Ivanka - Katica Fischer - E-Book

Ivanka E-Book

Katica Fischer

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Beschreibung

Durch einen Autounfall schwer verletzt wird Ivanka in ein Krankenhaus eingeliefert, wo man sie wiederbeleben muss. Danach schwebt sie eine Zeit lang zwischen Leben und Tod, nicht fähig, ihre Umgebung bewusst wahrzunehmen. Allein zwei Worte durchdringen die alles abwehrende Nebelmauer, die sie umgibt. Das wiederum hat zur Folge, dass alte Erinnerungen geweckt werden. Beginnend mit dem Zeitpunkt, da sie ihre Kindheit hinter sich gelassen und die Verantwortung einer Erwachsenen übernommen hat, um ihrer Familie zu helfen, durchlebt sie alle Stationen ihres Lebens noch einmal. Doch am Ende steht sie vor einer wichtigen Entscheidung. Wird Ivanka um ihr Leben und ihr Glück kämpfen? Oder siegt die Sehnsucht nach ewiger Ruhe?

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Seitenzahl: 632

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Ivanka

Katica Fischer

Roman

Starke Frauen sind so schön und widerstandsfähig wie wilde Blumen. Sie stehen nach jedem Unwetter wieder auf, um sich mit Mut und Hartnäckigkeit der nächsten Herausforderung zu stellen.

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutsche Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, einschließlich des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Copyright © 2014 Katica Fischer

www.Katica-Fischer.de

Alle Personen in diesem Roman sind frei erfunden. Eventuelle Ähnlichkeiten der Namen oder Beschreibungen realer Menschen sind rein zufällig und nicht absichtlich entstanden.

Einbandgestaltung: K. Fischer

Foto: K. Fischer

Bereitstellung und Vertrieb:

Epubli (Neopubli GmbH, Berlin)

Prolog

Gefangen

Sie befand sich an einem Ort, den sie niemals zuvor gesehen hatte. Von grün-weißem, immens dichtem Nebel umgeben, versuchte sie vergeblich eine erkennbare Kontur auszumachen, an welcher sie sich orientieren könnte.

Nach einer Ewigkeit erreichte leises Gemurmel ihr Ohr. Es war ein eintöniges Summen, dem keine verständliche Botschaft zu entnehmen war. Dennoch war sie sich sicher, dass da jemand sein musste. Irgendwo – vielleicht hinter diesem unheimlichen Nebel? – waren Leute!

Plötzlich ein Ruf.

Zwei Worte nur.

„Mama, bitte!“

1

Neunzehnhundertzweiundfünfzig war Lukac eine von vielen kleinen Siedlungen nahe der ungarischen Grenze, etwa acht Kilometer von der nächsten Kreisstadt Virovitica entfernt. Die Zweihundert-Seelen-Ortschaft wurde, wie so viele andere auch, ausschließlich aus einer Ansammlung kleiner bäuerlicher Anwesen gebildet, wobei die Wohnhäuser entlang einer schnurgeraden Straße erbaut waren, was an eine sauber aufgereihte Perlenkette erinnerte.

Die Fahrbahn der Dorfstraße bestand aus grobem Schotter, sodass die Pferdefuhrwerke und die vereinzelten Motorfahrzeuge bei jedem Befahren eine immense Staubwolke verursachten. Obwohl kein schnelles Fahren auf diesen Straßen möglich war, kam es immer wieder zu tödlichen Unfällen, weil die recht zeitige Wahrnehmung eines Fußgängers oder Radfahrers durch den aufgewirbelten Staub erheblich erschwert wurde. Um das Wasser nach starken Regenfällen abzuleiten, hatte man zu beiden Seiten der Fahrbahn Gräben ausgehoben, sodass die Gehwege vor den einzelnen Anwesen, bestehend aus festgetretener Erde, nur über einer kleinen Brücke zu erreichen waren. Da, wo zwischen Abflussgraben und Gehweg noch genügend Platz vorhanden war, standen alte, knorrige Bäume, in deren Schatten man Ruhebänke aufgestellt hatte, die zum Verweilen einluden.

Die zumeist mit Ried gedeckten Behausungen stammten noch aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und waren aus rohen Lehmziegeln erbaut. In ihrem Inneren fanden sich selten mehr als zwei Räumen, unabhängig davon, wie viele Bewohner darin Platz finden mussten. Die Türen dieser Räume führten auf einen offenen, manchmal auch überdachten Gang hinaus, in welchem man während der Sommerzeit den Herd aufstellte, um zu kochen und somit die Innenräume kühl zu halten. Während der Winterzeit hingegen wurden die Mahlzeiten im Hausinneren zubereitet, wobei der Kochherd gleichzeitig für wohlige Wärme sorgte.

Trotz ihres hohen Alters und manchmal bedenklich schiefer Wände, waren die Häuschen peinlich sauber gestrichen und liebevoll mit Blumenbeeten umgeben worden. Ein Lattenzaun begrenzte den Hof und hinderte gleichzeitig das dort herumlaufende Geflügel am Weglaufen.

Jedes der kleinen Anwesen besaß im Eingangsbereich des Hofes einen offenen Ziehbrunnen, der die Trinkwasserversorgung sicherte. Hinter dem Wohngebäude fanden sich ein großer Gemüsegarten und ein kleiner Stall für verschiedene Nutztiere. Den hölzernen Abtritt jedoch, der über einem Erdloch thronte, fand man am entferntesten Ende des Grundstückes – meist neben dem Misthaufen.

Lukacs Bewohner waren froh, dass man sie während des Zweiten Weltkrieges nicht übermäßig belästigt hatte – man hatte zwar einige Männer opfern müssen, aber Haus und Hof waren heil geblieben! – und beklagten sich daher auch nicht sonderlich laut über ihr bescheidenes Leben. Sie waren von je her Bauern und Viehzüchter gewesen, kannten also keine bessere Arbeit, um den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Selbstverständlich hätte das eine oder andere besser sein können – wer ist schon hundertprozentig zufrieden mit seinem Los. Solange man aber genug zu essen und ein ordentliches Dach über dem Kopf besaß, war es müßig, über Alternativen nachzudenken – zumal es kaum welche gab.

*

Es war ein Sommertag, gewöhnlich und heiß wie viele andere zuvor. Doch sollten in seinem Verlauf Ereignisse stattfinden und Entscheidungen getroffen werden, die den Werdegang eines jungen Menschen in völlig unvorhergesehene Bahnen lenken sollten.

Nach dem Mittagessen beauftragte Jula Popovic ihre beiden Kinder, Ivanka und Andrija, ihre einzige Kuh zur Dorfweide zu bringen, und dort auf sie aufzupassen, damit sie nicht weglief. Das Geschwisterpaar gehorchte wie immer ohne Widerspruch, doch nahm sich das Mädchen ihr Schulbuch mit, um ein wenig lernen zu können.

Am Nachmittag brannte die Sonne erbarmungslos auf die beiden herab, sodass sie sich in den Schatten einer großen Eiche verzogen. Doch nur kurze Zeit später mussten sie wieder der Kuh hinterherrennen, weil die Weide nicht eingezäunt war und das Tier auf der Suche nach schmackhaften Kräutern weit umherstreifte.

„Weißt du Ivanka“, keuchte Andrija atemlos, „dieses Mistvieh ist doch wirklich blöde. Hier wächst so schönes Gras, und trotzdem läuft sie dauernd weg.“

Das Mädchen zuckte nur die Schultern, derweil ihre Augen das Tier suchten, welches sich schon wieder nach einer besseren Stelle zum Grasen umsah.

„Da kann man einfach nichts machen. Die Viecher sind eben so“, sagte sie.

„Aber ich habe keine Lust, dauernd hinter ihr herzulaufen“, nörgelte der Junge, stieß dabei seine nackten Zehen in den Staub und wandte sich dann ab, um missmutig davon zu trotten.

Mit seinen acht Jahren war Andrija fast so groß wie seine Schwester. Er besaß einen drahtigen, nahezu dürr wirkenden Körper, welchen die Sonne mittlerweile dunkelbraun gefärbt hatte, weil er ausschließlich in einer kurzen Hose herumlief. Außerdem hatte er ein unberechenbares Temperament, dem nur schwer beizukommen war. Er hatte braune Augen, die meist neugierig in die Welt blickten, und einen schmallippigen Mund, der zuweilen die seltsamsten Gedanken preisgab. Sein schwarzes Haar war stets zerzaust, obwohl es kurz geschnitten war, denn er hielt nicht viel von einem Kamm. Dem Wasser – also dem Waschen – wich er zwar nicht bewusst aus, doch suchte er auch nicht unbedingt von sich aus den Waschzuber. Seine Schwester musste in der Tat sehr energisch werden, um ihn von der berechtigten Schelte der Mutter zu bewahren.

Auf den ersten Blick schien es also keinen großen Unterschied zwischen den Geschwistern zu geben, denn Ivanka wirkte trotz ihrer dreizehn Jahre wesentlich jünger als ihre Altersgenossen. Ihr zierlicher Körperbau, mit einer Höhe von nur einsvierzig, erschien noch sehr kindlich. Und das lange, schimmernde schwarze Haar, welches zu zwei dicken Zöpfen geflochten war, verstärkte diesen Eindruck noch. Ihr kleines, herzförmiges Gesicht war zwar hübsch anzusehen, wäre jedoch nicht besonders aufgefallen, wären da nicht ihre Augen gewesen. Jeder, der einen Blick in diese Augen riskierte, wurde unweigerlich in ihren Bann gezogen. Die Iris hatte nämlich eine höchst ungewöhnliche Färbung – eine Mischung aus Braun und Gelb, durchsetzt von vielen kleinen grünen Punkten, was, abhängig von den Lichtverhältnissen, den Eindruck eines geheimnisvollen Eigenlebens innerhalb kostbarer Edelsteine erweckte.

Während sie nun dem Bruder nachsah, fühlte Ivanka eine tiefe Zärtlichkeit in ihrem Herzen. Insgeheim über seine kindliche Ungeduld amüsiert, ließ sie sich wieder im Schatten nieder und begann das Gedicht auswendig zu lernen, das sie für den morgigen Tag aufbekommen hatte.

Zeit und Raum um sich vergessend, vertiefte sich das Mädchen in die Verse und brauchte darum ein paar Sekunden, bis ihm endlich aufging, dass es Schreie gehört hatte. Sich schleunigst aufrappelnd, lief es sogleich in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Als es jedoch, in rasender Eile eine dicht wachsende Brombeerhecke umrundet hatte, blieb es wie vom Blitz getroffen stehen, unfähig sofort zu begreifen, was es sah – nämlich die Kuh, die im trüben Flusswasser langsam an ihr vorbeitrieb.

Zum besseren Verständnis für Ivankas Entsetzen sei nun erklärt, dass Lukac einen kleinen Fluss sein Eigen nannte, dessen gurgelnde Wassermassen in einem tiefen Bett gefangen waren, welches sich durch ein fruchtbares Tal schlängelte. Die immense Kraft des Wassers unterspülte immer wieder die lehmigen Flussgrenzen und schuf dadurch Überhänge, die immer wieder abrissen, sodass das Ufer an manchen Stellen sehr steil und äußerst tückisch war. Außerdem gab es Strömungen unter der Wasseroberfläche, die sogar für einen perfekten Schwimmer sehr gefährlich waren, weil sich die dort wachsenden Wasserpflanzen wie Schlingen um seine Beine winden und ihn somit bewegungsunfähig machen konnten.

Genau dieses schien auch der Kuh widerfahren zu sein, denn ihr Körper wirkte eigenartig verkrümmt, was darauf hindeutete, dass sie sich total verheddert haben musste. Die von Panik erfüllten Augen wild rollend, schlug sie gleichzeitig mit dem Kopf auf der Wasseroberfläche hin und her, brüllte ihre Todesangst gen Himmel, und ging dabei langsam aber unausweichlich in der aufgewühlten trüben Brühe unter. Als schließlich nur noch einige gurgelnde Luftblasen aus dem Wasser brodelten, löste sich die Erstarrung der Kinder auf.

„Warum hast du sie nicht zurückgehalten?“, schrie Ivanka ihren Bruder an, indem sie ihn an den Schultern packte und zu schütteln begann.

Andrija indes stand wie festgenagelt, völlig schockiert angesichts des unbeherrschten Ausbruches seiner großen Schwester, und ließ sie widerstandslos gewähren.

„Wie hätte ich sie denn halten sollen?“, brachte er hervor, als sie endlich aufhörte ihn hin und her zu zerren. Seine Augen wirkten nahezu schwarz. „Sie hatte Durst. Erst stand sie nur am Ufer und hat getrunken. Aber dann hat sie sich vor irgendetwas erschrocken. Sie hat so einen großen Sprung gemacht, dass sie in das Wasser hineingerutscht ist. Du siehst doch selber, wie glitschig das Ufer ist! Sie konnte nicht mehr herauskommen. Und ich hatte nicht die Kraft, um sie herauszuziehen.“ Nun begann er doch zu weinen, was bei ihm eine Seltenheit war. Zum einen konnte er es nicht ertragen, von der Schwester so grob behandelt zu werden, weil er sie über alles liebte. Zum anderen plagte ihn das schlechte Gewissen, weil er für die Katastrophe verantwortlich war: Er hatte sich so sehr über die Kuh geärgert, dass er beschlossen hatte ihr eine Lektion zu erteilen. Als sie sich am Flussufer vorbeugte, um zu trinken, hatte er sich angeschlichen und ihr mit einer Weidenrute mächtig eine über das Hinterteil gezogen. Daraufhin hatte sie vor lauter Schreck einen gewaltigen Satz zur Seite gemacht, war augenblicklich ins Rutschen gekommen und am Ende ins Wasser gefallen. Natürlich hatte sie sofort versucht, wieder herauszukommen, war dabei aber erneut ausgerutscht und dann noch tiefer in den Fluss gefallen. Und jetzt war sie jämmerlich abgesoffen, nur weil er vorher nicht daran gedacht hatte, was passieren könnte!

Ivanka sah den Bruder weinen und konnte ihm nicht länger böse sein. Er hatte ja recht, dachte sie für sich. Selbst wenn ein Erwachsener zur Stelle gewesen wäre, um zu helfen, hätte man das Tier nicht retten können.

Den Jungen an sich ziehend, hielt sie ihn eine geraume Weile umfangen, bis sein Schluchzen langsam nachzulassen begann. Dabei überlegte sie, wie sie der Mutter die schlechte Nachricht beibringen sollte.

„Mama, bitte! Ich kann doch nichts dafür. Ich musste doch meine Hausaufgaben für morgen machen.“ Ivanka versuchte ihre Angst zu verdrängen, denn die Mutter war völlig außer sich. Andrija hatte bereits seine Tracht Prügel weg. Und jetzt sah es so aus, als sollte auch sie den großen Kochlöffel zu spüren bekommen.

„Warum hast du ihn allein gelassen?“ Jula kämpfte in der Tat um ihre Selbstkontrolle. „Du hättest wissen müssen, dass auf ihn kein Verlass ist!“ Die Hand bereits gegen die Tochter erhoben, sah sie das Mädchen entsetzt zurückweichen, schleuderte im nächsten Moment das hölzerne Kochinstrument von sich, und wandte sich dann brüsk ab, um nicht doch noch zuzuschlagen. „Verschwinde“, forderte sie über die Schulter hinweg, „bevor ich mich wirklich vergesse!“

Ivanka war erleichtert, nicht geschlagen worden zu sein. Sie war jedoch weit davon entfernt, die ganze Sache als erledigt zu betrachten, während sie das Haus verließ.

Das Mädchen war zwar äußerlich noch ein Kind, doch in seinem Inneren fühlte es sich bereits uralt. Es wusste, die Familie hatte an diesem Tag einen wichtigen Teil ihrer Existenzgrundlage verloren. Neben den Stickerei-Arbeiten, die die Mutter in der Stadt verkaufte, waren die Milch und die Produkte, die man daraus herstellte, eine zusätzliche Einnahmequelle gewesen, die nicht unerheblich dazu beigetragen hatte, dass man anständig gekleidet herumlief.

Zu essen hatten Jula und ihre Kinder genug – auch ohne die Kuh. Der kleine Garten hinter dem Häuschen war immer gut bestellt und brachte in jedem Jahr eine ausreichende Ernte. Und die Hühner im Hof lieferten regelmäßig Eier, und einmal in der Woche auch Fleisch für die Sonntagsmahlzeit. Was jetzt fehlen würde, war ausreichend Geld für Kleidung und die Schulbücher.

Neue Kleider fand Ivanka zwar schön, konnte aber auch darauf verzichten, wenn es sein musste. Bei den Büchern sah das allerdings etwas anders aus, denn wer keine Lehrbücher für das kommende Schuljahr vorweisen konnten, wurde gar nicht erst in der Schule aufgenommen!

Im Schuppen hinter dem Wohnhaus angekommen, kletterte die Dreizehnjährige auf den Stapel Brennholzes hinauf, der dort aufgeschichtet war, und dachte voller Wehmut an die Zeit zurück, da der Vater noch gelebt hatte. Damals hatten sie in einem wunderschönen Haus aus roten Backsteinen gewohnt, erinnerte sie sich. Und der dazugehörige Hof war so groß gewesen, dass neben Hühnern auch Enten und Gänse darin herumlaufen konnten. Außerdem waren da mehrere Schweine, vier Milchkühe und ein eigenes Pferd im Stall gestanden, welches man bei der Feldarbeit vor den Pflug oder den Feldwagen spannen konnte. Zu dieser Zeit war die Mutter viel fröhlicher und liebevoller gewesen, obwohl sie immer nur zu arbeiten schien. Aber dann war der Krieg gekommen.

Wenn man sie gefragt hätte, Ivanka hätte den genauen Tag benennen können, da der Vater weggegangen war, um für lange Zeit nicht wiederzukommen, denn da hatte sie zum ersten Mal in ihrem jungen Leben gelernt, was Verzweiflung war. Von den darauffolgenden Monaten wusste sie nur, dass sie sehr traurig und einsam gewesen waren –, bis der Vater Fronturlaub bekam. Er war nur für ein paar Tage nach Hause gekommen, doch war die Mutter alleine durch seine Anwesenheit ein wenig fröhlicher und umgänglicher geworden. Als er dann wieder ging, wurde sie noch trauriger als zuvor. Selbst Andrijas Geburt hatte sie nicht aus ihrer Depression reißen können. Jeder Umarmung war sie aus dem Weg gegangen, sodass es einem vorkommen wollte, als fürchte sie die Zärtlichkeiten ihrer Kinder. Stattdessen hatte sie jedes noch so kleine Vergehen mit äußerster Härte bestraft. Als dann die Nachricht gekommen war, dass der Vater nie wieder zurückkommen würde, war die Mutter untröstlich gewesen. Ivanka hatte nicht weniger geweint, als die Mutter, und hatte sich hernach noch mehr bemüht, gehorsam zu sein und zu helfen, wo immer es ging. Trotzdem war die Lage immer schlimmer geworden. An ihrem achten Geburtstag war schließlich die Großmutter aufgetaucht – zum ersten Mal in Ivankas Leben! – und hatte das große Haus von der Mutter kaufen wollen, weil ein anderer ihrer Söhne dort einziehen sollte. Es hatte einen hässlichen Streit gegeben, wonach die Großmutter wütend davon gestapft war. Aber nach ein paar Tagen hatte die Mutter ein paar Habseligkeiten auf den Feldwagen gepackt, eine Kuh hinten angebunden, das Pferd angespannt, und gesagt, sie würden jetzt zu ihrem neuen Haus, in einem anderen Dorf fahren. In Wahrheit war das „neue“ Häuschen schon uralt, völlig windschief, und bestand aus einem einzigen Raum, in dem sich fortan alles abspielte. Außerdem hatte es nur einen winzig kleinen Hof. Und im Stall war gerade nur so viel Platz, dass ein Tier darin stehen konnte. Also hatte die Mutter Wagen und Pferd weggeben, und dafür einen neuen Herd und warme Wintermäntel gekauft.

Mit einem Mal wurde Ivanka aus ihren Erinnerungen gerissen, weil sich ein anderer Körper an den ihren schmiegte. Den Arm um den Bruder legend, zog sie ihn zärtlich an sich und war ihm zutiefst dankbar für die tröstliche Wärme, die er ihr mit seiner Anwesenheit spendete. So war es, seit er auf der Welt war, erinnerte sie sich schmerzlich. Er war der einzige Mensch, der sie ohne Vorbehalte zu lieben und zu bewundern schien – so als sei sie tatsächlich etwas ganz Besonderes.

„Was machen wir jetzt?“, fragte Andrija.

„Ich weiß es nicht mein Kleiner“, murmelte sie müde. „Ich weiß es wirklich nicht.“ Zutiefst resigniert ließ sie den Jungen los, kletterte anschließend vom Holzstapel hinunter und schlenderte dann langsam zum Haus zurück. Es musste doch eine Möglichkeit geben, um die Folgen der Katastrophe ein wenig zu mildern, überlegte sie dabei. Irgendetwas musste doch zu machen sein!

Das Abendessen verlief sehr still, denn die beiden Kinder vermieden unnötige Geräusche, um nicht auf sich aufmerksam zu machen. Jula indes saß mit versteinerter Miene vor ihrem Teller und schien geistig in einer völlig anderen Welt zu sein.

Nachdem Ivanka das Geschirr abgewaschen und den Bruder zu Bett gebracht hatte, beschloss sie, dass sie mit der Mutter reden wolle, und ging daraufhin in den Hof hinaus. Am Brunnen angekommen, verhielt sie jedoch den Schritt und blieb schließlich ganz stehen, nicht wissend, wie sie sich nun weiter verhalten sollte.

Wenn es nur nach ihr gegangen wäre, dann wäre Ivanka der Mutter jetzt am liebsten um den Hals gefallen, um sie zu trösten und ihr ihre Hilfe anzubieten. In Erinnerung an vergangene Zurückweisungen traute sie sich aber nicht, so spontan zu reagieren. Außerdem musste sie sich erst einmal sammeln und zu Atem kommen, denn der dicke Kloß in ihrer Kehle drohte sie zu ersticken.

Jula war nur einen Kopf größer als die Tochter, hatte nahezu die gleiche feingliedrige Statur, und wirkte in diesem Moment selbst wie ein unglückliches Kind. Zusammengesunken, wie ein Häuflein Elend, saß sie auf der kleinen Bank unter dem Apfelbaum und hatte die Arme schützend vor der Brust verschränkt. So wie ihre Kinder, besaß auch sie dichtes schwarzes Haar, welches bei ihr zu einem dicken schimmernden Zopf geflochten war, welcher ihr über den Rücken bis zur Taille hinunterfiel. Lider, mit langen, dichten Wimpern besetzt, verdeckten in diesem Moment ein paar schöne braune Augen. Ihr schmales Gesicht zuckte. Und die deutlich sichtbaren feuchten Spuren auf ihren Wangen zeugten von den Tränen, die sie gerade eben noch vergossen hatte. Als sie sich nun der Anwesenheit der Tochter bewusstwurde, richtete sie sich auf und straffte den schmalen Rücken.

„Was willst du?“ Ihre Worte klangen barsch und abweisen.

„Mama, bitte. Ich möchte dir helfen.“ Ivanka hatte ihre Scheu niedergekämpft und legte nun eine Hand auf den Arm ihrer Mutter. „Bitte. Ich ... Es tut mir leid.“

„Ich brauche deine Hilfe nicht“, erwiderte Jula schroff, indem sie so jäh aufstand, dass es wie ein Sprung anmutete.

Tief verletzt durch die abweisende Haltung der Mutter, wollte sich Ivanka schon zurückziehen, nahm dann aber doch noch einmal ihren ganzen Mut zusammen.

„Aber ich könnte doch arbeiten gehen, statt zur Schule“, platzte sie heraus. „Du musst nur einverstanden sein!“ Diese Idee spukte ihr schon seit dem Abendessen im Kopf herum, nur war sie sich noch nicht ganz sicher, wie sie das Ganze in die Tat umsetzen sollte. Außerdem konnte sie nicht einschätzen, wie die Mutter auf diesen Vorschlag reagieren würde.

„Du bist doch noch nicht alt genug, um arbeiten zu gehen.“ Jula liebte ihre Kinder, auch wenn sie es nicht zeigte. Und sie wollte nichts anderes, als da es den beiden gut ging und sie ein einigermaßen erträgliches Leben hatten. Selbstverständlich war ihr jede Unterstützung willkommen, die sie in der jetzigen Situation bekommen konnte. Aber dass ihre kleine Tochter arbeiten ging, nein, das konnte sie nicht akzeptieren! „Du bist viel zu jung dazu“, sagte sie abwehrend.

„Aber ... Wer weiß denn schon wie alt ich wirklich bin?“ Ivanka wollte die Hoffnung nicht so schnell aufgeben. Die Ablehnung der Mutter hatte sich lange nicht so bestimmt angehört, wie es sonst der Fall war, stellte sie im Stillen für sich fest. Also kam es jetzt bloß darauf an, das Ganze vernünftig darzulegen, sodass kein Gegenargument wirklich greifen konnte!

„Im Nachbarort gibt es eine Hühnerfarm“, begann sie zu erklären. „Die Mutter von Alma arbeitet dort. Und von der weiß ich, dass man auf der Farm Arbeiterinnen sucht. Sie sagt, die Arbeit ist nicht schwierig, nur ein bisschen schmutzig.“ Ivanka wurde immer zuversichtlicher. Solange sich die Mutter alles anhörte, ohne ihr den Mund zu verbieten, bestand eine reelle Chance, dass sie ihren Plan doch noch verwirklichen konnte!

„Und was wird aus deiner Ausbildung?“, wollte Jula wissen. „Du kannst doch nicht einfach so von heute auf morgen mit der Schule aufhören.“

Das Mädchen schluckte erst einmal, bevor es die nächsten Worte formulierte: „Ich kann doch gut lesen und schreiben. Und das Rechnen fällt mir auch nicht schwer. Also brauche ich nicht mehr so furchtbar viel zu lernen? Außerdem kann ich doch mit Andrijas Büchern weitermachen, wenn er weiter zur Schule geht.“ Sie verstummte verunsichert, denn die mütterliche Miene schien immer noch so abweisend, wie zuvor.

Jula indes betrachtete das angespannte Gesicht ihrer Tochter, und wunderte sich wieder einmal über deren Ernsthaftigkeit. Im gleichen Atemzug wurde sie sich bewusst, dass sie die Idee des Mädchens gar nicht mehr als so abwegig ansah.

„Wenn sie dich tatsächlich nehmen würden, könnten wir vielleicht doch ein wenig Geld zusammensparen und eine neue Kuh kaufen.“ Sie hatte nicht gemerkt, dass ihr der Gedanken laut vernehmlich entschlüpft war, und zuckte im nächsten Moment überrascht zusammen, weil sie in eine freudige Umarmung gezogen wurde.

2

Nach dem Krieg hatte die neue kommunistische Regierung ihre Herrschaft mit vollkommen neuen Gesetzen begonnen. Der Bevölkerung wurde plötzlich vorgeschrieben, wie viel Landbesitz ein jeder haben durfte, mit der Begründung, keiner sollte besser gestellt sein als sein Nachbar. Also wurden alle Ländereien, bis auf zwei oder drei kleine Felder, vom Staat konfisziert und sogleich zu riesigen Farmen umgebildet, auf welchen Vieh-und Landwirtschaft betrieben wurde.

Sowohl die Kolchosen als auch die Kombinate, in denen die Produkte aus Land-und Viehwirtschaft zu endgültigen Verbrauchsgütern verarbeitet wurden, galten als Gemeineigentum, welches zwar von höherer Stelle verwaltet, im Grunde aber den Menschen dienen sollte, die es bewirtschafteten. So hieß es zumindest in den öffentlichen Reden der Politiker.

Selbstverständlich profitierten die Menschen von dieser Wirtschaftsform, waren aber auch abhängig von ihr. Das erforderliche Saatgut musste meist von den staatlichen Betrieben gekauft werden, wobei diese nicht selten einen Kredit gewähren mussten, weil die Mittel des Bauern nicht ausreichten. Die Schuld wurde dann nach der Ernte mit Bargeld oder Ernteanteilen abgegolten. Andererseits hatte man nur einen Abnehmer für seine Ernte – nämlich dieselben Institutionen! – so, dass man kaum auf einen rentablen Profit hoffen konnte.

Nicht zuletzt deswegen hatte sich in den Folgejahren des Krieges eine gewisse Resignation unter den Menschen breitgemacht, sodass es ihnen mehr oder weniger gleichgültig war, ob ihnen ihre reguläre Arbeit nun viel oder wenig einbrachte. Sie wurden zwar regelmäßig dazu angehalten ihre Produktivität zu steigern, scherten sich jedoch selten darum, welche Neuerung in Belgrad gerade beschlossen worden war. Kündigte sich womöglich ein Regierungsbeamter an, der sich verpflichtet fühlte, einmal nach dem Rechten zu sehen, so wurde er zwar durch die Anlagen geführt, vielleicht sogar einigen Mitarbeitern persönlich vorgestellt, doch von den Problemen der Arbeiter oder der Organisatoren wurde nicht gesprochen. Wozu auch? Niemanden interessierte es wirklich, ob man zurechtkam oder nicht!

Über all das machte sich Ivanka keine Gedanken, während sie in aller Herrgottsfrühe aufstand, sich wusch und kämmte, ihr Sonntagskleid und die guten Schuhe anzog, und schließlich losmarschierte. Sie wusste zwar, dass die Hühnerfarm staatliches Eigentum war, doch war ihr das herzlich egal. Was sie viel mehr beschäftigte, war die Frage, ob man sie nun nehmen würde oder nicht.

Es war ein langer Fußmarsch. Daher kam das Mädchen erst weit nach Schichtbeginn in der Hühnerfarm an. Dennoch sah es einige Leute auf dem Gelände herumschlendern, so als wären sie nur zu Besuch und nicht zur täglichen Arbeit erschienen.

Ivanka versuchte zu ergründen, wer von ihnen ihr vielleicht weiterhelfen könnte, und sprach dann beherzt einen älteren Mann an.

Der Angesprochene musterte die Fragestellerin zunächst überrascht von Kopf bis Fuß. Dann verzog er den Mund zu einem breiten Grinsen, bevor er sich kurz umsah und schließlich einen vorbeilaufenden Kollegen zu sich heranwinkte.

„He, Pero“, rief er laut, „die Kleine hier sucht Arbeit.“ Kaum ausgesprochen, ließ er das Mädchen auch schon stehen und eilte kichernd davon.

Ivanka sah dem Arbeiter ein wenig verwirrt nach und wandte sich dann in die Richtung, in die er eben gerufen hatte. Als ihr jedoch aufging, dass da ein wahrer Koloss von Mensch heran wankte, hielt sie unwillkürlich den Atem an. Sie hatte nie zuvor einen so dicken Mann gesehen. Daher stand sie offenen Mundes da und starrte dem Ankommenden fassungslos entgegen.

„So, so, Arbeit suchst du? Was kannst du denn?“ Entsprechend seiner gewaltigen Körper-Masse klang Peros Stimme wie das Grollen des Donners. Ein Taschentuch aus der Hosentasche ziehend, wischte er sich das schweißnasse Gesicht trocken, derweil er sich vor dem Kind aufbaute. Er glaubte an einen Scherz und meinte nun, er müsse darauf eingehen, weil er kein Spielverderber sein wollte.

„Ich ... Ich mache jede Arbeit, die Sie mir auftragen“, stotterte Ivanka verunsichert. „Wirklich! Was immer Sie wollen!“

Der Mann lachte dröhnend. Anschließend wischte er sich noch einmal über das Gesicht, bevor er das Taschentuch wieder wegsteckte. Doch hatte er dies kaum getan, da bemerkte er die Entschlossenheit in den eigentümlich flirrenden Augen seines Gegenübers und betrachtete das Gesicht des Mädchens nun doch ein wenig genauer. Also ein harmloser Spaß war das nicht, erkannte er.

„Na, da sei mal schön vorsichtig mit deinen Zusagen“, ging er nun auf ihre Versicherung ein. „Es gibt nämlich Arbeiten, die würde noch nicht einmal ich übernehmen. Wie alt bist du denn überhaupt?“ Ihr Äußeres konnte vielleicht täuschen, dachte er für sich, aber älter als zwölf konnte sie auf keinen Fall sein!

„Vierzehn.“ Ivanka fühlte ihre Wangen brennen. Von der Mutter stets zur Einhaltung der Wahrheit erzogen, kostete es sie in der Tat sehr viel Überwindung jetzt bewusst zu lügen. Trotzdem konnte sie nicht anders, auch wenn sie meinte längst durchschaut worden zu sein.

„So, so.“ Pero hätte am liebsten lauthals losgelacht, beherrschte sich jedoch angesichts ihres ernsten Gesichtes. Er war noch nie bewusst grob oder absichtlich unfair gegenüber einem Kind gewesen, erinnerte er sich. Also würde er auch jetzt nicht damit anfangen. Außerdem würde sie ohnehin gleich klein beigeben und den Jux beenden, weil er nämlich Beweise für ihre Behauptung verlangen würde, die sie garantiert nicht herbeibringen konnte!

„Na, wenn das so ist, ist ja alles in Ordnung“, tat er erfreut. „Dann brauche ich nur noch deine Karte, damit ich dich ordnungsgemäß eintragen kann. Nun? Hast du sie mit?“ Die Augenbrauen fragend erhoben, streckte er die rechte Hand aus, so als erwarte er tatsächlich, dass sie ihm ihr Identitätskärtchen aushändigte.

Dass sie ein gewisses Alter haben musste, um eine Arbeit zu bekommen, wusste Ivanka – die staatlichen Arbeitgeber stellten grundsätzlich niemanden unter vierzehn Jahren ein! Dass sie sich aber aus diesem Grund vielleicht würde ausweisen müssen, daran hatte sie nicht gedacht. Für einen Moment völlig perplex, weil sie etwas so Wichtiges nicht bedacht hatte, schöpfte sie schon einen Atemzug später neuen Mut. Für jedes Problem gab es eine Lösung, redete sie sich selbst gut zu. Also würde sich auch für dieses eine finden!

„Ich habe keine Legitimation“, ließ sie mit einem entschuldigenden Lächeln verlauten. „Wir ... Wir sind nämlich noch nicht dazu gekommen, eine machen zu lassen, wissen Sie.“

Eine gelungene Ausrede, das musste Pero zugeben. Trotzdem begann er sich nun allmählich zu ärgern. Er machte zwar fast jeden Spaß mit, ließ sich aber sehr ungern auf so dreiste Weise belügen! Dennoch zögerte er immer noch, grob zu werden, selbst nicht ganz sicher, warum eigentlich.

„Deine Mutter hat doch bestimmt eine Geburtsurkunde von dir“, stellte er fest. „Also, wenn ich die kriegen könnte, wär’ alles geritzt.“ Wenn sie gescheit war, dann würde sie nach diesem Gespräch schleunigst nach Hause gehen und nie wieder hier auftauchen, stellte er im Stillen für sich fest.

„Ja, das ginge.“ Ivanka wusste zwar noch nicht wie, aber sie würde auch das irgendwie hinkriegen.

„Also gut.“ Sie wollte es offenbar auf die Spitze treiben, dachte er ärgerlich. Aber er hatte jetzt genug! Sie war zwar ein niedliches kleines Ding, das aussah, als könne es kein Wässerchen trüben. Trotzdem wollte er sich nicht länger veralbern lassen! „Dann zeig ich dir jetzt mal die Arbeit, die du machen sollst.“ Sich abwendend, machte er gleichzeitig deutlich, dass sie ihm folgen sollte. „Komm mit“, befahl er über die Schulter hinweg. „Du musst dir etwas überziehen, damit dein schönes Kleid nicht schmutzig wird.“ Er würde ihr jetzt eine Lektion erteilen, nahm er sich vor, die sie nicht so leicht vergessen würde.

Ivanka hätte vor Erleichterung am liebsten einen Freudentanz aufgeführt. Aber sie beherrschte sich, angesichts der Leute, die sie im Vorbeigehen neugierig musterten. Stattdessen folgte sie dem dicken Mann, wohl wissend, dass sie noch nicht endgültig am Ziel war. Sie hatte erst die erste Hürde geschafft, ermahnte sie sich. Also gab es auch noch keinen Grund, sich jetzt schon in Sicherheit zu wiegen.

Pero watschelte schnaufend zu einer Baracke aus Holz, aus welcher er einen grauen Arbeitsmantel und Gummistiefel herausholte. Die Sachen an Ivanka weiterreichend, wandte er sich auch schon wieder ab, um davon zu marschieren, derweil sie in Mantel und Stiefel schlüpfte und anschließend nicht wusste, wohin mit den guten Schuhen. Am Ende steckte sie sie in die Manteltaschen und rannte dann dem dicken Mann hinterher.

Obwohl sie es eilig hatte, Pero zu erreichen, konnte sie nicht umhin, sich ein wenig umzusehen. Dabei staunte erneut über die offensichtliche Größe der Farm.

Auf dem Gelände befanden sich unzählige Holzbaracken, zwischen welchen sich weitreichende grüne Wiesen erstreckten. Hier und dastanden ein paar große Bäume, in deren Schatten sich Leute niedergelassen hatten, um sich auszuruhen. Schmale Gehwege verbanden die einzelnen Bauten, die jeweils auf einem kleinen Vorplatz mündeten, auf dem sich auch ein Wasseranschluss befand.

Das Mädchen entdeckte eigenartige Gestelle auf diesen Vorplätzen, konnte aber deren Funktion nicht sogleich erkennen. Erst als es eine Frau an so einem Gestell stehen und ein merkwürdig aussehendes Blech abschrubben sah, begriff es, dass sie eine Art Haltevorrichtung darstellten, welche die Arbeit enorm erleichterten.

Während sie eine breite Straße überquerten, die mitten durch die ganze Anlage hindurchführte, brummten verschiedene Lastwagen an Ivanka vorbei. Das Motorengeräusch war so laut, dass sie Peros Worte beinahe überhörte hätte. Als ihr jedoch klar wurde, dass er gerade die Höhe eines möglichen Lohnes angesprochen hatte, wurde ihr siedend heiß. So viel Geld hatte sie in ihrem ganzen Leben noch nicht auf einmal gesehen, dachte sie. Da reichte bestimmt schon ein einziger Monatslohn, um eine neue Kuh für die Mutter zu kaufen!

So jung und naiv wie sie war, meinte Ivanka, sie würde schon bald mit dem Füttern von Hühnern ein Vermögen verdienen. Tatsächlich war es ein Hungerlohn, von dem allein ein Arbeiter nicht existieren konnte, wenn er nicht einen Garten und eigenes Vieh besaß, was zumindest für genügend Nahrungsmittel sorgte, die man somit nicht für teures Geld kaufen musste.

Als der Vorarbeiter endlich anhielt und das Tor einer großen Baracke öffnete, schlug ihnen der Gestank, der im Inneren des hölzernen Gebäudes herrschte, wie eine betäubende Gaswolke entgegen. Im Dach waren zwar Klappen angebracht und auch geöffnet, doch herrschte in der Baracke eine mörderische Hitze, was die Ausscheidungen der eingepferchten Tiere sozusagen auf der Stelle chemisch reagieren ließ. Zudem kam der Geruch von feuchtem Gefieder und schimmeligem Korn. Am schlimmsten aber war der Gestank von verfaulendem Fleisch.

„So, das wäre dein Arbeitsplatz. Du müsstest die Hühner füttern, ihnen Wasser geben, und auch alles sauber machen.“ Mit einer Hand auf den Wagen deutend, auf dem das Futter und die Wassereimer für die Tiere transportiert wurden, zeigte er mit der anderen auf die Auffangbleche für die Exkremente, die sich unterhalb der Käfige befanden.

„Heute scheint mein Glückstag zu sein“, tat er erleichtert. „Die Frau, die sonst hier arbeitet, ist heute krank geworden. Und wenn du nicht gekommen wärst, hätte ich hier einspringen müssen. Also kannst du gleich zeigen, ob du überhaupt brauchbar bist. Heute Nachmittag um drei kommt deine Ablösung. Wir arbeiten in zwei Schichten. Morgens um sieben geht’s los. Und die Spätschicht endet um zehn abends. So, das wär’ erst mal alles, was du wissen müsstest.“ Ohne sie noch einmal anzusehen, wandte er sich ab und verließ die Baracke, mit der Absicht, die hier zuständige Arbeiterin, die gerade ihre Frühstückspause machte, abzufangen, damit sie ihm nicht in die Quere kam. Die Kleine würde garantiert nicht lange durchhalten, dachte er für sich. Also würde er Anna erlauben ein wenig länger auszuruhen!

Ivanka indes blieb mit hunderten gackernder und stinkender Hühner zurück, die in engen Maschendraht-Käfigen hockten. Sich langsam um die eigene Achse drehend, sah sie sich gründlich um und atmete dabei vorsichtig durch. An den Gestank würde sie sich irgendwann gewöhnen, stellte sie im Stillen für sich fest. Aber ob ihr das auch mit dem Anblick der armen geschundenen Tiere gelingen würde, bezweifelte sie noch sehr stark. Eine Tierhaltung auf so engem Raum war die reinste Quälerei, empörte sie sich. Doch war sie sich gleichzeitig im Klaren darüber, dass das die Verantwortlichen nicht sonderlich zu kümmern schien, denn sonst hätten sie sicherlich schon für bessere Bedingungen gesorgt.

Zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Hühner zählte sie in einem einzigen Käfig, jeweils zehn Verschläge nebeneinander und vier übereinander. Gleichzeitig fühlte sie grenzenloses Mitleid für die erbarmungswürdig aussehenden Tiere, die auf dem blanken Maschendraht-Boden hockten und stumpfsinnig vor sich hin glotzten. Einige Hühner hatten überhaupt keine Federn mehr am Körper, stellte sie schockiert fest. Ein paar andere wiesen schwere Verletzungen auf. Und eines rührte sich überhaupt nicht mehr!

Um nicht länger nachdenken zu müssen, begann Ivanka mit der Arbeit. Sie füllte Trinkwasser und Futter nach, reinigte ein paar Auffangbleche, und sortierte dann noch ein paar schwer verletzter Tiere aus, die sie in einen anderen Käfig steckte, nicht wissend, was sie weiter mit ihnen anstellen sollte.

Für einen Moment im Gang zwischen den Verschlägen stehen bleibend, um ein wenig zu verschnaufen, fühlte sie etwas an ihren Beinen vorbeihuschen und machte daraufhin einen erschrockenen Satz zur Seite. Sich umschauend, sah sie einen langen dünnen Schwanz unter dem Käfigstapel verschwinden und meinte zunächst, sie hätte sich verguckt. Doch dann bückte sie sich, um nachzusehen, und erlitt dabei einen kleinen Schock, weil ihr aus der Dunkelheit heraus ein bösartig glitzerndes Augenpaar entgegenfunkelte.

Sich aufrichten, herumdrehen und aus der Baracke rennen war eine einzige fließende Bewegung. Weil ihr aber just in diesem Moment jemand in den Weg trat, schrie sie erschrocken auf.

„Was ist denn los, Kind? Hast du dich etwa verletzt?“ Anna hatte Peros Anordnung mit Erstaunen gehört, daraufhin tatsächlich ein wenig länger in der Sonne gesessen, am Ende aber beschlossen, dass sie in „ihrer“ Baracke nach dem Rechten sehen wollte, weil ihr die ganze Sache ein bisschen unfair erschien. Die Tür öffnend, hatte sie das Mädchen geistesgegenwärtig aufgefangen, um nicht überrannt zu werden, und schob es nun ein wenig von sich, damit sie es von Kopf bis Fuß mustern konnte.

„Nein, nein! Aber da ist ein Ungeheuer bei den Hühnern!“ Ivanka war völlig außer sich. „Ich hab’ es genau gesehen. Es hat sich unter den Käfigen versteckt!“

„Das wollen wir uns doch mal genau ansehen“, ließ Anna verlauten, indem sie das Mädchen bei Seite schob. Gleich darauf schnappte sie sich eine Mistgabel und verschwand dann in der Baracke.

Nach ein paar Augenblicken ertönte ein Poltern in dem Holz-Bau, welches durch das verschreckte Gackern unzähliger Hühner begleitet wurde. Einen weiteren Atemzug später folgte ein hohes Quieken. Am Ende erschien die Frau wieder im Türrahmen – auf den Zinken ihrer Mistgabel eine riesige Ratte, die im Todeskampf zappelte.

„Da hast du dein Ungeheuer“, erklärte sie mit einem zufriedenen Schnaufen. „Auf diese Biester musst du dich hier einstellen. Die flitzen hier überall herum. Sie sind auf die Eier und die Küken aus. Und manchmal holen sie sich auch etwas Größeres. Sie werden durch den Geruch von Blut und Tod angezogen.“

Das hochrote Gesicht des Mädchens betrachtend, stutzte Anna mit einem Mal.

„Hat dir Pero etwa nicht gesagt, dass es hier Ratten gibt?“, fragte sie erstaunt.

Ivanka hatte das Gefühl im Boden versinken zu müssen, weil sie sich wie ein kleines Kind hatte erschrecken lassen. Die einzige Entschuldigung, die sie für ihr albernes Verhalten vorbringen konnte, war die Tatsache, dass sie in ihrem ganzen Leben noch keine solch große Ratte gesehen, dachte sie beschämt.

„Ich ... Es ...“ Sie schluckte krampfhaft, bevor sie fortfuhr: „Ich hab’s nicht richtig erkennen können. Ich dachte, es wär’ irgendein anderes Raubtier. Ein Marder, oder so.“

Das Mädchen wusste, die Erklärung klang alles andere als glaubwürdig. Dennoch mochte es nicht zugeben, dass es im ersten Moment wirklich an ein grausliches Monster geglaubt und sich deshalb fast zu Tode erschreckt hatte. Der Frau ein dankbares Lächeln schenkend, ging es wieder in die Baracke hinein, und hoffte dabei von Herzen, dass diese Geschichte nicht allzu bekannt würde.

„Du bist Jula Popovics Tochter, stimmt’s?“

Ivanka hatte nicht mitbekommen, dass die Frau ihr gefolgt war, und drehte sich nun erschrocken herum, um die Fragestellerin ansehen zu können.

„Ja. Aber ... Wer ...“ stammelte sie. „Woher kennen Sie meine Mutter?“ Wieder eine Sache, die sie nicht bedacht hatte! Wenn die Frau mit Pero redete, war alles vorbei! „Ich ... Ich bin alt genug zum Arbeiten.“ Wenn sie sich nur selbstbewusst genug gab, würde man sie vielleicht in Ruhe lassen, dachte sie hoffnungsvoll.

„Nun mal sachte Kind. Ich will dir doch nichts Böses.“ Sich auf dem Futterwagen niederlassend, betrachtete Anna das Mädchen vor sich, und entschied, dass sie sich nicht in Dinge einmischen wollte, die sie gar nichts angingen. Sie würde zwar ein Auge auf die Kleine haben, nahm sie sich vor. Aber reinpfuschen würde sie ihr nicht! „Ich wohne außerhalb von Lukac und kenne deine Mutter von früher“, erklärte sie. „Wir haben aber nie viel miteinander zu tun gehabt. Trotzdem weiß ich, dass ihr es im Moment sehr schwer habt. Und ich hab’ gar nicht vor, dich zu verraten. Ich wollte doch nur sehen, ob mit dir alles in Ordnung ist. Und dann wollte ich dich noch fragen, ob du nicht mit mir nach Hause fahren willst. Mit dem Fahrrad kommt man nämlich schneller voran, auch wenn’s ziemlich holperig wird.“

Ivanka wollte am liebsten ablehnen, besann sich dann aber doch eines Besseren und nickte zustimmend.

„Wenn du willst“, reagierte Anna darauf, „dann kann ich dich morgen früh auch mitnehmen. Ich muss sowieso an eurem Haus vorbei. Na, was sagst du?“

Wieder nickte das Mädchen bloß.

Auch wenn sie einen Mordshunger gehabt hatte, als sie nach Hause gekommen war, brachte Ivanka kaum einen Bissen von dem Abendessen herunter. In Gedanken mit Peros Forderung beschäftigt, wanderte ihr Blick immer wieder zu der Wäschetruhe hinüber, auf welcher die Urkunde lag, die die Mutter ihr ausgehändigt hatte. Irgendwie musste es gehen, überlegte sie. Es musste einfach!

Ohne auf das unmutige Stirnrunzeln der Mutter zu achten, stand sie schließlich auf und ging zur Truhe hinüber. Dort angekommen, schaute sie sinnend auf das Dokument hinunter, welches mit blauer Tinte geschrieben worden war, ohne eine sichtbare Regung zu zeigen. Doch dann strafte sie sich, was deutlich machte, dass sie wohl eine mögliche Lösung für ihr Problem gefunden hatte. Gleich darauf ging sie zu ihrer Schultasche, holte Federhalter, Tintenfässchen und ein Heft hervor, und ging damit zur Truhe zurück.

Ivanka musste es ein paar Mal ausprobieren, doch am Ende wusste sie genau, wie sie den Federhalter halten musste, damit er die richtige Linienstärke erbrachte. Danach zog sie noch ein paar weiterer Striche in ihrem Heft, um den Großteil der Tinte zu verbrauchen, sodass das Blau immer heller wurde, und wandte sich schließlich der Urkunde zu.

„Was machst du da?“ Andrija war durch das merkwürdige Verhalten seiner Schwester aufmerksam geworden und stand nun neben ihr, um zu sehen, was sie denn da machte.

Von ihrem Vorhaben vollkommen vereinnahmt, gab Ivanka jedoch keine Antwort, sondern malte langsam und sehr sorgfältig einen winzig kleinen Strich. Diese Manipulation war eigentlich nicht erlaubt, stellte sie im Stillen für sich fest, und würde wohl irgendwann entdeckt und wahrscheinlich auch mit einer furchtbaren Strafe belegt werden. Aber im Moment war sie lebensnotwendig! Außerdem hatte sie die Sache perfekt gemacht, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Man musste schon sehr genau hinsehen, um die veränderte Neun zu erkennen!

Am nächsten Morgen meinte Pero, er sähe nicht richtig, als man ihm ein amtliches Dokument in die Hände drückte und dabei einen freundlichen Gruß hören ließ. Er war nämlich davon ausgegangen, dass er Ivanka nicht so schnell wiedersehen würde, und stand für einen kurzen Moment ziemlich verdoppelt da. Doch dann straffte er seinen massigen Körper, soweit ihm dies gelingen wollte, beguckte sich die Urkunde sehr aufmerksam, und nickte dann zustimmend, um anzuzeigen, dass er zufrieden war. Sein Gefühl sagte ihm zwar, dass da etwas nicht ganz stimmte, doch wollte er es jetzt gar nicht mehr so genau wissen. Die Kleine wollte mit aller Gewalt arbeiten – also sollte sie ihren Willen bekommen!

3

„He, Ivanka! Kommst du morgen auch zum Tanzfest?“ Alma lenkte ihr Fahrrad neben das ihrer Freundin, um sich besser mit ihr verständigen zu können.

„Ich glaube nicht, dass meine Mutter mich gehe lässt“, erwiderte die Gefragte.

„Ach komm schon. Sie kann dich doch nicht ewig einsperren. Du kannst nicht immer nur arbeiten. Der Mensch braucht auch ein wenig Vergnügen.“ Alma wusste, sie würde die Freundin nicht wirklich überreden können. Dennoch wollte sie nicht so schnell aufgeben. „Komm schon“, bettelte sie. „Frag sie einfach noch mal. Könnte doch sein, dass sie es sich doch noch überlegt.“

Ivanka schwieg. Es war sinnlos, dachte sie für sich. Die Mutter würde wie immer mit der Begründung ablehnen, sie sei noch zu jung zum Ausgehen. Da nutzten weder Bitten noch irgendwelche Versprechen. Sie wurde zwar in allen anderen Dingen wie eine Erwachsene behandelt, doch Spaß haben durfte sie nicht!

Trotz dieser rebellischen Gedanken kam Ivanka nicht ein einziges Mal auf die Idee, eine entsprechende Bemerkung im Beisein der Mutter fallen zu lassen, weil sie sich sicher war, dafür mit haltlosen Vorwürfen überhäuft zu werden. Statt also aufzubegehren, hielt sie wohlweislich den Mund und wahrte allein dadurch den Familienfrieden. Mittlerweile sechzehn Jahre alt war sie zu einer schönen jungen Frau herangewachsen. Jetzt knapp einssechzig groß, besaß sie eine zierliche aber frauliche Figur, war jedoch noch weit davon entfernt, sich ernsthaft für das männliche Geschlecht zu interessieren. Nichtsdestotrotz wurde sie von der Mutter ständig überwacht und zur Vorsicht ermahnt.

„Du weißt genau, wie ich darüber denke.“

Ivanka hatte trotz besseren Wissens um Erlaubnis gefragt und bereute nun, überhaupt den Mund aufgemacht zu haben, derweil die Mutter fortfuhr: „Glaubst du wirklich, ich wüsste nicht, was du vorhast? Nein, nein, meine Liebe. Da spiele ich nicht mit. Du wirst noch früh genug einen Mann kriegen. Da musst du dich nicht jetzt schon einem an den Hals werfen!“

„Wenn du mir so wenig traust“, entfuhr es dem Mädchen, „dann komm doch einfach mit und überzeuge dich, dass ich nichts Unrecht es tue!“

Die Worte waren kaum ausgesprochen, da hätte Ivanka sich am liebsten die Zunge abgebissen. Den Kopf zwischen die Schultern ziehend, wartete sie auf den Wutausbruch, der unweigerlich kommen musste. Als sich jedoch nichts dergleichen tat, schaute sie verunsichert zur Mutter hinüber. Und weil da kein Zorn, sondern bloß ein wehmütiger Schmerz in den dunklen Augen glomm, schämte sie sich zutiefst für ihre unbedachten Worte. Man wollte sie keineswegs schikanieren, erkannte sie. Man fürchtete vielmehr, sie könnte sich tatsächlich Hals über Kopf ins Unglück stürzen. Das hatte nicht unbedingt nur mit Vertrauensmangel zu tun! Nein, man wollte ihr klarmachen, dass sie sich für ihre Zukunftspläne genügend Zeit nehmen sollte, damit sie später nichts zu bereuen hatte! „Entschuldige.“ Den Arm um die Mutter legend, zog sie sie näher zu sich heran. „Es war nicht bös gemeint. Wirklich!“ Da man sie merklich wegschob, ließ sie wieder los, um die Mutter anschließend voll anzusehen. „Im Grund ist das sowieso eine tolle Idee.“ Sie wollte die angespannte Situation entschärfen und plapperte nun einfach drauflos: „Geh mit“, schlug sie erneut vor. „Du bist doch noch eine junge Frau! Gerade mal dreiunddreißig! Willst du wirklich dein restliches Leben nur im Haus und auf dem Hof verbringen? Komm schon, gib dir einen Ruck. Ein bisschen Spaß nach der Arbeit hat noch keinem geschadet! Du musst ja nicht gleich mit uns herum hopsen, wenn du das nicht willst. Aber du könntest dir die Musik anhören und vielleicht sogar alte Freundschaften wieder auffrischen. Ich weiß nämlich, dass auch Almas Eltern dabei sind. Na, was sagst du?“

Die Unterlippe zwischen die beiden Zahnreihen ziehend, biss Jula so fest hinein, dass es wehtat. Der Gedanke war zwar verlockend, stellte sie im Stillen für sich fest, aber kaum einer ernsthaften Überlegung wert.

„Ich hätte ja gar nichts zum Anziehen“, quetschte sie hervor. „Und Tanzschuhe hab’ ich schon gar nicht.“

Trotz ihrer abweisenden Miene war Ivanka sich sicher, dass die Mutter dem Vorschlag gar nicht so ablehnend gegenüberstand, wie sie glauben machen wollte. Das mit der Garderobe stimmte nämlich. Obwohl man sie immer wieder aufgefordert hatte, auch ein wenig an sich selbst zu denken, hatte sie sich stets geweigert, Geld für die eigene Person auszugeben, mit der Begründung, sie brauche nichts. Aber das war nicht richtig! Die wenigen Witwenkleider, die sie besaß, waren aus robuster Wolle gewebt. Und sie sahen nicht nur altbacken, sondern auch ziemlich verschlissen aus, weil sie bereits viele Jahre getragen und unzählige Male gewaschen worden waren, sodass kaum noch Farbe in ihnen war. Und mit den Schuhen war es ähnlich. Selbst das Paar, welches sie für Sonn-und Feiertage hütete, war mittlerweile so unansehnlich, dass es eine Schande war.

„Aber das wäre nun wirklich kein Problem“, ging sie nun auf die offenkundige Ausrede ein. „Du könntest nämlich ein Kleid von mir anziehen, weil wir die gleiche Größe haben. Und ein Paar Schuhe kann ich dir auch borgen!“

Ohne eine Erwiderung abzuwarten, ging Ivanka zum Schrank und öffnete die Tür. Für die bunten Stoffe hatte sie eisern sparen müssen, erinnerte sie sich. Und das Nähen der Kleider hatte auch einiges gekostet. Aber bereut hatte sie das nie, weil sie so eine Garderobe vorweisen konnte, die zwar nicht unbedingt exklusiv zu nennen, dafür aber genau nach ihrem Geschmack war. Entsprechend ihrer Vorliebe für klare, kräftige Farben, leuchtete es ihr jetzt überaus bunt entgegen, sodass sie einen Augenblick brauchte, um sich zu entscheiden. Ein rotes Blümchenkleid vom Bügel ziehend, drehte sie sich gleich darauf herum und hielt es der Mutter entgegen.

„Na, was denkst du?“, fragte sie.

„Das Schwarze wär’ mir lieber“, erwiderte Jula prompt, und merkte zu spät, dass sie damit ihre Zustimmung zu beiden Vorschlägen der Tochter kundgetan hatte. „Ich meine ... Es ...“ stammelte sie errötend. „Rot ist was für junge Mädchen und nicht für Frauen im gesetzten Alter.“

Ivanka hätte beinahe lauthals gelacht, beherrschte sich jedoch mit aller Macht, wohl wissend, dass sie mit einem solchen Ausbruch alles zunichtegemacht hätte, was sie bisher erreicht hatte. Das Blümchenkleid weghängend, zog sie nun ihr sogenanntes Begräbniskleid hervor, um es von allen Seiten zu begutachten, so als sähe sie es jetzt zum ersten Mal. Ein wenig trist, urteilte sie im Stillen. Allerdings war es für diesen besonderen Anlass gar nicht mal so übel. Der gerade Schnitt war einfach aber raffiniert. Und die langen Ärmel waren an der Kante mit einem Seidenband eingefasst, genauso wie der kleine, runde Ausschnitt. Es brauchte nur eine Kleinigkeit, um das Ganze ein wenig lockerer wirken zu lassen!

„Gut“, ließ sie verlauten. „Wenn’s unbedingt das Schwarze sein soll, dann kannst du es haben. Aber wir heften eine Blume am Ausschnitt an. Darauf bestehe ich!“ Kaum zu Ende gesprochen, zog sie die Schachtel hervor, in welcher sie ihre „Kostbarkeiten“ aufbewahrte, um daraus eine Blüte aus rotem Stoff zu entnehmen. Danach bückte sie sich erneut und holte ein paar leichte Schuhe hervor, die aus schwarzem, glänzendem Leder gefertigt waren.

„So“, schnaufte sie zufrieden. „Deine Ausgehgarderobe hätten wir. Und die Haare kriegen wir morgen auch hin!“

Der Märzabend war kalt und windig, sodass die beiden Frauen trotz ihrer dicken Mäntel froren. Die aufwendig geflochtenen und zu Krönchen aufgesteckten Frisuren durch fest gebundene Kopftücher geschützt, eilten sie den Fußweg entlang und konnten es kaum erwarten, wieder ins Warme zu kommen.

Im Bürgerhaus angekommen, hängten Mutter und Tochter ihre Mäntel und Tücher an die Garderobenhaken, welche im Eingangsbereich angebracht waren, bevor sie gemeinsam den Gemeindesaal betraten, um sich zunächst einmal umzusehen. Dabei zogen sie augenblicklich die Aufmerksamkeit all jener auf sich, die in der Nähe der Tür ihren Platz gefunden hatten. Man meinte Schwestern in ihnen zu erkennen, und bewunderte die stille Eleganz der Einen, die in Schwarz gekleidet war, während man sich durch das Kleid der Anderen auf den kommenden Frühling eingestimmt fühlte, weil es die Farbe von jungem Laub hatte.

Der Raum war voller Menschen, sodass es auf den ersten Blick keinen freien Platz zu geben schien. Dennoch war sich Ivanka sicher, dass die Freundin vorgesorgt hatte, zumal dies bereits am Morgen so verabredet worden war.

Als wäre es tatsächlich aus dem Boden gewachsen, stand das hellblonde Mädchen urplötzlich neben den Neuankömmlingen und grinste sie freudestrahlend an.

„Kommt mit“, sprudelte Alma hervor. „Noch können wir gefahrlos über die Tanzfläche, um zu unserem Tisch zu kommen. Aber wenn die Musikanten erst anfangen zu spielen, wird’s kriminell.“

Ivanka umarmte die Freundin nur kurz, um sie dann von sich zu schieben, damit sie die Mutter begrüßen konnte.

„Guten Abend Frau Popovic!“ Jula spontan umarmend, lachte Alma sie offen an. „Sie glauben gar nicht, wie sehr ich mich freue, dass Sie mitgekommen sind. Kommen Sie mit. Meine Eltern warten auch schon auf Sie. Wir haben extra einen Tisch ausgesucht, von dem aus man einen guten Blick auf alles hat. Sie werden sehen, es wird bestimmt lustig werden!“ Ohne eine Erwiderung abzuwarten, packte sie Julas Arm und steuerte sie dann zielsicher in eine bestimmte Richtung.

Ivanka war geneigt laut loszuprusten, angesichts der völlig überrumpelten und daher widerstandslos gehorchenden Mutter. Aber sie beherrschte sich, um nicht als albern angesehen zu werden. Um sich abzulenken, sah sie sich aufmerksam um, entdeckte in der Menge einige Arbeitskollegen, sowie bekannte Gesichter aus dem Dorf, und winkte ihnen zu.

Nachdem sie Almas Eltern begrüßt und endlich Platz genommen hatten, wurde Ivanka auf den Nachbartisch aufmerksam, an dem sie eine Kollegin von der Farm wiedererkannte. Die um drei Jahre ältere Bepa redete auf einen älteren Mann ein, der jedoch nur mit halbem Ohr zuzuhören schien, derweil sein Blick wie gebannt auf ihrer Mutter hing.

Ivanka zögerte für eine Sekunde, nicht wissend, wie sie sich verhalten sollte. Doch dann rief sie einen Gruß hinüber, um nicht unhöflich zu erscheinen. Als man daraufhin alle Aufmerksamkeit auf sie richtete, fühlte sie augenblicklich das Blut in ihre Wangen schießen. Sie war es gewohnt, herablassenden Frotzeleien und anzügliche Bemerkungen ihrer männlichen Arbeitskollegen über sich ergehen zu lassen. Allerdings hatte man sie nie zuvor mit solchen Blicken angesehen!

Der offenkundigen Bewunderung vonseiten der Männer ein wenig hilflos gegenüberstehend, drehte Ivanka ihren Stuhl schnell so hin, dass sie auf die Tanzfläche schauen konnte, und hoffte dabei im Stillen, dass die peinlichen Blicke irgendwann ein anderes Ziel finden würden. Sich auf das Gespräch am eigenen Tisch konzentrierend, entspannte sie sich nach und nach, bis sie am Ende völlig locker dasitzen und dem Geplapper lauschen konnte. Hin und wieder an ihrer Limonade nippend, reagierte sie unbewusst auf die Musik, und fuhr dann sichtlich zusammen, weil urplötzlich ein junger Mann neben ihr auftauchte, den sie kurz zuvor am Nachbartisch gesehen hatte.

„Darf ich um den nächsten Tanz bitten?“ Eine leichte Verbeugung andeutend, lachte er sie offen an.

Ivanka schaute fragend zur Mutter hinüber, bekam nach einem kaum merklichen Zögern ein zustimmendes Nicken zu sehen, und stand dann auf, um sich auf die Tanzfläche geleiten zu lassen.

„Mein Name ist Janek Radic“, stellte sich ihr Begleiter vor.

„Ivanka“, erwiderte sie mit belegter Stimme. „Ivanka Popovic.“

„Ich weiß“, entgegnete er. „Bepa hat mir schon von dir erzählt.“

„So? Hat sie das?“ Es war eigentlich nicht ihre Art, derart patzig auf eine harmlose Feststellung zu reagieren. Aber die Tatsache, dass sie in ihrer Abwesenheit zum Gesprächsthema geworden war, machte sie unsicher und vorsichtig zugleich, weil sie nicht einschätzen konnte, ob man nun gute oder schlechte Dinge über sie gesagt hatte.

„Ja“, parierte er erheitert. „Das hat sie. Und sie war voll des Lobes über dich!“

Ivanka wusste, er machte sich nun lustig über sie, und hätte ihn am liebsten stehen lassen, um zu ihrem Tisch zurückzugehen. Da aber just in diesem Moment die Musik einsetzte, und die Umstehenden in die Ausgangsstellung gingen, um den bevorstehenden Reigen beginnen zu können, fand sie sich gezwungen, dazubleiben und zumindest diesen einen Tanz mit ihm durchzustehen.

„Wer ist eigentlich diese hübsche Frau, mit der du gekommen bist?“, fragte Janek, indem er sie mit dem einen Arm um die Taille fasste und mit dem anderen das Mädchen an seiner anderen Seite umfing.

Ivanka meinte zunächst, sie hätte nicht richtig gehört, und sah ihren Tanzpartner entsprechend ungläubig an. Als ihr jedoch aufging, dass er nicht nur aus Höflichkeit, sondern aus echtem Interesse nach ihrer Begleitung fragte, weiteten sich ihre Augen vor Überraschung.

„Du interessierst dich tatsächlich für meine Mutter?“ Sich auf die Unterlippe beißend, unterdrückte sie gerade noch recht zeitig ein albernes Kichern, und sah ihn dann mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Ist sie nicht ein bisschen zu alt für dich?“

„Du bist auf dem Holzweg, Kleine.“ Janek amüsierte sich köstlich über das entstandene Missverständnis und die drollige Naivität des Mädchens, wollte jetzt aber Klarheit schaffen, weil die Zeit drängte. „Mein Vater hat sich nicht getraut. Also versuche ich an seiner Stelle etwas über die schöne Frau herauszufinden, die ihn fast vom Stuhl gefegt hat.“

Weil die Musikanten nun immer schneller spielten, war keine Gelegenheit zu einer Erwiderung. Also hielt Ivanka den Mund und konzentrierte sich stattdessen auf den Tanz, der aus rasend schnellen Schritten, sowie ständigen Richtungswechseln bestand. Dem Rhythmus der Musik folgend, flog sie mit den anderen im Kreis herum, und war am Ende völlig außer Atem.

„Sie heißt Jula“, raunte sie ihrem Tanzpartner verschmitzt lächelnd zu, während sie sich zu ihrer Gesellschaft zurückbegleiten ließ. „Und sag ihm, dass sie lange nicht mehr getanzt hat, und dass er Geduld haben muss.“

Kaum saß sie, da eilte Janek auch schon davon, um sich zu seinem Vater zu begeben. Die Köpfe zusammensteckend, tuschelten die beiden Männer eine ganze Weile miteinander, wobei sie immer wieder zu Jula hinsahen.

„Ich wusste gar nicht, dass man auch heutzutage noch Kolo tanzt.“

Ivanka wandte sich der Mutter zu, um sie voller Wärme anzulächeln.

„Nun tu nicht so, als wärst du schon hundert. Natürlich tanzen wir noch immer den Kolo. Und die Polka auch“, sagte sie so leise, dass die anderen am Tisch nicht mithören konnten. Als sich daraufhin die Wangen ihres Gegenübers sichtlich röteten, langte sie spontan hinüber, um die Hand der kleinen Frau beruhigend zu drücken.

Im selben Augenblick setzten die Musikanten zu einem neuen Stück an. Also spähte Ivanka unauffällig zum Nachbartisch hinüber, wo der ältere Mann tatsächlich aufstand. Es war ihm überdeutlich anzusehen, dass er mit einer Absage rechnete. Dennoch straffte er sich, bevor er seinen eigenen Tisch samt seinem Begleiter umrundete und am Ende vor dem ihren anhielt.

„Darf ich mich vorstellen?“ Die stramme Haltung eines Soldaten einnehmend, machte Janeks Vater eine knappe Verbeugung, derweil sein Blick immer noch an Julas Gesicht hing, so als gäbe es nichts Anderes zu sehen. „Radic mein Name. Bogdan Radic. Ich würde Sie gerne um diesen Tanz bitten, wenn Sie gestatten.“

Ivanka hatte die allergrößte Mühe, weiter ernst zu bleiben. Zum einen hatte sie einen Mann noch nie derart gehemmt und unsicher auftreten sehen. Zum anderen war das völlig entgeisterte Gesicht der Mutter ein Schauspiel ohne Gleichen.

Jula war in der Tat völlig perplex. Selbstverständlich war ihr nicht entgangen, dass sie eine gewisse Aufmerksamkeit erregt hatte. Dass man sie aber zum Tanz auffordern würde – und das schon so bald! – damit hatte sie noch nicht einmal in Entferntesten gerechnet! Sie wollte bereits zu einer Ablehnung ansetzen, da spürte sie einen heftigen Tritt gegen das Schienbein und sah daraufhin irritiert zu ihrer Tochter hin.

„Aber ... Ich ... “, stammelte sie verstört, derweil ihre Augen wieder zu dem Männergesicht hinauf irrten. „Ich weiß gar nicht, ob ich auf diese Musik überhaupt tanzen kann!“

„Das können Sie bestimmt“, erwiderte er. „Ein langsamer Walzer ist gar nicht so schwer, wie man vielleicht denkt.“

Jula fand sich nun von zwei verschiedenen Augenpaaren fixiert: Das Blaue schaute bitten, das Bernsteinfarbene aufmunternd drein! Also versuchte sie vergebens, eine glaubhaft klingende Ausrede zu finden, und stand schließlich auf, um sich auf die Tanzfläche führen zu lassen. Als man sie dort jedoch um die Taille fasste, um sie hernach näher zu ziehen, damit man sie beim Tanzen besser dirigieren konnte, zuckte sie nervös zurück, um sich anschließend völlig steif und abwehrend zu geben. Sie war es nicht mehr gewohnt, einem Mann so nahe zu sein, und fühlte jetzt eine mädchenhafte Scheu, angesichts seines warmen Körpers. Zudem meinte sie von seinen Augen förmlich verschlungen zu werden, und war alles andere als erfreut über seine derart offenkundig gezeigte Bewunderung.

„Wenn Sie mir nicht ein wenig entgegenkommen, wird das nichts mit dem Walzer.“ Bogdan hatte sofort gespürt, dass die kleine Frau Abstand zu ihm wahren wollte, und versuchte sie nun durch einen scherzhaft klingenden Tonfall zu beruhigen: „Ich verspreche auch, dass ich weder beißen noch sonst irgendwie ungezogen sein werde. Ehrlich. Bleiben Sie ganz locker. Die Schritte sind ganz einfach. Eins, zwei, drei, vier, eins, zwei, drei, vier. Gehen Sie einfach nur mit.“

Jula gelang es tatsächlich, sich ein wenig zu entspannen, sodass sie den Schritten ihres Partners folgen und gleichzeitig seinen meist witzigen Ausführungen lauschen konnte. Von Zeit zu Zeit zu ihrem Tisch hinüber spähend, fand sie die Tochter in eine angeregte Unterhaltung mit Alma und deren Eltern vertieft, und musste sich gleichzeitig eingestehen, dass sie den Abend langsam zu genießen begann.

Bogdan war ein guter und sehr geduldiger Tänzer. Er führte seine Partnerin sicher und umsichtig. Auch beschwerte er sich nicht ein einziges Mal, wenn sie ihm auf die Füße trat. Die bewundernden Blicke der anderen Männer registrierend, meinte er, lange nicht mehr so froh und sorglos gewesen zu sein, und wünschte sich insgeheim, das Stück wäre länger, damit er die kleine Frau nicht so bald wieder gehen lassen müsse. Doch diesen Gefallen taten ihm die Musiker nicht. Also ließ er sie mit sichtlich erkennbarem Bedauern los, bedankte sich artig, und begleitete sie dann zurück.

„Versprechen Sie mir“, bat er ernst, indem er ihr den Stuhl zurechtrückte, „dass Sie auch den nächsten Tanz für mich reservieren.“

Durch diese Bitte ein wenig aus dem Gleichgewicht gebracht, weil ihr mit einem Mal klar wurde, dass das Interesse ihres Gegenübers keineswegs flüchtig und schon gar nicht klein war, nickte Jula bloß. Gleich darauf bemerkte sie sein strahlendes Lächeln, und fühlte sich plötzlich so unsicher und kribbelig, wie zu der Zeit, da sie sich zum ersten Mal ernsthaft verliebt hatte.

Auch wenn Ivanka so tat, als wäre sie mit ganz anderen Dingen beschäftigt, bekam sie doch alles genau mit. Insgeheim zutiefst befriedigt, weil die Mutter auch ihren Spaß hatte, registrierte sie die gegenseitige Sympathie des Paares, und staunte gleichzeitig über das mädchenhaft scheue Verhalten der Frau, die sie bisher immer nur mit strenger Miene und moralischen Geboten auf den Lippen erlebt hatte.

„Ich weiß gar nicht, was du immer hast“, flüsterte ihr Alma in diesem Moment ins Ohr. „Deine Mutter ist doch gar nicht so, wie du immer tust.“

Nein, entschied Ivanka, das wollte sie jetzt nicht mit der Freundin ausdiskutieren. Der Abend war viel zu schön, um sich mit unerfreulichen Dingen zu beschäftigen. In Gegenwart Dritter gab sich die Mutter nämlich immer anders, als sie sonst war. Nicht dass sie sich je verstellt hätte, um sich in einem besseren Licht darzustellen. Nein, das nicht. Aber im Beisein von Fremden hielt sie sich sehr zurück, sodass man versucht war, zu vergessen, dass sie im Grunde immer noch eine überaus willensstarke und meist kompromisslose Frau war!

4

„Ist das dein voller Ernst? Du willst wieder heiraten?“ Der Junge war außer sich. „Aber ... Aber ... Das kannst du mir nicht antun!“, schrie er seine Mutter an. „Wenn du das wirklich machst, dann laufe ich weg!“

Andrija war jetzt beinahe zwölf Jahre alt, mittlerweile genauso groß wie die beiden Frauen und von einer Magerkeit, dass es einem Angst werden konnte. Obwohl er aß wie ein Scheunendrescher, schien nicht ein einziges Gramm Fett an ihm haften bleiben zu wollen. Und sein ohnehin aufbrausendes Temperament hatte sich zu einer üblen Seite hin entwickelt, was bedeutete, dass er nahezu wegen jeder Kleinigkeit in Rage geriet, um sich dann wie ein Verrückter aufzuführen.

„Sei still!“, zischte Ivanka.

„Du, hältst dich da heraus!“, richtete er nun seine Wut gegen sie. „Du bist an alledem schuld! Du