FABIANS WEG - Katica Fischer - E-Book
SONDERANGEBOT

FABIANS WEG E-Book

Katica Fischer

0,0
2,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,49 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Dass er gleich nach seiner Geburt zur Adoption freigegeben wurde, trifft den vierzehnjährigen Fabian wie ein vernichtender Schlag. Auf seiner nachfolgenden Suche nach seinen wahren Wurzeln, die er mehr oder weniger bewusst betreibt, stößt er durch Zufall auf ein kleines Mädchen, welches behauptet, seine Schwester zu sein. Weil er jedoch davon ausgeht, dass Pias Aussage allein ihrer blühenden Fantasie zu verdanken ist, will er ihre Eröffnung zunächst nicht glauben. Doch schon bald erkennt er, dass die Kleine tatsächlich verborgene Zusammenhänge erspüren, die Gedanken ihrer Mitmenschen entschlüsseln und anhand von Visionen zukünftige Ereignisse voraussagen kann. Als er schließlich feststellt, dass sich einige ihrer übersinnlichen Fähigkeiten auch bei ihm finden lassen, akzeptiert er, dass in ihren Adern durchaus das gleiche Blut fließen könnte. Auf seinem Weg vom Teenager zum erwachsenen, fest im Leben stehenden Mann, muss Fabian hinnehmen, dass ihm ein höchst launisches Schicksal allerlei Schwierigkeiten vor die Füße wirft. Allerdings stehen ihm dabei nicht nur Menschen zur Seite, die es gut mit ihm meinen, sondern auch ein wohlwollender Meister Zufall.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 566

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Katica Fischer

FABIANS WEG

Blutbande I

Roman

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutsche Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, einschließlich des vollständigen oder teilweisen Nachdrucks in jeglicher Form sind vorbehalten.

Die Charaktere und Handlungen in diesem Roman sind allesamt fiktiver Natur. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind nicht beabsichtigt, sondern rein zufällig.

© 2018 Katica Fischer

www.katica-fischer.de

Einbandgestaltung:

Amela Mecavica

und K. Fischer

Bereitstellung und Vertrieb:

neobooks (Neopubli GmbH, Berlin)

1

Das Sprechzimmer der Ärztin war mit hellen Möbeln und farbenfrohen Vorhängen ausgestattet, was eine entspannend wirkende Atmosphäre schuf. Dennoch fühlte sich das Ehepaar, welches schweigend vor dem Schreibtisch saß und auf die Ergebnisse der Untersuchung wartete, sichtlich unbehaglich.

Elisa Andersen war eine geschmackvoll gekleidete, zierliche Frau. Ihr brünettes, schulterlanges Haar umrahmte in sanft schimmernden Wellen ein kleines herzförmiges Gesicht, das von großen braunen Augen und einem sinnlichen Mund beherrscht wurde. Sie war sehr nervös, was sich nicht nur an ihrer angespannten Sitzposition, sondern auch an ihren Fingern zeigte, die ein ums andere Mal ein Papiertaschentuch zusammenfalteten, nur um es im nächsten Moment wieder auseinanderzunehmen. Karl Andersen hingegen war ein stämmiger, rotblonder Endvierziger von hohem Wuchs. An seinen Schläfen und im dicht wachsenden Schnurrbart zeigten sich erste Silberfäden. Auf seiner Stirn und um die grauen Augen hatten sich tiefe Falten in die helle Haut gegraben, welche davon zeugten, dass er meist mit verkniffener Miene herumlief. Der dunkle Maßanzug, das weiße Hemd und die ordentlich gebundene Krawatte saßen tadellos. Allerdings schien ihm der Schlips zu eng zu sein, denn er hob immer wieder seine Rechte, um den Knoten ein wenig von seiner Kehle wegzuziehen.

Den Blick stur auf einen Punkt an der gegenüber liegenden Wand richtend, biss Karl die Zähne so fest zusammen, dass seine Kieferknochen deutlich hervortraten. Er war jetzt schon zwölf Jahre verheiratet, konnte aber nach wie vor keinen Stammhalter vorweisen, dachte er gereizt. Mittlerweile war seine Frau von allen möglichen Ärzten untersucht worden, immer mit dem Ergebnis, dass mit ihr alles in bester Ordnung war. Doch statt froh zu sein, dass ihr nichts fehlte, und darauf zu vertrauen, dass es mit der Schwangerschaft irgendwann doch noch klappen würde, war sie nicht müde geworden, ihm einzureden, dass er sich ebenfalls untersuchen lassen müsse. Ihr liefe die Zeit davon, hatte sie immer wieder betont, was er für absolut albern hielt, da sie ja erst dreißig Jahre alt war. Dennoch hatte er schließlich eingewilligt, dass seine Zeugungsfähigkeit von fachkundigen Leuten bestätigt werden sollte, damit sie endlich Ruhe gab. Und nun war endlich der Tag gekommen, wo sie es schwarz auf weiß zu sehen bekommen würde!

Als die Tür aufging und die Ärztin hereinkam, straffte sich der große Mann noch ein wenig mehr. Seine Begleiterin schien indes noch kleiner zu werden, während ihr Blick wie gebannt an der Medizinerin hing, die sich nun mit ernstem Gesicht hinter ihren Schreibtisch setzte.

„Ich habe leider schlechte Nachrichten“, begann Doktor Wießner. „Die Untersuchungsergebnisse haben bestätigt, dass Sie, Herr Andersen, weder auf natürlichem Wege noch mit medizinischer Unterstützung Kinder zeugen können.“

Karl fühlte seine Hände kaum noch, so kalt waren sie mit einem Mal. Also doch nicht so abwegig, wie er bisher hatte glauben wollen, dachte er schockiert. Seine Männlichkeit brachte tatsächlich nichts Vernünftiges hervor – mal ganz abgesehen von einem enormen Bedürfnis nach Aufmerksamkeit.

„Aber …“ Er schluckte hart, bevor er weitersprach: „Wie kann das sein?“

„Ich hatte ja schon bei unserem ersten Gespräch gesagt, dass es viele Ursachen für eine Sterilität bei Männern gibt“, antwortete die Ärztin ruhig. „Die bekannteste dürfte eine Mumps-Erkrankung im Erwachsenenalter sein. …“

Während Doktor Wießner weitere infrage kommende Ursachen aufzählte, hörte Karl schon gar nicht mehr hin, denn er war nun im Geiste damit beschäftigt, herauszufinden, wann er das letzte Mal krank gewesen war. Da ihm diesbezüglich aber nichts einfallen wollte – er war schon immer hart im Nehmen und noch nie ein Jammerlappen gewesen! – fühlte er wütende Frustration in sich aufsteigen. Er hatte sich aus eigener Kraft vom Sohn eines Handwerkers aus ärmlichsten Verhältnissen zu einem Unternehmer hochgearbeitet, der voller Stolz auf das Erreichte zurückblicken konnte, erinnerte er sich. Die Vorstellung, dass sein europaweit bekannter Maschinenbau-Betrieb später von seinem eigenen Sohn übernommen und weitergeführt werden würde, hatte ihn dabei stets vorangetrieben. Aber jetzt … Sollte wirklich alles umsonst gewesen sein? Würde sein Lebenswerk am Ende von einem Fremden übernommen werden, der sich ins gemachte Nest setzte, ohne je etwas für sein Glück getan zu haben? Hatte er etwa dafür wie ein Verrückter geschuftet?

„Sie sagen also, es gibt Krankheiten, die dazu führen können, dass ein Mann nicht mehr ganz Mann ist?“ Seine sonst ziemlich laut und befehlsgewohnt klingende Stimme drohte jeden Moment zu versagen. „Und es gibt keine Möglichkeit …“ Er schluckte wiederholt, was deutlich machte, wie schwer es ihm fiel, die richtigen Worte zu finden. „Ich meine … Die Medizin macht doch heutzutage fast alles möglich.“

„Nein, in Ihrem Fall gibt es derzeit keine Behandlungsmethode, die wirklich Erfolg versprechend wäre.“ Die Ärztin ließ ein bedauerndes Lächeln sehen. „Es tut mir leid.“

Karl nickte nur. Einen kurzen Blick in die Richtung seiner Frau werfend, stand er gleichzeitig auf und ging zum Fenster hinüber, um stumm hinauszustarren. Aus, dachte er immerfort. Der Traum von einem Stammhalter war nun endgültig ausgeträumt.

Elisa saß unterdessen wie versteinert da. Eigentlich hätte sie jetzt erleichtert sein sollen, dachte sie, denn sie musste nicht länger die Schuld bei sich selbst suchen. Trotzdem bereute sie nun, ihren Mann zu dieser unseligen Untersuchung gedrängt zu haben, weil sie wusste, dass die Kenntnis um seine intimste Schwäche ihn von nun an Tag und Nacht verfolgen würde, ohne dass er etwas dagegen unternehmen konnte. Sie wusste auch, er würde ihr nicht verzeihen, dass sie die treibende Kraft gewesen war, die seine Schmach ans Tageslicht gezerrt hatte. Nein, er würde nichts sagen. Aber sie würde es zu spüren bekommen!

Sie war kaum beim letzten Gedanken angekommen, da fühlte die kleine Frau eine leichte Gereiztheit in sich aufsteigen, die mit einer gewissen Befriedigung einherging. Karl würde aufgrund seiner Zeugungsunfähigkeit sicher keine Minderwertigkeitskomplexe bekommen oder gar aus Kummer darüber sterben! Aber sie hatte jetzt endlich Klarheit und konnte daher ihre eigene Hoffnung endgültig aufgeben. Es tat zwar weh, zu wissen, dass sie nie ein eigenes Kind haben würde, doch verzweifeln würde sie darüber nicht. Schließlich drehte sich das Leben einer Frau nicht mehr bloß um Kind, Küche und Kirche. Würde sie sich eben mehr ihren Hobbys und ihren Freundinnen widmen, um ihre Zeit sinnvoll auszufüllen, während er seinen Geschäften nachging.

„Ich danke Ihnen für alles.“ Das Gesicht der Ärztin fixierend, stand Elisa nun ebenfalls auf und lächelte dabei gezwungen. „Auf Wiedersehen.“

Doktor Wießner erhob sich, mit der Absicht, ihre Besucher zu verabschieden. Doch hatte sie kaum Elisas Hand erfasst, da fiel ihr ohne jeden Übergang die junge Frau ein, die kurz vor dem Ehepaar bei ihr gewesen war. Die Welt war doch wirklich verrückt, schoss es ihr daraufhin durch den Sinn. Hier verzehrte sich ein Paar nach einem Kind, konnte aber keines bekommen. Die Sechzehnjährige bekam eines, wollte es aber nicht haben. Wie ungerecht doch das Leben war! Andererseits konnte man dem Schicksal bestimmt ein Schnippchen schlagen, nicht wahr?

„Sie wissen, dass heutzutage eine Schwangerschaft trotz Sterilität des Partners möglich ist“, begann sie vorsichtig.

Auf Elisas Gesicht machte sich eine verwirrt anmutende Miene breit, während sie ihr Gegenüber mit großen Augen ansah.

„Wie meinen Sie das?“, wollte sie wissen.

„Eine Spermaspende könnte helfen“, begann Doktor Wießner zu erklären. „Es haben schon viele Paare auf diese Weise …“

„Nein!“ Karl war schon bei den ersten Worten der Medizinerin wie unter einem Schlag zusammengefahren und kam nun mit langen Schritten zum Schreibtisch zurück, um seine Frau am Arm zu fassen und mit einer besitzergreifenden Geste an sich zu ziehen. „So etwas kommt überhaupt nicht infrage! Das wäre ja … Für mich wäre das Ehebruch!“ Elisa gehörte ihm allein! Wenn sie nicht seine Kinder gebären konnte, sollte sie überhaupt keines haben. Niemals würde er zulassen, dass der Samen eines anderen Mannes in ihr Wurzeln fasste und heranwuchs. Schon die Vorstellung, dass das Kind in ihrem Körper nicht seines wäre, war grauenhaft!

Die Ärztin runzelte kurz die Stirn und nickte dann, so als wolle sie sich selbst etwas bestätigen. Er war eine ziemlich egoistische und zudem äußerst dominante Persönlichkeit, stellte sie im Stillen für sich fest. Selbst das Wissen, dass der größte Wunsch seiner Frau niemals in Erfüllung gehen würde, wenn er nicht nachgab, ließ ihn nicht von seinem Standpunkt abweichen. Was seine Partnerin in diesem Moment dachte, oder wie sie sich fühlte, schien im völlig gleichgültig zu sein. … Nun ja … Vielleicht gab es doch noch eine Chance für ihre liebenswerte Patientin.

„Es gäbe da auch noch die Möglichkeit einer Adoption“, sagte sie mit ruhiger Stimme. „Haben Sie schon einmal daran gedacht, ein Kind zu adoptieren?“ Weil nun in beiden Augenpaaren ihrer Besucher leises Interesse aufglomm, fühlte sie sich in ihrem Vorgehen bestätigt. „Was auch immer Sie jetzt tun“, fuhr sie fort, „bedenken Sie auch diese Möglichkeit. Es gibt so viele Kinder, die ohne Eltern aufwachsen müssen. Da ist man froh um jedes, das in eine intakte Familie aufgenommen wird.“

„Was für eine verrückte Idee.“ Karl hatte den Vorschlag der Ärztin unkommentiert gelassen und sich stattdessen sehr kurz angebunden verabschiedet. Doch jetzt, auf dem Weg zur Praxis hinaus, begann er den Gedanken in einem anderen Licht zu sehen. Er erwog nun tatsächlich das Für und Wider, und kam am Ende zu einem Entschluss. Ja, so würde es gehen, dachte er euphorisch. Seine Frau würde ein Baby haben können, ohne dass sie durch einen anderen Mann besudelt wurde. Und er würde endlich eine vollständige Familie erhalten!

„Aber es würde ein völlig fremdes Kind sein“, versuchte Elisa einzuwenden. Als sie jedoch die Vorfreude und die Entschlossenheit im Gesicht ihres Mannes registrierte, war sie froh, ihren Widerspruch so leise vorgebracht zu haben, dass er ihn gar nicht erst gehört zu haben schien. Er meinte es ja nur gut, ermahnte sie sich selbst. Außerdem … Vielleicht wurde ja gar nichts daraus.

*

Mehrere Wochen vergingen, in welchen Karl Himmel und Hölle in Bewegung setzte, um als Adoptivvater anerkannt zu werden, und dabei Stück für Stück seinem Ziel näher rückte. Elisa indes verfolgte seine Bemühungen mit ängstlicher Zurückhaltung und war dabei innerlich so angespannt, dass sie bald meinte, jeden Moment in tausend Stücke zerbrechen zu müssen. Zum einen wünschte sie sich, man möge ihr die ganze Sache ersparen, indem man den Antrag einfach ablehnte, weil sie sich einfach nicht vorstellen konnte, ein fremdes Kind wie ihr eigenes lieben und umsorgen zu können. Andererseits fürchtete sie eine negative Entscheidung vonseiten der Behörden, weil ihr damit auch die Möglichkeit genommen würde, endlich Mutter sein zu dürfen. Am Ende gab sie es auf, ständig darüber zu grübeln, was werden würde, denn es blieb ihr ohnehin keine Wahl. Karl hatte entschieden, dass er unbedingt einen Sohn haben musste, also würde er seinen Willen auch bekommen – so wie immer.

Um sich abzulenken, kramte Elisa ihre Staffelei hervor und begann wieder zu malen. Was Jahre zuvor als natürliches Talent entdeckt und dann in entsprechenden Kursen an der Volkshochschule zu einem handwerklich sicheren Können ausgebildet worden war, war zu einem Hobby geworden, allein dazu bestimmt, ein schöner Zeitvertreib zu sein. Doch jetzt entwickelte es sich zu einer Tage füllenden Tätigkeit. Und weil sie in relativ kurzer Zeit mehrere hochwertige Leinwände und diverse Malutensilien kaufte, zog sie die Aufmerksamkeit des Geschäftsinhabers auf sich, der neben seinem Laden auch eine kleine Galerie besaß. Und so fanden vier von ihren Werken ihren Weg in dessen Ausstellung, um kurz darauf einem neuen Besitzer übergeben zu werden. Dass sie dabei einen erstaunlich hohen Preis erzielten, verwunderte Elisa genauso sehr, wie die Tatsache, dass man baldmöglichst noch mehr Bilder von ihr haben wollte.

*

Es war ein Tag vor Elisas einunddreißigsten Geburtstag, da kam Karl freudestrahlend nach Hause und verkündete voller Stolz, sie seien nun als Adoptiveltern anerkannt und stünden ab sofort auf der Warteliste für einen Säugling.

Elisa war immer noch hin-und hergerissen, und wusste daher nicht so recht, sollte sie sich mit ihrem Mann über den Erfolg seiner Hartnäckigkeit freuen, oder doch Angst vor der Zukunft und dem fremden Wesen haben, welches man ihr früher oder später anvertrauen würde. Am Ende schalt sie sich eine Närrin, weil sie sich von ihrer eigenen Furcht lähmen ließ, und stürzte sich dann in hektische Aktivitäten, wohl wissend, dass sie nur auf diese Weise die nervtötende Wartezeit überstehen würde. Karl hatte zwar entschieden, in welchem Raum des großen Hauses das Kind sein Reich haben sollte. Allerdings war noch nichts vorbereitet. Und so kümmerte sie sich zunächst darum, dass das künftige Kinderzimmer in freundlichen Farben gestrichen und mit passenden Gardinen ausgestattet wurde. Danach bestellte sie die notwendigen Möbel, kaufte Babykleidung in verschiedenen Größen und meldete sich schließlich zu einem Säuglings-Pflegekurs an.

*

Am zehnten Mai des Jahres Neunzehnhundertneunundsiebzig, also fünf Monate nach dem Besuch bei Elisas Ärztin, bestellte man das Ehepaar Andersen in die gynäkologische Abteilung des Hamburger Stadtkrankenhauses. Sie waren kaum da, da legte man Elisa ein Bündel in die Arme, welches ausschließlich aus einer flauschigen Decke zu bestehen schien. Bei näherem Hinsehen wurde dann ein rosiges Säuglingsgesicht sichtbar, das sich im Schlaf entspannt hatte.

Die kleine Frau war vom ersten Augenblick an überzeugt, nie etwas Liebreizenderes gesehen zu haben. Sie war in der Tat dermaßen fasziniert von dem engelsgleichen Babyantlitz, welches von einem dichten Schopf seidig glänzender heller Haare umgeben war, dass sie alles andere um sich herum vergaß. Die winzige Stupsnase und die hellen Augenbrauen betrachtend, bewunderte sie für einen Moment die ungewöhnlich langen Wimpern des schlafenden Jungen, und war dann wie verzaubert von dem feinen Lächeln, das plötzlich auf seinen Lippen lag. Wunderschön, dachte sie ein ums andere Mal. Ein Baby, wie aus einem Bilderbuch. Und doch … Sie war sich immer noch nicht ganz sicher, ob sie es auch so lieben konnte, wie sie eigentlich wollte. Es war immer noch das Kind einer anderen! Würde sie dieses Wissen je verdrängen oder gar vergessen können, fragte sie sich voller Selbstzweifel.

Karl ahnte nichts von den Ängsten, mit welchen sich seine Frau plagte. Aber, selbst wenn er davon gewusst hätte, wäre seine einzige Reaktion darauf ein ungeduldiges Abwinken gewesen. Er schaute daher zufrieden lächelnd auf seine Frau hinunter, und genoss das Gefühl tiefster Genugtuung, welches sein gesamtes Bewusstsein erfüllte. Geschafft, dachte er. Eiserner Wille und unermüdliche Ausdauer zahlten sich eben immer aus!

*

Der hohe schrille Schrei endete in einem jämmerlichen Weinen, was Elisa sofort aus dem Bett trieb. Leise, um ihren nach wie vor laut schnarchenden Mann nicht zu wecken, schlich sie auf Zehenspitzen zum Ausgang. Gleich darauf verließ sie das Schlafzimmer und zog am Ende behutsam die Tür hinter sich zu. Während sie ein paar Sekunden später das Kinderzimmer betrat, knipste sie gleichzeitig die Deckenbeleuchtung an und eilte dann mit schnellen Schritten zu dem Kinderbett, um den kleinen Jungen herauszuheben.

Fabian war mittlerweile zehn Monate alt und hatte die größten Schwierigkeiten mit den Zähnen, die immer im Vierer-Pack durchzustoßen schienen. Aufgrund der damit einhergehenden Schmerzen biss er in alles hinein, was er gerade erreichen konnte, weil dies kurzzeitig ein wenig Linderung brachte. Und so kam es, dass Elisas Hand, die eigentlich auf seine Wange gelegt worden war, um ihn beruhigend zu streicheln, zum Ziel der kleinen spitzen Schneidezähnchen wurde. Als sie daraufhin einen unterdrückten, aber dennoch hörbaren Schmerzlaut ausstieß, ließ er sofort wieder los. Die Augen vor Schreck weit aufgerissen und angefüllt mit Tränen, starrte er atemlos zu ihr hinauf. Dann hob er eine Hand und patschte unbeholfen in ihr Gesicht, um es anschließend mit unsicheren Bewegungen zu streicheln.

„Ma?“ Weil sie nicht gleich reagierte, versuchte es der Kleine noch einmal: „Mam … Ma?“

Elisa meinte plötzlich, sie würde von einer alles überspülenden Woge liebevoller Zärtlichkeit überrollt, und hielt unwillkürlich die Luft an. Ihr Herz schlug ihr mit einem Mal in harten schnellen Stößen bis zur Kehle hinauf, sodass sie fürchtete, es würde jeden Moment aus ihrer Brust springen. Es war nicht mehr wichtig, dass sie nach mehreren Nächten ohne ausreichenden Schlaf völlig übermüdet und so ziemlich am Ende ihrer Kräfte war. Was in diesem einzigartigen Moment zählte, war allein die Wärme des kindlichen Körpers, der in ihren Armen lag, und das Gefühl tiefer Verbundenheit mit dem Jungen. In diesem Augenblick vergaß sie alle Vorbehalte, die sie insgeheim noch gegen das Kind einer anderen gehegt hatte. Auch verdrängte sie nun vollends, dass es nicht ihr eigen Fleisch und Blut war. Stattdessen fühlte sie nur noch tiefe, bedingungslose Liebe für den Winzling, der sie aus großen, grünen Kulleraugen ansah, und der sie für seine Mutter, also den Fixstern seines Universums hielt.

„Schon gut, mein kleiner Liebling“, hauchte sie leise. „Es ist alles gut. Mama ist ja da.“

2

„Na, mein Sohn. Schau mal, was der Papa für dich hat!“

Obwohl das Kind keinen wirklichen Grund hatte, den Vater zu fürchten, schreckte es doch jedes Mal zusammen, sobald es ihn hörte, denn Karls Stimme hallte unangenehm laut durch die hohen Räume des Hauses. Zudem trat er stets so autoritär und unnahbar auf, dass es an ein Wunder gegrenzt hätte, hätte der kleine Junge Anderes als größten Respekt vor ihm empfunden. Und so schaute Fabian dem Vater wieder einmal total eingeschüchtert entgegen, als dieser mit einem Paket unter dem Arm auf ihn zukam und kurz vor ihm in die Hocke ging. Die hölzernen Tierfiguren waren nun genauso vergessen wie das Spiel, das er kurz zuvor auf dem Wohnzimmerteppich kauernd gespielt hatte.

„Was ist denn, mein Sohn? Du guckst ja, als wollte ich dich fressen.“ Das letzte Wort war kaum ausgesprochen, da verfiel Karl in glucksendes Gelächter. Gleichzeitig öffnete er den Deckel des Kartons, den er mittlerweile auf dem Boden abgestellt hatte. „Komm schon“, forderte er im jovialen Tonfall. „Guck dir an, was ich extra für dich gekauft hab.“

Fabian gehorchte, denn zum einen hatte er mittlerweile den ersten Schrecken überwunden, und zum anderen war er von Natur aus neugierig, sodass er nun wissen wollte, was in dem Paket war. Als er jedoch die verschiedenen metallischen Bauteile entdeckte, die fein säuberlich in extra dafür vorgesehene Fächer einsortiert waren, wandelte sich seine Vorfreude rasch in Ratlosigkeit.

„Na, was sagst du?“ Karl merkte, dass der Junge keine wirkliche Begeisterung angesichts des Baukastens empfand, wollte dies jedoch nicht wahrhaben. „Toll, nicht wahr! Ist so ’n richtiges Tüftelpaket, weißt du. Kann man tolle Sachen mitmachen.“

Fabian war hin-und hergerissen. Einerseits freute er sich tatsächlich darüber, dass der Vater ihm ein Geschenk gekauft hatte, obwohl weder Weihnachten noch sonst ein Feiertag war. Andererseits wusste er immer noch nicht so recht, was er mit den merkwürdig geformten Blechteilen anfangen sollte. Zudem traute er sich nicht, dies offen zu sagen, weil er nicht als dummes Kind angesehen werden wollte. Also tat er am Ende genau das, was von ihm erwartet wurde: Er zog den Karton näher zu sich heran und begann auszupacken.

„Das ist wirklich ein schönes Geschenk. Vielen Dank, Papa.“ Den Kopf tief gesenkt, hielt er zwei Metallstücke in den Händen und versuchte zu entschlüsseln, was sie darstellen sollten, kam jedoch zu keinem brauchbaren Ergebnis. Daher legte er sie beiseite und nahm dafür zwei andere Teile auf, in der Hoffnung, bei diesen beiden mehr Erfolg zu haben.

Unterdessen beobachtete Karl das Geschehen mit wachsender Ungeduld. Als das Kind jedoch wiederholt zu neuen Bauteilen griff, nur um sie nach kurzer Betrachtung wieder wegzulegen, fuhr er unbeherrscht dazwischen, indem er mit beiden Händen zupackte und die herausgeholten Metallstücke in den Karton zurückwarf.

„Ich seh’ schon“, grollte er. „Es gefällt dir nicht! Dabei hab’ ich so viel Geld dafür ausgegeben. Aber egal. Wird sich halt ein anderes Kind darüber freuen. Ich bring es nämlich zurück in den Laden.“

Fabian hatte sich fast zu Tode erschrocken, als ihn der Vater völlig unverhofft wegschubste, um an den Karton herankommen zu können. Entsprechend verängstigt hockte er jetzt am Boden, nicht recht wissend, wie er sich weiter verhalten sollte. Am Ende richtete er sich vorsichtig auf. Dabei fühlte er Tränen an seinen Wangen hinab laufen und wischte sich mit dem Ärmel seines Pullovers das Gesicht ab. Den breiten Rücken des Vaters betrachtend, stand er wie festgenagelt auf der Stelle, insgeheim sicher, dass dieser mit dem Schimpfen noch längst nicht fertig war und nur durch das wieder Verschließen des Geschenk-Kartons abgelenkt wurde. Erst als seine Mutter hereinkam, in den Händen ein mit Kuchenplatte und Limonade-Krug beladenes Tablett, warf er sich herum und floh aus dem Wohnraum.

„Was ist denn los?“, wollte Elisa wissen, während sie sichtlich verwirrt dem Jungen nachsah, der Hals über Kopf die breite Treppe zu seinem Zimmer hinauf hetzte.

„Nix besonderes“, schnappte Karl wütend, indem er sich nun ebenfalls aufrecht hinstellte. „Dein lieber Sohn hat mir nur gerade zu verstehen gegeben, dass er mein Geburtstagsgeschenk nicht mag. Sonst war nix.“

„Was?“ Ihre Augen huschten über den Baukasten, der jetzt unter Karls rechtem Arm klemmte, suchten dann das Gesicht ihres Mannes, in dem Enttäuschung und Zorn zu erkennen waren, und wanderten dann erneut zu dem Paket. „Wieso Geburtstag? Der ist doch erst in zwei Monaten.“

„Ja und?“, blaffte er. „Hab’ ich’s halt nicht abwarten können! Ist das denn so schlimm?“

„Nein, schlimm ist das nicht.“ Sie stand mittlerweile neben ihm und verrenkte sich den Hals, um die Altersangabe entziffern zu können, die seitlich auf der Verpackung aufgedruckt war. „Aber unüberlegt.“ Bevor ihr Mann etwas erwidern konnte, stellte sie das Tablett auf dem Wohnzimmertisch ab und langte gleich im Anschluss nach dem Baukasten, um Karl sogleich die Empfehlung des Herstellers vor die Nase zu halten. „Ab zehn Jahre“, las sie zusätzlich laut vor.

„Was?“, fragte er mit verständnisloser Miene.

„Das Ding wird für Kinder ab zehn Jahre empfohlen“, erklärte sie geduldig. „Also musst du dich nicht wundern, wenn Fabian nichts damit anfangen kann, mein Lieber. Er ist ja noch nicht einmal fünf.“

Für einen Moment wollte es scheinen, als würde Karl aus der Haut fahren, angesichts der nachsichtigen aber für ihn peinlichen Belehrung durch seine Frau. Doch dann stieß er ein unüberhörbar unechtes Lachen aus.

„Du glaubst wohl, ich hätt’s nicht gesehen, ja? Aber das ‚ich wohl“, behauptete er nun von oben herab. „Ich wollte nur mal testen, wie intelligent er ist, sonst nix.“

„Seine Intelligenz ist für sein Alter völlig in Ordnung“, erklärte sie, indem sie gleichzeitig die Limonade-Karaffe und die Kuchenplatte vom Tablett auf den Tisch stellte. „Allein seine künstlerische Begabung ist außergewöhnlich. Du solltest dir mal die Bilder ansehen, die er malt. Es ist wirklich erstaunlich, was er in seinem Alter schon zustande bringt.“

„Bilder, pah! Es reicht, dass meine Frau dauernd mit Farben herum kleckst. Ich brauch’ nicht noch einen sogenannten Künstler in meinem Haus!“ Karl schätzte die Werke alter Meister. Er akzeptierte auch, dass seine eigene Frau ein gewisses Talent besaß, denn sonst hätte sie sicher keines ihrer Bilder verkaufen können. Allerdings brachte er wenig, um nicht zu sagen gar kein Verständnis für die jungen Leute auf, die Jahre ihres Lebens damit vergeudeten, die schönen Künste zu studieren, nur um hernach der Gesellschaft zur Last zu fallen, weil sie keine vernünftige Arbeit verrichten konnten, um sich selbst ernähren zu können. „Er soll sich gefälligst mit vernünftigen Dingen befassen! Schließlich muss er mal meinen Maschinenbau-Betrieb übernehmen und sollte beizeiten darauf vorbereitet werden!“

„Er ist doch noch ein kleines Kind“, versuchte sie zu beschwichtigen.

„Ja und?“, wischte er den Einwand beiseite. „Als ich so alt war, wie er jetzt ist, hab’ ich mir nichts sehnlicher gewünscht als einen Baukasten, hab’ ihn aber nicht bekommen, weil kein Geld für Spielzeug übrig war. Der undankbare Bengel kriegt alles, was es für teures Geld zu kaufen gibt, macht sich aber noch nicht einmal die Mühe, so zu tun, als freue er sich über mein Geschenk!“

„Willst du wirklich, dass er dir etwas vorheuchelt, was er gar nicht fühlt?“ Elisa sah ihren Mann mit großen Augen an. „Ja?“

„Nein!“ Karls Zorn hatte mittlerweile ein wenig nachgelassen. Dennoch war er noch weit davon entfernt, den Vorfall wirklich objektiv zu sehen. „Ich … Ach, lasst mich doch in Ruhe!“ Er hatte kaum zu Ende gesprochen, da warf er sich herum und stapfte mit langen Schritten aus dem Raum.

Elisa blieb auf der Stelle stehen und sah ihm mit gerunzelter Stirn nach. Warum nur, fragte sie sich. Wieso wurde er in letzter Zeit immer so schnell wütend? Und weshalb hackte er ständig auf dem Jungen herum? Nichts war ihm recht, was auch immer der Kleine tat. Und sie selbst musste sich auch immer öfter in Acht nehmen, wie und was sie sagte, denn jedes falsche Wort konnte zu einem hässlichen Streit führen. Ob er Schwierigkeiten im Betrieb hatte? Ja, das musste es sein, dachte sie. Es gab sicher Probleme, die ihn belasteten, die er aber nicht mit ihr besprechen wollte. Ihn danach zu fragen würde jedoch völlig unnütze Liebesmüh’ sein, denn er hatte noch nie über geschäftliche Dinge mit ihr geredet, und würde es auch in Zukunft sicher nicht tun.

*

An Fabians fünften Geburtstag beschloss Karl, dass er ihn in einem Internat unterbringen würde, denn er war der Meinung, dass der Junge eine ordentliche Ausbildung brauchte. Unter „ordentlicher Ausbildung“ verstand er eine strenge und daher kompromisslose Erziehung, die nicht in Elisas nachgiebige und daher schwache Hände, sondern in die von ausgebildeten Fachleuten gehörte. Außerdem war er der Meinung, dass die Vorsorge für die Zukunft nicht früh genug beginnen könne. Auch behagte ihm Fabians zurückhaltendes Wesen nicht, denn es entsprach nicht seiner Vorstellung eines aufgeweckten und tatkräftigen Jungen, der auch mal über die Stränge schlug und sich damit wissentlich in Gefahr brachte, eine entsprechende Strafe erdulden zu müssen. Wäre Fabian tatsächlich ein rotzfrecher Bengel gewesen, der vor nichts und niemandem Angst oder Respekt verspürte, Karl hätte dennoch die gleiche Entscheidung getroffen. Doch das wollte sich der große Mann nicht so offen eingestehen. Stattdessen lobte er sich selbst für die geniale Idee, denn er war überzeugt davon, dass man in einem Internat eine Persönlichkeit mit Format aus dem Jungen machen würde, die exakt seinen eigenen Idealen entsprach.

Der eigentlich wahre Grund für Karls einsame Entscheidung war wohl eher ein bisher unterdrückter Widerwille gegen das Kind, das nicht sein eigenes war und welches dennoch so viel Liebe und Aufmerksamkeit durch Elisa erfuhr, wie kein anderes Wesen. Nein, dass er eifersüchtig war, das hätte er niemals zugegeben. Dennoch war er jedes Mal versucht, die beiden auseinanderzureißen, sobald er sie in einer zärtlichen Umarmung antraf, denn allein diese Geste führte ihm stets vor Augen, dass er ein Außenstehender war, dem man keinen Zugang zu dieser innigen Gemeinschaft gewähren wollte. Dass Fabian nur aufgrund seiner Ruppigkeit vor ihm zurückschreckte, und sich nicht traute, seine Zuneigung offen zu zeigen, sah er nicht.

„Sag das noch einmal. Was hast du getan?“ Elisa hatte die Erklärung ihres Mannes verstanden, konnte jedoch nicht glauben, dass sie richtig gehört haben sollte. Die Hände so fest zusammenballend, dass ihre Fingernägel sich schmerzhaft in ihre Handflächen bohrten, sah sie ihn mit weit aufgerissenen Augen an und hoffte, er würde jeden Moment in Gelächter verfallen und das Ganze somit als Scherz enttarnen.

Aber diesen Gefallen tat Karl seiner Frau nicht. Stattdessen musterte er sie von Kopf bis Fuß, so als sähe er sie tatsächlich zum allerersten Mal, und verzog dabei sein Gesicht zu einer abweisenden Miene, womit er deutlich machen wollte, dass er ihre Reaktion für höchst unpassend hielt.

„Ich habe den Jungen in einem Internat angemeldet“, wiederholte er. „Ich habe mir einige angesehen und mich am Ende für ein Haus in der Nähe von Hannover entschieden.“ Sein Tonfall machte deutlich, dass er weder Kritik an seinem Verhalten dulden noch die Richtigkeit seiner Entscheidung in Zweifel gezogen sehen wollte. „Es wird Zeit, dass er seine Ausbildung beginnt. Außerdem hat er dort viele gleichaltrige Spielkameraden.“

Nicht wahr, dachte Elisa unterdessen. Das konnte einfach nicht wahr sein!

„Wieso Internat? Und warum so weit weg?“, fragte sie heiser. „Gleich um die Ecke ist eine hervorragende Grundschule. Und außerdem … Er ist ja erst vor drei Monaten fünf geworden und daher noch viel zu jung, um eingeschult zu werden!“

Das hatte man ihm auch im Internat gesagt, erinnerte sich Karl. Dennoch hatte er darauf bestanden, dass man Fabian aufnahm, und dafür dann eine nicht unerhebliche Extra-Summe zusichern müssen, weil ja eine besonders intensive Betreuung für den vermeintlich hochbegabten und daher frühzeitig einzuschulenden Jungen nötig werden würde. Und nun war alles geregelt und so weit festgelegt, dass es peinlich gewesen wäre, hätte er jetzt einen Rückzieher gemacht. Nein, dachte er trotzig, es gab kein Zurück. Elisa würde zwar eine Weile brauchen, um sich an die neue Situation zu gewöhnen. Aber am Ende würde sie sich damit abfinden und wieder die liebevolle und aufmerksame Ehefrau und Geliebte werden, die sie früher gewesen war, und die er sich zurückwünschte.

„Selbstverständlich hätte er hier zur Schule gehen können“, erwiderte er gereizt. „Aber dann würde nix Gescheites aus ihm werden, denn du würdest ihn weiterhin verhätscheln und verweichlichen, so wie du es bisher auch getan hast. Und genau das will ich verhindern.“ Sein herablassender Ton machte deutlich, wie gering seine Wertschätzung für die pädagogischen Fähigkeiten seiner Frau war. „Ich will einen gescheiten und verantwortungsvollen Nachfolger. Und genau das werden die im Internat aus ihm machen. Ob es dir nun passt oder nicht, ist mir gleich.“ Mit diesen Worten wandte er sich brüsk ab und ging zum Bar-Schrank, um sich einen großen Cognac zu genehmigen.

Elisa stand wie vom Donner gerührt und wusste, was auch immer sie jetzt sagte, es würde nichts nützen. Das Einzige, was sie vielleicht mit einem weiteren Widerspruch erreichen würde, wäre ein lautstarker Streit, den man im ganzen Haus hören konnte. Und Karl würde noch mehr trinken! In letzter Zeit bediente er sich nämlich immer öfter aus der hauseigenen Bar, um seinen Ärger hinunterzuspülen. Das wiederum machte ihn dann noch reizbarer und triebhafter, als er ohnehin schon war. Besser, sie hielt den Mund, stellte sie im Stillen für sich fest, während sie sich langsam herumdrehte, um anschließend den Raum zu verlassen. Es kostete sie zwar immer mehr Überwindung, das gehorsam kuschende Weibchen zu spielen, doch blieb ihr keine andere Wahl, wollte sie das Leben ihrer Familie nicht unnötig schwer machen.

Familie. Dieses Wort kreiste immerfort durch Elisas Kopf, während sie die Treppe zum Schlafzimmer hinaufstieg. Karl hatte sich bei der Ankunft des Kindes wie ein Schneekönig gefreut, erinnerte sie sich wehmütig. Die ersten Monate waren zwar ein wenig schwierig, weil das Baby ausschließlich von ihr versorgt wurde und dabei oft krank gewesen war. Doch die folgenden glücklichen Jahre hatten sie für all die Sorgen und Strapazen durchwachter Nächte entschädigt. Fabian war ein überaus liebenswertes und anschmiegsames Kind, das anfangs mit seinem Lachen und seiner Lebensfreude die düstere Atmosphäre des riesigen Hauses vertrieben hatte. Aber nach und nach war der Junge dann immer stiller und ernster geworden, was vermutlich an Karls despotischem Auftreten lag. Dennoch vermittelte er ihr nach wie vor noch das Gefühl, gebraucht und geliebt zu werden, was sie von ihrem Mann leider nicht behaupten konnte. Karl forderte zwar jede Nacht sein Recht, doch schien er mit dem Herzen längst nicht mehr dabei zu sein, was nicht ohne Folgen geblieben war. Sie ließ ihn machen, empfand selbst aber kaum noch Freude an der körperlichen Vereinigung.

Elisa hielt die Klinke der Schlafzimmertür bereits in der Hand, da wurde ihr mit einem Mal klar, dass es längst keine Familie mehr gab. Sie mimte zwar noch Karls Ehefrau, hatte sich aber emotional schon so weit von ihm entfernt, dass es ihr schwerfiel, nachzuvollziehen, wieso sie ihn überhaupt jemals begehrt hatte. Die einzige Erklärung, mutmaßte sie nun im Nachhinein, konnte vielleicht in ihrem jugendlichen Alter begründet gewesen sein. Als sie Karl kennengelernt hatte, war sie erst siebzehn Jahre alt gewesen und gerade im Begriff, eine Ausbildung zur Sekretärin zu beginnen. Er dagegen war bereits ein erfolgreicher Geschäftsmann, der Eindruck machen und sich gegen alle Widrigkeiten durchsetzen konnte. Er hatte es verstanden, ihr das Gefühl zu vermitteln, sie sei der einzige Grund, warum er überhaupt atmete, sodass sie sich in der Tat geliebt wähnte und ihm daraufhin alles schenkte, was sie zu geben imstande war. Aber mittlerweile kannte sie seinen wahren Charakter. Er legte sehr großen Wert darauf, dass man ihn für einen noblen Menschen hielt, dem man allzeit Hochachtung und Respekt entgegenzubringen hatte. Dabei war er in Wirklichkeit ein eiskalter und egoistischer Mann, den die Sorgen und Nöte anderer nicht im Mindesten interessierten.

Einer Eingebung folgend, ließ Elisa die Schlafzimmertür geschlossen und ging stattdessen zum Kinderzimmer, mit der Absicht, nachsehen zu wollen, ob mit Fabian alles in Ordnung war. Doch machte sie kaum die Tür auf, da wurde sie durch den Lichtschein überrascht, der das Zimmer taghell machte.

Davon ausgehend, dass der Junge etwas von der Auseinandersetzung mitbekommen hatte und nun völlig verunsichert und verschreckt in seinem Bett saß, ging sie hinein. Allerdings stand sie kaum drinnen, da wurde sie aufs Neue überrascht, weil er sich nicht wie erwartet unter seiner Decke verkroch, sondern auf dem Teppich hockte. Um ihn herum lagen in einem chaotisch anmutenden Durcheinander verschiedene Papierstücke und einzelne Metallteile.

Karls Geburtstagsgeschenk war eine Variante des Baukastens für Kleinkinder gewesen, erinnerte sich Elisa, während sie das Chaos überblickte, welches auf dem Boden herrschte. Aber herausgekommen war bisher nichts wirklich Befriedigendes, auch wenn Fabian sich täglich mit dem Ding auseinandersetzte. Und nun sah es so aus, als wollte er auch noch die Nacht zum Tage machen, um so mehr Zeit zu haben, damit er die Erwartung des Vaters endlich erfüllen konnte.

„Hallo, Schätzchen.“ Sie tippte ihm vorsichtig auf die Schulter, um ihn auf sich aufmerksam zu machen. Anschließend ließ sie sich vorsichtig neben ihm nieder. „Was machst du?“, wollte sie wissen. Weil er sie daraufhin bloß völlig verwirrt ansah, erkannte sie, dass er gerade aus sehr konzentrierten Überlegungen herausgerissen worden war, und wiederholte ihre Frage.

„Ich probiere was aus“, erklärte er mit einem zaghaften Lächeln, wandte sich jedoch sofort wieder den verstreuten Papieren zu. „Papa ist böse auf mich, weil ich mit den Sachen aus dem Baukasten nichts machen kann. Darum versuche ich es zu lernen. Es ist nur … Ich kann diese Blätter nicht verstehen!“ Die Baupläne zusammenraffend, hielt er sie gleich darauf mit einer hilflosen Geste der Mutter entgegen.

Elisa konnte ebenso wenig nachvollziehen, wie die Pläne zu deuten waren, wie das Kind, hatte jedoch den Vorteil, dass sie lesen konnte. Und so folgte sie wiederum einer Eingebung, indem sie die Blätter entgegennahm, um sie nach Seitenzahlen zu ordnen. Dabei kam sie einem anderen Umstand auf die Spur, der sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel traf: Das nötige Vorgehen war Schritt für Schritt bildlich erklärt. Allerdings waren die Pläne mittlerweile so durcheinander, dass es für Fabian unmöglich war, der notwendigen Reihenfolge der Arbeitsschritte zu folgen. Es wäre eigentlich Karls Aufgabe gewesen, sich mit dem Kleinen hinzusetzen und ihm alles zu zeigen, dachte sie ärgerlich. Aber jetzt war es sowieso egal. Würde halt sie dem Jungen Starthilfe leisten.

„Pass mal auf, mein Schatz“, sagte sie im begütigenden Tonfall. „Hier“, sie deutete auf die erste Abbildung des Bauplanes. „Siehst du? Hier steht eine Eins. Das muss der erste Schritt sein. Wenn du diese Teile zusammengefügt hast, kommt das nächste Bild dran.“ Mit dem Zeigefinger zur nachfolgenden Abbildung wandernd, registrierte sie gleichzeitig das neu erwachte Interesse in den kindlichen Augen und lächelte. „Hier, siehst du? Hier steht die Zwei. Dort ist die Drei.“

Fabian folgte mit den Augen den Fingern seiner Mutter und schluckte sichtlich.

„Das … Ich …“, stammelte er am Ende völlig überwältigt. „Das habe ich nicht gewusst. Mama, es ist ja ganz einfach! Warum habe ich das nicht gleich gemerkt?“, rief er aus. Gleich darauf zog er den Karton mit den restlichen Bauteilen zu sich heran und fügte innerhalb weniger Minuten eine kleine mechanische Figur zusammen. Diese hielt er dann wie eine Siegestrophäe hoch. „Schau mal, Mama, so ist es endlich richtig! Das muss ich Papa zeigen!“

Er wollte aufstehen, um zum Vater zu laufen. Aber Elisa hielt ihn sogleich am Ärmel seines Schlafanzuges zurück.

„Bleib’ hier, Schatz. Papa geht es nicht gut.“ Sie fühlte ihre Wangen brennen, denn die Lüge, die sie gerade gebraucht hatte, war ihr überaus peinlich. Dennoch nahm sie sie nicht zurück, sondern beschloss, dass sie gleich mit dem Jungen reden wollte, bevor Karl dies auf seine gefühllose Art tat. Eine grauenhafte Aufgabe, gewiss. Trotzdem musste sie es tun, damit man Fabian nicht womöglich direkt an den Kopf warf, dass er in diesem Hause nicht länger erwünscht war. „Ich muss dir etwas Wichtiges sagen.“ Ihre Stimme zitterte leicht. „Papa hat dich in einer besonders guten Schule angemeldet. Diese Schule ist aber ziemlich weit weg von hier, deshalb musst du auch dort wohnen.“

Es dauerte einen Moment, bis Fabian den Sinn der mütterlichen Worte erfasste. Doch dann wurden seine Augen dunkel vor Schreck.

„Aber ... Aber …“ Er schluckte krampfhaft. „Aber ich kann doch die Teile jetzt richtig zusammenbauen.“ Die ersten Tränen kullerten bereits an seinen Wangen hinunter. „Papa braucht mich nicht mehr auf diese Schule schicken“, presste er hervor. „Jetzt kann ich doch die Baupläne richtig verstehen. Er muss mich nicht wegschicken.“ Bevor man ihn erneut aufhalten konnte, rappelte er sich auf und rannte dann zur Tür. „Ich gehe jetzt zu ihm und zeige ihm, dass ich es kann. Ich will nicht weg“, weinte er. „Ich will hierbleiben.“

Elisa konnte gar nicht so schnell folgen, wie er zum Zimmer hinaus und dann die Treppe hinunter hetzte. Endlich im Wohnzimmer angekommen, fand sie den Jungen am Hals ihres Mannes hängend, der in seinem Lieblings-Sessel eingedöst war, und meinte, ihr Herz würde jeden Moment in tausend Stücke zerspringen, als sie dessen verzweifeltes Flehen hörte: „Bitte Papa, ich werde nur noch mit dem Baukasten spielen! Ich kann es jetzt richtig machen, weißt du! Bitte, schick mich nicht weg!“

Karl war durch die unverhoffte Umarmung überrumpelt worden und ließ das Kind zunächst gewähren. Allerdings brauchte er nicht lange, um gereizt aufzufahren, denn das Betteln des Jungen rührte an seinem Gewissen, was ihm ein unangenehmes und höchst unwillkommenes Gefühl von Schuld verursachte. Fabian grob von sich stoßend, stand er gleichzeitig auf und sah den weinenden Jungen dann von oben herab mit angewiderter Miene an.

„Was soll das Theater?“, grollte er angriffslustig. „Hat dir deine Mutter nicht gesagt, dass es eine endgültige Entscheidung ist? Nein? So ist es aber!“ Ungeachtet der Verzweiflung, die ihm aus dem kindlichen Gesicht entgegensprang, fasste er den Fünfjährigen am Arm, um ihn dann ungeduldig zu schütteln. „Hör gefälligst auf zu heulen“, verlangte er barsch. „Dein Geplärr hilft dir auch nicht. Du gehst ins Internat, und das ist mein letztes Wort!“

„Hör auf“, verlangte Elisa, indem sie den Jungen aus dem Griff ihres Mannes befreite, um ihn anschließend hinter sich zu schieben, damit er außer Reichweite des Angetrunkenen sei. „Du bist ja nicht mehr bei Sinnen!“

Für einen Augenblick sah es so aus, als würde Karl nun auf seine Frau losgehen, um sie für ihre Aufmüpfigkeit zu strafen. Am Ende zuckte er aber bloß die Schultern, was mehr als deutlich machte, wie gleichgültig es ihm war, was sie über ihn dachte. Gleich darauf wandte er sich ab und tappte zur Hausbar, um sich einen neuen Drink zu holen.

Elisa nahm unterdessen den völlig verstörten Jungen bei der Hand und brachte ihn zu seinem Zimmer hinauf. In dieser Nacht blieb sie bei ihrem Sohn und damit zum ersten Mal seit ihrer Hochzeit dem Ehebett fern. Nein, sie wollte nicht nur das Kind trösten, gestand sie sich ein, als Fabian endlich schlief. Ihr Wegbleiben diente auch ihrem eigenen Wohlbefinden, denn sie hätte es nicht ertragen, die Hände ihres betrunkenen Mannes auf ihrem Körper zu spüren oder seinen nach Alkohol stinkenden Atem zu riechen, ohne Brechreiz zu bekommen.

Dem regelmäßigen Atem des Jungen lauschend, grübelte sie in der Dunkelheit lange darüber nach, wie sie sich in Zukunft verhalten sollte. Sie könnte die Scheidung verlangen, überlegte sie. Allerdings würde sie damit das Risiko eingehen, dass man ihr das Kind unwiderruflich wegnahm. Karl würde weder ihren Wunsch nach Freiheit noch ihren Anspruch auf Unterhalt einfach so akzeptieren, denn sie konnte in der Tat keinen besseren Beweggrund angeben, warum sie plötzlich nicht mehr mit ihm zusammenleben konnte als die Erkenntnis, dass sie ihn nicht mehr mochte. Nein, er würde nicht versuchen, sie gewaltsam an seiner Seite zu halten. Allein seine Selbstherrlichkeit würde ihm das nicht gestatten! Aber es war ihm zuzutrauen, dass er das alleinige Sorgerecht für den Jungen erstritt, nur um sie von Fabian fernzuhalten und sie damit zu strafen. Und das durfte sie nicht zulassen, entschied sie. Was auch immer man ihr abverlangte, sie musste mitspielen, wollte sie ihrem Sohn eine einigermaßen glückliche Kindheit sichern!

Der Morgen graute bereits, als Elisa endlich zu einem Entschluss kam: Auch wenn es für Fabian grausam erscheinen mochte, war es vermutlich besser für ihn, wenn er nicht mehr Karls Launen und dem Psychoterror ausgeliefert war, der damit einherging. Vielleicht … Es war anzunehmen, dass ihr Mann ein exklusives Internat gewählt hatte, welches über gut ausgebildete Pädagogen verfügte, sodass der Junge in gute Hände kam. Und sie selbst … Sie würde Karl nicht verlassen. Zumindest nicht sofort. Aber sie würde ihn strafen, indem sie ihm fortan mit offen gezeigter Gleichgültigkeit begegnete. Und sie würde dafür sorgen, dass sich Fabian ihrer Liebe stets sicher sein konnte und nie das Gefühl haben musste, sie billige das Verhalten des Vaters.

3

Elisa schloss den Koffer und schaute dann voller Mitleid zu dem Jungen hinüber, der zusammengekauert auf seinem Bett hockte. Er hatte seit dem Abend, an dem sie ihm von dem Internat erzählt hatte, kein Wort mehr gesprochen, erinnerte sie sich bedrückt. Er blickte sie immer nur mit seinen todtraurigen Augen an, sagte aber nichts. Das ehedem rundliche Gesicht, welches noch vor ein paar Tagen von einem Wust brauner Locken umrahmt gewesen war, wirkte jetzt durch den ordentlichen Kurzhaarschnitt spitz und völlig versteinert. Und seine leicht vorgebeugte Körperhaltung erinnerte an einen alten Mann, der sowohl seine gesamte Kraft als auch all seine Lebensfreude verloren hatte. Wenn man ihn so ansah, dachte sie mit schuldbewusster Hilflosigkeit, wollte es einem scheinen, als trüge er eine schier unerträgliche Last mit sich herum und hätte zudem jede Hoffnung auf Beistand aufgegeben.

„Du musst keine Angst haben“, versicherte sie leise, indem sie sich zu ihm setzte, um seine Stirn zu küssen. „Es sind viele andere Kinder dort, weißt du. Mit denen kannst du dann nach Herzenslust spielen und lustige Streiche aushecken. Das wird dir sicher gefallen.“ Mit dem Zeigefinger hob sie sein Kinn an, um ihm in die Augen schauen zu können, und küsste ihn dann erneut auf Stirn und Wangen. „In den Schulferien hole ich dich wieder nach Hause“, versprach sie dabei. „Du wirst sehen, es ist gar nicht lange bis dahin. Und dann machen wir uns eine schöne Zeit. Du kannst dir ja schon mal überlegen, was du dann gerne unternehmen würdest. Ja? Und sobald du das weißt, rufst du mich an. Überhaupt: Wenn du es nicht mehr aushältst, rufst du mich an. Egal, wann und ganz egal wie spät es ist. Ich hole dich dann sofort ab. Versprochen!“ Sie hatte sich fest vorgenommen, nicht zu weinen. Allerdings fühlte sie in diesem Augenblick ihre Augen brennen, was ein sicherer Hinweis darauf war, dass sie verräterisch glänzten, und verwünschte im Stillen ihre Schwäche. Als Fabian sie dann auch noch umarmte, um sich für einen kurzen Moment mit aller Kraft an sie zu drücken, verlor sie fast die Beherrschung. Allein die massige Statur ihres Mannes, die unvermittelt im Türrahmen aufgetaucht war, löste eine Zornwelle in ihr aus, die jegliche Schwäche fortspülte. Es würde der Tag kommen, grollte sie insgeheim, an dem er bereuen würde, die Liebe, die man ihm entgegengebracht hatte, durch Gemeinheit vergolten zu haben!

Karls finsterem Blick ausweichend, schob sich die kleine Frau vom Bettrand. Danach half sie dem Jungen in die leichte Jacke und langte am Ende nach dem eigenen Blazer.

„Wir sind so weit“, verkündete sie, indem sie ihren Mann zum ersten Mal seit vielen Tagen voll ansah, und dabei so viel Kälte in ihren Blick legte, dass dieser sichtlich zusammenfuhr. Die offizielle Aufnahmefeier für die sogenannten Neulinge war am Vortag gewesen, erinnerte sie sich böse. Doch das hatte Karl ihr verschwiegen, sodass sie erst am vergangenen Nachmittag durch die besorgte Nachfrage des Internatsleiters darüber informiert worden war. Ob Karl den Termin verwechselt oder einfach nur vergessen hatte, vermochte sie nicht einzuschätzen, traute ihm aber mittlerweile zu, dass er die Zeremonie bewusst versäumt hatte, weil er den vermeintlich sinnlosen Zeitaufwand gescheut hatte. Also war dem Jungen nicht nur das Erlebnis eines besonderen Tages, sondern auch die Freude an einer prall gefüllten Zuckertüte entgangen! Dass er die Geschenke trotzdem erhalten würde, war keineswegs tröstlich, denn die würden ihm zum Abschied ausgehändigt werden, damit er durch das Auspacken ein wenig abgelenkt sei, während seine Eltern ihn in einem fremden Haus inmitten fremder Menschen zurückließen.

Die Fahrt zum Internat verlief still und ereignislos. Als schließlich die Umrisse des ehemaligen Landgrafen-Sitzes in Sichtweite kamen, machte Karl eine kurze Bemerkung zu den jetzigen Besitzern, erntete dafür aber bloß einen gleichgültigen Blick von seiner Frau. Fabian indes saß immer noch mit gesenktem Kopf im Fond und schien keinerlei Interesse an seiner Umgebung zu haben. Selbst als sie vom Schulleiter empfangen und in dessen Büro gebeten wurden, wo die organisatorischen Dinge des Internat-Alltags, sowie die Hausordnung besprochen werden sollten, blieb der Junge zurückhaltend und stumm. Allein das Mobiliar weckte nach einiger Zeit seine Aufmerksamkeit, sodass er bald nur noch Augen für die Antiquitäten hatte, mit welchen der Raum ausgestattet war. Das waren schöne, gemütliche Sachen, dachte er für sich. Fast wie zu Hause. Und die Schnitzereien waren auch toll. Aber die Bilder in den Rahmen waren scheußlich, denn sie zeigten bloß lauter komisch angezogene Leute, die bestimmt nie Spaß an etwas gehabt hatten, so finster wie sie guckten.

Während seine Eltern mit dem Schuldirektor redeten, schaute Fabian ohne wirkliches Interesse aus einem der großen Fenster. Als er schließlich einen Mann in Arbeitskleidung bemerkte, der sich mit einem merkwürdig aussehenden Werkzeug an einer dicht wachsenden Hecke zu schaffen machte und dabei von einem kleinen struppigen Hundewelpen umsprungen wurde, richtete er sich ein wenig auf, um besser hinaussehen zu können. Für einen kurzen Augenblick vergaß er fast, wo er sich befand, und beobachtete aufmerksam das übermütig spielende Tier. Doch nur einen Atemzug später sank er wieder in sich zusammen, denn die laute Stimme seines Vaters verkündete nun, dass ja wohl alle Fragen geklärt seien und er sich nun verabschieden wollte.

Karl stürmte nicht sofort aus dem Büro des Schulleiters zu seinem Auto. Er nahm sich aber auch nicht mehr Zeit, als notwendig war, um Fabians Koffer in dessen künftiges Zimmer zu bringen und einen kurzen Rundblick durch den gemütlich wirkenden Raum zu schicken. Gleich darauf nickte er in die Richtung des Jungen, schüttelte dann die Hand des Erziehers, der ab sofort für das Kind zuständig sein würde, und war auch schon aus der Tür hinaus, bevor überhaupt jemand etwas sagen konnte.

Elisa war die Situation so peinlich, dass sie sich am liebsten im nächsten Mauseloch verkrochen hätte. Da dies jedoch nicht möglich war, beschränkte sie sich darauf, das mitgebrachte Geschenk an ihren Sohn zu übergeben, damit er es endlich aufmachen konnte. Danach umarmte sie Fabian ein letztes Mal voller Zärtlichkeit, und folgte dann ihrem Mann, der bereits mit laufendem Automotor auf sie wartete.

*

Während der ersten Tage im Internat war Fabian so krank vor Heimweh, dass er weder etwas essen noch mitgehen wollte, um die anderen Kinder kennenzulernen. Das gute Zureden seines Betreuers blieb daher genauso ohne Erfolg, wie die Bemühungen des Internatsleiters, der es mit gut gemeinter Strenge versuchte. Selbst die Aussicht darauf, dass er jederzeit mit dem kleinen Hund des Hausmeister-Ehepaares spielen konnte, wenn er das wollte, vermochte ihn nicht aus seinem Zimmer zu locken. Er vermisste seine Mutter so sehr, dass es ihn körperlich schmerzte. Gleichzeitig wurde jeder Gedanke an sie immer öfter von einem Gefühl tiefer Enttäuschung begleitet, denn die Frage, warum sie das alles zugelassen hatte, ließ sich nicht länger verdrängen. Auch sein Vater fehlte ihm. Allerdings konnte er seine Gefühle für den großen Mann nicht mehr so eindeutig definieren, wie er es nur drei Wochen zuvor getan hatte. Schmerzliche Sehnsucht nach dem poltrigen, meist übel gelaunten Riesen wechselte sich ab mit trotziger Wut, die meist dann in ihm aufwallte, wenn er zu ergründen suchte, was man eigentlich von ihm erwartete. Am Ende glaubte er, begriffen zu haben, dass er nur durch besonders gutes Benehmen das Wohlwollen seines Vaters wiedererlangen und so erreichen konnte, dass man ihn wieder nach Hause holte. Also tat er fortan alles, was man von ihm verlangte, ohne auch nur einmal zu murren.

Elisa rief täglich an, um sich nach dem Befinden ihres Sohnes zu erkundigen. Da ihr die Antworten des Betreuers aber nicht wirklich glaubhaft schienen, setzte sie sich an einem Freitagmorgen kurzerhand ins Auto und fuhr zum Internat, um sich selbst ein Bild zu machen.

Die kleine Frau hätte blind sein müssen, um die seelische Not ihres Sohnes nicht zu sehen. Also nahm sie sich kurzerhand ein Zimmer in einer Pension unweit des Internats, und rief anschließend ihren Mann an, um ihn zu informieren, dass sie ein paar Tage lang nicht nach Hause kommen würde. Wo genau sie steckte, sagte sie ihm nicht, auch wenn ihr bewusst war, dass er sich das denken konnte. Sie war nicht seine Sklavin, redete sie sich selbst gut zu. Auch, wenn er dies vielleicht glaubte. Sie war nicht sein Eigentum, sondern ein mündiger Mensch, der für sich selbst entscheiden konnte!

Fabian indes nahm die Anwesenheit seiner Mutter mit sehr gemischten Gefühlen auf, denn sie sprach weder bei ihrer Ankunft noch während der folgenden beiden Tage den ersehnten Satz aus. Selbstverständlich freute er sich darüber, dass sie da war und ihre Zeit ausschließlich mit ihm verbrachte. Auf der anderen Seite wollte er, dass sie gleich wieder nach Hause fuhr, damit er den grausamen Moment der Trennung schnellstmöglich hinter sich bringen konnte.

„Du musst dir gar keine Sorgen machen“, versicherte er bei der letzten gemeinsamen Mahlzeit am Sonntagabend bewusst munter. „Mir geht’s hier ganz gut. Ich habe Freunde, weißt du. Und ich kann mit Tobi spielen. Ist alles gar nicht so schlimm wie ich am Anfang dachte.“

Elisa spürte, dass man ihr nicht die ganze Wahrheit sagte, nahm die Aussage des Jungen aber trotzdem mit einiger Erleichterung auf. Nichtsdestotrotz plante sie schon ihren nächsten Besuch und freute sich darauf.

*

Regeln zu befolgen fiel Fabian genauso leicht, wie das Lernen im Unterricht, was seinen Lehrern außerordentlich gut gefiel. Bei seinen Mitschülern und den Erziehern wurde sein angepasstes und höchst zurückhaltendes Verhalten jedoch nur zu Beginn des ersten Schuljahres als eine normale Reaktion geduldet. Doch nach und nach wurde er gezwungen, sich der Erkenntnis zu stellen, dass er es nicht jedem recht machen konnte. Gehorchte er den Forderungen seiner meist älteren Mitschüler, die ihn zu allerlei Streichen anstifteten, wurde er von der Lehrerschaft mit empfindlichen Strafen belegt. Folgte er den Anweisungen der Pädagogen, wurde er von seinen Altersgenossen als Streber angesehen und im besten Fall nur gemieden. Also ging er schließlich dazu über, den Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, indem er zum Einzelgänger wurde, der ausschließlich seine Bücher im Kopf hatte. Lieber wollte er von seinen Mitschülern gehänselt werden, als sich Ärger mit den Lehrern einzuhandeln. Obwohl er noch sehr jung war, hatte er bereits begriffen, dass sie letztlich die Macht besaßen, ihn wieder nach Hause zurückkehren zu lassen. Wenn er nämlich gute Noten und nur positive Beurteilungen bekam, glaubte er, würde sein Vater sicher mit sich reden und ihn zurückkommen lassen.

*

Die ersten Ferien im Haus seiner Eltern begannen für Fabian in hoffnungsvoller Erwartung. Doch schon beim ersten Zusammentreffen mit Karl wurde ihm klargemacht, dass er sich keinerlei Illusionen bezüglich einer Meinungsänderung vonseiten des Vaters machen durfte.

„Hoffe nur, die reguläre Schulzeit reicht trotz der vielen Pausen aus, um euch alles beizubringen, was ihr fürs Leben braucht“, quetschte Karl statt einer Begrüßung hervor. „Zwei Wochen“, er schüttelte missbilligend den Kopf, „man soll’s nicht glauben.“ Das Gesicht zu einer verächtlichen Miene verzogen, musterte er den Jungen einmal kurz von Kopf bis Fuß. „Dir schmeckt es wohl nicht im Internat, nein? Na, deine Mutter wird bestimmt dafür sorgen, dass du ein paar Pfund zunimmst, bevor sie dich wieder zurückbringt. Sie tut einfach alles für ihren kleinen Schatz. Gibt ja sonst nix wichtigeres für sie.“ Damit ließ er sowohl Fabian als auch seine Frau einfach stehen.

Elisa gab sich alle Mühe, das hässliche Verhalten ihres Mannes vergessen zu machen und ihren unglücklichen Sohn aufzumuntern, indem sie Ausflüge mit ihm unternahm oder einfach nur für ihn da war. Aber es wollte ihr einfach nicht gelingen, ein Lächeln auf das schmale Jungengesicht zu bringen.

Karls allgegenwärtige Präsenz schüchterte Fabian tatsächlich so sehr ein, dass er wie ein geprügelter Hund durchs Haus schlich, sobald er den Vater in der Nähe wusste. Allerdings war es nicht nur der Anblick des großen, stets finster dreinblickenden Mannes, der ihn auf Distanz hielt. Der Junge war sich plötzlich ganz sicher, dass er von seinem Vater niemals wirklich akzeptiert, geschweige denn geliebt werden würde. Nichtsdestotrotz hatte er ihn gerne und wollte nichts anderes als ihn zufriedenzustellen.

*

Fabian selbst merkte es nicht, aber in seinem Inneren vollzog sich allmählich eine grundlegende Wandlung. Menschliche Zuneigung hing offenbar davon ab, ob er gehorsam war oder nicht. Und selbst wenn er alles tat, was man von ihm verlangte, war dies keineswegs eine Garantie dafür, dass er von Enttäuschungen verschont wurde. Also schien es ihm besser, wenn er niemanden mehr so nahe an sich heranließ, dass man ihm wehtun konnte.

Die erste Person, die diese Veränderung zu spüren bekam, war Elisa. Sie wurde zwar bei ihrem nächsten Besuch voller Freude begrüßt, bemerkte aber sofort, dass Fabians Umarmung längst nicht so fest und liebevoll war, wie sonst. Selbst schuld, gestand sie sich ein. Hätte sie mehr Courage bewiesen und sich offen gegen Karl aufgelehnt, ihr Sohn besäße nun ein anderes Bild von ihr.

4

Fünf Jahre lang ertrug Fabian die Demütigungen und körperliche Misshandlungen, die ihm vonseiten seiner Mitschüler zugemutet wurden, ohne sich dagegen aufzulehnen. Manchmal schwamm er stundenlang im hauseigenen Schwimmbad eine Bahn nach der anderen, nur um den anderen aus dem Weg zu gehen. An anderen Tagen holte er sich Tobi, den kleinen Terrier des Hausmeisters, und streifte mit diesem durch die umliegenden Wälder, nur um die Zeit totzuschlagen, bis er sich ins Bett legen und so seine Ruhe haben konnte. Dann, eines Nachmittags, wurde es ihm zu viel, sodass er sich gegen seine Peiniger auflehnte. Daraufhin entbrannte eine brutale Schlägerei, in deren Verlauf er all seine Wut an seinen Gegnern abreagierte. Am Ende lagen zwei jeweils um ein Jahr ältere Jungen halb besinnungslos am Boden, während er selbst zum Schuldirektor ging, um sich zu stellen.

Da er die Schuld freiwillig auf sich genommen hatte, akzeptierte Fabian die Strafe, die daraufhin über ihn verhängt wurde, ohne sichtbare Regung. Doch brachte diese Episode auch etwas Positives mit sich, denn fortan wurde er nicht mehr so oft körperlich angegriffen. Hätte er gewusst, dass man ihm jetzt aufgrund seines aggressiven Ausbruchs mit widerwilligem Respekt begegnete, er hätte sich wohl sehr gewundert. Auch die Tatsache, dass man insgeheim seinen Mut bewunderte, weil er sich gegen eine vermeintlich unbezwingbare Übermacht durchsetzen konnte, wäre seinerseits auf große Skepsis gestoßen. Aber, selbst wenn ihm das bewusst gewesen wäre, hätte sich nichts an seinem Verhalten geändert. Für ihn zählte nach wie vor nur die Anerkennung der Lehrer. Und seine Bücher waren ihm wichtig. Er besaß mittlerweile eine große Auswahl verschiedenartigster Werke. Allein Tobi akzeptierte er als Freund und liebte ihn aufrichtig, denn bei dem kleinen Terrier war er sich hundertprozentig sicher, dass dessen Zuneigung ehrlich gemeint und an keine Bedingungen geknüpft war.

Es gab jedoch noch eine andere Veränderung. Allerdings nahm Fabian sie kaum wahr, da sie sich nicht auf seine reale Umwelt, sondern nur auf sein Gemüt auswirkte. Er träumte wiederholt von einem überirdisch schönen Geschöpf mit grünen Augen, welches ihm die Hände entgegenstreckte, um ihn dann in eine liebevolle Umarmung zu ziehen. Beim Erwachen war die Erinnerung an das Traumwesen zwar nicht mehr da, doch das seltsam beruhigende Gefühl, nicht mehr ganz so allein zu sein, begleitete ihn durch den Tag. Es kam ihm plötzlich so vor, als würde die Sonne ein wenig heller scheinen, und die Einsamkeit seiner Tage sei ein bisschen erträglicher. Selbst der Gedanke an die kommenden Ferien, und das zwangsläufig damit einhergehende Zusammentreffen mit dem Vater, war ihm nicht mehr so unangenehm wie sonst.

*

„Überraschung!“ Elisas Wangen glühten vor Vorfreude, während sie ein großes Paket auf das Bett ihres Sohnes legte, um gleich im Anschluss den schlaftrunkenen Jungen zu umarmen. „Alles Liebe zu deinem Geburtstag!“ Sie hatte es einfach nicht abwarten können, rechtfertigte sie sich. Außerdem wollte sie sichergehen, dass er nicht verschlief, weil sie mit ihm wegfahren und einen schönen Tag erleben wollte.

Fabian wurde an diesem Tag vierzehn Jahre alt, hatte mit seinen Altersgenossen jedoch nicht sehr viel gemein, denn er wirkte weit älter und reifer als sie, was nicht zuletzt an seiner ernsten und meist verschlossen wirkenden Miene lag. Er war jetzt um eine ganze Kopflänge größer als seine Mutter, und besaß die schlanke Statur eines Sportlers, was er den vielen Stunden im Schwimmbad verdankte, die er während der Schulzeit regelmäßig absolvierte.

„Los, du Schlafmütze, mach dein Geschenk auf.“ Das Paket auf den Schoß des mittlerweile sitzenden Jungen schiebend, lachte Elisa ihn an.

„Was ist es denn?“, wollte er wissen, während er das Geschenkpapier entfernte.

„Das wirst du schon selbst herausfinden müssen“, beschied sie ihm fröhlich.

Unterdessen hatte Fabian einen einfach wirkenden Karton ausgepackt und öffnete den Deckel, um dann einige Sekunden lang sprachlos auf den Inhalt zu starren. Er hatte vor einigen Wochen die Biografie eines bekannten Holzschnitzers gelesen, erinnerte er sich, und Bilder von dessen Werken gesehen. Seither wünschte er nichts mehr, als mit seinen eigenen Händen ähnliche Schätze herstellen zu können. Und nun schenkte ihm seine Mutter eine schwere Lederschürze samt umfangreichem Schnitzwerkzeug, so als hätte sie genau gewusst, dass er diese Dinge ganz dringend brauchte, damit er endlich mit der Arbeit beginnen konnte.

„Woher weißt du immer so genau, was ich mir am meisten wünsche?“, fragte er, indem er gleichzeitig nach Elisa langte, um sie an sich zu ziehen.

„Schon vergessen?“, tat sie empört. „Ich kenne dich seit vierzehn Jahren! Da muss ich doch erraten können, was dir Freude machen würde.“ Sein Haar noch ein wenig mehr zerzausend, stand sie auf. Ja, dachte sie für sich, irgendwie schien sie ein besonderes Gespür für die Dinge zu haben, die ihn bewegten. Seit seiner Kleinkinder-Zeit war es ihr stets gelungen, seine Gemütsverfassung richtig einzuschätzen und auch immer das richtige Geschenk zu finden, sodass es noch nie ein enttäuschtes Gesicht am Gabentisch gegeben hatte. Allerdings stand es nicht in ihrer Macht, sein innigstes Verlangen zu befriedigen, denn das konnte nur Karl. Es blieb ihr also nur übrig, ihm seinen zweitgrößten Wunsch zu erfüllen. Nämlich die Möglichkeit, totem Holz zu neuem Leben zu verhelfen.

„Ich konnte nicht länger mit ansehen, wie du mit deinem alten Taschenmesser an allen möglichen Ästen herum säbelst“, erklärte sie, indem sie das Paket nahm, um es auf seinen Schreibtisch zu legen, damit es aus dem Weg sei. „Also habe ich dir eine vernünftige Ausrüstung besorgt.“ Seine Decke vollends wegziehend, scheuchte sie ihn mit der anderen Hand aus dem Bett. „Und jetzt los, ab ins Bad. Frühstück wartet.“

Mutter und Sohn verbrachten einen amüsanten Tag in einem Freizeitpark und kehrten dann pünktlich nach Hause zurück, mit der Absicht, gemeinsam mit Karl zu Abend essen zu wollen.

Doch Karl dachte gar nicht daran, sich an den gedeckten Tisch zu setzen. Die Haustür hinter sich zuwerfend, stapfte er direkt weiter in den Wohnraum, um sich erst einmal einen großen Drink zu gönnen.

Elisa verzichtete darauf, ihrem Mann hinterherzulaufen und ihn zu holen. Trotz ihrer Verärgerung gab sie sich weiterhin fröhlich. Sie schaffte es sogar, ein paar Happen zu essen, und drängte den merklich betroffenen Jungen schließlich zum Aufbruch, weil sie ihn ins Kino einladen und dadurch für ein paar weitere Stunden aus der feindlichen Atmosphäre seines Elternhauses retten wollte.

Bei ihrer Rückkehr war Fabian so müde, dass er sich sogleich für die Nacht verabschiedete, um dann direkt die Treppe hinaufzugehen. Elisa indes bemerkte, dass im Wohnraum immer noch Licht brannte, und ging hin, um nach dem Rechten zu sehen.

Wie erwartet saß Karl in seinem Lieblings-Sessel, in einer Hand ein Glas haltend, während seine andere die fast leere Schnapsflasche umklammert hielt.