Götter ohne Menschen - Hari Kunzru - E-Book

Götter ohne Menschen E-Book

Hari Kunzru

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Beschreibung

Jaz und Lisa Matharu reisen mit ihrem autistischen Sohn in die kalifornische Mojave-Wüste, um dem New Yorker Alltag zu entfliehen und ihre Ehe zu retten. Doch bei einem Ausflug verschwindet der vierjährige Raj in der Nähe einer Felsformation, die die bizarre Landschaft prägt und seit jeher Objekt mythischer Vorstellungen ist. 1947 ließ sich an gleicher Stelle ein ehemaliger Flugzeugmechaniker namens Schmidt nieder, der in den Felsen eine natürliche Antenne sah, um Kontakt zu Außerirdischen aufzunehmen. Quellen zufolge war dort bereits 1778 dem Missionar Francesco Garcès ein Engel erschienen, in Menschengestalt, mit dem Kopf eines Löwen … Alle Versuche der Polizei, Raj zu finden, scheitern, und es tauchen vermehrt Blogs und Tweets auf, in denen Jaz und Lisa verdächtigt werden, selbst für das Verschwinden ihres Kindes verantwortlich zu sein. Meisterhaft verknüpft Hari Kunzru eine Vielzahl von Schicksalen zu einem hellsichtigen, hochaktuellen Roman, der zugleich Gegenwartspanorama und Echokammer der Vergangenheit ist. Denn gestern wie heute ist das Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen immer auch ein Kampf um Wahrheit und Macht.

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Seitenzahl: 645

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Hari Kunzru

Götter ohneMenschen

Roman

Aus dem Englischenvon Nicolai von Schweder-Schreiner

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel

»Gods without Men« bei Hamish Hamilton, London.

© Hari Kunzru 2011

© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2020

Alle Rechte vorbehalten

Covermotiv: Kamil Vojnar / Trevillon Images

Covergestaltung: Robert Gigler, München

eISBN 978-3-95438-121-0

Für Katie

»Dans le désert, voyez-vous, il y a tout, et il n’y a rien … c’est Dieu sans les hommes.«

BALZAC, Une passion dans le désert (1830)

»De Indio y Negra, nace Lobo, de India y Mestiza, nace Coyote …«

ANDRÉS DE ISLAS, Las Castas (1774)

»My God! It’s full of stars!«

ARTHUR C. CLARKE, 2001: A Space Odyssey (1968)

Inhalt

Als die Tiere Menschen waren

1947

2008

1778

2008

1958

2008

1969

2008

1920

2008

1970

2008

1871

2008

1920

2008

1971

2008

1942

2009

2008

2009

1775

Als die Tiere Menschen waren

ALS DIE TIERE MENSCHEN WAREN, lebte Coyote an einem bestimmten Ort. »Haikya! Ich bin es so leid, hier zu leben – Aikya. Ich werde in die Wüste gehen und kochen.« Und so nahm Coyote ein Wohnmobil und fuhr in die Wüste, um sich ein Labor einzurichten. Er nahm zehn Pakete Toastbrot mit und fünfzig Päckchen Instantnudeln. Er nahm Whiskey mit und genug Gras, um in Schwung zu bleiben. Nachdem er lange gesucht hatte, fand er einen geeigneten Platz. »Hier lasse ich mich nieder – Aikya! Hier ist so viel Platz! Niemand wird mich stören!«

Coyote machte sich an die Arbeit. »Ach«, sagte er, »Haikya! Ich habe so viele Pseudoephedrin-Tabletten! Und es hat so lange gedauert, sie zu bekommen! Von einer Apotheke zur anderen bin ich gefahren.« Er zerdrückte das Zeug, bis es ein feines Pulver war. Er füllte einen Messbecher mit Methanol und rührte das Pulver hinein. Um den Füllstoff loszuwerden, goss er die Mischung durch Filterpapier. Dann stellte er sie auf die Heizplatte, damit sie verdunstete. Aber Coyote vergaß, aufs Thermometer zu sehen, sodass die Temperatur immer weiter stieg. »Haikya!«, sagte er. »Ich habe so hart gearbeitet, jetzt brauche ich eine Zigarette – Aikya!«

Er zündete sich eine Zigarette an. Es gab eine Explosion. Er starb.

Cottontail Rabbit kam vorbei und klopfte ihm mit seinem Stock auf den Kopf. Coyote kam hoch und rieb sich die Augen. »Verehrter Coyote!«, sagte Cottontail Rabbit. »Geh zum Rauchen nach draußen und mach die Tür von deinem Wohnmobil zu.«

Coyote fing an zu jaulen. »Autsch – Aikya! Wo sind meine Hände – Aikya? Die Explosion hat sie mir weggerissen.« Er jaulte und legte sich hin und war lange Zeit traurig. Dann stand er auf und machte sich neue Hände aus einem Cholla-Kaktus.

Er fing wieder von vorn an.

Er zerhackte das Pseudoephedrin. Er vermischte es mit dem Lösungsmittel. Er filterte und erhitzte und filterte und erhitzte es, bis er sicher sein konnte, dass kein Füllstoff mehr übrig war. Dann nahm er ein paar Streichholzschachteln und schabte den roten Phosphor ab. Er vermischte das Pseudoephedrin mit dem Phosphor und danach mit Jod und Wasser. Plötzlich fing die Mischung im Kolben an zu kochen. Gas strömte aus. Coyote bekam es in die Augen und ins Fell. Er heulte und kratzte sich im Gesicht.

Er erstickte an dem Giftgas und starb.

Gila Monster kam vorbei und bespritzte ihn mit Wasser. Coyote kam hoch und rieb sich die Augen. »Verehrter Coyote!«, sagte Gila Monster. »Nimm einen Schlauch. Füll einen Eimer mit Katzenstreu und steck den Schlauch hinein. So fängst du das Gas auf. Dann kannst du zusehen, wie es im Kolben blubbert und kocht. Und wenn du kannst, am besten nicht atmen.«

Coyote fing an zu jaulen. »Autsch – Aikya! Wo ist mein Gesicht – Aikya? Ich hab mir das Gesicht weggekratzt.« Er lief zum Fluss, machte sich ein Gesicht aus Schlamm und klebte es sich vorne an den Kopf. Dann fing er wieder von Neuem an. Er zerdrückte das Pseudoephedrin und erhitzte es. Er schabte die Streichholzschachteln ab und steckte den Schlauch vom Kolben in den Eimer mit der Katzenstreu. Er vermischte die Chemikalien, kochte sie auf, filterte sie und gab ein wenig Red Devil Rohrreiniger dazu. Er sah aufs Thermometer und versuchte, nicht zu atmen. Er ließ die Mischung abkühlen, gab etwas Benzin dazu, schüttelte das Ganze und sprang dann vor Freude in die Luft, als er die Kristallkruste auf der Flüssigkeit schwimmen sah. Er ließ das Lösungsmittel verdunsten, war aber so aufgeregt, dass er nicht aufpasste und sein Schwanz Feuer fing. Und so tanzte er durch sein Labor und steckte mit seinem Schwanz alles in Brand.

Das Labor brannte ab. Er starb.

Southern Fox kam vorbei und tippte ihm mit der Spitze seines Bogens auf die Brust. »Verehrter Coyote!«, sagte er. »Du darfst deinen Schwanz nicht ins Feuer halten! Darauf musst du achten, wenn du kochst.«

»Autsch – Aikya!«, jaulte Coyote. »Meine Augen, wo sind meine Augen – Aikya?« Coyote machte sich Augen aus zwei Silberdollars und begann von vorn. Er zerkleinerte das Pseudoephedrin. Er filterte und erhitzte es, mischte es und ließ es blubbern. Er filterte und erhitzte es noch weiter und sprang dann in die Luft. »Ach, bin ich klug – Aikya!«, sagte Coyote. »Ich bin klüger als sie alle – Aikya!« In den Händen hielt er hundert Gramm reines Crystal.

Dann ging Coyote fort.

Das ist alles, so endet die Geschichte.

1947

ALS SCHMIDT DIE SPITZEN der Pinnacles sah, wusste er gleich, dass es der richtige Ort war. Drei Felssäulen ragten empor wie die Tentakel eines Urtiers, verwitterte Fühler, die sich in den Himmel bohrten. Er führte ein paar Tests durch, samt Wünschelrute und Bodenmessgerät. Die Nadel schoss direkt nach oben. Keine Frage, hier verlief ein Kraftfeld, entlang der Bruchlinie und hoch durch die Felsen: eine natürliche Antenne. Der Deal war schnell gemacht. Achthundert Dollar an die alte Dame, der das Grundstück gehörte, ein paar Papiere in einer Kanzlei in Victorville unterschreiben, und das Land war seins. Pachtvertrag über zwanzig Jahre, kinderleicht. Er konnte sein Glück kaum fassen.

In Barstow kaufte er sich einen gebrauchten Airstream-Trailer, schleppte ihn auf sein neues Grundstück und saß den ganzen Nachmittag im Gartenstuhl mit Blick auf das funkelnde Aluminiumgefährt. Er musste an North Field denken, den Luftwaffenstützpunkt im Pazifik. Wie die Superforts-Bomber in der Sonne glänzten, das hatte auch etwas Symbolisches. Es zeigte, dass es Welten gab, die man besser nicht direkt ansah.

In der ersten Nacht machte er kein Auge zu. Er lag unter einer Decke auf dem Boden und starrte nach oben, bis aus dem Schwarz erst Lila, dann Grau wurde und die Tautropfen auf der Wolle glitzerten wie kleine Diamanten. Der Wüstengeruch nach Kreosotbüschen und Salbei, die Sterne am Firmament. Am Himmel war mehr los als hier unten auf der Erde, aber um das zu erfahren, musste man erst mal aus der Stadt rauskommen. Die ganzen verdammten Senkrechten, die einem die Sicht versperrten, die ganzen Stahlrohre und Kabel und so unter den Füßen, die einen immer wieder aufhielten und den Fluss behinderten. Von der Wüste hatten die Menschen die Finger gelassen. Eine Landschaft, die einen in Frieden ließ.

Seine Aussichten standen gut. Er war jung genug für die körperliche Arbeit und hatte weder Frau noch Familie. Und er glaubte an etwas. Sonst hätte er schon lange aufgegeben, schon damals als Kind, als er in der Mittagspause religiöse Pamphlete las und sich erste zaghafte Notizen zu den Mysterien des Lebens machte. Jetzt wollte er keine Ablenkung. Es war ihm egal, was die Leute im Ort dachten. Er war ein höflicher Mensch, wechselte gern ein paar Worte, wenn er Einkäufe erledigte, das war es dann aber auch. Die meisten Männer waren Idioten, das hatte er auf Guam festgestellt. Die Scheißkerle ließen ihn nicht in Ruhe, sie gaben ihm Spitznamen und machten alberne Witze auf seine Kosten. Er konnte sich gerade noch beherrschen, seinen Fantasien nicht freien Lauf zu lassen, aber nach der Sache mit Lizzie hatte er nicht das Recht dazu, also unterdrückte er seine Wut und kämpfte weiter im Krieg. Diese Trottel waren wer weiß wie viele Einsätze geflogen, so viele Stunden lang, da hätten sie es doch sehen müssen, aber sie dachten immer noch, das echte Leben spielte sich unten am Boden ab, in der Essensschlange oder zwischen den Beinen der Pin-up-Girls, die sie über ihren versifften Feldbetten aufgehängt hatten. Der Einzige, der einen Funken Verstand besaß, war der irische Bombenschütze, wie hieß er noch, Mulligan oder Flanagan, irgendein irischer Name, der ihm von den Lichtern erzählte, als sie auf dem Weg waren, um Bomben über Nagoya abzuwerfen, grüne Punkte, zu schnell für Zeroes. Er wollte sich ein Buch von ihm leihen. Schmidt gab es ihm und sah es nie wieder. Eine Woche später stürzte der Junge zusammen mit dem Rest seiner Crew ab und versank im Meer.

Nach und nach richtete Schmidt sich ein. Im Trailer war es höllisch heiß, und als er überlegte, wie er am besten den Schatten der Felsen nutzen konnte, entdeckte er die Goldgräberhöhle. Was es damit auf sich hatte, erfuhr er in der Bar im Ort. Vor ein paar Jahren hatten sie den alten Bastard weggescheucht, offenbar ging das Gerücht, er sei ein deutscher Spion. War wohl ein verrückter alter Kerl gewesen und wahrscheinlich halb verhungert, denn auf seinem sogenannten Claim gab es kein Klümpchen Silber oder sonst was, aber graben, das konnte er. Ein ganzer Raum, an die vierzig Quadratmeter groß, direkt unter den Felsen. Kühl im Sommer, isoliert gegen die kalten Winternächte. Ein verdammter Bunker.

Danach lief alles wie von selbst. Er legte eine Landepiste an, setzte einen Benzintank in die Erde, zog einen Betonschuppen hoch und malte in großen weißen Buchstaben WILLKOMMEN auf das Blechdach. Jetzt hatte er eine Aufgabe. Viel einbringen würde ihm das Café nicht, aber es musste ja auch nicht gleich General Motors sein. Wahrscheinlich würde er noch eine Weile alleine zurechtkommen, aber ewig reichten seine Ersparnisse auch nicht. Ein oder zwei Jahre noch, dann würde es eng werden, gerade die richtige Zeit also, um etwas Neues auf die Beine zu stellen.

Viele Flugzeuge kamen nicht vorbei. Etwa einmal die Woche landete jemand. Dann servierte er Kaffee und Spiegeleier. Wenn sie ihn fragten, was er hier draußen mache, sagte er, warten, und wenn sie fragten, worauf, sagte er, das wisse er noch nicht, aber es sei bestimmt besser als im Stau zu stehen, und damit gaben sie sich meistens zufrieden. Den Bunker zeigte er niemandem. Nach ein paar Monaten wurden es mehr. Unter den Piloten auf dem Weg zur oder von der Küste sprach sich herum, dass man dort tanken konnte. Er kaufte ein paar Stühle und Plastiktische und legte einen Biervorrat an.

Natürlich gab es auch Probleme. Der Generator ging kaputt. Er hatte Ärger mit ein paar Indianern, die in den Felsen herumkletterten und denen er sein Gewehr zeigen musste. Nachdem sie verschwunden waren, fand er dort oben Felsmalereien. Handabdrücke, Schlangen und Dickhornschafe. Eines Tages zwang ein Sandsturm ein Flugzeug zur Landung. Der Wind jagte mit sechzig Sachen über die Piste, und der Pilot bewies starke Nerven, dass er die Maschine überhaupt sicher zu Boden brachte – zwischendurch sah es aus, als würde es den linken Flügel hochziehen und komplett herumreißen. Schmidt rannte mit Bandana vor dem Mund nach draußen und brachte den Mann, ohne groß nachzudenken, nach unten in den Bunker.

Der Pilot war ein junger Bursche, Anfang zwanzig, dunkle Haare, kleiner dandyhafter Schnurrbart. Aus gutem Hause. Während er die Jacke und die Fliegerbrille abnahm, sah er sich verwundert um und fragte, wo um alles auf der Welt er hier sei.

Zu diesem Zeitpunkt war das Projekt bereits weit fortgeschritten. Schmidt hatte einen Wirbelkondensator gebaut, um die paraphysikalischen Energien, die durch die Felsen strömten, zu speichern und zu bündeln. An der höchsten Stelle setzte er einen Kristall in einen Kardanring und richtete ihn zur Venus hin aus. Basierend auf den Erkenntnissen Teslas, entwickelte er ein paralleles piezoelektrisches System, sendete vorerst aber über eine alte Morsetaste mit Ätherwandler, der die Klicks in Modulationen der paraphysikalischen Trägerwelle umwandelte. All das erklärte er dem Piloten, der aufmerksam zuhörte und dabei die Geräte und die Stapel von Büchern und Notizen betrachtete. Er schien beeindruckt.

»Und was ist das für eine Botschaft, die du da sendest?«

Gute Frage. Schmidts Botschaft war die Liebe. Liebe und Brüderlichkeit zwischen allen Wesen im Universum. Jeden Abend zwei Stunden Sühne, sobald der Planet am Horizont auftauchte. Zwei Stunden lang wiederholte er seine Einladung: WILLKOMMEN. Er wollte nicht darüber reden, nicht mit einem Fremden, machte stattdessen Witze über höhere Mächte, Dinge, die man mit bloßem Auge nicht sehen könne.

Der Pilot lächelte. »Ich hoffe, du weißt, was du tust.«

»Na ja, wir werden sehen.«

Von da an landete der Junge mit seinem Zweisitzer alle zwei Wochen zwischen den Felsen. Sein Vater besaß eine große Farm unten im Imperial Valley, aber Davis, so hieß er, wollte mehr vom Leben als Orangenhaine und illegale Pflücker. Obwohl Schmidt ihn nicht darum bat, gab er ihm Geld für Bücher und Ausrüstung. Clark Davis war sein erster Jünger, der Erste, der Schmidts Berufung wirklich erkannte.

Eines Abends flogen sie rüber nach Nevada, zu einer Ranch in der Nähe von Pahrump, mit Neon-Bierwerbung in den Fenstern und einer Reihe von Sattelschleppern vor der Tür. Davis wollte, dass er sich amüsierte, es sei nicht gut, so viel allein zu sein. Wider besseres Wissen – der ganze Ausflug verlief wider sein besseres Wissen – saß Schmidt kurz darauf nervös mit einem Drink in der Hand da, während sich die Mädchen, nur mit einem seidenen Nichts bekleidet, aufreihten, einen Schmollmund zogen und den Hintern rausstreckten. Davis, ganz Mann von Welt, wählte eine großbrüstige Mexikanerin aus und zwinkerte ihm beim Rausgehen aufmunternd zu, als wäre Schmidt ein aufgeregter Teenager, dem sein erstes Mal bevorstand. Das brachte ihn auf die Palme. Er kippte seinen Brandy und bestellte einen zweiten. Seit dem letzten Abend mit Lizzie hatte er keinen Alkohol angerührt, und bald wusste er auch wieder warum: Obwohl das kleine blonde Stück, für das er sich entschied, ausgenommen süß und nett war, wurde er wütend auf sie, im Grunde eher auf sich selbst, und wahrscheinlich hatte sie Angst bekommen und einen Knopf gedrückt oder so, denn kurz darauf stand er mit der Hose in der Hand auf dem Parkplatz und suchte nach seinem zweiten Stiefel.

Er versuchte, es Davis zu erklären. Dass er ein wilder Junge und seine arme Mutter überfordert mit ihm gewesen sei. Er habe weder Interesse an der Schule noch an einer Ausbildung gehabt und sich für sein junges Leben nichts anderes gewünscht als ein großes Zelt und Luft, die nicht nach Schwefel roch, also war er in Erie, Pennsylvania, auf den nächsten Güterzug gesprungen, ohne sich ein einziges Mal nach den Schornsteinen umzusehen. Mit siebzehn arbeitete er am Fließband in einer Lachskonservenfabrik in der Bristol Bay, trug seinen Lohn in die Bars und hatte dauernd wegen irgendwas Ärger, was ihn schließlich zu Lizzie führte, die ganze vierzehn Jahre alt war, ein Halbblut und noch verrückter als er. Als sie ihm vor einer Lagerhalle im Hafen einen Blowjob verpasste, fühlte es sich an, als spielte eine Band in seinem Kopf. Kurz darauf war sie schwanger, und da saß er dann wirklich in der Scheiße, zumal sie mehrere Brüder hatte und ihr Vater eine große Nummer in der Stadt war und sie beide mehr oder weniger vor den Altar zerrte, um das Ansehen der Familie zu retten. Der Alte konnte Schmidt nicht leiden, aus naheliegenden Gründen, war aber immerhin so anständig, ihnen ein kleines Zuhause einzurichten und sogar noch Geld für das Kind beizusteuern. Der Haken war, dass Schmidt keine Almosen wollte, und vor allem wollte er nicht das Gefühl haben, in der Falle zu sitzen, und weil das Geschrei des Kleinen ihn wahnsinnig machte und er irgendwie keine Lust mehr auf sie hatte, fing er an, Lizzie zu schlagen. Ihr Vater und ihre Brüder warnten ihn, und jedes Mal, wenn es passierte, weinte er danach in ihren Schoß und versprach, sich zu bessern. Aber durch die Streits fühlte er sich nur noch eingeengter, und dann trank er eines Abends mehr als sonst, und sie wurde pampig, und am Ende band er ihr eine Schlinge um den Hals und schleifte sie eine halbe Meile hinter seinem Truck her, bis er irgendwann zur Vernunft kam und auf die Bremse trat.

Sie überlebte, sah aber nicht mehr aus wie vorher. Im Knast machten sich ein paar Jungs über ihn her, und er dachte, sie würden ihn umbringen, weil sie sagten, Lizzies Vater hätte sie bezahlt, aber als sie fertig waren, ließen sie von ihm ab, und er zog die Hose hoch und legte sich in die Ecke seiner Zelle, wo er auch noch lag, als der Russe kam und ihn auf Kaution rausholte. Der Russe stand in seiner Schuld, seit Schmidt ihn daran gehindert hatte, einen Typen beim freitäglichen Kartenspiel aus dem Fenster im zweiten Stock zu werfen. Denk an die verschenkten Jahre, sagte Schmidt, und der Russe, breit vom Whiskey, hörte auf ihn. Betrunken genug, um ihn fallen zu lassen, ließ er den wimmernden Falschspieler an den Knöcheln baumeln, zog ihn stattdessen aber wieder rein, verpasste ihm ein paar Backpfeifen, und damit hatte sich die Sache erledigt. Als er am nächsten Morgen nüchtern war, bedankte er sich bei ihm. Sollte er mal in Schwierigkeiten stecken, könne er auf ihn zählen. Die zweihundert Dollar des Russen waren der erste Glücksfall, der zweite geschah, als der Polizeichef auftauchte und ihm erklärte, wenn er noch am selben Nachmittag die Stadt verlasse, würde Lizzies Vater von einer Anzeige absehen. Damit war das Ansehen wiederhergestellt. Das schien ihm wichtiger zu sein als seine Halbbluttochter.

Also brach Schmidt auf in Richtung Süden, und obwohl er die Geschichte Arbeitskollegen und Mitbewohnern wie einen Witz erzählte, wuchsen die Schuldgefühle in ihm und löschten jede Art von Glücksgefühl aus, und er wusste, dass er sich umbringen würde, wenn er nicht eine Möglichkeit fand, wieder mit der Welt ins Reine zu kommen. Ich bin Abschaum, erzählte er jedem, der es hören wollte. Das war schon immer so, ich kann nichts dagegen tun. Und es würde auch immer so bleiben, dachte er, weil es nämlich unmöglich war, sich zu ändern, bis er erkannte, dass es das Wort unmöglich nur im Wörterbuch der Narren gab, ein Zitat, sein erstes, das zweite lautete, wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich, ein Sprichwort, das er aus einer alten Ausgabe von Reader’s Digest hatte und das ihn auf den für ihn neuen Gedanken brachte, man könne Wahrheit im geschriebenen Wort finden. Danach gewöhnte er sich an, nach solchen geschriebenen Wahrheiten zu suchen und sie aufzuschreiben, erst auf Zetteln, dann in Notizbüchern, bis ihm schließlich bewusst wurde, dass er an einem System arbeitete, einem Verständnis von der Welt, wie es sonst nur wenige hatten. Er las so viel er konnte, verschlang Bücher in jeder freien Minute und rührte nie wieder einen Tropfen Alkohol an, bis er sich von Davis dazu verführen ließ, und das auch nur aus dem kurzen Wunsch heraus, so zu sein wie andere Menschen, ein Recht, dass er verwirkt hatte, wie er tief in seinem Inneren wusste.

Davis hörte sich seine Geschichte an, ohne ein Wort zu sagen. Es dauerte mehrere Wochen, bis er das nächste Mal kam.

Schmidt vertrieb sich die Zeit damit, Signale loszuschicken und den Himmel zu beobachten. In seiner Abgeschiedenheit arbeitete er weiter mit seinen Zitaten. Seine Suche hatte ihn anfangs zur Bibel geführt, dann zu anderen Büchern. Er ging immer davon aus, dass jede wertvolle Wahrheit versteckt sein müsse, dass etwas, solange man nicht danach graben musste, keinen Wert besaß. Ein, zwei Jahre später stand er mit einem Mopp in einem Hangar in Seattle, während die Ingenieure Flugzeuge bauten, deren Größe und Komplexität ihm wie ein Wunder erschienen. Als er die riesigen Maschinen abheben und landen sah, wie die Erde sie losließ und dann wieder freundlich empfing, hatte er das Gefühl, dass das Geheimnis sich genau darin offenbarte. Er beschloss, Pilot zu werden, erfuhr dann aber beim Sehtest, dass er unter einer Hornhautverkrümmung litt. Dieser Weg blieb ihm verwehrt.

Er ging ins Büro und fragte, wie er einen Job als Flugzeugmechaniker bekommen könne. Berufsfachschule, lautete die Antwort, also ging Schmidt tagsüber zur Schule und arbeitete nachts als Wachmann. Als in Europa der Krieg ausbrach, hatte er einen festen Job am Flughafen und ein Haus voller Bücher, deren Ränder schwarz von seiner Krakelschrift waren. Sein Projekt nahm Formen an: Wie ließen sich die Mysterien der Technik mit denen des Geistes verbinden? Er wusste, dass die Flugzeuge, an denen er arbeitete – mit ihren verknoteten Kabelsträngen, der Hydraulik und den fein geeichten Messgeräten, die den Kraftstoffstand und die Motorleistung überwachten –, nur die halbe Wahrheit waren. Es gab größere, weniger greifbare Mächte als Schub, Drehmoment und Auftrieb. Seine Aufgabe war es, sie zu vereinen. Wenn er eines Tages vor seinen Schöpfer trat, würde er vielleicht nicht als Monster dastehen, sondern als Überbringer des Lichts, als guter Mensch.

Nach Pearl Harbor arbeitete er am Bau der XB-29, einem neuen Langstreckenbomber, der gegen die Japaner eingesetzt werden sollte. Der Zeitplan war mörderisch. Es tauchten alle möglichen Probleme auf, überhitzte Triebwerke, rätselhafte Fehler in der Elektronik, die erst nach Tagen entdeckt wurden. Einmal verlor ein Testpilot die Kontrolle über einen Prototyp und sauste durch eine Stromleitung in eine Packanlage. Die Bodencrew sprang sofort in ihre Fahrzeuge und fuhr zu dem brennenden Gebäude, um die Opfer zu retten. Dreißig Menschen starben.

Die Probleme an den Triebwerken blieben, und als der Bomber in Produktion ging, war so gut wie jedes Teil, das vom Band kam, defekt. Die Generalität wollte, dass die Maschinen in China Einsätze flogen, aber am Starttag war kein einziges Flugzeug einsatzfähig. Schmidt wurde nach Wichita versetzt und absolvierte dort Doppelschichten im Schneesturm, als Leiter einer Crew, die sich um die letzten Modifikationen am Navigationssystem kümmerte. Sie mussten sich alle zwanzig Minuten abwechseln, länger hielt man es draußen nicht aus, ehe es zu Erfrierungen kam. Schließlich brachen die Maschinen in Richtung Osten auf, um dann in Ägypten wieder zu landen, weil die Triebwerke, die in der Eiseskälte einigermaßen funktioniert hatten, bei Temperaturen um 45 Grad den Geist aufgaben. Sie schickten Schmidt los, um Leitbleche und ein Kühlsystem nachzurüsten, die mehr oder weniger spontan in einem Hangar in Kairo entwickelt wurden.

Und so machten die B-29er sich wieder auf den Weg, und mit ihnen Schmidt. Die Temperaturen im Cockpit kletterten auf über siebzig Grad und fielen über dem Himalaja auf minus dreißig, wo heftige Fallböen und Seitenwinde sie wie Holzspielzeuge hin- und herwarfen und die Flugwerke an ihre Grenzen brachten. Zwischen den Wolken erblickte er Täler und Schluchten, Flüsse, Dörfer und hier und da beängstigend schimmernde Aluminiumtrümmer in den schwarzen Berghängen. Offenbar hatte er einen Schutzengel, jedenfalls stand er eine Woche, nachdem er es über den »Buckel« geschafft hatte, auf der Rollbahn in Xinjin. Die Bauern auf den Reisfeldern ringsum hielten die Hände über die Augen, als die neunzig Bomber des 58sten Geschwaders in Richtung des Showa-Stahlwerks in Anshan starteten. Er halluzinierte fast vor Erschöpfung, nachdem er die letzten achtundvierzig Stunden an den großen Wright-Cyclone-Triebwerken herumgewerkelt hatte, um die Katastrophe abzuwenden, die sich mitten in der Luft ankündigte: Ventilköpfe flogen davon, dabei wurden die Zylinder zerstört und die Hydraulikflüssigkeit lief aus, weswegen der Pilot den Propeller nicht mehr auf Segelstellung schalten konnte, sodass er schleifte und dann wegbrach oder, noch schlimmer, das ganze Triebwerk verklemmte und es aus der Tragfläche riss. Die Flugzeuge sahen aus wie riesige weiße Vögel, wie Engel. Er verspürte ein mulmiges Hochgefühl. Das war seine Art der Wiedergutmachung. Er half mit, den Krieg zu gewinnen.

Anfang ’45 verlagerten sie die Einsätze auf die Marianen-Inseln. Auf Guam verbrachte Schmidt seine freie Zeit in einem Liegestuhl neben der Kantine des Luftwaffenstützpunkts North Field und las Isis entschleiert, das er sich in einem theosophischen Buchladen in Kalkutta gekauft hatte. Hinter der Eingrenzung, im Dschungel, gab es wilde Tiere und halbwilde Japaner, die dort gestrandet waren, nachdem die Kaiserliche Armee das Feld geräumt hatte. Bei ihm selbst war alles im Reinen. Zum ersten Mal seit Jahren erlaubte er sich, glücklich zu sein. Über die Piloten hörte er von den zerstörerischen Luftangriffen, ohne dass es ihn berührt hätte, bis er schließlich nach Tinian entsandt wurde. Die 509te Einheit führte sich auf, als gehörte ihnen der ganze Pazifik und alle anderen müssten für das Privileg, hier zu sein, bezahlen. Angeblich testeten sie eine neue Superwaffe. Als Schmidt die Enola Gay in Richtung Hiroshima starten sah, wusste er zwar, dass sie nicht die übliche Fracht an Bord hatte, aber das war auch schon alles. Das Übrige erfuhr er wie der Rest der Welt durch Bilder: die brennenden Kinder, die Uhren, die auf 8:15 stehen geblieben waren. Seine hübsch glänzenden Flugzeuge, die Boten des Lichts, hatten Dunkelheit über die Menschen gebracht. Man hatte ihn hintergangen.

Im Herbst ’46 war er zurück in Seattle, konnte sich aber an keine normale Arbeit gewöhnen. Die Welt schien sich auf ein schreckliches neues Übel zuzubewegen. Das spirituelle Energieversprechen war pervertiert worden: Statt Armut und Hunger abzuschaffen, verwandelte die Atomkraft den Planeten in verseuchtes Land. Er ging nicht mehr vor die Tür und vernachlässigte seine Arbeit. Im Haus war es kalt und feucht. Abends saß er zitternd vor dem Kamin und stellte sich vor, wie die großen Nadelbäume vor dem Fenster näher rückten und den Himmel tilgten, bis er irgendwann einschlief.

Er ging, bevor sie ihn feuern konnten, holte seine Ersparnisse von der Bank, packte seine Bücher und Papiere in den 38er Ford Pick-up und machte sich auf den Weg in die Wüste. In Gedanken sah er sich als alten Propheten, ein Asket, der im Schneidersitz in einer Höhle saß. Er würde seinen Körper martern und seinen Geist reinigen. Die Welt war in zwei Teile gespalten, diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs. Er würde die Wunde heilen. Er wollte die einzige Macht anrufen, die stark genug war, Kommunismus und Kapitalismus zu überwinden und den zerstörerischen Energien Einhalt zu gebieten. Seit Anbeginn der Geschichte gab es Kontakt zu außerirdischer Intelligenz. Ezechiels Thronwagen, die Weltraumfahrten der Maya, die kosmischen Waffen im vedischen Indien – die Besucher verfügten über eine spirituelle Technologie, die den groben Mechanismen der Naturwissenschaft weit voraus war. Es war an der Zeit, dass sie sich zu erkennen gaben und in das Leben der Menschen eingriffen.

Also sandte er Einladungen aus. Zwei Stunden pro Abend – zwei Stunden, um für Lizzie Buße zu tun, für die Bombenangriffe, für das ganze Elend der irdischen Existenz. Während er den Himmel absuchte, sah er Sternschnuppen, helle Lichter, die in Formation über die Tehachapi Mountains flogen. Manchmal sausten Düsenjäger über ihn hinweg und zogen Kondensstreifen durch das Blau.

Eines heißen Abends saß er nach dem üblichen Abendessen aus Dosenwürstchen und Bohnen draußen und döste vor sich hin. In der Ferne jaulte ein Kojote und holte ihn aus dem Schlaf. Er öffnete die Augen, streckte sich und überlegte, runter in den Bunker zu gehen und sich eine Zigarette zu holen. In dem Moment sah er es: ein helles Licht direkt über dem Horizont. Es war diesig, der starke Wind der letzten Tage hatte Staub aufgewirbelt, und es dauerte eine Weile, bis er sicher war, was er da vor sich hatte. Mit trockenem Mund sah er zu, wie das Objekt größer wurde und mit unglaublicher Geschwindigkeit auf ihn zuraste. Kein Motorengeräusch war zu hören und auch sonst nichts. Was da auf ihn zukam, sah aus wie eine schlichte Scheibe mit einem Ring aus flirrenden Lichtern drum herum, wie Edelsteine oder Katzenaugen. Sein ganzer Körper kribbelte, als stünde er unter Strom, an seinen nackten Armen stellten sich die Haare auf. Kurz darauf schwebte das Oval über den Felsen, als untersuchte es den Boden. Dann sank es feierlich und majestätisch herab und landete direkt vor ihm, ohne auch nur ein Körnchen Sand aufzuwirbeln. Es war das Schönste, was er je gesehen hatte.

Nach der Landung fing das Fahrzeug an zu pulsieren – anders konnte er es nicht beschreiben –, es wurde blassgrün, dann lila und rosa, mit einem leichten Pochen wie ein Herzschlag. Er keuchte auf, als am Rumpf eine Tür aufging und eine Rampe herausklappte, wie die Ranke einer tropischen Pflanze. In der Tür standen zwei menschliche Gestalten, eine männlich, die andere aufreizend weiblich. Ihr blondes Haar wehte in einem ätherischen Wind, obwohl die Abendluft ansonsten still und drückend war. Ihre Haut sah fast durchsichtig aus, und in ihren edlen Gesichtern entdeckte er bemerkenswerte graue Augen, aus denen tiefes Mitgefühl und Intelligenz sprachen. Beide trugen schlichte weiße Gewänder, um die Hüfte von Metallketten zusammengehalten. Als sie ihm zulächelten, verspürte er ein großes, allumfassendes Wohlwollen. Komm, sagte eine Stimme, aber nicht laut, sondern weit hinten in seinem Kopf. Sie klang tief und voll und hallte in ihm wider wie ein Gebet. Sei willkommen. Wir wollen dir etwas zeigen. Endlich, dachte er und trat lächelnd ins Licht.

2008

OH BABY OH WHAT YOU WANT went down to the crossroads got down on my mojo black cat und so weiter. In Nickys Augen war das ganze Americana-Ding nur noch ein Witz. Er sah die Jungs auf den großen Ledersofas im Studio rumhängen. Lol mit seinem Trucker-Cap. Jimmy versuchte, Slide-Gitarre auf seiner funkelnagelneuen National zu spielen, und machte dazu kehlige Geräusche, als wäre er ein alter Bluesman und kein dünner heroinsüchtiger Elektrikersohn aus Essex. Ihr seid alle Wichser, erklärte er ihnen. Uh huh unh unh, machte Jimmy. Ned telefonierte mit seinem Steuerberater. Niemand sah hoch. Scheiß drauf, dachte er. Scheiß auf alles.

Draußen auf dem Parkplatz brannte die Sonne vom immer gleichen blauen L.A.-Himmel. Nicky rauchte eine Zigarette und sah die Mexikaner an der Ecke stehen, so wie jeden Tag. Dem Tontechniker zufolge warteten sie darauf, dass jemand in einem Lieferwagen vorbeikam und ihnen einen Job gab. Gartenarbeit. Irgendwas auf dem Bau schleppen. Was für ein Leben. Stell dir das vor, hatte er zu Lol gesagt. Wären die Würfel anders gefallen, könnten wir da jetzt stehen, weißt du, was ich meine? Ich nicht, meinte Lol. Ich bin zu groß für einen Mexikaner.

Was war passiert? Vor drei Jahren waren sie noch durch Camden gelaufen, hatten sich auf Konzerte gemogelt und auf dem Klo im Good Mixer schlechtes Speed gezogen. Ohne sich einen Scheißdreck um irgendwas zu kümmern.

Und jetzt?

Natürlich würden die meisten Menschen ihre Großmutter verkaufen, um in einer Band wie ihrer zu spielen. Wenn einem alle auf die Schultern klopfen, man Hits hat und im Fernsehen kommt und so, und man dann rumstöhnt, dass es ja alles gar nicht so toll sei, wie man dachte, muss man sich nicht wundern, wenn man wie ein Geistesgestörter behandelt wird. Du lebst deinen Traum, oder? Also halt die Klappe. Er hatte schnell gelernt, bestimmte Dinge für sich zu behalten. Immer schön lächeln und den Journalisten irgendwelchen Scheiß erzählen. Jedenfalls nicht, dass du nachts wach liegst und dich fragst, warum du nicht glücklicher bist. Clonazepam, Ambien, Percocet, Xanax. Er sollte besser nicht mit dem Finger auf Jimmy zeigen. Sein eigenes Badezimmer sah aus wie eine Apotheke.

Er lehnte an Noahs Wagen, einem hübschen alten Mercury Cabrio mit buntem Hippiemuster. Man erkannte das Studio an den Autos. Die Gebäude hier sahen alle gleich aus: große graue Bunker mit Eisentüren. Nur bei einem standen die ganzen Karren vor der Tür. Sein eigener oranger Camaro, den er in seiner Begeisterung für Amerika gleich nach der Ankunft gemietet hatte. Jimmys Porsche, der quer auf zwei Parkplätzen stand, mit einem fetten Kratzer auf der Beifahrertür, weil er in der Tiefgarage eine Säule gestreift hatte. Jimmy konnte ums Verrecken nicht Auto fahren, selbst wenn er nicht breit war. Nicky war nicht hundertprozentig sicher, ob er noch einen Führerschein besaß.

Was also sollte er tun? Wieder reingehen, ein braver Junge sein und versuchen, Songs zu schreiben mit diesem Haufen Arschlöcher, die mal seine Freunde waren? Er konnte sich das nicht vorstellen, wozu auch? Natürlich gab es Millionen von Gründen, ungefähr zweieinhalb Millionen Gründe allein für ihn, was ungefähr dem Vorschuss entsprach, bevor die Plattenfirma mit ihren krummen Rechnungen kam und alles wieder weg war. Sie waren in L.A., um ihr West-Coast-Album aufzunehmen, mit Sunset-Strip- und Laurel-Canyon-Vibes als Feenstaub zum Drüberrieseln. Stattdessen hatten sie sich drei Monate lang angezickt, Zeug gekauft und sich in Bars volllaufen lassen, in denen die Leute aussahen, als wären sie gerade frisch ausgepackt worden, blitzeblank und teuer, wie Audio Equipment. Leute mit Schaumstofflocken, Plastiktüten und Kabelbindern.

Drei verdammte Monate. Amerika erobern? Eher andersrum. Erst dachten Jimmy und er, sie müssten nur ein bisschen durch die Gegend fahren und die Atmosphäre aufsaugen und plötzlich würden sie klingen wie die Byrds oder so und gute Musik machen. Also fuhren sie durch die Gegend. Und machten Scheißmusik – schlimmer noch –, Scheißmusik, die nicht mal nach ihnen klang. In London hätten sie das besser hingekriegt, selbst mit dem ganzen Mist drum herum – Jimmys Dealer, der immer bei ihnen abhing, Anouk, die Klatschpresse. In L.A. kam sich Nicky vor wie ein Tourist. Was sollte er hier, einen Song über Palmen schreiben? Über Rasensprenger? Bikram Yoga? Er sagte zu Jimmy, er habe Heimweh, aber Jimmy wollte nichts davon wissen und quatschte weiter darüber, wie sie damals in Dalston, wenn sie high waren, Gram Parsons gehört und sich über Cosmic American Music ausgelassen hatten. Er käme gerade erst in die Szene rein, meinte er. Er wollte Schauspielerinnen vögeln und auf Partys in Häusern mit riesigen Glasfronten gehen, von wo aus man die Lichter unten im Tal sehen konnte. Nicky wollte nichts anderes als einen Döner.

Manchmal betrank er sich und ging mit jemandem ins Bett. Er fand sich nicht toll deswegen, aber letzten Endes war Anouk selber schuld. Es wäre nicht passiert, wenn sie bei ihm gewesen wäre. Er hatte sie gebeten zu kommen, aber sie musste ja zu einem Job nach Moskau. Und dann noch zu einem Werbespot nach Phuket. Das nächste Mal war es die Paris Fashion Week. Dauernd war irgendeine beschissene Fashion Week.

Hör auf zu jammern, meinte sie. Sie mochte es nicht, wenn er jammerte.

Nicky hatte eine Regel: Niemals vor einem Mädchen zu viel Gefühle zeigen. Schließlich bestand die halbe Welt aus Muschis. Aber mit Anouk war es anders. Ihr konnte er nichts vormachen. In ihrer lustigen, gelangweilten Art durchschaute sie ihn. Er hasste es, sie am Telefon abzuwürgen, aber er musste es durchziehen. Sie durften nie die Oberhand gewinnen.

Nach dem Fashion-Week-Telefonat tat er, was er inzwischen immer tat, wenn es ein Problem gab – er trank sich durch die Minibar. Erst Wodka, dann Gin, Whiskey und was sonst noch da war. Er sah sich irgendwelchen Mist im Fernsehen und auf YouTube an und merkte, wie er immer finsterer drauf kam. Sie hatte so unbeteiligt geklungen. Mit wem war sie in Paris zusammen? Die meisten Typen in der Modewelt waren schwul, ein Segen, wenn man mit einem Model zusammen war, aber es liefen auch immer genug Heteros rum. Fotografen zum Beispiel. Alles lüsterne Dreckskerle. Und diese reichen Fünfzigjährigen, die man nur auf Fashionpartys sah, mit der orangefarbenen Haut und einem Faible für Teenager. Ein krankes Business, wenn man drüber nachdachte.

Kein guter Abend. Am nächsten Morgen war er nicht unbedingt stolz auf sich. Terry hielt ihm einen Vortrag, im Hotel sei man nicht sehr erfreut, und ob ihm klar sei, wie viel es koste, die Polizei da rauszuhalten. Nicky antwortete, es sei seine Schuld, wenn er ihn in so einem miesen Zimmer unterbrachte. Er hatte von Anfang an einen größeren Balkon gewollt. Wie Terry geguckt hatte. Ein oder zwei Tage später versöhnte er sich mit Anouk, aber es war klar, dass er noch eine Weile ohne sie auskommen musste. Er schickte Blumen, schrieb einen Songtext, überlegte, ihr den Text zu schicken, zerriss ihn wieder.

L.A. war ein Albtraum. So was von spießig. Nichts durfte man. Sorry, Sir, dies ist ein Nichtraucherbereich. Sorry, Sir, Engländern ist es nicht erlaubt, in unserem tollen weiß angemalten Restaurant mit Freunden laut zu reden und zu lachen. Er wollte einfach nur zum nächsten Eckladen gehen. Mit dem Bus fahren. Valet Parking? Was sollte das? Wie sollte man in einer Stadt, in der es keine Taxis gab, betrunken nach Hause kommen? Und niemand verstand seinen Akzent. Ich nehm das Tuna Sandwich. Cheena? Tut mir leid, Sir, was ist Cheena? Einmal wollte er ein Glas Wasser bestellen. Wasser, sagte er. Wasser. Das Zeug, das aus dem Hahn kommt. Die Kellnerin reagierte genervt. Ich verstehe nicht, zischte sie, was bitte möchten Sie? Noah musste einschreiten. Wasser, sagte er. Wah-dah. Sie wiederholten es noch mehrmals.

Er rief Anouk an.

»Sag alles ab. Ich sag Terry, er soll dich in den nächsten Flieger setzen.«

»Das kann ich nicht. Ich kann nicht ›alles absagen‹.«

»Ich brauch dich, Baby. Ernsthaft. Ohne Scheiß.«

»Ich habe einen Job.«

»Verdammt, Nookie, du sitzt doch nicht in irgendeinem Büro. Kannst du nicht einmal was absagen?«

»Nicky, es war deine Entscheidung, dort hinzugehen. Du hast mich verlassen, nicht ich dich.«

»Ich hab dich nicht verlassen.«

»Du hättest in irgendein Studio gehen können. Es ist nur ein Raum mit einem Haufen blöder schwarzer Kästen. Noch nicht mal mit Fenstern. Was spielt es für eine Rolle, wo du bist?«

»Davon hast du keine Ahnung.«

»Nein, natürlich nicht. Ich bin ja so dumm. Ich bin dumm und gut zum Vögeln und um an deinem Arm zu hängen, wenn du fotografiert wirst.«

»Das hab ich nicht gemeint.«

»Du bist ein egoistisches Arschloch, weißt du das? Ein verwöhnter kleiner Junge.«

»Ich bin ein kleiner Junge, ja? Und wer ist dann der Mann, Nookie? Wer ist der echte Mann in deinem Leben?«

»Bitte?«

»Ich kenne dich. Du hast jemanden. Wer ist es? Sag mir die Wahrheit, Anouk.«

»Das ist lächerlich. Ich hab keine Lust, mit dir zu reden, wenn du so bist.«

Klick.

Er stand auf dem Parkplatz, dachte an Anouk und fragte sich, ob das flaue Gefühl in seinem Magen bedeutete, dass er verliebt war. Er schrieb Liebeslieder oder zumindest so was Ähnliches. Aber was empfand er eigentlich wirklich für sie? Wenn er etwas haben wollte, hasste er es, wenn er es nicht bekam, das war alles. Er suchte nach Gründen, ins Studio zurückzugehen. Ein Pick-up hielt an der Ecke bei den Mexikanern. Der Fahrer gestikulierte, und ein paar von ihnen kletterten auf die Ladefläche. Er fragte sich, was passieren würde, wenn er dazustieg. Wo er landen würde. Was für ein Leben er führen würde.

Vielleicht sollte er ein bisschen durch die Gegend fahren. Er beugte sich über Noahs Cabrio und öffnete das Handschuhfach. Es war nicht abgeschlossen. Die Schlüssel lagen nicht drin, dafür ein Plastikbeutel mit kleinen braunen Scheiben, die aussahen wie abgenutzte Münzen. Er wusste, was es war, obwohl er nie eine genommen hatte. Eines von Noahs Lieblingsthemen war, dass man sein Totemtier finden und den Spalt zwischen beiden Welten betreten musste. Hinter dem Beutel mit den Drogen war noch etwas, in ein Tuch gewickelt. Er griff hinein. Eine Waffe. Eine klobige vergoldete Pistole mit der Inschrift ISRAELI MILITARY INDUSTRIES. Solche Dinger lagen wahrscheinlich bei einem afrikanischen Diktator unterm Weihnachtsbaum.

Es dauerte eine Weile, bis Nicky kapiert hatte, dass Noah ein Psychopath war. Er war ein paar Jahre älter, fast dreißig und berühmter als sie, zumindest in den USA. Seine Freak-Folk-Alben verkaufte er wie geschnitten Brot an Hipster-Kids, die den Geruch von Freiheit atmen wollten – das Licht, das durch Mammutbäume fällt, im Whirlpool unter den Sternen sitzen –, alles, wovon Londoner wie Nicky in ihren feuchten Souterrainwohnungen so träumten. Noah überführte diese Sehnsüchte in eine rauchige Gesangsstimme und quietschende Gitarrensaiten, ließ im Hintergrund ein paar Grillen zirpen und durchspülte das Ganze mit einem sitarartigen elektronischen Brummen, sodass die Stücke klangen, als kämen sie direkt vom Mars. Die Band hielt ihn für den idealen Produzenten.

Das erste Mal trafen sie sich in seinem Haus oben in den Hügeln. Es war genauso, wie Nicky es sich vorgestellt hatte: eine Art Luxus-Blockhaus in Ethno-Stoffen mumifiziert, Mädchen mit Perlen und Stirnbändern, die Joints rauchten und wie Designer-Indianerinnen aussahen. Noah war high von irgendwas, redete dummes Zeug und hüpfte nervös über die Terrasse. Ihr Engländer habt doch keine Ahnung, erklärte er ihnen. Ihr denkt, ihr seid noch im 19. Jahrhundert und würdet die Welt regieren. Nicky war das egal. Im Grunde hatten sie ihn ja deswegen engagiert – für sein Amerikanischsein. Aber Ned fing natürlich an zu diskutieren. Nicky stieß ihn an und meinte, er solle sich nicht aufregen, Noah hörte sowieso nicht zu. Er hielt mit einer Hand einen Sarong um seine Hüfte fest, zog mit der anderen an einem Joint und stieß ihn dann in ihre Richtung, um gleichzeitig unverständliches Zeug über das Schicksal, die Grenze und Jim Morrison von sich zu geben. Wollt ihr mal was sehen?, fragte er plötzlich. Wollt ihr echt mal was sehen, Mann? Er ging mit ihnen in ein Hinterzimmer, öffnete mit großem Getue mehrere Schlösser und Riegel und schaltete das Licht an. An den Wänden standen Glasvitrinen voll mit Waffen. Pistolen, Gewehre, Schrotflinten, alte Steinschlossmusketen wie aus einem Piratenfilm. Dazwischen eine verchromte Kalaschnikow, die er einem Special-Forces-Typen in einer Bar abgekauft hatte.

Sie schossen von der hinteren Veranda. Noah ließ seine Squaws Flaschen auf einer Bank aufstellen, als wären sie die hübschen Assistentinnen in einer Gameshow. Kapiert ihr das nicht?, brüllte er. »Frei sein, Baby! Frei sein!« Nicky verstand nicht ganz, was Freisein damit zu tun hatte, leere Corona-Flaschen wegzuballern, aber Spaß machte es. Irgendwann tauchte die Polizei auf, blaues und rotes Licht blinkte auf der Straße. Earl kümmerte sich darum. Earl war Noahs Terry.

Nach diesem Abend beschlossen Jimmy und Nicky, dass Noah cool war. Lol fand es auch. Lol fand immer, was Nicky und Jimmy fanden. Ned mochte ihn nicht, aber hätte Ned Jimmy nicht aus der Schule gekannt und wäre er nicht praktisch der einzige Drummer in Billericay gewesen, würde er immer noch bei Phones4U arbeiten, seine Meinung zählte also nicht. Noah wurde ihr Vorbild, ihr Guru. Er sagte ihnen, wo sie ihre Klamotten und Instrumente kaufen sollten. Morgens rauchten sie als Erstes eine Bong, weil er meinte, sie müssten sich locker machen. Jimmy fing sogar an zu meditieren. Im Studio spielten sie mit tibetischen Klangschalen, Regenmachern und Maultrommeln herum, sangen Sprechchöre in abgedunkelten Räumen, saßen auf dem Boden und schrieben irgendwelchen Quatsch auf Zettel, die sie dann zerschnitten und die Worte neu kombinierten. Burroughs hat das auch so gemacht, erklärte Noah ihnen. Der Mann war ein Pionier des Bewusstseins. »Wer ist Burroughs?«, flüsterte Lol und spritzte Kleber auf den Teppich. »Irgendein Penner aus dem Kinderfernsehen?«

Noah war beeindruckend, aber nicht gut für die Band. Nicky fand, Popmusik müsse instinktiv sein: Man senkte den Kopf, machte ein bisschen Lärm und legte ein paar Worte darüber. Jetzt saßen sie hier und durchsuchten das I Ging nach einem Reim auf »Baby«. Alles klang prätentiös. Nicky konnte keine Melodie mehr spielen, ohne sich selbst zu hinterfragen. Bei Jimmy war es dasselbe. Egal, was passierte, die beiden hatten immer Songs zusammen schreiben können. Da es jetzt keine Songs mehr gab, fingen sie an zu streiten. Unschöne Worte fielen. Nicky zog aus dem Haus der Band in ein Hotel am Sunset Strip. Er arbeitete in seinem Zimmer, Jimmy im Studio. Zeitweise kommunizierten sie nur noch per Fax, aber keiner von beiden hatte Bock, irgendwas zu schreiben, also gaben sie es auf und redeten wieder miteinander.

Wäre Anouk bloß da.

Eines Tages schrieb Nicky ein paar Zeilen auf:

Oh go to sleep

you’re too much

when you’re awake

Es fühlte sich an wie ein Anfang. Noah hockte in der Ecke vom Proberaum über einem Vierspurgerät und kaute auf seinem Bart. Als Nicky ihn fragte, was er davon hielt, machte er nur hmm.

»Was soll das heißen, hmm?«

»Nichts. Ich finde nur … Na ja, es hat irgendwie keinen richtigen Biss.«

Nicky hatte immer so getan, als könnte er gut mit Kritik umgehen. In dem Satz ging es darum, wie Anouk und er mal in einem Hotel in Berlin waren, zwei Tage nicht schliefen, die ganze Zeit Speed nahmen und beim Zimmerservice Essen bestellten. Nookie war ziemlich drauf gewesen, und er hatte Terry gebeten, ihnen Valium zu besorgen. Egal, wie das klang, es war eine schöne Erinnerung.

Kurz herrschte betretenes Schweigen. »Okay«, sagte Noah schließlich. »Ich erklär dir, was ich meine. Ich finde, es muss irgendwie … markanter sein.« Er ging ans Mikrofon und sang:

Go to sleep

little frog

you’re too much

when we touch

»Sie ist kein kleiner Frosch. Das passt nicht zu ihr.«

»Okay, Mann. Dann irgendwas anderes, keine Ahnung, ein Eichhörnchen.«

»Oder ein Blutegel«, meinte Lol.

Nicky ging. Was hätte er sonst tun sollen? Er blieb ein paar Tage weg und betrank sich mit ein paar Jungs von einem Custom-Car-Laden in Venice. Für den Notfall hatte er ja Noahs Nummer. Der Kerl war Hippie-Adel in dritter Generation. Seine Großeltern betrieben ein Hindu-Heilzentrum in Nordkalifornien, so was Ähnliches wie das Ding, in dem die Beatles waren. Sein Vater war Singer-Songwriter gewesen und nach einem Album an einer Überdosis gestorben. Noah zufolge hatte er in einer Kuppel in der Wüste gelebt, und dort vor allem mit seiner Band gejammt und Ausschau nach Ufos gehalten. Er hatte ihnen die LP vorgespielt, sie hieß The Guide Speaks, auf dem Cover war eine Pyramide. Totaler Schrott. Alles, was sie an Noah anfangs so toll fanden, war im Grunde nur ein Abklatsch davon. Nicky wusste von seinem Vater einiges über die Tottenham Spurs und über Kerndämmung. Hätte er sich als Kind mit Zen-Kalligrafie beschäftigt und wäre mit Leonard Cohen reiten gegangen, hätte sein Leben sich wahrscheinlich anders entwickelt.

Nach der Geschichte im Whirlpool hätte er das Ganze abblasen und sich ins nächste Flugzeug setzen sollen. Sie waren bei Noah, und Nicky war fast gegen seinen Willen gut drauf und genoss den Abend. Er saß mit einem Mädchen namens Willow im Whirlpool, das Wasser sprudelte, und er war gerade dabei, Anouk zu vergessen, als plötzlich Noah auftauchte, splitterfasernackt, und mit einer Pistole herumfuchtelte. Willow gab ein leises Geräusch von sich, krabbelte raus und suchte ihre Klamotten zusammen.

»Schau mal, was du angerichtet hast.«

»Scheiß auf sie, Mann. Wir beide müssen reden.«

Noah hielt die Waffe mit beiden Händen umklammert, als stünde er auf dem Schießplatz. »Echt irre, wie einen das fokussiert. Kennst du das? Dieses Prickeln in der Stirn? Stell dir vor: Wie wäre es wohl, wenn ich tatsächlich erschossen würde? Wenn das ganze Hirn rausspritzt.«

»Ich mach keine Scherze, Alter, wenn du jetzt nicht sofort das Ding weglegst, schlag ich dir sämtliche Zähne ein.«

»Ich mach auch keine Scherze, Alter. Ich mein das ernst. Siehst du, wie ernst ich das meine? Ich bin unzufrieden, Mann. Ich hab das Gefühl, du und deine Band, ihr vergeudet meine Zeit. Ihr vergeudet mein ganzes Leben. Willst du eine Platte machen, oder willst du nur Gras rauchen und in meinem Whirlpool rumvögeln?«

»Du spinnst doch.«

»Zeit für ein paar Antworten, Nicky. Die Uhr tickt. Ich hab das Gefühl, dass du keine Ideen hast. Ich hab das Gefühl, dir fehlt jede Kreativität.«

Willow musste den anderen Bescheid gesagt haben, denn in dem Moment kam Earl an und rang Noah zu Boden. Noah tobte und brüllte, in ihm pulsiere das kosmische Leben und Nicky sauge ihn aus, bis Earl ihm schließlich die Waffe abnahm und ihn ins Haus schickte, damit er sich schlafen legte. Terry bot an, Nicky ins Hotel zu fahren, aber er wollte mit niemandem reden. Er fuhr selbst, so high und aufgewühlt, dass er kaum die Mittellinie sah.

Er rief Anouk an. Sofort ging die Voicemail an.

Da hätte eigentlich Schluss sein müssen, zurück nach Dalston, Döner in der Hand, Schachtel Marlboro Lights, sechs Stellas für einen Fünfer und L. A. nur ein schlechter Traum, der allmählich im Rückspiegel verblasste. Wie sich rausstellte, ließen die Scheißkerle ihn nicht so einfach weg. Am nächsten Tag riefen Terry und Earl an, um ihn zu beschwichtigen, und dann noch die Plattenfirma und das Management in London und ein Konzertpromoter in New York, den das Ganze überhaupt nichts anging. Danach kam ein Kurier mit einer großen Schachtel, angeblich von Noah, wahrscheinlich aber eher von Earl, mit einem Cowboyhut in Seidenpapier und einem Zettel, auf dem stand, Neil Young habe ihn getragen, als er The Needle and the Damage Done schrieb, und jetzt sollte Nicky ihn haben, weil er der wahre Erbe dieses Spirits sei, bla bla bla. Nicky mochte es nicht, wenn man ihm Honig um den Bart schmierte. Zwölf Stunden in der Luft, und er könnte im George an der Commercial Road ein Bier trinken, draußen würde es schütten und irgendein Idiot quatschte ihn voll, dass Ronaldo sein Geld nicht wert sei. Die reinste Wonne.

Als er Terry erklärte, er habe genug, tat Terry etwas, das er sehr selten tat: Er sagte Nein. Nicky erinnerte ihn daran, dass es nicht sein Job sei, Nein zu sagen, sein Job sei es, Ja zu sagen. Worauf Terry erwiderte, das wisse er, aber manchmal glaube Nicky, etwas zu wollen, was er eigentlich gar nicht wolle. Die Plattenfirma brauchte eine Platte, und wenn sie die in L.A. nicht hinbekamen, dann könnte man ihnen das als Vertragsbruch auslegen. Scheiß drauf, sagte Nicky. Dann brechen wir eben den Vertrag und gehen zu einer anderen Plattenfirma. Terry seufzte. So laufe das nicht. Sie hätten schon zu viel Geld versenkt. Nicky solle sich Männer vorstellen, die an ihren Schreibtischen Summen addierten. Männer in Anzügen. Nicky tat es. Er verstand nicht, worauf Terry hinauswollte. Terry drückte es anders aus. Wenn sie das Album nicht machten, würde die Plattenfirma ihnen ihr gesamtes Geld abnehmen. Sie wären pleite. Nicky fragte, ob er eine Wahl habe. Nicht wirklich, erwiderte Terry. Keine Wahl zu haben war das, was Nicky mit am meisten hasste.

Er rauchte seine Zigarette auf und trat sie auf dem heißen Studioparkplatz aus. Die Platte machen oder pleite sein. Oder Noahs Drogen und die Waffe klauen, aus der Stadt verschwinden und hoffen, dass sich alles geregelt hätte, bis man ihn fand. Man hatte immer eine Wahl, es kam nur darauf an, wo man suchte. Er stieg in seinen Wagen.

Autofahren war so ziemlich das Einzige, was sich in Amerika normal anfühlte. Es war Tradition. Es war patriotisch. Wenn man Gas gab, hörte man fast, wie die Leute einem zujubelten. Der Camaro verbrauchte ungefähr hundert Liter auf einen Kilometer und klang wie eine Panzerinvasion. Der Wagen war ein oranger Feuerball aus den Siebzigern, eine Umweltkatastrophe auf Rädern, und selbst wenn er im hohen Alter in einer global erwärmten Welt auf einem Floß leben oder durch die Ruinen von Billericay ziehen und sich von Hundefutter ernähren musste, das wäre es wert gewesen.

L.A. wich nach und nach einer toten Landschaft. Man konnte es nicht unbedingt Wüste nennen. Es war Ödland, der Hinterhof der Stadt, eine Müllhalde für alles Hässliche, das man dort nicht mehr sehen wollte. Lagerhallen und Aufbereitungsanlagen. Masten und Pipelines. Gerümpel. Schrott. Es gab ganze Schrottstädte, San dies und San jenes, die aus nichts als Beton bestanden. Betonkästen zum Wohnen, Betonplätze vor Betoneinkaufszentren, wo die kleinen Leute ihren Schrott kaufen konnten. Er war froh, einfach so durchzufahren, ohne anzuhalten, alles nur verschwommen aus dem Augenwinkel mitzubekommen. Ein Wasserturm, eine Mauer, bemalt mit dem Tigerwappen einer Highschool-Mannschaft. Es war ihm egal, dass sein Handy alle paar Minuten klingelte. Es war ihm egal, dass im Radio nur Bibelprediger und Dinnerjazz liefen. Die Straße war kreideweiß, der Himmel airbrushblau, und er auf dem Weg zum leersten Fleck auf der Landkarte. Es ging nur noch darum, alles im Griff zu haben, sich zwischen die heranrasenden Autos zu schieben, an der Abzweigung auszuscheren, einmal herum, drüber und drunter und zurück, und die Katastrophe weit hinter sich zu lassen.

Wie lange war er unterwegs? Drei, vielleicht vier Stunden. Er trug keine Uhr. Der Wagen hatte keine Klimaanlage, und der Wind blies heiß und sandig durch das offene Fenster. Das Gehirn brutzelte ihm im Schädel wie ein Ei in der Pfanne, und er hielt an einer Tankstelle, steckte noch mal sechzig Dollar in den Tank und kaufte sich einen Kanister Wasser, den er sich größtenteils über den Kopf schüttete. Nachdem seine angeschwollenen grauen Zellen auf die normale Größe zurückgeschrumpft waren, sah er auf sein Handy. Elf verpasste Anrufe. Mehrere von Terry, ein paar von Jimmy, sogar einer von Noah. Die Nachrichten auf der Mailbox hörte er sich gar nicht erst an.

Was er jetzt auch tat, es hatte nichts mit der Band zu tun. Der einzige Mensch, der ihn jetzt interessierte, war Anouk. Er wünschte sich so sehr, dass das Handy noch mal klingelte und ihr Name auf dem Display erschien.

Ruf mich an, Baby.

Komm und hol mich hier raus.

Die Abstände zwischen den Schrottstädten wurden größer. Bald waren die einzigen Lebenszeichen riesige weiße Windräder und Plakatwände mit Werbung für Casinoanlagen. Ein Outlet-Center tauchte wie eine Fata Morgana am Straßenrand auf. Dann nichts. Meilenweit nur Felsen und Gestrüpp. Irgendwann dämmerte es. Funken sausten an den Rändern seines Sichtfeldes vorbei, kleine Kometen, die er für überholende Autos oder Fledermäuse hielt. Er kam in einen Ort, dessen Name ihm entgangen war, und sah ein Motelschild. Entlang der Strecke gab es Dutzende solcher schäbiger Läden. Desert dies und Palm jenes. Das hier hieß Drop Inn. Er war zu müde, um weiterzufahren.

Die Rezeption war nicht größer als ein Schrank, ein kleiner Kasten mit Tresen, Klingel, Postkartenständer und einer klappernden Fliegengittertür. Die Frau, die aus dem Raum dahinter kam, hatte eine Frisur, wie er sie seit seinem dreizehnten Lebensjahr nicht mehr gesehen hatte, als er die Achtzigerjahre-Fitness-Videos seiner Mutter entdeckte. Sie trug einen lila Jumpsuit, der an einer Zwanzigjährigen vielleicht sexy (oder zumindest ironisch) gewirkt hätte, an ihr aber eher traurig, ein Outfit aus einer Zeit, als seine Trägerin sich zum letzten Mal schön fand. Er konnte schlecht einschätzen, wie alt sie war. Fünfundvierzig? Um ihren Mund hatten sich kleine Fältchen gebildet. Wenn sie nicht redete, formte er sich zu einer müden Grimasse, als hätte sie zu oft im Leben Dinge gesagt, die sie nicht meinte.

Er solle sie Dawn nennen, sagte sie und bestand darauf, ihn durchs ganze Motel zu führen. Er erwiderte, er sei müde, in der Hoffnung, sie würde ihm einfach den Zimmerschlüssel geben, aber davon wollte sie nichts wissen. Sie redete auf ihn ein, als wäre er der interessanteste Gast seit Monaten (was vielleicht auch stimmte), und erklärte ihm sämtliche »Finessen«. Im »Gemeinschaftsraum« gab es eine Kaffeemaschine, ein Regal mit abgegriffenen Büchern und ein Brett mit Take-away-Speisekarten. Die »Gartengestaltung« bestand aus ein paar Blütensträuchern, die aus dem Staub ragten, dazwischen standen kleine Gipsfüchse und -hasen, alle lila angemalt. Der Wellblechzaun um den nierenförmigen Pool war ebenfalls lila. Genauso wie die ausgefransten Matten auf den Liegen, die Türen zu den Zimmern und die Fliesen in der Erde, die die betonierten Wege begrenzten. »Den Whirlpool machen wir zwischen halb sechs und zehn an«, erklärte sie, als könnte diese Information ihn zum Bleiben bewegen. Er nickte und versuchte, die Augen offenzuhalten.

Während Dawn ihm die verschiedenen Düsen zeigte, warf er einen Blick über den Zaun. Schwer zu sagen, wo das Hotelgrundstück endete. Es verlief praktisch im Nichts. Hinter dem Pool war ein Schuppen, davor lagen ein paar Gartenstühle aus Plastik. Dahinter erstreckte sich die brüchige Erde in die Ferne bis hin zu einer kargen Hügelkette und ihrer zerklüfteten Silhouette vor dem Abendhimmel. Er stellte sich vor, dort hochzuklettern. Tagsüber unmöglich. Dazu brannte die Sonne zu stark. Das war quasi Selbstgeißelung, der sichere Tod.

»Frühstück haben wir nicht«, sagte Dawn. »Aber Sie können sich jederzeit im Gemeinschaftsraum Kaffee holen.«

»Kann ich jetzt mein Zimmer sehen?«

»Sicher.«

Sie rührte sich nicht vom Fleck und starrte einfach weiter in den Himmel, die Arme vor der Brust verschränkt, als wäre ihr plötzlich kalt.

»Gibt eine Menge zu sehen hier draußen«, sagte sie schließlich.

»Das Zimmer?«

»Oh, Pardon. Hier lang.«

Später lag er auf dem Bett, das nach Lavendel-Waschmittel stank, und lauschte den Autos, die auf dem Highway vorbeirauschten. Er fühlte sich schwer wie Blei. Sein Magen knurrte, er hatte Kopfschmerzen. Alles pulsierte in verschiedenen Lila-Schattierungen. Malvenfarbige Bettwäsche, fliederfarbener Teppich, violette Vorhänge. Als liege er in einem Bluterguss. Er schlummerte eine Weile, im Hintergrund das Gebrabbel aus dem Fernseher, und fuhr nur hin und wieder hoch, wenn Lachkonserven oder Schüsse erklangen. Schließlich musste er sich eingestehen, dass er wohl nicht richtig schlafen würde, bevor er etwas gegessen hatte. Er raffte sich auf, zog die Turnschuhe an und ging zur Rezeption. Die Frau reagierte nicht auf sein Klingeln. Schließlich fand er sie draußen am Pool, wo sie auf einem der Gartenstühle saß und mit einem Fernrohr in den Himmel starrte.

»Was sehen Sie da?«

»Ach, nichts Besonderes.«

Er fragte sie, wo er etwas zu essen bekäme.

»Zwei, drei Kilometer die Straße runter ist ein Diner. Können Sie gar nicht verfehlen. Es ist hell erleuchtet.«

Er blieb noch eine Weile stehen. Ihr Mund hing leicht offen, während sie das Fernglas auf ihr Auge drückte. Sie wirkte angespannt, als wartete sie auf etwas. Auf einmal sah er sie als Kind vor sich. Glücklich, optimistisch. Sie merkte, dass er sie beobachtete, und runzelte die Stirn.

»Sagen Sie mal, sind Sie wegen der Lichter hier?«

»Nein. Na ja, ich weiß nicht. Vielleicht. Ich versuche eher, von etwas wegzukommen, wissen Sie?«

Sie musterte ihn und widmete sich dann wieder ihrem Fernrohr. Er ging seinen Autoschlüssel holen.

Auf dem Weg in die Stadt kam er an einer Abzweigung zu einem Marinestützpunkt vorbei. Ein Lichternetz leuchtete in der Ferne über einer Fläche, die sehr viel größer war als die kurze Einkaufsstraße. Eine Videothek, ein 7-Eleven, ein Getränkemarkt und ein paar Bars. Ein Friseur bot »Militär-und Zivilhaarschnitte« an, und auf drei Leuchtschildern im Fenster eines Hauses stand »Nägel«, »Massage« und »Chinesisches Essen«. Das Diner war leicht zu finden. Hell erleuchtet, wie Dawn gesagt hatte. Allerdings hatte sie nicht erwähnt, dass es in der Form einer fliegenden Untertasse gebaut war. Er parkte den Wagen und ging durch die Tür und dann eine Art Rampe hoch, die irgendwann mal in Metall-Optik bemalt worden war. Das Ufo-Diner hatte schon bessere Tage gesehen. Der Putz an den gewölbten Wänden war rissig, und im rot erleuchteten Rand der Untertasse fehlten diverse Lampen. Die Kunstlederbänke und angeschlagenen Chrombarhocker standen dort bestimmt schon seit mindestens dreißig Jahren. An den Wänden hingen verblichene Poster von Science-Fiction-Filmen in Pastellblau und Gelb. Darth Vader war ein Gespenst, E.T. der Umriss eines Fötus. Ein fettes Teenie-Mädchen führte ihn zu einem Tisch, reichte ihm die Karte und ging dann wieder, um mit ein paar Jungs zu quatschen, die an einem der anderen Tische hockten. Insgesamt waren es fünf, tätowiert, kurz rasiertes Haar. Alle starrten sie Nicky an, und zwar nicht unbedingt freundlich. Womöglich waren zitronengelbe Röhrenjeans, ein abgeschnittenes T-Shirt und besprühte Achtzigerjahre-Converse nicht unbedingt der angesagteste Look hier draußen in San schieß mich tot.

Nicky versuchte locker zu wirken und nippte an seiner Coke. Was Essen betraf, war er nicht sehr wählerisch. Auf Tour verschlang er mit Freuden in billigen Spelunken Gerichte, bei denen sich den meisten Menschen der Magen umdrehte – in Fett schwimmende Spiegeleier, Würstchen aus Teilen vom Schwein, für die es nicht mal Namen gab. Aber auch wenn das Essen in England schlecht war, wenigstens taten sie nicht überall Zucker rein. Er hatte den »Mothership Chicken Basket« bestellt, und alles daran – Fleisch, Brötchen, Pommes, Salatdressing, sogar der Kopfsalat, soweit er das beurteilen konnte – war gesüßt. Kein Wunder, dass die Kellnerin aussah wie ein Schwein. Einen Teil bekam er runter – immerhin war er hungrig –, dann gab er auf. Er schob den Stuhl zurück und klatschte einen Zwanziger auf den Tisch. Die bösen Blicke der jungen Marines verfolgten ihn bis zur Tür.