten nur recht gewesen. Davon ausgehend, dass es ihre Mutter gar nicht anders verdiente, weil sie ihrer Tochter nicht ein einziges Mal gegen den aufgebrachten Vater zur Seite stand, empfand sie immer öfter auch so etwas wie Verachtung für die kleine Frau, die sich stets dem Willen ihres Mannes unterwarf, nur damit Frieden zwischen ihnen sei. Der einzige Mensch, den Bettina nach wie vor vorbehaltlos liebte, war ihr kleiner Bruder. Aber auch das änderte sich ganz allmählich. Je älter und fordernder er ihr gegenüber wurde, umso mehr wuchs in ihrem Inneren das Gefühl ungeduldigen Widerwillens gegen den verwöhnten kleinen Egoisten, der das herrschsüchtige Gehabe des Vaters imitierte und dabei allen Ernstes glaubte, er sei ein Prinz und die anderen ausschließlich dazu da, ihm zu dienen.

*

Der Beginn der Sommerferien rückte unaufhaltsam näher, und mit ihnen auch der Tag, an dem es Zeugnisse geben sollte. Im Gegensatz zu einigen ihrer Klassenkameraden hatte Bettina jedoch keinen Grund, sich davor zu fürchten, denn sie war schon immer eine überragend gute Schülerin gewesen.

Den Rat ihres Klassenlehrers mit einem unverbindlichen Lächeln quittierend, der eine weiterführende Schule und dann ein Studium empfohlen hatte, nahm sie am letzten Schultag das Abschlussdokument entgegen, um es sogleich in die Schultasche zu packen. Danach beeilte sie sich, nach Hause zu kommen, denn sie erwartete ein wichtiges Schreiben. Als sie dann tatsächlich einen an sie adressierten Brief aus dem Briefkasten fischte, und darin die erwartete Zusage auf ihre Bewerbung fand, tat sie einen übermütigen Freudensprung.

„Was ist denn?“, wollte ihre Mutter wissen. „Du bist ja ganz aus dem Häuschen.“

„Ich hab’ ’ne Lehrstelle!“, jubelte Bettina freudestrahlend. „Ich hab’ dir doch schon vor Wochen gesagt, dass ich mich beworben habe. Weißt du das denn nicht mehr? Nein? Na ja, ist ja egal.“ Auch wenn sie ein bisschen enttäuscht war, weil ihre Ankündigung, sie wolle eine Ausbildung zur Hotel-Fachfrau machen, bei ihrer Mutter offenbar kein wirkliches Interesse geweckt hatte, glänzten ihre Augen zufrieden. „Die Hotelleitung schreibt mir jetzt, dass ich am ersten August anfangen kann“, erklärte sie stolz.

Frau Römer wirkte mit einem Mal so verunsichert, als ob sie tatsächlich erst an diesem Tag informiert worden wäre. Doch dieser Eindruck täuschte. Sie hatte durchaus mitbekommen, dass ihre Tochter nach Hamburg gehen wollte. Es war ihr auch von Anfang an klar gewesen, dass ihre Große, entsprechend ihrer zielstrebigen Art, alles tun würde, damit sie ihren Willen bekam. Doch das vermeintliche Glück des Mädchens machte ihr – der Mutter – eher Sorgen! Sicher, ihre Tochter würde als Lehrling bestimmt ein bisschen Geld bekommen. Aber das würde bei Weitem nicht reichen, um sich in einer fremden Stadt über Wasser halten zu können. Und unterstützen, nein, unterstützen konnte sie sie nicht, wo sie doch selbst gerade genug hatte, um bis zur nächsten Lohnauszahlung ihres Mannes über die Runden zu kommen. Wenn sie noch ihre Anstellung in der Näherei hätte, ja dann vielleicht. Aber die hatte sie aufgeben müssen, als sich der Kleine angekündigt hatte, weil ihr damaliger Arbeitgeber nicht bereit gewesen war, die vielen Krankheitstage zu akzeptieren, die durch ihre schwierige Schwangerschaft angefallen waren. Und die paar Mark, die sie sich durch das bisschen Heimarbeit verdiente, waren definitiv bloß ein Tropfen auf den heißen Stein und außerdem auch keine festen Einnahmen, mit denen sie rechnen durfte.

„Was wird Vater dazu sagen?“ Im Grunde hatte sie etwas ganz Anderes sagen wollen, doch fielen ihr im Moment allein diese Worte ein.

Bettina indes fühlte ungeduldige Frustration in sich aufsteigen. Das war wieder typisch für ihre Mutter, stellte sie verärgert fest. Statt sich mit ihrer Tochter zu freuen, machte sie sich Gedanken darüber, was ihr Mann sagen würde. Einfach grässlich! Das arme Ding traute sich ja noch nicht einmal, auch nur die kleinsten Dinge alleine zu entscheiden. Der Vater hatte immer das letzte Wort. Selbst wenn es nur darum ging, einen neuen Kochtopf zu kaufen! Nein, so wollte sie selbst auf keinen Fall später werden. Sie wollte nie, wirklich niemals so abhängig werden, wie ihre Mutter es war. Kein Mann sollte ihr je vorschreiben, wie oder was sie zu tun hatte, denn sie wollte ganz alleine über ihr Leben bestimmen.

„Er wird froh sein, wenn ich endlich aus dem Haus bin“, stieß sie im gehässigen Tonfall hervor. „So wie er nämlich in letzter Zeit getan hat, möchte er mich am liebsten heute als morgen verheiratet sehen, damit ich endlich aus seinem Leben verschwinde!“ Weil man sie nun völlig verwirrt anstarrte, so als hätte sie gerade Chinesisch geredet, explodierte sie: „Tu nicht so, als hättest du keine Ahnung! Wir beide wissen nämlich verdammt gut, was er vorhat. Er schleppt nicht umsonst dieses Pickelgesicht hier an“, schimpfte sie böse. Allein der Gedanke an den jungen Mann, der in letzter Zeit immer öfter zu Besuch kam, rief bei ihr nichts als Widerwillen hervor. Er war ein Arbeitskollege ihres Vaters und sieben Jahre älter als sie selbst. Ihr Vater mochte ihn, das war allzu offensichtlich. Aber sie selbst konnte ihn nicht leiden. Natürlich war sie anfangs sehr geschmeichelt gewesen, denn die Erkenntnis, dass sie durch alleinige Anwesenheit die uneingeschränkte Aufmerksamkeit des anderen Geschlechtes auf sich ziehen konnte, war eine überwältigende Erfahrung gewesen. Aber dann hatte sie begriffen, dass ihr Verehrer mehr am Inhalt ihrer Bluse interessiert war als an einem vernünftigen Gespräch. Und die Tatsache, dass er sie bei jedem Aufeinandertreffen förmlich mit den Augen auszog, machte sie wütend.

„Ich weiß gar nicht, warum du dich so aufregst.“ Ein angestrengt wirkendes Lächeln auf den Lippen, wich Frau Römer dem Blick ihre Tochter bewusst aus, indem sie sich wieder ihrer Näharbeit zuwandte. „Der Junge ist doch sehr nett!“

Bettina meinte zunächst, sie hätte nicht richtig gehört. Entsprechend bestürzt starrte sie ihre Mutter an. Als ihr jedoch kurz darauf aufging, dass man es in der Tat begrüßen würde, wenn sie sich alsbald einen Ehemann nähme, damit sie versorgt wäre, schluckte sie schwer. So war das also, dachte sie schockiert. Nicht nur ihr Vater, nein, auch ihre Mutter wollte sie loswerden!

„Nur damit du es weißt“, presste sie hervor, mühsam darum ringend, nicht zu weinen. „Ich werde nicht den erstbesten Knilch nehmen und mir einen Stall voll Kinder machen lassen, nur damit ich ein Dach über dem Kopf und etwas zu essen habe. Ich kann nämlich ganz gut für mich alleine sorgen!“ Ohne eine Erwiderung abzuwarten, stürmte sie davon. Sie würde nicht klein beigeben, schwor sie sich dabei. Was auch immer sie machen musste, um ihren Traum Wirklichkeit werden zu lassen, sie wollte es tun! Sie war nicht nur gescheit, nein, sie war auch stark genug, um ihr Leben ohne die Hilfe anderer meistern zu können!

„Du willst also nach Hamburg.“ Den Suppenteller endlich aus den Augen lassend, weil er leer gelöffelt war, lehnte sich Herr Römer zurück, um sein Gegenüber eindringlich zu mustern. „Haben die Herren auch für eine Unterkunft gesorgt? Oder gedenkst du, auf der Straße zu schlafen?“, fragte er.

Bettina sah überrascht auf, denn der Tonfall des Vaters war nicht unfreundlich, wenn auch ziemlich gleichgültig gewesen.

„Sie …“ Sie musste sich räuspern, weil ihre Kehle plötzlich so rau war, als hätte jemand sie mit Schmirgelpapier bearbeitet. „Sie haben mir für die gesamte Dauer der Ausbildung ein möbliertes Zimmer im Dachgeschoss des Hotels angeboten“, erklärte sie heiser. „Wenn ich das richtig verstanden habe, wohnen da schon ein paar andere Mädchen.“ Sein gewohnt herrisches Gehabe wäre ihr jetzt lieber gewesen, dachte sie. Wäre er, wie erwartet, gleich zum verbalen Angriff übergegangen, hätte sie ihm mit ihren gut durchdachten Argumenten mühelos den Wind aus den Segeln nehmen und ihn am Ende der Diskussion sogar ziemlich dumm dastehen lassen können. So aber wusste sie nicht, wie sie sich verhalten sollte, weil ihr seine vermeintliche Freundlichkeit suspekt war.

„Und wie sieht es mit dem Verdienst aus?“

Ihr Vater hatte kaum ausgesprochen, da löste sich Bettinas nervöse Verunsicherung schlagartig auf. Er hatte ja Angst, erkannte sie. Ja, er ging bestimmt davon aus, dass er etwas von seinem sauer verdienten Geld für sie hergeben sollte, damit sie während ihrer Ausbildung nicht hungern oder nackt herumlaufen musste. Und wenn das seine einzige Sorge war, dann hatte sie schon gewonnen!

„Ich bekomme genug Lohn, um die Miete für das Zimmer und meine Verpflegung bezahlen zu können.“ Darum bemüht, ihre Stimme so ruhig wie möglich klingen zu lassen, hielt sie seinem Blick ohne ein Wimpernzucken stand. „Außerdem wird mir Arbeitskleidung gestellt. Und wenn ich zusätzlich etwas brauche, werde ich eben putzen gehen oder kellnern. Soviel ich weiß, hat das Hotel auch ein eigenes Restaurant und auch ein Café. Da kann ich mir bestimmt noch ein paar Mark dazuverdienen.“

„Wenn es wirklich so ist, wie sie sagt“, sprach Herr Römer nach einiger Überlegung in die Richtung seiner Frau, die mit gesenktem Kopf in ihrem Suppenteller herumrührte, „dann habe ich nichts gegen diese Ausbildung. Vielleicht ist es ja ganz gut, wenn sie später einen Beruf hat, der sie ernährt. Wer will schon ein respektloses Weib, das immer das letzte Wort haben muss.“ Damit war das Thema für ihn erledigt.

Bettina nahm es völlig ungerührt hin, dass ihr Vater noch nicht einmal eine Silbe zu ihrem guten Schulabschluss verlor, denn ihr war es mittlerweile gleich, was er von ihr dachte. Was für sie zählte, war allein die Aussicht darauf, dass sie endlich aus dem elenden Kaff würde verschwinden können, welches ihr mittlerweile so eng und langweilig erschien wie ein Dorf.

*

Auf den ersten Blick war Hamburg eine kleine Enttäuschung für Bettina, denn die Straßenzüge, die sie während ihrer Busfahrt zu ihrem endgültigen Ziel zu sehen bekam, wirkten ihrer Meinung nach sehr eintönig und uninteressant. Erst der Anblick des Zentrums, in dem es viele exklusive Geschäfte und außergewöhnliche Lokalitäten zu bewundern gab, hob ihre Stimmung wieder an, denn das Flair einer Großstadt war hier unverkennbar.

Eine gute Stunde nach ihrer Ankunft am Hamburger Hauptbahnhof meldete sich Bettina im Personalbüro des Hotels, in welchem sie fortan leben, lernen und arbeiten sollte, um die Formalitäten zu erledigen. Als dies getan war, bekam sie ein kleines aber sehr gemütlich eingerichtetes Zimmer zugewiesen, und freute sich unbändig darüber, dass sie nun endlich frei war. Von jetzt an brauchte sie keine Rücksicht mehr darauf zu nehmen, dass ein kleiner Junge frühzeitig schlafen musste und sie daher noch nicht einmal lesen konnte, wenn sie sich vor der Gesellschaft ihres Vaters drücken wollte. Außerdem würde sie niemandem mehr Rechenschaft schuldig sein, wohin sie in ihrer Freizeit ging! Sicher, auch hier hatte sie sich an gewisse Regeln zu halten, denn sie war immer noch unmündig und würde sich daher in Acht nehmen müssen, dass sie nichts Verbotenes tat. Aber solange sie sich nichts zuschulden kommen ließ, konnte ihr niemand etwas anhaben oder ihre Zukunftspläne durcheinanderbringen!

2

Wann immer sie sich freimachen konnte, streifte Bettina durch die Hamburger Innenstadt, um sich die Auslagen der Geschäfte anzusehen. Ihre Kleidung kaufte sie ausschließlich in ausgewählten Boutiquen, obwohl sie dafür oft zusätzlich hart arbeiten musste, denn jetzt konnte sie endlich das tragen, was ihr zuvor aus Sparsamkeitsgründen verwehrt worden war. Ihr sorgfältig zusammengestelltes Make-up ließ die grünen Augen strahlen und den sinnlichen Mund noch verlockender erscheinen. Das golden glänzende, lange Haar wirkte zwar stets zerzaust, doch war das Absicht, denn es gefiel ihr, wenn es so aussah, als wäre gerade ein Windstoß hindurchgefahren. Allein während der Arbeit bändigte sie ihren Schopf mit Spangen oder Bändern. Doch war das ebenfalls ein Hingucker, weil jede ihrer Aufsteckfrisuren ein kleines Kunstwerk darstellte. Ihre Figur entlockte so manchem Mann einen anerkennenden Pfiff, der ein zufriedenes Lächeln auf ihre vollen Lippen zauberte. Dennoch war sie noch weit davon entfernt, über eine Beziehung nachzudenken. Zum einen war ihr Interesse am anderen Geschlecht sehr gering, was zum Teil daran lag, dass ihre Verehrer bloß eine Absicht zu verfolgen schienen – nämlich so schnell wie möglich mit ihr ins Bett gehen zu wollen. Zum anderen war sie sich bewusst, dass ihr Werdegang ganz allein von ihr und ihrer Zielstrebigkeit abhing, und daher durch einen Mann, und dessen Ansprüche an sie, sehr schnell eine unerwünschte Richtung einschlagen konnte.

*

Ihr zweiter Sommer in Hamburg war schon fortgeschritten, da erwachte in der mittlerweile sechzehnjährigen Bettina zum ersten Mal die Sehnsucht nach einem Menschen, der mehr für sie sein sollte als nur ein hilfsbereiter Kollege oder kumpelhafter Freund. Nein, sie war nicht auf einen Heiratskandidaten aus, denn sie hatte sich ja geschworen, niemals freiwillig in die Sklaverei gehen zu wollen, die ihrer Ansicht nach mit einer amtlich besiegelten Ehe einherging. Aber sie gestand sich zum ersten Mal ein, dass sie nicht zu den Frauen gehörte, die ihre gesamte Energie allein für ihre Karriere aufwendeten, und dabei ihre persönlichen Bedürfnisse und Sehnsüchte missachteten. Sicher, ihr berufliches Vorankommen war ihr nach wie vor sehr wichtig. Aber es verlangte sie auch immer öfter danach, von einem Mann umarmt und leidenschaftlich geküsst zu werden.

Der Grund für Bettinas neue Denkweise und ihr aufgeregtes Herzklopfen war ein junger Mann, dessen markantes Gesicht bei ihrem Anblick eine erwartungsvolle und zugleich zweifelnde Miene zur Schau trug. Er war am Tag zuvor zum ersten Mal da gewesen, erinnerte sie sich. Und sein aufmerksamer Blick war ihr ständig gefolgt, sodass sie alsbald gemeint hatte, er warte nur darauf, sie ansprechen zu können. Nun, die Gelegenheit war ihm nicht geboten worden, weil sie zum einen nicht für seinen Tisch zuständig gewesen und somit gar nicht erst in seine Nähe geraten war. Zum anderen war er in Gesellschaft eines älteren Herrn gekommen, der ständig auf ihn eingeredet und ihn so an seinem Platz festgehalten hatte. Aber jetzt war er allein. Und er saß an einem Tisch, der zu ihrem Bereich gehörte. Er sah wirklich gut aus, dachte sie, während sie auf ihn zuging. Breitschultrig war er. Und augenscheinlich ziemlich groß! Wenn sie das richtig einschätzte, dann musste er sie stehend um mindestens eine halbe Kopflänge überragen, obwohl sie hochhackige Sandaletten trug. Na ja, sein Hemd entsprach zwar nicht unbedingt der neuesten Mode, brachte seinen muskulösen Oberkörper aber hervorragend zur Geltung. Sein Alter konnte sie nicht genau einschätzen, ging aber davon aus, dass er vielleicht so um die fünfundzwanzig war.

„Was kann ich Ihnen bringen?“ Sie hatte Mühe, so ruhig und geschäftsmäßig aufzutreten, wie sonst, denn seine Gegenwart rief ein merkwürdiges Kribbeln in ihrem Bauch hervor, was sich anfühlte, als würde dort ein ganzer Schwarm von Schmetterlingen herumfliegen.

„Einen Kaffee bitte“, erwiderte er mit einem leichten Lächeln, während er sich gleichzeitig eine widerspenstige Locke seines braunen Haarschopfes aus der Stirn strich. „Und dann würde ich gerne auch Ihren Namen erfahren.“

„Ich …“ Die unverhohlene Bewunderung, die ihr aus den grauen Augen ihres Kunden entgegen strahlte, machte Bettina unsicher und verlegen zugleich. Das wiederum stürzte sie in arge Verwirrung, weil sie nicht verstehen konnte, wieso sie sich auf einmal so schwach und hilflos fühlte. „Römer“, antwortete sie endlich mit belegter Stimme. „Ich heiße Bettina Römer.“

„Ein schöner Name“, stellte er fest. „Passt zu Ihnen.“

„Ach ja?“ Sie hatte die beiden Worte kaum ausgesprochen, da ärgerte sie sich über sich selbst, weil ihr keine gescheitere Erwiderung eingefallen war. Zudem erinnerte sie sich nun wieder an ihre Arbeit und wollte gehen. Allerdings kam sie nicht weit, denn ihr Gesprächspartner langte unvermittelt nach ihrer Hand, um sie so aufzuhalten.

„Wann haben Sie Feierabend?“, wollte er wissen.

„Das …“ Sie wollte ihre Finger mit einer ärgerlichen Geste aus seinem Griff befreien und ihm gleichzeitig dieselbe schroffe Antwort geben, die sie schon unzähligen anderen an den Kopf geworfen hatte. Weil es ihr diesmal jedoch außerordentlich schwerfiel, sich auf die nötigen Worte zu besinnen, fragte sie bloß: „Warum wollen Sie das wissen?“

„Weil Sie mir gefallen und ich Sie darum näher kennenlernen möchte“, gestand er. „Und das geht nur, wenn wir uns ungestört unterhalten können. Also, nicht unbedingt hier, wo Sie mir dauernd weglaufen.“

„Zehn.“ Sie merkte kaum, dass sie redete, denn die Wärme, die von seiner Hand auf ihre Haut übertragen wurde, schien einer unsichtbaren Ameisenarmee gleich nicht nur an ihrem Arm emporzukriechen, sondern auch in ihr Innerstes zu dringen. Und das war so aufregend, dass sie an sich halten musste, um nicht hörbar aufzustöhnen. „Ich bin um zehn fertig hier“, brachte sie atemlos heraus.

„Schön.“ Mit dem Daumen leicht über ihren Handrücken fahrend, sah er sie an. „Ich hol’ dich am Haupteingang ab.“ Da sie nun einem privaten Treffen zugestimmt hatte, erschien ihm das unpersönlich klingende Sie nicht mehr angebracht. „In Ordnung?“

„Ich …“ Sie konnte nicht vernünftig denken, solange er sie festhielt. Also befreite sie sich schnell und trat dann einen Schritt von ihm fort. „Ja, gut. Das heißt … Es ist vielleicht besser, wenn wir uns vor der Disco treffen, die gleich um die Ecke ist. Ja? Ich … Es tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich wieder los.“ Schon stürzte sie davon, insgeheim heilfroh darüber, dass sie gerade noch rechtzeitig daran gedacht hatte, sich nicht vor den Augen des Empfangschefs oder gar des Hotelmanagers abholen zu lassen. Selbstverständlich konnte ihr niemand verbieten, mit einem Mann zum Tanzen zu gehen. Dennoch war ihr der Gedanke unangenehm, dass ihr Lebenswandel zum Gesprächsthema ihrer Kollegen und Vorgesetzten werden könnte. Sie war immer noch minderjährig und konnte sich daher sicher sein, dass man sie nach wie vor zu ihrem eigenen Wohle überwachte. Also war es ratsam, vorsichtig zu sein, denn nur so ließ sich verhindern, dass es zu hässlichen Gerüchten kam, die ihr schaden konnten.

Vier Stunden nach dem ersten Wortwechsel mit ihrem Verehrer eilte Bettina im Laufschritt aus dem Hotelgebäude, und anschließend zu dem vereinbarten Treffpunkt. Als sie kurz vor dem Ziel erneut gewahr wurde, wie attraktiv der junge Mann tatsächlich war, schlug ihr Herz noch ein paar Takte schneller.

„Du kannst mich Tina nennen“, erklärte sie ein wenig atemlos, sobald sie bei dem Wartenden anlangte. „Und du? Deinen Namen hast du mir noch gar nicht verraten.“

„Gottfried Hansen.“ Er schluckte hart, denn die momentane Aufmachung seiner Verabredung stand im krassen Gegensatz zu dem streng wirkenden Kellnerinnen-Outfit, welches sie bei der Arbeit getragen hatte. Die hautenge Jeans enthüllte mehr als sie verbarg, denn der Stoff spannte sich wie eine zweite Haut über die sanft geschwungenen Hüften und um die langen schlanken Beine des Mädchens. Unter der offenen Jeansjacke leuchtete eine karierte Baumwollbluse in Rot, Weiß und Grün, die so dünn war, dass man die Konturen ihres Busens und den dunklen Hof ihrer Brustwarzen erkennen konnte, weil sie, dem neuesten Modetrend entsprechend, keinen BH trug. Und weil er bei diesem aufregenden Anblick einen ganz bestimmten Wunsch verspürte, zwang er seinen Blick gleich wieder zu ihrem Gesicht hinauf. „Aber bitte“, fuhr er endlich mit belegter Stimme fort, „keine Abkürzungen, ja. Ich hasse es, wenn man meinen Namen verstümmelt.“

Bettina nickte bloß. Er unterschied sich nicht sehr von ihren anderen Verehrern, schoss es ihr dabei durch den Sinn. Ja, er starrte sie genauso lüstern an, wie es all die anderen taten. Aber er war Gentleman genug, seine Absichten nicht sofort kundzutun. Und das war mal was ganz Neues! In der Regel machte man ihr Komplimente, nur um gleich darauf anzügliche Bemerkungen folgen zu lassen, im festen Glauben, sie würde den Wink verstehen und sogleich auf die Aufforderung eingehen, weil man ja selbst ein unwiderstehliches Exemplar göttlicher Schöpfung und somit ein Geschenk des Himmels war. Aber genau das hatte sie bisher stets abgestoßen und ihr jegliche Lust an einem Abenteuer genommen. Na ja, jetzt dachte sie ein wenig anders darüber, denn nun wurde sie selbst von dem Verlangen getrieben, die Geheimnisse eines Männerkörpers und der körperlichen Liebe kennenlernen zu wollen. Und Gottfried hatte wahrscheinlich schon einige Erfahrung mit Frauen, sodass sie bestimmt kein enttäuschendes Ersterlebnis fürchten musste. Selbstverständlich würde sie ihn eine Zeit lang zappeln lassen, nahm sie sich vor. Es sollte doch schließlich nicht so aussehen, als hätte sie es eilig, mit ihm zu schlafen! Nein, erst musste er begreifen, dass sie nicht nur eine Sex-Maus war, sondern eine Frau, der man einen gewissen Respekt entgegenbringen musste. Und sobald sichergestellt war, dass er sie als gleichberechtigte Partnerin betrachtete, würde sie ihm erlauben, in ihr Bett zu kommen.

Da nun eine Entscheidung gefallen war, trat Bettina noch ein wenig näher an Gottfried heran und stellte sich sogleich auf die Zehenspitzen, mit der Absicht, ihn rein freundschaftlich küssen zu wollen. Doch lagen ihre Lippen kaum auf den seinen, da erlebte sie einen kleinen Schock, denn die Berührung seines Mundes jagte sogleich eine Hitzewelle durch ihren Körper, was nicht nur ihren Puls beschleunigte, sondern auch ihren Atem stocken ließ. Und so ließ sie ihn gleich wieder los – überrascht und verschreckt zugleich – weil ihr Verlangen nach ihm plötzlich so drängend war, dass es wehtat.

Dem jungen Mann ging es ähnlich. Allerdings sah man ihm das nicht an. Bettina war nicht die Erste, die er begehrte. Aber ihre Nähe erregte ihn so stark, dass er sie am liebsten auf der Stelle wieder an sich gezogen hätte, um sie zu küssen. Da er sich aber nicht sicher war, wie sie auf eine überfallartige Umarmung reagieren würde, bezwang er sein Verlangen mit aller Selbstbeherrschung, die er aufbringen konnte.

„Danke.“ Die Mundwinkel zu einem spitzbübischen Grinsen verziehend, sah er auf sie hinunter. „Das heißt dann wohl, du magst mich.“

„Ich … Das …“ Sie hatte immer noch Mühe, die Gefühle in ihrem Inneren zu bändigen. „Schon möglich“, gestand sie dann. „Ist ja auch nicht schwer“, fuhr sie im scherzhaften Ton fort. „Wo du doch so ein netter Kerl bist.“ Während sie sprach, sah sie sich aufmerksam nach etwaigen Beobachtern um, und atmete dann insgeheim auf, weil weit und breit niemand Bekanntes zu entdecken war. „Was jetzt?“, wollte sie wissen, indem sie sich wieder auf ihren Verehrer konzentrierte.

„Wenn du tanzen willst, gehen wir in die Disco“, erwiderte er scheinbar ruhig. „Wenn du aber mit mir reden willst, sollten wir woanders hingehen.“

„Du hast recht.“ Um sich ernsthaft unterhalten zu können, brauchten sie wirklich einen Ort, wo weder laute Musik noch andere Leute störten. „Möchtest du mit zu mir? Ich meine …“ War sie denn noch zu retten? Wie kam sie denn auf die Schnapsidee, ihn gleich beim ersten Treffen zu sich zu bitten? Andererseits: Was war denn schon dabei? Die Einladung in ihr Zimmer war noch lange keine Aufforderung zum Sex! „Ich kann dir zwar kein Alkohol anbieten. Aber eine Cola hab’ ich sicher noch irgendwo herumstehen.“ Und wenn nicht, war es bestimmt auch nicht schlimm. Schließlich konnte man auch mit einem Glas Wasser in der Hand reden.

„Bist du sicher?“ Dass sie so schnell und so einfach zu haben sein sollte, überraschte ihn ein wenig, denn er hatte sie anders eingeschätzt.

„Hätte ich es sonst vorgeschlagen?“, erklärte sie im betont munteren Ton. „Ist doch nix dabei, wenn du zum Quatschen mit rauf kommst.“ Sollte er ihr gegen ihren Willen an die Wäsche gehen wollen, würde er nicht der Erste sein, dem sie auf schmerzhafte Weise zeigte, wie sie mit aufdringlichen Kerlen fertig wurde.

Bettina war fest entschlossen, ihre Vorsätze einzuhalten, denn sie wollte nicht, dass man sie für ein leichtfertiges Flittchen hielt. Aber nur eine Stunde später strafte sie sich selbst Lügen, denn sie tat genau das, was sie sich vorgenommen hatte, nicht zu tun. Nichtsdestotrotz genoss sie Gottfrieds Umarmung, in der sie sich so sicher und geborgen fühlte, wie nie zuvor. Dabei ließ sie sowohl ihren Mund als auch ihren Hals von ihm küssen, und konnte kaum erwarten, dass er sie auszog, um ihren Körper vollends in Besitz zu nehmen. Als er sich schließlich zwischen ihre Schenkel schob und dabei einen scharfen Schmerz verursachte, wollte sie ihn wieder von sich stoßen. Allerdings war dieser Impuls schon in der nächsten Sekunde wieder vergessen, denn ihr brennendes Verlangen wollte endlich befriedigt werden. In diesem Augenblick zählten nur noch der Mann und die Wogen der Lust, auf welchen sie durch die Nacht trieb, bis sie vor Erschöpfung einschlief.

3

Bettina glaubte, niemand ahne etwas von ihrer Beziehung mit Gottfried. Aber schon ihre unübersehbar glückliche Miene verriet, dass sich in ihrem Leben etwas verändert haben musste, denn noch vor ein paar Wochen hatte ihr sorgfältig geschminktes Gesicht immer nur höfliche Freundlichkeit vermittelt. Und so kam es, dass man sie noch aufmerksamer zu beobachten begann, was schon bald zu einer Reaktion führte, die sie zunächst sehr erschreckte.

„Fräulein Römer, kommen Sie mit in mein Büro. Ich muss mit Ihnen reden.“ Während er den ungewöhnlich harsch klingenden Befehl hervorbrachte, zeigte der Hotelmanager die vorwurfsvolle Miene eines Anklägers.

Bettina indes schaute ziemlich überrascht drein, denn sie war sich keinerlei Schuld bewusst. Nichtsdestotrotz kam sie dem Wunsch ihres Vorgesetzten sogleich nach, weil sie es gewohnt war, seine Anweisungen umgehend zu befolgen.

„Sie wissen doch, dass nächtlicher Männerbesuch bei unseren ledigen Bediensteten nicht erwünscht ist“, begann Lothar Seifert, sobald er mit seiner Begleiterin den Raum betreten und die Tür hinter sich geschlossen hatte. „Wir sind ein ehrbares Haus. Und wir achten auf den Lebenswandel unserer Angestellten, weil wir durch deren Verhalten leicht in ein schlechtes Licht geraten könnten.“

Man hatte also von ihrem Liebhaber erfahren, erkannte Bettina erschrocken. Aber woher? War Gottfried womöglich doch nicht vorsichtig genug, wenn er sich durch die Hintertür und dann die Treppe hinaufschlich, um in ihrem Zimmer auf sie zu warten? Oder hatte Seifert ihr gezielt nachspioniert? … Bestimmt hatte er das! Er war zwar immer freundlich und zuvorkommend, aber auch allgegenwärtig. Wo auch immer sie sich im Haus aufhielt, sie konnte sicher sein, dass er in der Nähe zu finden war. Bisher hatte sie seine allumfassende Aufmerksamkeit als Kontrollzwang betrachtet, der ihn ständig dazu trieb, alles und jeden zu überwachen, damit die Arbeit ja richtig gemacht wurde. Doch nun begann sie zu fürchten, sie habe sich in ihm getäuscht, und er wäre gar nicht der nachsichtige Ersatz-Erziehungsberechtigte, den sie bisher in ihm gesehen hatte, sondern ein kleinlicher Erbsenzähler, der auf die unbedingte Einhaltung der aufgestellten Regeln pochen wollte. Aber was sollte sie tun? Leugnen? … Na, vielleicht half das ja!

„Ich weiß gar nicht, wovon Sie sprechen.“ Es fiel ihr schwer, sich zu verstellen, denn sie verabscheute Lügen und Falschheit. Da ihr aber keine andere Wahl blieb, spielte sie nun die gewählte Rolle weiter: „Sie wollen doch nicht andeuten, dass ich …, dass ich …“ Sie schluckte sichtlich und tat dabei so, als wäre sie zutiefst verletzt. „Sie tun mir Unrecht! Und das wissen Sie auch!“ Weil sich auf diesen Vorwurf hin das Gesicht ihres Gegenübers leicht rötete, nahm sie es als Bestätigung dafür, dass ihm dieses Gespräch nicht nur unangenehm, sondern auch höchst peinlich war. Gleichzeitig fing sie einen merkwürdig anmutenden Blick von ihm auf, und erkannte mit einem Mal den wahren Grund seiner Aufregung. Es ging ihm gar nicht um die Lehrmädchen im Allgemeinen, oder das Ansehen des Hauses, stellte sie verblüfft fest. Es ging ganz allein um sie und um sein Interesse an ihr! Er war eifersüchtig! Und er schien zutiefst frustriert, weil er seine wahren Gefühle nicht offen zeigen durfte. Also hatte seine Moralpredigt nur einen Sinn und Zweck: Er wollte den inneren Druck irgendwie abbauen und spielte darum den über jeden Verdacht erhabenen Beschützer jungfräulicher Unschuld, denn nur so konnte er all das loswerden, was ihm sauer aufstieß, ohne Verdacht zu erregen. Völlig idiotisch! Aber so war es nun mal. Die Frage war bloß, wie man mit der neu gewonnenen Erkenntnis umgehen sollte. Ihn auch weiterhin links liegenzulassen, wäre sicher ein Fehler, denn die Gefahr, dass er ihr ab sofort das Leben schwer machen könnte, allein aus Wut darüber, dass sie sich mit einem anderen traf, ihn selbst aber noch nicht einmal ansah, war keineswegs von der Hand zu weisen. Noch schlimmer erschien ihr die Möglichkeit, dass er sein Wissen an ihre Eltern weitergeben könnte, und diese daraufhin ihre Rückkehr nach Hause bestimmten. Damit wäre dann ihre jetzige Ausbildung futsch und ihr Schicksal wieder in den Händen ihres Vaters. Zumindest so lange, bis sie volljährig war!

„Sie wollen also abstreiten, dass Sie fast jeden Abend Männerbesuch empfangen?“ Lothar Seiferts Stimme klang gepresst, so als müsse er sich zum Sprechen zwingen. Und tatsächlich fühlte er sich momentan äußerst unwohl in seiner Haut, denn ihm war plötzlich bewusstgeworden, dass er im Grunde kein Recht dazu besaß, die junge Frau einem solch intimen Verhör zu unterziehen. Sie hatte sich noch nie etwas zuschulden kommen lassen, rief er sich in Erinnerung. Und selbst wenn sie einen Freund hatte, was ging das ihn an! „Ich …“

„Was heißt denn hier Männerbesuch?“, unterbrach Bettina, die endlich auf eine Lösung für ihr Problem gestoßen war. „Gottfried, so heißt mein Cousin nämlich, ist erst vor Kurzem nach Hamburg gekommen, weil er hier eine Arbeit angenommen hat. Na ja, solange er keine eigene Bleibe hat, lass ich ihn eben in meinem Zimmer schlafen. Ist das etwa ein Verbrechen?“

„Und das soll ich Ihnen glauben?“ Lothar zweifelte wirklich sehr am Wahrheitsgehalt ihrer Behauptung. Da er ihr jedoch nichts Gegenteiliges beweisen konnte, fand er sich dazu gezwungen, ihre Erklärung zu akzeptieren. Und das ärgerte ihn so sehr, dass er völlig vergaß, dass er kurz zuvor beschlossen hatte, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

„Warum sollte ich Sie belügen?“ Bettinas respektvolle Angst vor dem großen aber sehr hager wirkenden Endvierziger war mittlerweile völlig vergessen, sodass sie sich nun immer mehr entspannte und sogar anfing, die Situation wie eine komische Szene in einem Theaterstück zu betrachten. „Gottfried ist wirklich nichts Anderes als der Sohn meiner Tante Klara.“ Bevor ihr Gegenüber eine Erwiderung formulieren konnte, fuhr sie schon fort: „Ich verstehe nicht … Warum regt es Sie so auf, dass ein Mann in meinem Zimmer übernachtet?“ Einen Schritt in die Richtung ihres Vorgesetzten machend, sah sie ihn scheinbar unsicher und zugleich prüfend an. „Sie haben sich doch bisher den Teufel drum geschert, was sich so im Dachgeschoss tut. Warum jetzt die Vorwürfe gegen mich?“ Sie war ihm jetzt so nahe, dass sie den leichten Alkoholgeruch seines Atems riechen konnte. Er hatte sich also Mut angetrunken, stellte sie fest, während sie eine Hand hob, um einen imaginären Fussel von seiner Schulter zu entfernen. „Ist die Sache mit meinem Cousin wirklich so furchtbar?“, wollte sie wissen, indem sie ihre Handfläche kurz über seinen Brustkorb gleiten ließ, so als wolle sie sein Hemd glätten.

Lothar spürte die warmen Finger des Mädchens durch den dünnen Stoff hindurch, und hätte es am liebsten an sich gerissen, um endlich das zu tun, was er sich schon lange ersehnte. Dennoch tat er es nicht, wohl wissend, dass er sich durch eine unbedachte Aktion nicht nur ins Unrecht setzen, sondern auch strafbar machen würde.

„Sie vergessen, dass wir eine Fürsorgepflicht Ihnen gegenüber haben.“ Er musste sich räuspern, um verständlich weitersprechen zu können: „Auch wenn Sie nicht so aussehen, Sie sind immer noch minderjährig. Und da Ihre Eltern nicht hier sind, liegt es an uns, dafür zu sorgen, dass Ihnen nichts geschieht.“

Bettina hörte sich seine Begründung mit ernster Miene an, doch innerlich lachte sie. Nicht zu fassen, dachte sie amüsiert. Da schwang er hochnoble Reden und konnte dabei seine Augen nicht von ihrem Busen abwenden, der sich gegen das enge Oberteil ihrer Uniform drückte. Würde er es wagen? Würde er die Hand heben und danach greifen? … Nein, entschied sie nach einem prüfenden Blick in sein Gesicht. Auch wenn ihn seine geheimen Wünsche an den Rand seiner Selbstbeherrschung brachten, würde er sich die allerletzte Blöße nicht geben. Von sich aus würde er gar nichts tun! Also brauchte er einen Anstoß, denn erst, wenn er seine Karten offen auf den Tisch legte, konnte sie entsprechend kontern. Wenn er sie also tatsächlich anfasste, würde sie ein Druckmittel gegen ihn in die Hände bekommen, das wirksam genug war, um ihn fortan im Zaum halten zu können.

„Trauen Sie mir etwa nicht zu, dass ich selbst auf mich aufpassen kann?“, fragte sie leise. „Ich bin kein Kind mehr, verstehen Sie.“ Sie wollte ihn provozieren, damit er den entscheidenden Schritt tat, insgeheim sicher, dass sie die Situation unter Kontrolle hatte. Allerdings war sie selbst auch nicht mehr so unbeteiligt, wie sie meinte, denn die sichtbar verheerende Wirkung, die sie mit ihrer körperlichen Nähe auf den um drei Jahrzehnte älteren Mann ausübte, regte ihre Fantasie an. Und die Vorstellung, wie es wohl sein würde, wenn er sie zu packen versuchte, sie ihn aber voller Empörung von sich stieß, verlieh ihr plötzlich ein Gefühl von absoluter Überlegenheit, was sie enorm erregte. Entsprechend ihrer Gemütsverfassung verdunkelten sich ihre Augen. Und die Lippen ihres sinnlichen Mundes öffneten sich leicht, was die rosige Zungenspitze sichtbar machte, die leicht über die blutrote Unterlippe strich.

Lothar Seifert war seit je her ein von Vernunft gesteuerter, den Regeln der zivilisierten Gesellschaft gehorchender Mann gewesen, der stets für Recht und Ordnung eintrat. Jetzt vergaß er allerdings, dass er ein Eheweib und vier Kinder sein Eigen nannte, denn die unmittelbare Nähe der jungen Frau, die seit etwas mehr als einem Jahr den alleinigen Mittelpunkt seiner erotischen Träume darstellte, raubte ihm schier den Verstand. Und so langte er nach ihr, um sie unbeherrscht an sich zu ziehen und sogleich mit gierigem Verlangen zu küssen.

Bettina indes war viel zu überrascht, als dass sie sofort zur Gegenwehr angesetzt hätte. Aber nicht sein Verhalten stürzte sie derart in Verwirrung, sondern die eigene Reaktion auf seine Begierde. Bis zu diesem Moment davon ausgehend, dass allein Gottfried ihren Körper vor lustvoller Erwartung zittern lassen konnte, fand sie sich jetzt eines Besseren belehrt. Selbstverständlich war ihr Vorgesetzter weit davon entfernt, der Mann zu sein, dessen Person und Ausstrahlung ihr schlaflose Nächte bereitet hätte. Nichtsdestotrotz lösten sein fast schon brutal anmutender Kuss und die Wahrnehmung seines erregten Körpers ein solch heftiges Verlangen in ihr aus, wie sie es nie zuvor empfunden hatte. Während er dann seine rechte Hand hob, um ihre linke Brust zu umfassen, entschlüpfte ihr ein leises, aber höchst lustvolles Keuchen.

„Du machst mich wahnsinnig“, stieß er daraufhin hervor.

Da ihre Lippen gleich wieder durch seinen Mund bedeckt wurden, konnte sie nichts erwidern. Doch der Klang seiner heiseren Stimme hatte sie jäh in die Wirklichkeit zurückgebracht. Obwohl sie im Grunde etwas ganz Anderes wollte, presste sie nun beide Hände gegen seinen Brustkorb und brachte dadurch ein wenig Abstand zwischen sie. Nicht hier, ermahnte sie sich selbst. Und nicht jetzt. Noch nicht! Natürlich würde sie ihm nachgeben. Im Grunde würde sie damit nicht nur seinen, sondern auch ihren eigenen Wünschen folgen. Dennoch wollte sie nicht zulassen, dass er sich womöglich auf seinem Schreibtisch oder gar auf dem Fußboden über sie hermachte. Sie allein sollte die Kontrolle haben, ermahnte sie sich! Wenn sie diese wichtige Voraussetzung nicht berücksichtigte, würde das Ganze bestimmt in einem Fiasko enden. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn man sie erwischte und daraufhin beide vor die Tür setzte!

„Bitte“, wisperte sie, sobald sie ungehindert sprechen konnte. „Sie dürfen nicht … Bitte.“ Ihre Augen waren immer noch dunkel vor Erregung. Allerdings konnte das auch als ein Zeichen von Angst gewertet werden.

„Ich … Das … Verzeih“, stammelte Lothar, indem er sie endgültig losließ.

Mittlerweile wieder ganz Herrin ihrer Sinne, sah Bettina ihn von sich fortstreben, und war für den Bruchteil einer Sekunde versucht, in ein albernes Gekicher zu verfallen, weil er so schuldbewusst drein sah, als hätte er in der Tat ein Verbrechen begangen. Da ihr aber klar war, dass sie damit einen unverzeihlichen Fehler begangen hätte, beherrschte sie sich.

„Sie haben mich erschreckt“, gestand sie leise, wobei sie mit voller Absicht bei dem unpersönlichen Sie blieb, weil es ihr ratsam schien, nach wie vor das unschuldige Lehrmädchen zu spielen, welches in Gegenwart des Chefs eine gewisse Unterwürfigkeit zu zeigen hatte. „Ich … Ich war nicht darauf vorbereitet, dass Sie ein solch leidenschaftlicher Mann sind. Und ich wusste nicht …“ Die leicht geschwollenen Lippen zu einem unsicher anmutenden Lächeln verzogen, sah sie ihn von unten herauf an. „Ich hab’ … Ich hätte nie gedacht, dass ich so intensive Gefühle haben kann.“ Das war noch nicht einmal gelogen, stellte sie im Stillen für sich fest, während sie erneut ganz nahe an ihn herantrat. „Sie … Ich könnte mir gut vorstellen, dass Sie mir auch in Sachen Liebe einiges beibringen könnten.“ Sie hatte kaum zu Ende gesprochen, da stieg sie auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen zarten Kuss auf den Mund. Dabei tat sie so, als könne sie ihr Gleichgewicht nicht mehr halten, und fühlte dann erleichterte Genugtuung, weil er sie nicht nur zu stützen versuchte, sondern erneut seine Arme um sie schlang, um sie an sich zu pressen. Selbstverständlich war er nicht so gutaussehend wie Gottfried, dachte sie, während ihr Mund ein weiteres Mal durch seine Zunge erforscht wurde. Aber er war in gewisser Hinsicht sehr interessant und zudem ein Mann, den man besser zum Freund als zum Feind hatte. Nein, mit Berechnung hatte das nichts zu tun. Vielmehr musste man das als eine Art Spiel betrachten, bei dem beide Parteien auf ihre Kosten kommen sollten und somit auch beide zu Gewinnern wurden!

„Lassen Sie mir ein bisschen Zeit.“ Zum zweiten Mal die Hände gegen seinen Brustkorb drückend, um ihn so auf Abstand zu bringen, sah sie ihn gleichzeitig aus großen Augen bittend an. „Das … Ich hab’ noch nie …“ Wenn es ihr gelang, ihn glauben zu lassen, er sei der erste Mann in ihrem Leben, dann würde er sein Misstrauen wegen Gottfried endgültig begraben und keinen Grund mehr haben, ihre Eltern zu informieren. Außerdem brauchte sie tatsächlich ein bisschen Zeit, um die ganze Sache so zu organisieren, dass es zu keinen unliebsamen Überraschungen kommen konnte.

Für ein paar Stunden glaubte Bettina wirklich, sie könne die Beziehung mit Gottfried aufrechterhalten und trotzdem auch die Geliebte ihres Vorgesetzten sein, weil sie beide gleichermaßen stark begehrte. Als ihr jedoch aufging, dass dies mehr Risiken mit sich brachte, als ihr lieb war, entschied sie, dass sie ihren bisherigen Freund aufgeben musste, um ihre Zukunft zu sichern. Selbstverständlich brachte dieser Gedanke einen tiefen Schmerz mit sich, denn sie fühlte sich mit Gottfried immer noch eng verbunden und wollte ihm daher nicht wehtun. Schließlich war er der erste Mann, der ihr Herz berührt und ihr gleichzeitig die Vielfalt der körperlichen Genüsse gezeigt hatte. Aber er war nicht derjenige, für den sie ihre Träume aufgeben wollte. Also rief sie ihn an seinem Arbeitsplatz an, um ihm zu sagen, dass er nach Feierabend nicht zu ihr, sondern zu ihrem Lieblingsplatz am Alsterufer kommen solle, weil sie mit ihm reden müsse.

„Was ist denn los?“ Gottfried hatte seine Freundin zur Begrüßung in den Arm nehmen wollen. Da sie ihm aber absichtlich auswich, sah er sie verwundert an.

„Ich muss dir was sagen.“ Bettina war darauf eingestellt, dass es ein schwieriges Unterfangen sein würde, ihn davon zu überzeugen, dass sie nicht mehr mit ihm zusammen sein wollte. Dass es aber tatsächlich so schwer war, ihn von sich zu stoßen, machte ihr das Herz eng. Nichtsdestotrotz zwang sie sich zu einer abweisenden Miene, während sie ihn von Kopf bis Fuß musterte, so als sähe sie ihn in der Tat zum ersten Mal. „Ich hab’ einen anderen.“ Sie hatten sich zwar körperlich ausgezeichnet verstanden, aber nie von einer gemeinsamen Zukunft gesprochen, erinnerte sie sich. Also war davon auszugehen, dass ihn ihre heutige Eröffnung nicht besonders schmerzen würde. So gut, wie er aussah, würde er schnell einen Ersatz für sie finden, da war sie sich ganz sicher. „Die Zeit mit dir war schön, zugegeben. Aber jetzt ist die Luft raus. Und Axel … Er macht mich völlig verrückt, weißt du. Allein der Gedanke an ihn lässt mich zittern.“

„Du …“ Gottfried schluckte sichtlich. „Seit wann … Ich meine … Wann hast du ihn denn kennengelernt?“ Er konnte einfach nicht glauben, dass sie Schluss machen wollte. Sie hatte doch nahezu jede Nacht – ja auch die vergangene! – in seinen Armen verbracht und dabei ganz offensichtlich nichts vermisst. Oder doch? … Na ja, so wie es aussah, schien sie nicht wirklich zufrieden gewesen zu sein, denn sonst hätte dieser Axel nie eine Chance bekommen!

„Letzte Woche“, schwindelte Bettina unterdessen.

„Und du hast trotzdem …“ Wieder schluckte Gottfried hart. Allerdings war es diesmal eine jäh aufsteigende Übelkeit, die ihn dazu brachte. „Du hast also mit uns beiden … Versteh ich das richtig?“

„Ja und?“, tat sie überrascht. „Ist doch nichts dabei! Ich dachte, dass mit ihm ist vielleicht nur so ein Strohfeuer, das schnell wieder erlischt. Also hab’ ich den Mund gehalten, um dir nicht unnötig weh zu tun. Aber dann …“

„Du hast also erst herausfinden wollen, ob es sich lohnt, mich für ihn fallen zu lassen, ja?“, unterbrach Gottfried sichtlich bestürzt.

„Wenn du mich so fragst“, erwiderte sie, indem sie ihn herausfordernd ansah. „Ja, genau das hab’ ich getan.“ Sie musste sicherstellen, dass er sie gehen ließ und dabei gar nicht erst auf die Idee kam, sie wieder zurückgewinnen zu wollen! Nicht auszudenken, wenn er und Lothar Seifert aufeinanderträfen und ein Gespräch über sie beginnen würden! „Ich musste mir erst darüber klar werden, wer von euch mir mehr bedeutet. Außerdem hab’ ich dir nie versprochen, dass ich auf immer und ewig nur dir gehören werde. Also, warum regst du dich so auf?“

Gottfried stand mit brennenden Augen da und wusste zunächst nichts zu erwidern. Er war in der Tat mit Scheuklappen durch die Gegend gelaufen, nur um nicht sehen zu müssen, dass sie keineswegs die Frau war, die er in ihr sehen wollte, gestand er sich ein. Aber jetzt war die rosarote Brille weg und er wieder imstande, der Realität ins Auge zu blicken. Ja, jetzt verfluchte er den Tag, da er mit seinem neuen Arbeitgeber in das Hotelcafé eingekehrt war, in dem er sie zum ersten Mal gesehen hatte! Als ihm dann auch noch einfiel, dass er seit Tagen einen schlicht wirkenden aber sündhaft teuren Ring in seiner Hosentasche mit sich herumtrug, war er für den Bruchteil einer Sekunde versucht, ihr das Schmuckstück ins Gesicht zu schleudern. Eine passende Gelegenheit hatte er abwarten wollen, um sein Geschenk zu überreichen und ihr endlich offen zu gestehen, dass er sie liebte und auf eine gemeinsame Zukunft hoffte. Doch nun war er heilfroh darüber, bisher nichts gesagt zu haben!

„Dieser Axel ist vermutlich auch nur ein Zeitvertreib für dich“, reagierte er endlich auf ihre letzte Aussage. „Oder hat er Kohle? Bist du deshalb so verrückt nach ihm?“ Seine Verletztheit wandelte sich zunehmend in Widerwillen und Zorn. „Antworte mir!“, verlangte er laut.

„Ich denke, das geht dich nichts an.“ Auch wenn sie nach außen hin so tat, als wäre ihr egal, was er jetzt von ihr dachte, hätte sie nun am liebsten geweint, weil er sie für eine hielt, die man kaufen konnte. „Mach’s gut.“ Sie hatte kaum geendet, da wandte sie sich ab und ging mit schnellen Schritten davon. Dabei lenkte sie ihre Gedanken gewaltsam in eine andere Richtung.

4

Gleich nach dem Jahreswechsel ging Bettina zu ihrer Frauenärztin, denn es schien ihr ratsam, sich einmal durchchecken zu lassen. Ihre Beschwerden hätten schon vor vier Monaten begonnen, berichtete sie, sobald die Laborarbeit erledigt war und sie selbst im Sprechzimmer saß. Allerdings habe sie das Spannungsgefühl in den Brüsten und das leichte Ziehen in ihrem Unterleib anfangs als Folge des veränderten Hormonspiegels in ihrem Blut betrachtet, der mit der Einnahme der Pille zusammenhing. Aber mittlerweile mache sie sich Sorgen, weil es einfach nicht besser wurde.

„Ihre Probleme haben in der Tat mit Ihren Hormonen zu tun.“ Das Gesicht der Ärztin wirkte überrascht, so als könne sie selbst nicht glauben, was in den Testergebnissen ihrer jugendlichen Patientin zu lesen war. „Das liegt jedoch nicht an der Pille, sondern an Ihrer Schwangerschaft.“

„Wie bitte?“ Bettina meinte, nicht richtig gehört zu haben. „Wie kommen Sie denn darauf?“

„Die Laborergebnisse sind eindeutig“, erklärte Doktor Wießner, indem sie die Befunde noch einmal gründlich las, um jeden Irrtum auszuschließen.

„Aber … Aber …“ An diese Möglichkeit hatte Bettina nicht eine Sekunde lang gedacht, weil es ihrer Meinung nach gar nicht sein konnte. Sie war dem Rat ihrer Gynäkologin gefolgt, und hatte im ersten Monat der Einnahme zusätzliche Verhütungsmittel verwendet, erinnerte sie sich. Also, wie konnte, … Warum war sie dann … „Ich … Wie weit …“ Sie war so verstört, dass sie vorübergehend keinen vernünftigen Satz mehr zustande brachte.

„Kann ich jetzt noch nicht genau sagen“, gestand die Medizinerin im betont ruhigen Tonfall. „Das lässt sich aber schnell klären.“ Ihr Gegenüber aufmerksam betrachtend, versuchte sie zu entscheiden, ob nun ein Fehler aufseiten der jungen Frau vorlag, oder ob sie nicht doch einer von den seltenen Fällen war, bei denen die Pille schlichtweg versagt hatte. „Und Sie haben sich wirklich immer an die Einnahmeregel gehalten?“

„Ja klar“, antwortete Bettina prompt. „Ich bin doch nicht blöd!“

„Wir machen eine Ultraschalluntersuchung“, entschied Doktor Wießner daraufhin. „Danach kann ich Ihnen genau sagen, wie weit Sie sind.“

Ein paar Minuten später lag Bettina auf der Untersuchungspritsche, derweil die Gynäkologin mit einer Hand den Ultraschallkopf über ihren Bauch schob und gleichzeitig das Bild betrachtete, welches auf dem Monitor des Ultraschallgerätes flimmernde.

„Ich würde auf zweiundzwanzigste bis dreiundzwanzigste Woche, also Mitte des fünften Monats tippen“, ließ die Ärztin schließlich verlauten. „Größe und geschätztes Gewicht des Fetus entsprechen in etwa dieser Entwicklungsstufe. Ein Irrtum meinerseits ist zwar nicht ganz ausgeschlossen. Aber ich würde sagen, das kommt ziemlich genau hin.“

Fünfter Monat? Das würde definitiv heißen, dass es in der Tat schon zu Beginn ihrer Beziehung mit Gottfried passiert sein musste, stellte Bettina bestürzt fest. Besser gesagt, es war mit absoluter Sicherheit schon bei ihrem ersten Zusammensein geschehen, denn da hatte sie an alles andere gedacht, nur nicht an die Notwendigkeit, sich zu schützen. Und genau das rächte sich jetzt!

„Alles in Ordnung?“ Doktor Wießner sah ihre junge Patientin besorgt an. „Sie wirken ein bisschen blass um die Nase herum.“