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Reza Aslan

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Beschreibung

Wie die Menschen Gott entdeckten

In Gott suchten die Menschen schon immer, was sie an sich selbst vermissten: Mitgefühl, Gerechtigkeit und Liebe. Aber in ihm begegnete ihnen auch, was sie an sich selbst fürchteten: Gewalt, Gier und Unberechenbarkeit. Doch wie entstand unser Bild von Gott? Reza Aslan erzählt ebenso spannend wie unterhaltsam die Religionsgeschichte der Menschheit, und er macht deutlich: Gott ist unsere Idee. Und wir haben es in der Hand, ob daraus noch eine gute wird.

Mit zahlreichen Abbildungen

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Seitenzahl: 422

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Reza Aslan

Gott

Eine Geschichteder Menschen

Aus dem Englischen übersetztvon Thomas Görden

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

Titel der Originalausgabe:

Reza Aslan: God. A Human History

Copyright © 2017 by Aslan Media, Inc. All rights reserved

This translation is published by arrangement with Random House,

a division of Penguin Random House LLC

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2018

Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, in der Verlagsgruppe

Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildung: © Snapwire/Nikki McDaniel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

ISBN 978-3-641-23323-5 V003

www.gtvh.de

MEINEN SÖHNEN

Cyrus, Jaspar und Asa, die zu ihren eigenen spirituellen Reisen aufbrechen

Inhalt

Einführung: Nach unserem Ebenbild

1. TEIL: Die verkörperte Seele

1. Kapitel: Adam und Eva im Garten Eden

2. Kapitel: Der Herr der Tiere

3. Kapitel: Das Gesicht im Baum

2. TEIL: Der vermenschlichte Gott

4. Kapitel: Speere zu Pflugscharen

5. Kapitel: Erhabene Personen

6. Kapitel: Der höchste Gott

3. TEIL: Was ist Gott?

7. Kapitel: Gott ist Eins

8. Kapitel: Gott ist Drei

9. Kapitel: Gott ist Alles

Fazit: Das Eine

Danksagung

Anhang

Literatur

Hinweise zur Übersetzung

Anmerkungen

EINFÜHRUNG

Nach unserem Ebenbild

In meiner Kindheit stellte ich mir Gott als einen großen, mächtigen alten Mann vor, der im Himmel wohnt – eine stärkere, mächtigere Version meines Vaters, ausgestattet mit Zauberkräften. Ich malte mir aus, dass Gott gut und imposant aussah, mit langen grauen Haaren, die ihm wallend auf die breiten Schultern fielen. Er saß auf einem von Wolken umgebenen Thron. Wenn er sprach, durchdrang seine gewaltige Stimme den Himmel, vor allem wenn er wütend war. Und er war oft wütend. Aber Gott war auch warmherzig und liebevoll, voller Gnade und gütig. Er lachte, wenn er glücklich war, und weinte, wenn er traurig war.

Ich weiß nicht, woher ich dieses Bild von Gott hatte. Vielleicht hatte ich es irgendwo als buntes Kirchenfenster oder abgedruckt in einem Buch gesehen. Es ist aber auch möglich, dass ich damit geboren wurde. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass es kleinen Kindern schwerfällt, zwischen dem Verhalten und den Taten von Menschen und dem Verhalten und den Taten, die Gott zugeschrieben werden, zu unterscheiden, und zwar unabhängig davon, woher die Kinder stammen oder wie religiös sie sind. Wenn man Kinder bittet, ihre Vorstellung von Gott darzulegen, beschreiben sie stets ein menschliches Wesen mit übermenschlichen Fähigkeiten.1

Als ich älter wurde, ließ ich die meisten meiner kindlichen Ansichten hinter mir. Doch das Gottesbild blieb. Ich wuchs nicht in einer besonders religiösen Familie auf, aber immer schon faszinierten mich Religion und Spiritualität. Mir schwirrten allerlei unausgegorene Theorien darüber im Kopf herum, was Gott war und wie er aussah (und er ähnelte eigenartigerweise noch immer meinem Vater). Ich wollte aber nicht einfach nur etwas über Gott wissen; ich wollte Gott erfahren, seine Gegenwart in meinem Leben spüren. Doch immer, wenn ich das versuchte, erfasste mich unwillkürlich ein Bewusstsein von der tiefen Kluft, die sich zwischen uns auftat: Gott befand sich auf der einen und ich befand mich auf der anderen Seite, und keiner von uns war in der Lage, diesen Abgrund zu überwinden.

Als Jugendlicher konvertierte ich vom Islam, den meine aus dem Iran stammenden Eltern eher lauwarm praktizierten, zum enthusiastischen Christentum meiner amerikanischen Freunde. Sogleich fand die Neigung aus meiner Kindheit, mir Gott als mächtiges menschliches Wesen vorzustellen, in der Verehrung Jesu Christi als »Fleisch gewordener Gott« ein konkretes Objekt. Anfangs fühlte sich das an, als würde ich mich endlich an einer Stelle kratzen, an der es mich schon mein ganzes Leben lang gejuckt hatte. Jahrelang hatte ich nach einem Weg gesucht, die Kluft zwischen mir und Gott zu überwinden. Nun entdeckte ich eine Religion für mich, die behauptete, es gäbe diese Kluft überhaupt nicht. Wenn ich wissen wollte, wie Gott ist, konnte ich ihn mir nun einfach als den vollkommensten aller Menschen vorstellen.

Das ergab durchaus Sinn. Konnte es, um die Barriere zwischen den Menschen und Gott zu überwinden, einen besseren Weg geben, als Gott zu einem Menschen zu machen? Zu der Frage, warum die christliche Vorstellung von Gott so erfolgreich ist, schrieb der deutsche Philosoph Ludwig Feuerbach: »Das Gemüt findet nur in sich selbst, in seinem Wesen, nur in einem Gotte, der ist, wie und was das Gemüt [ist], seine Befriedigung.«2

Dieses Feuerbach-Zitat las ich zum ersten Mal auf dem College, ungefähr zu der Zeit, als ich beschloss, mein Leben dem Studium der Religionen der Welt zu widmen. Feuerbach, so sagte ich mir, meint damit offenbar, dass die nahezu universelle Attraktivität eines Gottes, der aussieht, denkt, fühlt und handelt wie wir, in unserem tiefsitzenden Bedürfnis wurzelt, das Göttliche als Spiegelbild unseres eigenen Selbst zu erleben. Diese Wahrheit traf mich wie ein Donnerschlag. War das der Grund, warum ich mich als Kind so zum Christentum hingezogen gefühlt hatte? Hatte ich mir während dieser ganzen Zeit ein Gottesbild konstruiert, das ein Spiegelbild meiner eigenen Wesenszüge und Emotionen darstellte?

Dass es so gewesen sein könnte, ließ ein Gefühl der Bitterkeit und Desillusionierung in mir aufkommen. Auf der Suche nach einem weiter gefassten Gotteskonzept ließ ich das Christentum hinter mir und kehrte zum Islam zurück. Ich fühlte mich nun von dem radikalen Ikonoklasmus dieser Religion angezogen: der Auffassung, dass Gott nicht bildlich erfasst und dargestellt werden kann, sei es in menschlicher oder anderer Gestalt. Doch erkannte ich schnell, dass die Ablehnung des Islam, Gott in menschlicher Gestalt abzubilden, keineswegs bedeutete, von Gott nicht in menschlichen Begriffen zu denken. Muslime neigen genau wie andere Gläubige dazu, Gott ihre eigenen Tugenden und Schwächen zuzuschreiben, ihre eigenen Gefühle und Fehler. Und sie haben diesbezüglich, so wie die meisten von uns, auch kaum eine Wahl.

Es ist nämlich so, dass die Neigung, das Göttliche zu vermenschlichen, unserem Gehirn, unserer Weise, die Welt zu erfassen und zu deuten, sozusagen innewohnt. Die Vermenschlichung der Gottesvorstellung wurde deswegen zu einem zentralen Charakteristikum fast aller religiösen Traditionen. Tatsächlich lässt sich die gesamte Geschichte menschlicher Spiritualität als ein vernetztes, sich stetig weiterentwickelndes und bemerkenswert übereinstimmendes Bemühen betrachten, das Göttliche zu begreifen, indem wir es mit unseren Emotionen und Wesenszügen, unseren Wünschen, Stärken und Schwächen, ja sogar mit unserer körperlichen Gestalt ausstatten – kurz gesagt, indem wir Gott zu einem von uns machen. Damit will ich sagen, dass die meisten von uns – sei es bewusst oder unbewusst und unabhängig davon, ob wir gläubig sind oder nicht – sich Gott als eine göttliche Version unserer selbst vorstellen: ein menschliches Wesen mit übermenschlichen Fähigkeiten.3

Das festzustellen heißt nicht: zu behaupten, es gäbe Gott nicht, oder das, was wir Gott nennen, wäre ganz und gar eine menschliche Erfindung. Zwar können diese beiden Aussagen durchaus der Wahrheit entsprechen, aber darum geht es in diesem Buch nicht. Ich bin nicht daran interessiert, die Existenz oder Nichtexistenz Gottes zu beweisen, aus dem einfachen Grund, dass weder für das eine noch für das andere Beweise existieren. Ob Sie glauben oder nicht, ist eine persönliche Wahl. Entweder entscheiden Sie sich dafür zu glauben, dass es jenseits der materiellen Welt noch etwas Anderes gibt – etwas Reales, Erkennbares –, oder Sie entscheiden sich dagegen. Wenn Sie sich, wie ich, dafür entscheiden, dann müssen Sie sich eine weitere Frage stellen: Möchten Sie dieses Andere erleben? Möchten Sie mit ihm kommunizieren? Es kennen lernen? Wenn ja, dann kann es hilfreich sein, eine Sprache zu finden, mit deren Hilfe sich etwas beschreiben lässt, was vom Grundsatz her unbeschreiblich ist.

Hier kommt die Religion ins Spiel. Bei allen Unterschieden in den Mythen und Ritualen, der Tempel und Kathedralen, der Gebote und Verbote, die seit Jahrtausenden die Menschheit in unterschiedliche und oft miteinander konkurrierende Glaubensfraktionen trennen, ist Religion immer auch eine »Sprache«. Sie wird aus Symbolen und Metaphern gebildet und ermöglicht es den Gläubigen, im Dialog mit anderen und auch mit sich selbst die unbeschreibliche Erfahrung des Glaubens mitteilbar zu machen. Und es gibt ein Symbol, das durch die ganze Geschichte der Religionen hindurch als universell und absolut besonders herausragt – eine große Metapher für Gott, von der praktisch alle anderen Symbole und Metaphern hergeleitet wurden: uns, die Menschen.

Dieses Konzept, das ich den »vermenschlichten Gott« nenne, verankerte sich in unserem Bewusstsein in dem Augenblick, als wir zum ersten Mal auf die Idee kamen, es könnte »Gott« geben. Es brachte uns auf unsere frühesten Theorien über die Natur des Universums und unsere Rolle darin. Es inspirierte uns zu unseren ersten Bildnissen und Darstellungen der transzendenten Welt, der Welt also, in der Gott wohnte und die unsere Wirklichkeit überstieg. Der Glaube an Götter, die den Menschen ähnlich sind, leitete uns einst, als wir Jäger und Sammler waren, und dann, Jahrzehntausende später, veranlasste er uns dazu, unsere Speere gegen Pflugscharen einzutauschen und Landwirtschaft zu betreiben. Unsere ersten Tempel wurden von Menschen geschaffen, die sich die Götter als menschenähnliche, aber übermenschliche Wesen vorstellten – und sie schufen auch unsere ersten Religionen. Mesopotamier, Ägypter, Griechen, Römer, Inder, Perser, Hebräer, Araber, sie alle entwickelten die Götterwelten ihrer theistischen Systeme in menschlichen Begriffen und mit menschenähnlichen Götterdarstellungen. Das Gleiche gilt für die nicht-theistischen Traditionen, etwa den Jainismus und den Buddhismus. Beide verstehen die Geister und Devas, die ihre Theologien bevölkern, als übermenschliche Wesen, die wie ihre menschlichen Gegenüber an die Gesetze des Karma gebunden sind.4

Und sogar die Juden, Christen und Muslime der Gegenwart, die sich so intensiv bemühen, theologisch »korrekt« an einen einzigen Gott zu glauben, der körperlos und unfehlbar, allgegenwärtig und allwissend ist, neigen offenbar doch sehr dazu, sich Gott in menschlicher Gestalt vorzustellen und in menschlichen Begriffen über Gott zu sprechen. Zahlreiche von Psychologen und Kognitionswissenschaftlern durchgeführte Studien zeigen, dass auch die hingebungsvollsten Gläubigen, wenn sie ihre Gedanken über Gott mitteilen sollen, über diesen so sprechen wie über einen Menschen, der ihnen auf der Straße begegnet.5

Überlegen Sie einmal, wie oft Gläubige Gott als gut oder liebevoll, grausam oder eifersüchtig, vergebend oder gütig beschreiben. Natürlich handelt es sich dabei um menschliche Eigenschaften. Und das Festhalten daran, menschliche Eigenschaften und Emotionen zu nennen, um das Wesen von etwas zu beschreiben, das – was auch immer es sonst noch sein mag – vollkommen nichtmenschlich ist, verdeutlicht nur umso klarer unser existentielles Bedürfnis, unsere Menschlichkeit auf Gott zu projizieren. Wir schreiben Gott nicht nur alles zu, was an der menschlichen Natur wertvoll ist – unsere Fähigkeit zu grenzenloser Liebe, unsere Empathie und Bereitschaft, Mitgefühl zu zeigen, unseren Hunger nach Gerechtigkeit –, sondern auch alle unangenehmen menschlichen Eigenschaften: unsere Aggressivität und unsere Gier, unsere Vorurteile und unsere Scheinheiligkeit, unsere Neigung zu extremer Gewalt.

Dieser natürliche Impuls, das Göttliche zu vermenschlichen, hat, wie man sich vorstellen kann, gewisse Konsequenzen. Wenn wir Gott mit menschlichen Eigenschaften ausstatten, vergöttlichen wir diese Eigenschaften, so dass alles Gute oder Schlechte an unseren Religionen lediglich ein Spiegelbild dessen darstellt, was an uns selbst gut oder schlecht ist. Unsere Wünsche werden zu Gottes Wünschen, nur ohne Grenzen. Unsere Taten werden zu Gottes Taten, nur ohne Konsequenzen. Wir erschaffen ein übermenschliches Wesen, das mit menschlichen Wesenszügen ausgestattet ist, jedoch keinen menschlichen Einschränkungen unterliegt. Wir formen unsere Religionen und Kulturen, unsere Gesellschaften und Regierungen entsprechend unseren menschlichen Wünschen und Bedürfnissen, während wir uns ständig einreden, es handele sich dabei um Gottes Wünsche und Bedürfnisse.

Das erklärt mehr als alles andere, warum während der gesamten Menschheitsgeschichte die Religion unendlich viel Gutes bewirkt hat, aber auch Böses von unaussprechlichem Ausmaß; warum der gleiche Glaube an den gleichen Gott viele Gläubige zu Liebe und Mitgefühl, andere jedoch zu Hass und Gewalt motiviert; warum zwei Menschen, die zur gleichen Zeit den gleichen religiösen Text lesen, zu radikal unterschiedlichen Interpretationen gelangen. Tatsächlich entstehen die meisten religiösen Konflikte, die unsere Welt bis heute in Aufruhr versetzen, aus unserem angeborenen, unbewussten Wunsch, das, was Gott ist und was Gott will, wen Gott liebt und wen Gott hasst, in uns und unserer Weise, in der Welt zu sein, verwirklicht zu sehen.

Ich brauchte noch viele weitere Jahre, um zu erkennen, dass das Konzept Gottes, nach dem ich suchte, viel zu umfassend war, um durch eine einzige religiöse Tradition definiert werden zu können. Der einzige Weg, das Göttliche wirklich zu erleben, bestand für mich darin, in meinem spirituellen Bewusstsein Gott zu entmenschlichen.

Und so ist dieses Buch weit mehr als einfach nur eine Geschichte darüber, wie Menschen Gott vermenschlichten. Es ist auch ein Appell, dem Göttlichen nicht länger unsere menschlichen Wünsche und Motive unterzuschieben, sondern eine pantheistischere Sicht Gottes zu entwickeln. Dieses Buch soll deutlich machen, dass wir – ob wir nun an einen Gott, an viele Götter oder an überhaupt keinen Gott glauben – Gott nach unserem Ebenbild geschaffen haben und nicht umgekehrt. Und in dieser Wahrheit liegt der Schlüssel zu einer reiferen, friedlicheren, ursprünglicheren Form von Spiritualität.

1. TEIL

Die verkörperte Seele

1. KAPITEL

Adam und Eva im Garten Eden

Am Anfang war die Leere. Dunkelheit. Chaos. Ein gewaltiger Ozean der Gestaltlosigkeit und Formlosigkeit. Kein Himmel, keine Erde, kein Meer, das geteilt werden konnte. Noch hatten sich keine Götter manifestiert, noch waren keine Worte gesprochen, keine Schicksale festgelegt worden, bis ... sich ein Blitz, etwas Licht und eine plötzliche Expansion von Raum und Zeit ereigneten, von Energie und Materie, von Atomen und Molekülen – das waren die Bausteine für hundert Milliarden Galaxien, von denen jede hundert Milliarden Sterne hat.

In der Nähe eines dieser Sterne kollidiert ein Staubteilchen von einem Mikrometer Größe mit einem anderen, und während vielen hundert Millionen Jahren ballt sich immer mehr Staub zusammen, der schließlich anfängt, im Kreis herumzuwirbeln, dabei Masse ansammelt, eine Kruste bildet, Ozeane und Land hervorbringt, und, unerwarteterweise, Leben: erst einfache, dann komplexe; erst kriechende, dann auf Beinen laufende Lebewesen.

Jahrtausende vergehen, in denen Gletscher vorrücken, große Teile der Erdoberfläche bedecken und sich wieder zurückziehen. Die Polkappen schmelzen ab, und die Meere steigen. Kontinentale Eisschilde geraten in Bewegung, gleiten über die niedrigen Hügel und Täler Europas und Asiens und verwandeln riesige Wälder in weite, baumlose Ebenen. Und an diesen Zufluchtsort wandern die frühen Ahnen unserer Spezies – Adam und Eva, wie es sie sozusagen »historisch« gab, Homo sapiens, übersetzt: »der vernünftige Mensch«.

Groß, aufrecht und kräftig gebaut, mit breiter Nase und hoher Stirn, begannen Adam und Eva ihre Evolution zwischen 300 000 und 200 000 v. Chr. als letzter Zweig des menschlichen Stammbaumes. Ihre Vorfahren waren etwa 100 000 Jahre zuvor aus Afrika eingewandert, zu einer Zeit, als die Sahara noch keine Wüste war, sondern ein Gebiet mit großen Seen und üppiger Vegetation. In Wanderungswellen durchquerten sie die arabische Halbinsel. Dann fächerte sich ihre Wanderungsbewegung auf. Manche zogen durch die Steppen Zentralasiens nach Norden, andere wanderten südlich in den indischen Subkontinent ein, blieben dort oder fuhren übers Meer nach Australien, und ein Teil erreichte, über den Balkan kommend, das südliche Spanien und den Rand Europas.

Unterwegs begegneten ihnen ältere Spezies um­her­ziehender Menschen: der aufrecht gehende Homo erectus, der auf ganz ähnlichen Routen nach Europa einwanderte, jedoch mehrere hunderttausend Jahre früher gekommen war; der tüchtige Homo denisova, der die Ebenen Sibiriens und Ostasiens durchwanderte, und natürlich Homo neanderthalensis – der Neandertaler –, der vom Homo sapiens entweder ausgelöscht wurde oder in dessen Gruppen aufging (was niemand sicher weiß).1

Adam ist Jäger. Stellen Sie ihn sich also mit einem Speer vor, ein Mammutfell um die Schultern drapiert. Seine Wandlung vom Opfer, von der Beute jagender Tiere, zum Beutemacher hatte eine genetische Prägung hinterlassen, seinen Jagdinstinkt. Er ist in der Lage, zu allen Jahreszeiten die Spur eines Tieres zu verfolgen und geduldig den richtigen Moment zum Zuschlagen abzuwarten. Wenn er tötet, schlägt er nicht seine Zähne ins Fleisch und verzehrt es sofort. Er bringt die Beute ins Lager, um es mit seiner Gemeinschaft zu teilen. In Zelten aus auf Mammutknochen gespannten Tierhäuten bereitet er sein Essen über mit Steinen eingefassten Feuerstellen zu. Die Reste lagert er in tief in den Permafrost gegrabenen Erdlöchern.

Auch Eva ist Jägerin, doch sie hat als Waffe nicht den Speer gewählt, sondern das Netz, das sie in Monate, vielleicht Jahre dauernder Arbeit aus zarten Pflanzenfasern knüpfte. Sie kauert in der Morgendämmerung auf dem Waldboden, legt auf dem bemoosten Untergrund sorgfältig ihre Schlingen aus und wartet geduldig darauf, dass ein unachtsames Kaninchen oder ein Fuchs in die Falle geht. Währenddessen sammeln ihre Kinder in den Wäldern essbare Pflanzen, graben Pilze und Wurzeln aus, fangen Reptilien und große Insekten und bringen all das ins Lager. Jeder Einzelne leistet seinen Beitrag zur Ernährung der Gemeinschaft.2

Die Werkzeuge Adams und Evas sind aus Stein gefertigt. Dabei handelt es sich aber nicht einfach um Steine, die man vom Boden aufsammelt, weil sie für einen bestimmten Zweck taugen, und wieder wegwirft, wenn sie ihren Zweck erfüllt haben. Es sind dauerhaft genutzte Werkzeuge: haltbar und mit großem handwerklichen Geschick hergestellt. Adam und Eva nehmen ihre Werkzeuge mit, wenn sie von einem Lagerplatz zum nächsten weiterziehen. Gelegentlich werden diese gegen bessere Werkzeuge eingetauscht, gegen aus Elfenbein oder Geweihknochen hergestellte Schmuckstücke und Anhänger aus Knochen, Zähnen, Schneckenhäusern oder Muscheln. Solche Dinge sind ihnen kostbar und gehören ihnen individuell, nicht der Gemeinschaft. Verstorbenen wird ihr Schmuck mit ins Grab gelegt, damit sie sich in dem Leben, das sie nach dem Tod erwartet, weiter daran erfreuen können.3

Adam und Eva sind sich sicher, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Warum sonst hätten sie ihre Toten aufwändig begraben sollen? Praktische Gründe gibt es dafür nicht. Es ist viel einfacher, die Körper der Toten offen liegen zu lassen, wie tote Tiere, deren Fleisch von Vögeln weggepickt wird. Doch sie geben sich große Mühe damit, die Körper ihrer verstorbenen Freunde und Familienmitglieder zu begraben, sie dadurch vor Aasfressern zu schützen und ihnen Respekt zu erweisen. Tote werden ausgestreckt oder in einer Haltung, die der des Fötus im Mutterleib ähnelt, bestattet. Das Grab ist oft nach Osten zum Sonnenaufgang hin ausgerichtet. Manche Gemeinschaften trennen Skalp oder Schädel ihrer Toten ab und bestatten diese getrennt, oder sie stellen die Ahnenschädel zur Schau, ausgestattet mit künstlichen Augen, die Blicke simulieren. Es kommt auch vor, dass sie den Schädel öffnen, das Gehirn offenbar herausnehmen und möglicherweise verzehren.

Der tote Körper wird mit blutrotem Ocker (die Farbe symbolisiert das Leben) bestäubt, dann auf ein Bett aus Blumen gelegt und mit Halsketten, Muscheln und Tierknochen geschmückt – Werkzeuge und Gegenstände, die dem oder der Toten etwas bedeuteten oder für das nächste Leben benötigt werden, finden sich in den Gräbern. Die Trauernden zünden rings um den Leichnam Feuer an und bringen dem Toten Gaben. Sie markieren den Bestattungshügel mit Steinen, damit sie das Grab wiederfinden und später immer wieder besuchen können.4

Adam und Eva tun dies, so wird vermutet, weil sie glauben, dass die Toten gar nicht tot sind, sondern in einer anderen Welt weiterleben, die von den Lebenden in Träumen und Visionen besucht werden kann. Der Körper verwest zwar, aber ein Teil des Menschen besteht weiter, ein Teil, der sich klar vom Körper unterscheidet und ohne diesen existieren kann, ein Teil, der Seele genannt wird.5

Woher Adam und Eva diese Vorstellung haben, wissen wir nicht. Aber sie ist für ihr Selbstbild ganz wesentlich. Sie wissen offenbar intuitiv, dass sie verkörperte Seelen sind. Dieser Glaube ist so ursprünglich und angeboren, so tief verwurzelt und weitverbreitet, dass man ihn als ein zentrales Merkmal der menschlichen Erfahrung betrachten muss. Tatsächlich teilen Adam und Eva ihn mit ihren Urahnen, Neandertaler und Homo erectus, die bereits rituelle Bestattungen praktizierten, was vermuten lässt, dass sie ebenfalls die Seele als etwas vom Körper unabhängig Existierendes betrachteten.6

Wenn die Seele getrennt vom Körper existieren kann, dann kann sie ihn auch überleben. Und wenn die Seele den Körper überlebt, muss es in der sichtbaren Welt von den Seelen aller Wesen, die jemals lebten und starben, geradezu wimmeln. Für Adam und Eva sind diese Seelen wahrnehmbar. Sie existieren in unzähligen Formen. Ohne ihre Körper werden sie zu Geistern, die in der Lage sind, alle Dinge zu bewohnen – Vögel, Bäume, Berge, die Sonne, den Mond. All das pulsiert vor Leben. Es ist animiert, beseelt.

Es wird eine Zeit kommen, in der man diese Geister vollständig vermenschlicht, sie mit Namen versieht, mythische Geschichten über sie erzählt und sie in übernatürliche Wesen verwandelt, die dann als Götter verehrt und angebetet werden.

Aber so weit sind wir noch nicht.

Dennoch ist es für Adam und Eva kein großer Sprung, zu dem Schluss zu gelangen, dass ihre Seelen – das, wodurch sie sie sind – sich in Form und Substanz nicht von den Seelen anderer Menschen, Lebender und Verstorbener, und den Geistern der Bäume und den Geistern der Berge unterscheiden. Was immer Adam und Eva sind, was immer ihr Wesen, ihre Essenz, sein mag, sie teilen es mit der gesamten Schöpfung. Sie sind Teil des Ganzen.

Diesen Glauben, wonach allem, was existiert, Gegenstand oder Lebewesen, eine spirituelle Essenz oder »Seele« innewohnt, nennt man Animismus. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich dabei um die früheste Ausdrucksform von Religion überhaupt handelt.7

Adam und Eva, unsere Vorfahren, erscheinen im Hinblick auf ihre Werkzeuge und Technologien aus heutiger Sicht primitiv. Ihr Gehirn ist aber ebenso groß und so entwickelt wie das unsrige. Sie sind in der Lage, abstrakt zu denken und ihre Gedanken einander mit Hilfe der Sprache mitzuteilen. Sie sprechen wie wir. Sie denken wie wir. Wie wir verfügen sie über Phantasie, Kreativität und Verstand. Kurz gesagt, sie sind wir: voll entwickelte menschliche Wesen.

Als solche sind sie zu kritischer Analyse in der Lage und können experimentieren. Sie können mit Hilfe analogen Denkens komplexe Theorien über die Natur der Wirklichkeit entwickeln. Und auf Grundlage dieser Theorien können sie zu kohärenten Glaubensüberzeugungen gelangen. Und sie können diese Glaubensüberzeugungen bewahren und von Generation zu Generation weitergeben.

Tatsächlich hinterließ Homo sapiens fast überall Hinweise auf diesen Glauben, die wir nur aufspüren müssen. Zum einen gibt es Monumente unter freiem Himmel, von denen die meisten aber der Zeit zum Opfer fielen. Hügelgräber liefern dagegen auch nach Jahrzehntausenden noch eindeutige Beweise für rituelle Aktivitäten. Doch nichts bringt uns unseren Vorfahren so nah – macht sie für uns ganz und gar als Menschen sichtbar und lebendig – wie die spektakulären Höhlenmalereien, die an vielen Orten in Europa und Asien anzutreffen sind und die Wanderungsbewegungen des frühen Homo sapiens markieren wie Fußspuren.8

Soweit wir wissen, ist für das Glaubenssystem Adams und Evas die Vorstellung fundamental, dass der Kosmos mehrere Ebenen hat. Die Erde befindet sich in der Mitte, zwischen dem Himmelsgewölbe und der flachen Schale der Unterwelt. Die oberen Regionen lassen sich nur in Träumen oder in veränderten Bewusstseinszuständen erreichen. Hierhin zu gelangen ist für gewöhnlich Aufgabe des Schamanen – einer Person, die als Mittler zwischen der Welt der Seelen und Geister und der materiellen Welt agiert. Die Unterwelt dagegen ist für alle erreichbar, einfach indem man tief in die Erde hinabsteigt – manchmal einen Kilometer oder noch weiter in Höhlen vordringt, um dort den eigenen Glauben auf die Felswand zu malen, zu ritzen oder einzumeißeln. Und die Felswand ist eine »Membran« zwischen der Menschenwelt und der jenseitigen Welt.9

Diese Höhlenmalereien finden sich in Australien und Indonesien. Sie finden sich jenseits des Kaukasus – von der Kapowa-Höhle im südlichen Ural zur Cuciulat-Höhle in Rumänien und am Oberlauf der Lena in Sibirien. Einige der ältesten und besonders gut erhaltenen Beispiele für prähistorische Höhlenmalkunst gibt es in den Berg­regionen Westeuropas. In Nordspanien lässt sich eine große rote Scheibe auf einer Höhlenwand in El Castillo auf ein Alter von etwa 41 000 Jahren datieren, also etwa in die Zeit, als der Homo sapiens in dieser Region eintraf. Südfrankreich ist geradezu von solchen Höhlen durchlöchert – von Font de Gaume und Les Combarelles im Vézère-Tal zu den Höhlen von Chauvet, Lascaux und Volp in den Pyrenäen.10

Die Volp-Höhlen ermöglichen einen einzigartigen Blick in Zweck und Funktion dieser unterirdischen Heiligtümer. Hier gibt es drei miteinander verbundene Höhlen, die der Fluss Volp in den Kalkstein gegraben hat: Enlène im Osten, Tuc d’Audoubert im Westen und in der Mitte Trois-Frères, benannt nach den drei Brüdern, die die Höhlen im Jahr 1912 entdeckten.

Der französische Archäologe und Priester Henri Breuil, bekannt als Abbé Breuil, erforschte die Höhlen als Erster und kopierte den reichen Schatz an Bildern, den er dort entdeckte, akribisch mit der Hand. Dadurch öffnete er ein Fenster in eine ferne Vergangenheit und ermöglichte uns eine plausible Rekonstruktion und Interpretation der erstaunlichen spirituellen Reise, die unsere prähistorischen Ahnen dort vor Jahrzehntausenden unternommen haben müssen.11

Diese Reise beginnt etwa hundertfünfzig Meter hinter dem Eingang der ersten Höhle des Volp-Komplexes – Enlène – in einem Vorraum, der heute Salle des Morts genannt wird. Es ist wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass Adam und Eva nicht in diesen Höhlen wohnen. Sie sind keine »Höhlenmenschen«. Die meisten Höhlenmalereien finden sich in schwer zugänglichen, nicht als Wohnquartiere geeigneten Höhlen. Um hineinzugelangen, muss man oft eine enge Passage durchqueren, die wie eine Schwelle zwischen der sichtbaren und der übersinnlichen Welt wirkt. In manchen Höhlen gibt es Beweise dafür, dass Menschen sich dort für längere Zeit aufhielten. Andere Höhlen haben einen Vorraum. Archäologische Funde, die dort gemacht wurden, zeigen, dass die Menschen, die diese Höhle zu kultischen Zwecken aufsuchten, in dem Vorraum aßen und übernachteten, aber dort nicht dauerhaft wohnten. Die Höhlen mit den Malereien waren heilige Räume, was auch erklärt, warum die Bilder in großem Abstand zum Höhleneingang positioniert wurden. Um sie betrachten zu können, musste man zunächst ein gefährliches Höhlenlabyrinth durchqueren.

In den Volp-Höhlen dient der Salle des Morts als eine Art Übergangsraum, wo Adam und Eva sich auf die Erfahrung vorbereiten können, die sie erwartet. Hier reinigen sie sich im beißenden Gestank brennender Knochen. Im Boden des Vorraums sind zahlreiche Feuerstellen eingelassen, in denen haufenweise Tierknochen brennen. Knochen sind ein sehr gutes Brennmaterial, aber das ist nicht der Grund, warum sie hier verbrannt werden. Am Fuß der Pyrenäen gibt es genug Wald, man hätte also viel einfacher auf Holz als Brennstoff zurückgreifen können.

Doch man glaubt, dass Tierknochen sich gut als verbindendes Medium eignen – sie sind von Fleisch umgeben, bestehen aber selbst nicht aus Fleisch. Deswegen werden sie so häufig gesammelt, poliert und als Schmuck getragen. Deswegen schnitzt man aus ihnen Talismane, in die Bilder von Bisons, Rentieren oder Fischen eingraviert werden, obwohl die Knochen selbst nur selten von diesen Tieren stammen. Manchmal werden die Knochen direkt in die Spalten und Risse der Höhlenwände gesteckt. Vielleicht ist das eine Form des Gebets, ein Mittel, um Botschaften in die Welt der Geister zu schicken.

Wenn in diesen Feuerstellen Tierknochen verbrannt werden, will man damit vermutlich die Essenz des betreffenden Tieres absorbieren. Das Verbrennen von Knochen und Mark mit seinem penetranten Geruch dient als Räucherzeremonie und Weihe. Stellen Sie sich vor, wie Adam und Eva, an diesem engen, schlecht belüfteten Ort sitzend, stundenlang im Rauch baden und sich im Rhythmus mit Tierhäuten bespannter Trommeln wiegen, während sie dem Klang von Flöten aus Adlerknochen und Feuerstein-Xylophonen lauschen, denn all das hat man in solchen Höhlen gefunden. Nach diesen vorbereitenden Weihen sind sie dann bereit, ihre unterirdische Reise fortzusetzen.12

Adam und Eva spazieren nicht ziellos in diesen Höhlen herum. Jede Kammer, jede Nische, jeder Korridor hat einen bestimmten Zweck – alles ist dafür entworfen, eine ekstatische Erfahrung zu erzeugen. Wir haben es also mit einem sorgsam kontrollierten Prozess zu tun: Durch das Abschreiten dieser Nischen und Gänge und das Betrachten der Malereien auf Wänden, Boden und Decke wird eine bestimmte emotionale Reaktion auslöst, ganz ähnlich, wie es beim rituellen Abschreiten des Kreuzweges in einer mittelalterlichen Kirche geschieht.

Als Erstes müssen sie auf allen Vieren durch einen etwa sechzig Meter langen Tunnel kriechen, der Enlène mit Les Trois-Frères, der zweiten Höhle des Volp-Komplexes, verbindet. So gelangen sie in eine ganz neue Zone, markiert durch etwas, das in der ersten Höhle so offensichtlich fehlt, dass es kein Zufall sein kann. Denn erst in der zweiten Höhle erblicken Adam und Eva die Felsmalereien, durch die ihr spirituelles Leben definiert ist.

Der Hauptgang in der Höhle Les Trois-Frères gabelt sich in zwei enge Pfade. Der linke führt in eine lange Kammer, deren Wände mit in Reihen angeordneten schwarzen und roten Punkten unterschiedlicher Größe bemalt sind. Solche Punkte stellen die früheste Form der Höhlenmalerei dar. In manchen Höhlen wurden sie auf ein Alter von über 40 000 Jahren datiert. Niemand weiß wirklich, was die Punkte bedeuten. Es könnte sich um Aufzeichnungen spiritueller Visionen handeln. Sie können männliche und weibliche Symbole repräsentieren. Klar ist aber, dass die Punkte nicht zufällig verstreut aufgemalt wurden. Ganz im Gegenteil: Sie sind oft in einem deutlich erkennbaren Muster angeordnet, das sich von Kammer zu Kamer unterscheidet. Es ist also davon auszugehen, dass die Punkte eine Botschaft übermitteln sollten oder dass es sich um verschlüsselte Anweisungen für Rituale handelt, eine Art Code, der den Ritualteilnehmern wichtige Informationen für ihre Reise in die Eingeweide der Erde übermittelte.13

Über den Pfad, der vom Hauptgang der Höhle Les Trois-Frères nach rechts abzweigt, gelangt man in einen kleinen, dunklen Raum, der heute »Galerie des Mains« genannt wird. Hier sind die Höhlenwände nicht mit Punkten, sondern mit Handabdrücken übersät – es gibt Dutzende davon. Solche Handabdrücke sind die am weitesten verbreitete Form prähistorischer Felsenmalerei. Die ältesten Handabdrücke entstanden vor etwa 39 000 Jahren. Es gibt sie nicht nur in Europa, sondern auch in Australien, auf Borneo, in Mexiko, Argentinien, der Sahara und auch in den USA. Die Abdrücke werden entweder angefertigt, indem man die Hand in nasses Pigment taucht und sie dann gegen die Höhlenwand drückt, oder indem man die Hand auf die Wand legt und mit Hilfe eines ausgehöhlten Knochens um sie herum Ocker auf das Gestein bläst. Auf diese Weise wird der Umriss der Hand auf der Wand sichtbar und eine Art Negativ erzeugt. Der Ocker besitzt auch selbst eine heilige Funktion. Die blutrote Farbe dient als Brücke zwischen der materiellen und der spirituellen Welt.14

Bemerkenswert ist an diesen Handabdrücken, dass sie sich fast nie auf glatten und leicht zugänglichen Flächen finden, wie man es doch eigentlich erwarten würde. Stattdessen tauchen sie an bestimmten, topographisch auffälligen Bereichen auf: Über oder neben Spalten und Rissen im Gestein, in Mulden oder zwischen Stalagmiten, an hohen Höhlendecken oder anderen schwierig zu erreichenden Stellen. Manche Abdrücke sind so geformt, als würden die Finger nach dem Gestein greifen. Bei anderen sind die Finger gekrümmt oder einzelne Finger fehlen. Mehrere Abdrücke stammen eindeutig von derselben Hand, wobei von Abdruck zu Abdruck andere Finger fehlen, was vermuten lässt, dass es sich bei den Handabdrücken wie bei den schwarzen und roten Punkten um eine uralte Form symbolischer Kommunikation handelt – eine primitive »Zeichensprache«. Tatsächlich weist die geradezu unheimliche Ähnlichkeit dieser Praxis, Handabrücke auf Höhlenwände zu bringen, die sich auf gegenüberliegenden Seiten des Globus findet, darauf hin, dass sie aus der Zeit stammen muss, bevor Homo sapiens vor fast 100 000 Jahren aus Afrika in andere Erdteile einwanderte. Es ist gut möglich, dass die Menschen, die in Indonesien ihre Handabdrücke verewigten, die gleiche symbolische Sprache verwendeten wie die Schöpfer der Handabdrücke in Westeuropa.

Negative und positive Handabdrücke in der Cueva de las Manos, Santa Cruz, Argentinien (circa 15 000 bis 11 000 v. Chr.).

Mariano / CC-BY-3.0 / WikimediaCommons

Interessanterweise geht die Wissenschaft heute davon aus, dass die Mehrzahl der in den Höhlen Europas und Asiens gefundenen Abdrücke von Frauenhänden stammen. Das straft die Behauptung Lügen, die Rituale und Malereien in den Höhlen seien in erster Linie Männersache gewesen. Zwar mag der Zugang zu bestimmten Höhlenbereichen oder Aktivitäten eingeschränkt gewesen sein, vielleicht nur denen gestattet, die an einem Ritual oder einer Initiation teilnahmen, aber die heiligen Stätten an sich standen wohl allen Mitgliedern der Gemeinschaft offen: beiden Geschlechtern, jung und alt.15

Im schwachen Lichtschein einer flackernden Flamme tasten sich Adam und Eva vorsichtig durch diese Kammer und spüren den Strukturen der Wände nach – den Formen und warmen und kalten Stellen. Sie suchen die richtige Stelle, um ihre eigenen Handabdrücke anzubringen. Das ist ein zeitaufwendiger und sehr persönlicher Prozess, der eine Vertrautheit mit den Steinflächen erfordert. Erst nachdem sie ihre Abdrücke hinterlassen haben, sind sie bereit, ihre Reise fortzusetzen, hinein ins eigentliche Herz der Höhle: eine kleine, enge, schwer zugänglich in einem gefährlich abschüssigen Teil des Höhlenkomplexes gelegene Kammer, die Breuil das Heiligtum nannte.

Hier pulsieren die Wände geradezu, bedeckt mit leuchtend farbigen Tierdarstellungen, teilweise gezeichnet, teilweise in den Felsen geritzt. Es gibt in der Kammer Hunderte von ihnen, teilweise einander überlagernd, die Tiere bei allen möglichen Aktivitäten zeigen: Bisons, Bären, Pferde, Rentiere, Mammuts, Hirsche, Steinböcke und einige mysteriöse, nicht identifizierbare Geschöpfe – manche sind zu phantastisch, um real gewesen sein zu können, und bei anderen verwischen sich die Grenzen zwischen Mensch und Tier.

Es ist nicht ganz richtig, diese Zeichnungen »Bilder« zu nennen. Sie sind, wie die Punkte und Handabdrücke, Symbole, in denen sich der animistische Glaube unserer Vorfahren widerspiegelt, dass alle lebendigen Wesen miteinander verbunden sind, dass sie alle Teil des einen universellen Geistes sind. Das ist auch der Grund, warum die Umwelt, in der die Tiere lebten, nur sehr selten mit abgebildet wird. Oft sieht man die wilden Tiere in einer Art dynamischen Unschärfe dargestellt, die Bewegung ausdrücken soll. Aber es gibt kein Gras, keine Bäume, Sträucher oder Bäche, kein Gelände, in dem die Tiere sich bewegen; es gibt überhaupt keinen »festen Untergrund«. Die Tiere scheinen frei im Raum zu schweben, auf dem Kopf stehend oder in für den Betrachter merkwürdig schrägen Winkeln. Sie wirken wie aus einer Halluzination, ohne äußere Bezugspunkte, irreal.16

Die gängige Theorie besagt, dass diese Höhlenmalereien dem »Jagdzauber« gedient hätten, einer Magie, die den Jägern helfen sollte, ihre Beute zu erlegen. Doch handelt es sich bei den in den Höhlen abgebildeten Tieren überwiegend nicht um jene Tierarten, die außerhalb der Höhlen vor allem anzutreffen waren. Archäologische Ausgrabungen haben gezeigt, dass die in den Höhlen dargestellten Tierarten größtenteils nicht die waren, von denen die Höhlenmaler sich ernährten. Selten werden Tiere gezeigt, die gejagt und erlegt werden oder Schmerzen erleiden. Manche Tiere sind von schwarzen Linien durchkreuzt. Häufig deutet man diese Linien als Speere oder Pfeile, die dem Tier die Flanken durchbohren. Doch betrachtet man die Zeichnungen genauer, zeigt sich, dass die Linien nicht wirklich in den Körper des Tieres eindringen. Vielmehr strahlen die Linien von dem Tier aus. Sie symbolisieren offenbar die Aura oder den Geist des Tieres – seine Seele. Wie der französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss beobachtete, wählten unsere prähistorischen Artgenossen die Tiere, die sie auf die Wände zeichneten, nicht danach aus, welche »gut zu essen« waren, sondern danach, welche »sich gut zum Denken eigneten«.17

Adam und Eva gehen nicht in diese Höhlen, um die Welt zu malen, die sie kennen. Welchen Sinn sollte das haben? Sie gehen dorthin, um sich die Welt vorzustellen, die jenseits der ihren existiert. Tatsächlich malen sie nicht einfach Bilder von Bisons und Bären auf den Fels, vielmehr holen sie die Bilder aus dem Stein. Adam und Eva stehen in einem spärlich beleuchteten schmalen Höhlengang. Sie lassen ihren Blick über die Wände gleiten, streichen zärtlich mit den Händen über das Gestein und warten darauf, dass sich ihnen das Bild offenbart, das sie zeichnen sollen. Eine zarte Wölbung im Stein wird zum Bein einer Antilope. Ein schmaler Riss wird zum Ausgangspunkt für ein Rentiergeweih. Manchmal braucht es nur wenige Ergänzungen – ein Strich hier, eine tiefe Kerbe dort –, um die natürliche Form des Gesteins in ein Mammut oder einen Steinbock zu verwandeln. Die Aufgabe besteht also nicht darin, das Bild zu zeichnen, sondern es zu vervollständigen.

Die Zeichnungen sind oft so angebracht, dass sie nur aus einem bestimmten Blickwinkel und nur von wenigen Personen gleichzeitig betrachtet werden können, was darauf hindeutet, dass die Höhle – nicht nur die in ihr geschaffenen Zeichnungen, sondern die Höhle selbst – zum Teil der spirituellen Erfahrung gemacht wurde. Die Höhle wird zu einem Mythogramm. Sie soll gelesen werden, so wie man heilige Texte liest.18

Wenn die Volp-Höhlen eine Art heiliger Text sind, dann erwartet Adam und Eva jetzt der dramatischste Teil ihrer Erfahrung. Das Mysterium dieser heiligen Stätte wird sich ihnen in einem spektakulären Höhepunkt offenbaren.

Am anderen Ende des Heiligtums mit den Tierzeichnungen folgt ein so enger Gang, dass darin nur ein bis zwei Personen Platz finden. Sie müssen auf Händen und Knien vorwärts kriechen. Der Gang führt in einer Biegung aufwärts zu einer schmalen Felskante, nicht sehr hoch über dem Höhlenboden. Wenn die beiden dort angekommen sind, gehen sie, mit dem Rücken zur Wand, vorsichtig seitwärts über die Kante, sich mit den Händen an das Gestein klammernd, um nicht hinunterzufallen. Nach ein paar Metern wird der Felssims breiter. Nun können sie sich umdrehen und die Wand betrachten. Erst jetzt können sie, wenn sie den Blick zur Höhlendecke richten, das Bild sehen, das die Reise durch die Höhle krönt – ein so ehrfurchtgebietendes, atemberaubendes Bild, dass es sich kaum mit Worten beschreiben lässt.

Es handelt sich um die Darstellung eines Mannes – so viel ist sicher. Aber da ist noch mehr. Dieses Wesen hat die Unterschenkel und Füße eines Menschen, aber die Ohren eines Hirsches und die Augen einer Eule. Ein langer, buschiger Bart hängt ihm über die Brust. Seine Hände ähneln Bärentatzen. Sein muskulöser Rumpf und die Oberschenkel erinnern an eine Antilope oder Gazelle. Zwischen seinen Hinterbeinen reckt sich ein halb erigierter Penis nach hinten, so dass er fast den buschigen Pferdeschwanz des Geschöpfes berührt. Die Gestalt tanzt offenbar und scheint sich dabei nach links zu neigen. Doch ihr Gesicht ist dem Betrachter zugewandt, sie fixiert ihn mit den kleinen weißen Pupillen ihrer weit geöffneten, schwarz umrandeten Eulenaugen.

Die Gestalt ist sowohl gemalt als auch geritzt, etwas in diesen Höhlen Einzigartiges. Sie wurde, vielleicht über Jahrtausende, immer wieder zeichnerisch und malerisch umgestaltet. An Nase und Stirn finden sich schwache Farbspuren. An manchen Stellen ist das Bild hervorragend ausgearbeitet; so ist die Kniescheibe des linken Beines gekonnt dargestellt. Andere Bereiche sehen grob und skizzenhaft aus. Besonders die Vorderpfoten wirken eilig hingeworfen und unfertig. Die Figur ist etwa fünfundsiebzig Zentimeter groß, weit größer als alle anderen Bilder in diesem Raum. Was auch immer dort verewigt wurde, in der Dunkelheit schwebend überragt diese Figur alles andere in dieser Kammer der Höhle.

Der Zauberer (Interpretation einer Zeichnung von Henri Breuil). Les Trois-Frères, Montesquieu-Avantes, Frankreich (circa 18 000 bis 16 000 v. Chr.).

Copyright © David Lindroth, Inc.

Als Henri Breuil diese Figur vor einem Jahrhundert zum ersten Mal erblickte, war er sprachlos. Offensichtlich handelte es sich um ein Kultbild, das zur Verehrung, vielleicht sogar Anbetung diente. Eine einzelne, die gesamte Umgebung dominierende menschenähnliche Figur, die so markant in der Höhlenmalerei absolut einmalig ist. Ihre Position in der Höhle erweckt den Eindruck, dass sie über die zahlreichen dort gezeichneten Tiere herrscht. Zuerst nahm Breuil an, bei der Figur handele es sich um einen Schamanen, der ein hybrides Tierkostüm trägt. Er gab ihr den Namen »Der Zauberer«, der sich bis heute gehalten hat.19

Breuils anfängliche Deutung der Figur ist verständlich. In traditionellen Kulturen glaubte man, Schamanen stünden mit einem Bein in dieser Welt und mit dem anderen in der nächsten. Sie besaßen die Fähigkeit, sich in veränderte Bewusstseinszustände zu versetzen (oft mit Hilfe halluzinogener Substanzen wie beispielsweise getrockneten Fliegenpilzen). So konnten sie ihren Körper zurücklassen und in die Geisterwelt reisen, um Botschaften aus dem Jenseits zu übermitteln, meistens mit Hilfe eines Tieres als Geistführer.20

Die Verbindung zu den Tieren veranlasste Breuil dazu, in dem Mischwesen aus Mensch und Tier einen Schamanen zu sehen, vielleicht im Moment seiner Verwandlung dargestellt, als er seinen Körper verlässt, um in die andere Welt zu reisen. In Höhlen an vielen Orten Europas und Asiens wurden mindestens siebzig weitere Darstellungen von Mensch-Tier-Mischwesen entdeckt, und bei den meisten wird ebenfalls vermutet, dass es sich um Schamanen handelt. Auf einen von der Decke herabhängenden, tränenförmigen Stein in der Chauvet-Höhle in Frankreich wurde ein Wesen geritzt, das halb Mann und halb Bison ist. Sein Körper beugt sich über die eindeutige Darstellung einer von dichtem schwarzen Schamhaar bedeckten Vagina, die auf den Scheitelpunkt des Steins gezeichnet wurde. An den Wänden in der Höhle von Lascaux ist ein Mann mit Pferdekopf und ein anderer mit einem Vogelkopf abgebildet, die sich vor einen angreifenden Stier legen. In den Volp-Höhlen, nicht weit entfernt von der Stelle, wo der Zauberer imposant von der Decke herunterschaut, gibt es die deutlich kleinere Zeichnung eines Bisons mit menschlichen Armen und Beinen, der auf etwas spielt, das wie eine an seinen Nüstern befestigte Flöte aussieht.21

Doch diese Hybridbilder repräsentieren ebensowenig Schamanen, wie Tierbilder echte Tiere repräsentieren. Wie die Punkte, die Handabdrücke und fast alles andere in diesen Höhlen sind die Hybridfiguren Symbole für »die andere Welt« – die Welt jenseits des Materiellen.

Auch Breuil erkannte, dass von dem Zauberer etwas Einzigartiges ausging. Schließlich handelt es sich hier nicht nur um ein Mensch-Tier-Mischwesen, sondern um eine regelrechte Collage aus mehreren Spezies, die zu einem einzigen, aktiven, lebendigen Wesen verschmolzen wurden, das sich von sämtlichen Darstellungen in allen anderen Höhlen unterscheidet. Daher änderte er, nach einigem Nachdenken, seine Ansicht bezüglich seiner Entdeckung und gelangte zu dem Schluss, dass diese sonderbare, hypnagoge Kreatur, die ihn von der Decke anstarrte, kein Schamane war. Es sei, so schrieb er in sein Notizbuch, das älteste jemals entdeckte Bildnis Gottes.22

2. KAPITEL

Der Herr der Tiere

Der Gott, von dem Breuil meinte, ihn in den Volp-Höhlen entdeckt zu haben, war Religionswissenschaftlern damals schon seit Jahren bekannt. Es handelt sich um eine uralte Gottheit, vielleicht die erste, der das menschliche Bewusstsein jemals eine Gestalt gab. Die Menschen dachten sich diesen Gott als Meister der Tiere, als Hüter des Waldes. Man kann ihn durch Gebete beschwören, den Jäger zu seiner Beute zu führen, und durch Opfergaben milde stimmen, falls sein Zorn erregt wurde und deshalb die Jäger mit leeren Händen heimkehren. Er ist Herr über die Seelen aller Tiere. Er allein besitzt die Macht, die Tiere hinaus in die Wildnis zu entsenden, und nachdem sie dann gejagt und erlegt wurden, kann nur er allein ihre Seelen wieder zu sich zurückholen. Man kennt ihn als den Herrn der Tiere.1

Der Herr der Tiere ist nicht nur einer der ältesten Götter der Religionsgeschichte, sondern auch ein besonders weit verbreiteter. Fast überall auf der Welt gibt es Versionen dieser Gottheit – von Eurasien bis nach Nord- und Mittelamerika. Ihr Bildnis findet sich auf mesopotamischen Steingefäßen vom Ende des vierten vorchristlichen Jahrtausends. Auf dem Griff eines Messers aus Elfenbein und Feuerstein, das um etwa 3450 v. Chr. lange vor dem Aufstieg der Pharaonen in Ägypten gefertigt wurde, ist ein Bildnis des Herrn der Tiere eingraviert, der mit jeder Hand einen Löwen festhält. Im Industal wird der Herr der Tiere mit dem zoroastrischen Gott Ahura Mazda und der Hindugottheit Shiva assoziiert, wobei Shiva als Pashupati, als Herr aller Tiere, inkarniert sein kann. Enkidu, der stark behaarte Held des babylonischen Gilgamesch-Epos – eines der ersten schriftlich aufgezeichneten Mythen –, ist eine Verkörperung des Herrn der Tiere, ebenso wie Hermes, oder manchmal Pan, der Gott aus der griechischen Mythologie, der halb Ziegenbock, halb Mann ist.

Selbst der hebräische Gott Jahwe wird in der Bibel gelegentlich als Herr der Tiere präsentiert. Im Buch Hiob brüstet sich Jahwe, er habe die Macht, dem Wildesel seine Fesseln aufzuschließen und die Straußenhenne ihre Eier preisgeben zu lassen, so dass die Menschen sie aufsammeln können (Hiob 39). Und er habe dem Wildstier befohlen, an der Krippe des Menschen zu bleiben und sich vor den Pflug spannen zu lassen. In der modernen Welt verehren bestimmte Wicca-Anhänger und Neuheiden den Herrn der Tiere als den gehörnten Gott, ein mythisches Wesen aus der keltischen Mythologie.

Messergriff, auf dem der Herr der Tiere dargestellt ist. Gefunden in Ägypten (circa 3450 v. Chr.).

Rama / CC BY-SA 2.0 FR / Wikimedia Commons

Wie konnte diese eigenartige prähistorische Gottheit, die der Mensch des Paläolithikum vor mehreren Jahrzehntausenden ersann, sich bis nach Mesopotamien und Ägypten, in den Iran und nach Indien, zu den Griechen und den Hebräern und bis zu heutigen amerikanischen Hexen und europäischen Neuheiden ausbreiten? Oder, anders und schärfer gefragt: Wie gelang es unseren prähistorischen Vorfahren, aus einem Zustand des primitiven Animismus heraus ein hochentwickeltes Glaubenssystem zu gestalten, das die Erschaffung einer Gottheit wie dem Herrn der Tiere überhaupt erst ermöglichte?

Mit solchen Fragen plagen sich Theologen und Wissenschaftler seit Jahrhunderten. Was brachte die frühen Menschen dazu, an »spirituelle Wesen« zu glauben? Verschaffte der religiöse Impuls uns einen Vorteil im Bemühen, alle anderen Spezies zu beherrschen? War der Homo sapiens der Erste der Gattung Homo, der einen religiösen Glauben entwickelte, oder kannten seine Vorfahren auch schon religiöse Deutungen der Welt?

Die meisten Wissenschaftler sind sich einig, dass der religiöse Impuls tief in unsere paläolithische Vergangenheit zurückreicht. Wie tief, darüber tobt allerdings eine heftige Debatte. Das Paläolithikum, die Altsteinzeit, wird offiziell in drei Perioden unterteilt: Das Altpaläolithikum begann vor zweieinhalb Millionen Jahren und endete vor 200 000 Jahren, als der Homo sapiens auf der Bildfläche erschien. Das sich daran anschließende Mittelpaläolithikum erstreckt sich bis zu einem Zeitraum vor 40 000 Jahren, als die ersten Höhlenzeichnungen angefertigt wurden. Dann folgt das vor etwa 10 000 Jahren endende Jungpaläolithikum, in dem die ersten voll entwickelten Religionen aufblühten und sich Beweise für komplexes Ritualverhalten finden lassen.

Es überrascht nicht, dass die Mehrzahl der bis heute gefundenen religiösen Artefakte – einschließlich des Zauberers, der auf ein Alter von 18 000 bis 16 000 Jahren datiert wurde – aus dem Jungpaläolithikum stammen. Doch zwingen neue Funde und verbesserte Datierungsmethoden uns dazu, unsere Annahmen darüber, wann in der menschlichen Evolution erstmals religiöse Ausdrucksformen auftauchten, ständig zu überprüfen. Beispielsweise entdeckten Forscher auf abgelegenen indonesischen Inseln kürzlich Höhlenmalereien, die fast so alt sind wie jene von El Castillo in Spanien (41 000 Jahre). In den indonesischen Höhlen finden sich aber im Gegensatz zu denen in Spanien keine abstrakten Symbole, sondern klar identifizierbare Tierfiguren, zum Beispiel der Hirscheber (Babirusa). Der Fund solcher Zeichnungen von beachtlicher handwerklicher Qualität am anderen Ende der Welt deutet darauf hin, dass die Höhlenmalerei viel älter sein könnte, als wir bisher dachten, vielleicht mehrere Jahrzehntausende älter.2

Diese Auffassung wird durch eine neu entdeckte Höhle in Malaga unterstützt. Dort fand man auf einem Stalaktiten eine Zeichnung, die eine Prozession von Robben zeigt, die an dem Tropfstein herablaufen. Die Robbenzeichnung wurde mit Hilfe der Radiokarbonmethode auf ein Alter von 43 500 bis 42 300 Jahren v. Chr. datiert. Die Robben können darum nicht vom Homo sapiens gezeichnet worden sein, der zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht nach Europa eingewandert war. Als Künstler kommen hier nur Neandertaler in Frage. 2016 wurde in der Nähe des Aveyron-Tals in Frankreich in einer noch älteren Höhle, die nachweislich von Neandertalern genutzt wurde, ein »Altar« entdeckt, bestehend aus zerbrochenen Stalagmiten, die in zwei konzentrischen Ringen auf dem Höhlenboden arrangiert waren – eine Art paläolithisches Stonehenge. Eine erste Radiokarbondatierung des Fundes ergab, dass dieser mutmaßliche Kultplatz vor über 176 000 Jahren angelegt wurde, also im ausgehenden Altpaläolithikum!3

Von Neandertalern in Ringform errichteter Altar aus der Höhle von Bruniquel in der Nähe von Aveyron, Frankreich

Luc-Henri FAGE / CC BY-SA 4.0 / Wikimedia Commons

Viele Forscher sind heute der Ansicht, dass wir sogar für die Zeit vor dem Auftauchen unserer Verwandten aus dem Neandertal nach Spuren für religiöse Ausdrucksformen suchen sollten. Bei Ausgrabungen auf den Golanhöhen entdeckten Archäologen 1981 die dreieinhalb Zentimeter große Steinfigur einer großbusigen, vermutlich schwangeren Frau. Diese so genannte Venus von Berekhat Ram soll mindestens 300 000 Jahre alt sein. Zu dieser Zeit existierte unsere Spezies noch gar nicht. Und die ältesten Grabstätten des Homo sapiens datieren auf ein Alter von etwa 100 000 Jahren. Man hat aber noch viel ältere Gräber gefunden, die deutliche Anzeichen für Bestattungsrituale aufweisen, so zum Beispiel in China ein Grab von Homo erectus, das vermutlich eine halbe Million Jahre alt ist.4

Wenn wir uns bei der Datierung der frühesten religiösen Ausdrucksformen ausschließlich auf archäologische Funde verlassen, stehen wir allerdings vor einem Problem: Glaube versteinert nicht, wie Knochen es tun. Ideen lassen sich nicht bestatten und später von Archäologen wieder ausgraben. Wenn wir in einer Höhle oder an einem Begräbnisplatz auf Beweise für rituelles Verhalten stoßen, wäre es dumm anzunehmen, dieses Verhalten sei plötzlich und zeitgleich mit dem Glauben entstanden, der es motivierte. Die frühen Menschen müssen bestimmte Auffassungen über die Natur des Universums und ihren Platz darin gehabt haben, lange bevor sie anfingen, Bilder dieses Glaubens in die Wände ihrer Höhlen zu ritzen. Unsere Vorfahren Adam und Eva liefen nicht in einem nihilistischen Nebel umher, aus dem sie plötzlich emporgehoben wurden wie Propheten, die eine Offenbarung überfällt. Viel eher werden Adam und Eva ihre Sicht der Welt genauso ererbt haben wie ihr Jagdwissen oder ihre kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten: allmählich im Lauf von Jahrhunderttausenden geistiger und spiritueller Evolution. Wenn sie die Volp-Höhlen betreten, ist das, was sie dort tief unter der Erde sehen, Ausdruck der Blüte eines schon Jahrtausende währenden religiösen Denkens und zugleich die Saat für das Denken der Menschen, die in den kommenden Jahrtausenden leben werden. Alles, was die Volp-Menschen wissen, beruht auf dem Wissen früherer Generationen. Alles, was sie erschaffen, ist das Resultat früherer Schöpfungen.

Wenn wir also religiöse Impulse bis zu ihrem Ursprung zurückverfolgen wollen, dürfen wir uns nicht auf die Suche nach materiellen Beweisen für religiöse Ausdrucksformen beschränken. Wir müssen weiter zurück in unsere evolutionäre Vergangenheit schauen, bis zu jenem Moment, als wir Menschen wurden.

Eine ernsthafte wissenschaftliche Debatte über die Ursprünge der Religion begann im neunzehnten Jahrhundert. Sie wurde genährt von der in der Zeit der Aufklärung geborenen Überzeugung, dass alle Fragen – auch solche, die sich mit dem Göttlichen beschäftigen – mit Hilfe rationaler Analyse und wissenschaftlicher Methodik beantwortet werden könnten. Es war die Zeit Charles Darwins und der Evolutionstheorie. Konzepte wie das der »natürlichen Auslese« oder des »Überlebens des besser Angepassten« – die Vorstellung also, dass bestimmte Merkmale die Überlebenschancen eines Organismus in seinem Lebensraum verbessern und damit auch die Wahrscheinlichkeit erhöhen können, diese Merkmale an seine Nachkommen weiterzugeben – waren in der Biologie bereits weitgehend anerkannt. Zunehmend benutzte man sie nun auch dazu, ökonomische und politische Sachverhalte zu erklären, mit zum Teil verheerenden Konsequenzen. Warum sollte man also Darwins Theorien nicht auch anwenden, um Religion zu erklären?

Religiöser Glaube ist ohne Zweifel so weit verbreitet, dass man ihn als ein Grundelement der Welterfahrung des Menschen betrachten muss. Der Mensch ist ein Homo religiosus, und zwar nicht, weil wir Glaubensbekenntnisse brauchen oder uns religiöse Institutionen wünschen, bestimmten Göttern anhängen oder konkrete theologische Konzepte vertreten, sondern weil uns ein existentielles Streben nach Transzendenz eigen ist, ein Sich-Ausstrecken nach dem, was wir als jenseits der manifesten Welt erfahren. Wenn aber die Neigung zur Religiosität unserer Spezies sozusagen innewohnt, dann, so argumentierten die Wissenschaftler im neunzehnten Jahrhundert, muss sie ein Produkt der menschlichen Evolution sein. Sie muss einen evolutionären Überlebensvorteil mit sich bringen. Denn anders ließe sich die Existenz der Religion nicht erklären.