White Tears - Hari Kunzru - E-Book

White Tears E-Book

Hari Kunzru

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Beschreibung

Seth und Carter sind Musikproduzenten in New York. Tagtäglich streift Seth auf der Suche nach neuen Tönen durch die Stadt. Dabei nimmt er am Washington Square Park zufällig eine unbekannte Stimme auf, die für wenige Augenblicke einen Blues-Song intoniert. Im Studio säubert er die Tonspur der Aufnahme und sampelt sie mit anderen Tonfragmenten. Aus Spaß schreibt Carter das Stück dem fiktiven Interpreten Charlie Shaw zu und stellt es mit dem Hinweis, die Aufnahme stamme aus dem Jahr 1928, ins Netz. Unter Sammlern alter Bluesplatten wird der Song im Nu zu einer viralen Sensation. Doch dann werden Carter und Seth von einem Mann kontaktiert, der behauptet, Charlie Shaw habe tatsächlich gelebt, und kurze Zeit später wird Carter von Unbekannten auf offener Straße angegriffen und schwer verletzt. Während er im Koma liegt, macht sich Seth zusammen mit Carters Schwester Leonie auf den Weg in den tiefen Süden der USA, um dort dem Geheimnis des vermeintlich fiktiven Songs auf die Spur zu kommen. Es wird eine Reise in die Vergangenheit, wo der Tod allgegenwärtig ist …

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Seitenzahl: 388

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Hari Kunzru

WHITE TEARS

Roman

Aus dem Englischenvon Nicolai von Schweder-Schreiner

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel»White Tears« bei Alfred A. Knopf, New York,und Hamish Hamilton, London.

© Hari Kunzru 2017© Verlagsbuchhandlung Liebeskind 2017Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: Kamil Vojnar / Trevillion ImagesUmschlaggestaltung: Sieveking, München

eISBN 978-3-95438-082-4

Für Katie

I rolled and I tumbledCried the whole night longWoke up this morningI didn’t know right from wrong

Inhalt

White Tears

DANKSAGUNG

IN JENEM SOMMER FUHR ICH HÄUFIG mit dem Fahrrad über die Brücke, schloss es vor einer der Bars in der Orchard Street an und lief quer durch die Stadt, um alles Mögliche aufzunehmen. Menschen und Orte. Wartende Raucher, streitende Paare, Drogendeals. Ich wollte die Welt festhalten und dann so abspielen, wie ich sie vorgefunden hatte, ohne etwas zu verändern oder zu ergänzen. Ich sammelte Aufnahmen von Gewittern, Musik aus Autos, das Rumpeln der U-Bahn unter meinen Füßen; das alles machte für mich die Wirklichkeit aus, und genau danach verspürte ich in letzter Zeit ein großes Verlangen, als hätte ich einen Vitamin- oder Eisenmangel. Ich trug zwei kleine Mikros in den Ohren, die wie Kopfhörer aussahen, das Aufnahmegerät steckte am Gürtel unter dem Hemd, ganz unauffällig. Niemand bekam etwas mit. Ich konnte mich überall frei bewegen und dann nach Hause fahren und mir das Ganze im Studio auf Carters Tausend-Dollar-Kopfhörern anhören. Ich entdeckte immer wieder Dinge, die ich nicht wahrgenommen hatte, einzelne Geräuschfelder, die ich unbewusst durchquert hatte.

Jede Schallwelle, jede Schwingung hat eine physiologische Wirkung. Ich habe mal eine Aufnahme von einer Frau gehört, die auf der Veranda saß und sang. Man konnte ihre Füße im Takt klopfen hören. Man konnte das Knarren ihres Schaukelstuhls und die Grillen in den Bäumen hören. Wegen der Grillen wusste man, dass es Abend war. Ich hatte das Gefühl, wenn ich nicht vorsichtig wäre, würde ich den Bezug zur Gegenwart verlieren und siebzig, achtzig Jahre zurück in die Vergangenheit reisen. Der grobe Dielenboden, das überhängende Dach, wie ihre Stimme durch die feuchte schwere Luft in die Membran des Mikrofons wanderte, wie sich der Klang in elektrische Energie verwandelte und dort festgehalten wurde, und wie sich der ganze Vorgang dann umkehrte und der Strom die Membran im Lautsprecher zum Schwingen brachte, der Klang in meine Ohren drang und mich mit jener Zeit und jenem Ort verband. Ich spürte, wie die Stimme mich durchströmte, alle Hohlräume meines Körpers erfüllte und die Gegenwart verdrängte wie Wasser, das eine Zisterne füllt.

Bei einem meiner Streifzüge hörte ich Charlie Shaw. Es war Abend. Ich weiß nicht mehr, warum ich aus dem Haus gegangen war. Vielleicht konnte ich nicht schlafen. Vielleicht wollte ich einfach raus oder ein bisschen allein sein. Nach einer langen Session hatte ich oft das Gefühl, an die Luft zu müssen. Manchmal waren wir zwölf Stunden am Stück im Studio, ohne vor die Tür zu kommen. Es war heiß, die typische drückende Hitze, die die Leute im Juli und August an den Wochenenden aus der Stadt treibt. Das Hemd klebte mir am Rücken. Die Menschen glänzten vor Schweiß, alle sehnten sich nach einem Wetterumschwung. Ich stand mit meinem Aufnahmegerät an den Schachtischen im Washington Square Park. Ein Typ namens PJ, offensichtlich der Lokalfavorit, spielte gegen jemanden, dessen Namen ich nicht mitbekam. Um die beiden hatte sich eine kleine Menschenmenge versammelt. Es lag Geld auf dem Tisch. Eine Flasche ging rum.

PJ war einer der Zocker, die tagaus, tagein an diesen Tischen saßen und mit jedem um zehn Dollar spielten. Schwabbelig, weiß, um die sechzig, dicke Brille, mit mehreren Plastiktüten voll mit irgendwelchem Zeug unter der Bank. Sein Gegenspieler war dünn und schwarz, sein Alter war schwer zu erraten, da er das Gesicht unter einer Baseballkappe verbarg. Er trug ein sauberes weißes Unterhemd und weite Jeans. Seine nackten Arme waren erschreckend dürr und sehnig wie verdrehte Kabel. Der Mann ließ sich Zeit mit seinen Zügen, so lange, dass die Zuschauer murrten, er solle sich endlich entscheiden. Er ignorierte sie. Im Gegensatz zu PJ, der die ganze Zeit mit seinen Kumpeln quatschte, hielt er den Kopf gesenkt und schien in das Spiel vertieft. Er spielte gut und nahm PJ erst ein Pferd und dann die Dame ab. Das war meine Miete, sagte PJ. Den Spruch brachte er dauernd, bis es eine Art Tick wurde. Bei jedem schlechten Zug rief er: Das war’s dann mit meiner Miete. Irgendetwas an dem Fremden machte auch die Zuschauer nervös. Er griff mit seinen langen Fingern über den Tisch nach einer Figur, bewegte sie, und schlug danach schnell mit der flachen Hand auf die Uhr. Jedes Mal zuckte die Menge hörbar zusammen. Gehuste, Schlüsselgeklapper in den Hosentaschen. Der Typ machte PJ gnadenlos fertig, und das gefiel ihnen nicht.

Matt in zwei Zügen, sagte der Dünne fast flüsternd. Um den Tisch herum wurde es still. PJ nickte mürrisch und stieß seinen König mit dem Zeigefinger um. Mist!, sagte er, was mach ich jetzt? Während sich seine Freunde voller Mitgefühl um ihn scharten, zählte der andere seinen Gewinn, ein Bündel kleiner Scheine. Ich wollte schon gehen, da hörte ich ihn plötzlich singen. Ein Blues, nur eine einzige Zeile. Believe I buy a graveyard of my own, sang er. Und dann noch mal.

Believe I buy me a graveyard of my own.

Bei der Aufnahme kann ich hören, wie mein Kopf die Position verändert, wie das Links-rechts-Verhältnis der Mikros in den Ohren sich verschiebt, während ich mich nach dem Sänger umsehe. Was dann passiert, kann ich mir nicht erklären. Ich sehe die Szene noch deutlich vor mir. Eine Skaterin taucht auf. Man hört ihr Skateboard rattern, allerdings nur im Hintergrund. Ich weiß noch, dass ich mich nach ihr umgedreht habe. Lange schwarze Haare, tätowierte Arme, hübscher Arsch in Hotpants, so schlängelte sie sich zwischen den Hundesittern durch. Woher sollte ich das wissen, wenn ich mich nicht umgedreht hätte? Aber die Aufnahme sagt das Gegenteil. Der Sänger bleibt an derselben Stelle. Ich erinnere mich, dass ich mich wieder umgedreht habe und das Spiel vorbei war. Irgendwie kam mir das komisch vor. Es hatte nur ein paar Sekunden gedauert, bis das Mädchen vorbeigefahren war, aber danach waren Spieler und Zuschauer verschwunden und die Tische komplett leer. In dem Moment machte ich mir keine großen Gedanken. Ich hatte Hunger, also ging ich in die Sixth Avenue und holte mir ein Stück Pizza.

WIR STANDEN KURZ VOR DEM DURCHBRUCH. Viele Bands wollten den Sound, den wir machten. Wir waren Monate im Voraus ausgebucht, und zumindest ich konnte es kaum fassen. Eines Tages wachte ich auf und dachte: Hey, ich bin fünfundzwanzig, wohne in New York City und ich bin cool. Ich war nie cool, weder in der Highschool noch auf dem Liberal Arts College, wo ich Carter kennengelernt hatte. Er war cool. Blonde Dreadlocks, aufwendige Tattoos und ein Treuhandvermögen, auf das er ohne Zögern zurückgriff, um sich das Leben möglichst angenehm zu gestalten. Er hatte die beste Plattensammlung und die besten Drogen. Er war viel gereist, und nicht nur an irgendwelche exklusiven Orte mit seinen Eltern. Er war in Nepal wandern gewesen und hatte mit seinem Bus die Skelettküste Namibias nach den besten Surfspots abgesucht. Ich war ein Vorstadtkind und schon von unserem kleinen College am Arsch der Welt überfordert, mit seiner Puppenstuben-Hauptstraße, wo man sich vorkam, als würde man für das echte Leben üben.

Meine Familie hatte keinen medizinischen Ausdruck dafür, aber als Teenager fand bei mir so eine Art Bruch oder Einschnitt statt. Nachdem meine Mutter gestorben war, stellten mein Vater und ich fest, dass wir uns nichts zu sagen hatten. Er unterrichtete Physik an der Highschool und war ansonsten mit den Problemen meines jüngeren Bruders beschäftigt, der auf die typische Hilfeschrei-Art rebellierte, indem er Gras rauchte und klauen ging. Für ihn war es einfacher, gar nicht erst mitzubekommen, dass auch ich abrutschte. Ich hatte keine Lust, mit ihm zu reden? Na gut, einer weniger, der ihm die Zeit stahl. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Zum Beispiel den Verstand verlieren. Sechs Monate lang ging ich nicht zur Schule, verließ nicht mal das Haus. Erst spätabends kam ich aus dem Zimmer, um wie eine Kakerlake in Küche und Bad zu huschen.

Damals kam mir das ganz gelegen. Allein in meinen vier Wänden. Ich lag auf dem Teppich, mit Laptop, Keyboard und einem ramponierten Mikro, und nahm Loops von meinem Atem auf und vom Knarren der Dielen, wenn mein Vater und mein Bruder vor der Tür vorbeiliefen. Mit diesen kleinen Geräuschen bastelte ich dann herum, schnitt sie und pitchte sie hoch und runter. Ich suchte nach einem bestimmten akustischen Phänomen, von dem ich überzeugt war, dass es existierte: einem besonderen Klang, der sich unter den Alltagsgeräuschen versteckte. Nach monatelangem obsessivem Hören wurde ich dann tatsächlich fündig, aber es war nicht das, wonach ich gesucht hatte. Kein reiner hoher Buddha-Ton, kein hörbares weißes Licht. Stattdessen hörte ich die Vergangenheit, die Atmosphäre des Raums vor zehn Jahren, dann vor zwanzig und vor fünfzig Jahren. Die Schritte auf dem Flur waren nicht von meinem Vater und meinem Bruder. Es war jemand anderes.

Es dauerte eine Weile, bis ich wieder runterkam.

Als ich dann aufs College ging, war ich wahrscheinlich nicht übermäßig introvertiert, aber auf jeden Fall doch ein bisschen schräg. Erst Carter Wallace schaffte es, mich aus meinem Kakerlakenloch zu holen. Jeder wollte mit ihm befreundet sein, mit mir dagegen niemand, weswegen ich eines Tages allein auf dem Rasen vor der Konzertmuschel saß, in der Hand ein Richtmikro mit selbst gebautem Parabol-Reflektor, eine Kombination, die es mir erlaubte, mit erstaunlicher Deutlichkeit Gesprächen vor der Bibliothek am anderen Ende der Wiese zu lauschen. Ein paar Schauspielschüler tauschten sich bei einem Picknick über den neuesten Tratsch aus und kreischten dabei alle halbe Minute aufmerksamkeitsheischend auf, sodass die Aufnahme übersteuerte. Objektiv gesehen war das, was ich da tat, natürlich ein bisschen gruselig. Aber das war mir egal. Scheiß auf die Leute, war damals meine Einstellung. Es ging um die üblichen banalen Themen: meine Arbeit, deine Ex, unglaublich bewegend, rumgemacht, soll mal nicht so arrogant sein, bla bla bla. Der Inhalt war für meine Zwecke irrelevant. Für mich war es eine Geräuschquelle, ich wollte nur das Equipment testen. Vogelgezwitscher hätte es auch getan. Der Reflektor, den ich aus einer alten Satellitenschüssel gebaut hatte, funktionierte erstaunlich gut. Ich drehte das Eingangssignal runter, damit der Pegel nicht mehr so hoch ausschlug, wenn die Leute lachten. Im selben Moment merkte ich, dass mich jemand an der Schulter berührte. Hinter mir stand Carter und lächelte mich bekifft an.

Ich wusste natürlich, wer er war. Blonder Bart zu einer Art Seil geflochten, nackter Oberkörper und ein Tattoo mit mexikanischen Skeletten und Totenköpfen auf der Brust. Ich befürchtete schon, dieser Hipster-Jesus gehörte zu den Picknickern und würde mir gleich eine Tracht Prügel verpassen, weil ich seiner Freundin hinterherspionierte oder so. Stattdessen erkundigte er sich nach meinem Reflektor und schien zumindest ein paar der technischen Begriffe zu verstehen, die ich in meiner Erklärung benutzte. Also reichte ich ihm den Kopfhörer. Er fand das Gerät »genial«, und obwohl das keine allzu präzise Aussage war, hatte ich das Gefühl, einen Preis gewonnen zu haben. Zu meinem Erstaunen schlug er vor, auf sein Zimmer zu gehen und Musik zu hören.

Zu der Zeit hatte ich strikte Regeln, was meinen Musikgeschmack betraf. Ich wollte auf der Höhe der Zeit sein. Alles, was alt war, machte mich nervös. Ich wollte nach vorn schauen, zukunftsorientiert, und zwar zu hundert Prozent, mich mit Höchstgeschwindigkeit auf das Morgen zubewegen. Als Teenager hatte ich viel Progressive-Rock aus den Siebzigern gehört, Songs über Zeitreisen und Rittertum, mit ständigen Taktwechseln und bombastischem Sound. Damals empfand ich das als Zeichen von Intelligenz und kam mir überlegen vor. Dann ging ich noch ein Stück weiter zurück in Richtung Sixties Psychedelic und Garage Rock, aber irgendwann hatte ich das Gefühl, dass mir das nicht guttat, also ließ ich die dunklen Seiten der Menschheitsgeschichte hinter mir und wandte mich Techno zu, der Aural City oben auf dem Berg. Eine funkelnde Soundwelt aus rein elektronischen Klängen, in der ich mich ohne jeden Kontext treiben lassen konnte, in der sicheren Gewissheit, dass das Gestern lange vorbei war, vielleicht sogar nie existiert hatte.

Als ich an jenem Nachmittag mit auf Carters Zimmer ging, hatte ich drei Jahre lang keine Gitarren mehr gehört, jedenfalls nicht freiwillig, aber ich war so beeindruckt von ihm, dass ich meine Regeln brach. Wir setzten uns aufs Bett, und er spielte mir Platten vor. Schallplatten, aus Vinyl, alt und teuer, die er liebevoll mit einem antistatischen Tuch abwischte. Der Plattenspieler stand auf einer Bodenplatte, um ihn vor Vibrationen zu schützen. Das ganze Equipment war einzigartig und technisch optimal. Den Plattenspieler hatte er an einen Röhrenverstärker angeschlossen, der mindestens fünfzig Jahre alt war und auf eine Weise hochgerüstet, die man heutzutage für übertrieben halten würde. Die britischen Monitor-Boxen wiederum hatten, wie er stolz erklärte, mal in den Abbey Road Studios gehangen. Bis dahin fand ich diesen Hi-Fi-Kult mit analogem Equipment immer albern. Ich hielt das für sentimentalen Quatsch. Carter belehrte mich eines Besseren.

Anfangs interessierte mich ausschließlich die Klangqualität, ich bewunderte den Frequenzbereich und die Dynamik, Carters Musikgeschmack war mir erst mal egal. Irgendwann stellte ich fest, dass er mir nur Platten von schwarzen Musikern vorspielte. Diverse Stilrichtungen, aber alles schwarze Musik, das meiste mir vollkommen unbekannt. Es gefiel mir immer besser. Carter spielte mir seine Plattensammlung nicht einfach vor, er erzählte sie mir. Mit jamaikanischem Dub fing er an, dann ging es weiter mit Ska und Soca, Soul, R’n’B, Afro-beat aus den Siebzigern und Electro aus den Achtzigern. Schließlich früher Hip-Hop und Free Jazz und unzählige Varianten von Dance und House Music. Chicago, London, Lagos, Miami. Solche Musik hatte ich noch nie gehört.

Während der nächsten Monate brachte Carter mir bei, seine Verehrung – was durchaus kein zu starkes Wort ist – für diese Musik zu teilen. Er hörte ausschließlich schwarze Musik, weil sie, wie er sagte, intensiver und authentischer sei als alles, »was weiße Leute machen«. »Weiße Leute« klang bei ihm wie der Name einer Gruppe oder Gang, irgendeiner Organisation, zu der er nicht gehörte. Seine wirre Erklärung, woher diese Intensität stamme, interessierte mich nicht. Mir gefiel der Sound, außerdem war mir etwas Merkwürdiges aufgefallen, und das beschäftigte mich. Diese Aufnahmen waren teilweise zwanzig Jahre älter als ich, hatten aber keine negativen Auswirkungen auf mich. Diesmal bekam ich nicht das Gefühl, in die Vergangenheit gezogen zu werden, mir wurde auch nicht schwindlig, so wie früher. Ich wusste nicht mal mehr, wovor ich Angst gehabt hatte. Es war vorbei. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so unbeschwert und glücklich gefühlt hatte.

Zwischen unseren Marathon-Musik-Sessions führte Carter mich in die Partyszene auf dem Campus ein, die mir vorher undurchsichtig und bedrohlich erschienen war. Als DJ war er quasi ein kleiner Star, und wenn er einen Raum betrat, wurde er von allen Seiten umarmt und abgeklatscht. Bald half ich ihm, baute die Anlage auf und kümmerte mich um technische Probleme. Während er auflegte, stand ich ein Stück hinter den Turntables und beobachtete, wie die Mädchen ihm eindeutige Blicke zuwarfen und ihre eifersüchtigen Freunde so taten, als wäre es ihnen egal. Alle lechzten sie nach seiner Aufmerksamkeit. Keins dieser coolen Kids konnte sich vorstellen, warum ausgerechnet ich die Platten ihres Helden tragen durfte. Ich war ein Loser, der rumlief wie ein (das hatte mal jemand zu mir gesagt) »obdachloser Informatiker«. Diese Leute verstanden Carters Leidenschaft für Musik nicht. Alles andere interessierte ihn nicht. Ich verstand es, und sie nicht. Deswegen stand ich hier und nicht sie.

Carter sprach so gut wie nie über seine Familie. Was ich wusste, musste ich mir aus Uni-Tratsch und dem Internet zusammenbasteln. Er hatte einen Bruder und eine Schwester, beide älter als er, und sein Vater entpuppte sich als großzügiger Sponsor der Republikaner, der häufig auf Fotos mit Senatoren und Angehörigen des Bush-Clans zu sehen war. Vielleicht war es kein Zufall, dass der Wallace-Konzern, ein Ungeheuer, dessen Tentakel sich bis in Bauwesen, Logistik und Energie ausbreiteten, seit Nine-Eleven expandiert hatte, indem er Amerika im Krieg gegen den Terror unterstützte. Toilettenanlagen in Afghanistan. Landepisten und Shops für Soldaten. Das Familienunternehmen hieß inzwischen Wallace Magnolia Group und lieferte Erdbewegungsmaschinen, baute Autobahnen und verlegte Pipelines. Ein neuer Hörsaal war nach Carters verstorbener Tante benannt, was angesichts seines so gut wie nicht vorhandenen Interesses am Studium wahrscheinlich der Preis für die Aufnahme an unserer nur beinah exklusiven Uni war. Carter wusste, was die Occupy-Leute und die Kein-Blut-für-Öl-Gemeinde über ihn sagten. Er erzählte immer, er sei enterbt worden, aber das stimmte nicht ganz.

Zusammen fuhren wir zum Plattenkaufen nach Cleveland und Detroit. Er hatte einen Ford Galaxie in Kirschrot metallic von 1967, der sich wie ein Boot fuhr und ihn regelmäßig in Unterhaltungen mit begeisterten Tankwarten und Diner-Kunden verwickelte. Mit diesem albernen Gefährt hielten wir vor Thrift Stores und Souterrain-Plattenläden und suchten nach Sechzigerjahre-Soul auf Detroiter Labels wie Fortune und Hot Wax, 12-inch-Techno-Scheiben von Metroplex und Transmat und allem, was es sonst noch so gab. Wir kauften blind schräge Eigenpressungen, auf denen meist irgendwelche Entertainer Sinatra coverten oder Schulbands schwache Versionen von Siebzigerjahre-Teeniepop spielten. Wir fanden echte Juwelen (eine versteckte Kiste mit absolut coolen noch eingeschweißten BYG Actuel Free Jazz Alben, UR’s »Z Record« in blauem Vinyl) und fielen auf Flops rein, schlechte Platten mit nur einem guten Stück oder auch seltene ohne ein einziges.

ES VERGING MEHR ALS EIN MONAT, bis ich mir endlich die Aufnahme von den Schachspielern im Washington Square Park anhörte. Wir hatten ein altes Roland Space Echo, das zwar toll klang, aber immer wieder aussetzte. Das Problem war ganz einfach ein Wackelkontakt, aber ich wollte es auf keinen Fall den Deppen in der Reparaturwerkstatt anvertrauen. Wir (ich hatte mir angewöhnt, »wir« zu sagen) hatten ein Loft in Greenpoint gemietet, in einem Gebäude, das früher eine katholische Kirche war. In dem Raum, in dem der Fernseher stand, warf das Licht sämtliche Regenbogenfarben durch die bunten Glasfenster auf den Boden. Ich saß mit meinem Lötkolben auf dem Dach, hatte Kopfhörer und Sonnenbrille auf, die Hitze wurde von der Fassadenverkleidung reflektiert und verbrannte mir den nackten Rücken. In Gedanken lief ich den Weg an jenem Abend nach, von der Orchard Street hoch in Richtung Chinatown. Cantopop und Elektro-Jingles blendeten sich ein und aus, während ich von der Canal Street abbog und durch den kleinen Park hinter den Gerichtsgebäuden ging, wo die alten Chinesen sich zum Zocken trafen. Dominosteine knallten auf Tische, Straßenmusiker bearbeiteten ihre klagenden Saiteninstrumente. Zurück über die Canal Street. Verkehrslärm und ein Polizist, der jemanden anbrüllte. An der Mott Street war ich an zwei streitenden Frauen vorbeigegangen. Damals verstand ich nicht, worum es ging. Jetzt schon. Die eine beschuldigte die andere, etwas aus ihrer Handtasche genommen zu haben; Lebensmittelcoupons, wenn ich mich nicht irrte. Eins fünfzig auf Windeln, rief die Bestohlene. Und einen verdammten Dollar Rabatt auf Cheerios. Sie wurden von einem Feuerwehrwagen übertönt, zehn Sekunden übersteuertes Jaulen, die mich vor eine hallende Ladebühne führten, jemand redete Spanisch in sein Handy, dann Stille, wieder Verkehrslärm, als ich den Broadway überquerte, ein lustiger Klingelton und dann das einseitige Telefonat. Sie hat’s gesagt, Mann, also muss sie’s auch machen. Erzähl ihr das. Im Washington Square Park war wegen des guten Wetters viel los. Am Brunnen hatten die Leute sich um ein paar Breakdancer versammelt, die sich gegenseitig anfeuerten und applaudierten und Backflips zu Billie Jean machten. Unter dem Torbogen sang ein junger Straßenmusiker stümperhaft Dylan-Lieder. Dann das Schachspiel, die murrende Menge, als PJ gegen den Fremden verlor. Plötzlich bekam ich ein mulmiges Gefühl und hörte auf zu löten. Ich konnte es kaum glauben. Wie war es möglich, dass ich das beim ersten Mal nicht gehört hatte, wo der Sänger doch direkt vor mir saß?

Believe I buy a graveyard of my own.

Die Stimme klang klar, relativ hoch, mit einem leichten Kratzen, wenn er Gas gab, wie bei »buy«, das er in drei Töne zerteilte, von denen der mittlere sich zu einem spitzen Falsett erhob.

Believe I bu – u – uy me a graveyard of my ownPut my enemies all down in the ground

Bei einer solchen Stimme hätte ich mit Sicherheit zugehört. Alles andere war undenkbar. Trotzdem erinnerte ich mich deutlich an eine Skaterin. Und tatsächlich kam auch gleich das Rattern der Skateboardrollen, aber meine Position veränderte sich nicht. Offenbar hatte ich mich nicht nach ihr umgedreht. Woher wusste ich, wie sie aussah, wenn ich mich nicht nach ihr umgedreht hatte? Der Sänger saß noch vor mir. Nach den ersten beiden Zeilen klangen die Worte etwas gedämpft, als hätte sich etwas zwischen uns geschoben und den Rest verschluckt. Was, konnte ich nicht sagen. Er sang aber immer noch. Wie war das möglich? Ich erinnerte mich deutlich. Nur zwei Zeilen. Vielleicht nur eine. Ein paar Sekunden hatte ich in die andere Richtung geguckt. Und als ich wieder hinsah, waren die Tische leer und die Spieler weg. Aber auf der Aufnahme war ein ganzes Lied zu hören, mehrere Minuten lang. Einzelne Textfetzen traten hervor, waren weniger verschwommen als andere. Put me under a man called Captain Jack. Bla bla down my back. Dann eine dritte Strophe, went to the captain, bla bla bla have mercy on bla. Und so weiter. Über mehrere Strophen.

An jenem Abend spielte ich die Aufnahme Carter vor. Erst hörte er nur mit halbem Ohr zu, aber schon kurz darauf saß er andächtig nach vorn gebeugt, die Hände am Kopfhörer, als versuchte er, die Stimme tiefer in seinen Kopf hineinzudrücken.

»Hast du …«, fing er an, als es zu Ende war. »Hast du das live gehört?«

»Das war ein Typ, der im Washington Square Park beim Schach gewonnen hat. Ich könnte schwören, dass er nur ein paar Worte gesungen hat.«

»Jesus, Mann.«

Wir hörten es uns noch mal an. Und dann ein drittes und ein viertes Mal. Die Stimme zog uns in ihren Bann. Wir blieben bis sechs Uhr morgens wach, säuberten die Aufnahme und entschlüsselten den Text. Irgendwann hat das nichts mehr mit Hören zu tun, sondern wird zu etwas Visuellem. Man übersetzt den Klang in Formen, wählt einzelne aus und nimmt sie unter die Lupe. Dann glättet man die Linien, nimmt Stücke heraus und klebt andere hinein. Ich schnitt die Skaterin raus, filterte die Hintergrundgeräusche und hob die Stimme an, bis wir eine deutliche A-cappella-Version hatten. Carter war begeistert. »Das ist großartig«, sagte er immer wieder. »Unglaublich.« Er hatte recht, und trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, mir die Ohren zuhalten zu müssen, nicht hören zu dürfen, was ich hörte. Mehrmals hatte ich den Finger auf der Löschtaste und war kurz davor, draufzudrücken.

Believe I buy a graveyard of my ownBelieve I buy me a graveyard of my ownPut my enemies all down in the ground

Put me under a man they call Captain JackPut me under a man they call Captain JackWrote his name all down my back

Went to the Captain with my hat in my handWent to the Captain with my hat in my handSaid Captain have mercy on a long time man

Well he look at me and he spit on the groundHe look at me and he spit on the groundSays I’ll have mercy when I drive you down

Don’t get mad at me woman if I kicks in my sleepDon’t get mad at me woman if I kicks in my sleepI may dream things cause your heart to weep

Wir hörten es uns ein letztes Mal an, bevor wir, jeder in ganz anderer Stimmung, die Anlage ausschalteten und dann ins Bett gingen.

NORMALERWEISE HÄTTEN LEUTE WIE WIR eine Band gegründet, aber Carter interessierte sich mehr für die Arbeit im Studio. Er war kein Poser. Wer das behauptete, kannte ihn nicht. In den Wochen nachdem wir uns auf dem College kennengelernt hatten, erklärte ich ihm mein Equipment, und wir bastelten zusammen an ein paar Breakbeats. Er fand das super und fing an, sich eigenes Zeug zu kaufen – Dinge, ohne die ich bisher hatte auskommen müssen, zum Beispiel gute Boxen und eine Pro-Tools-Version, die nicht von der unbeschrifteten CD eines Chinesen vor einem Supermarkt stammte. Dann sprach er ein paar Musikstudenten an und überredete sie allein mit seinem Charisma, unbezahlt einzuspielen, was wir uns ausdachten. Sie taten, was wir ihnen sagten, und wir spielten damit herum und ließen sie, je nachdem, wie Africa ’70 oder The JB’s klingen.

Ich kann gar nicht sagen, was für eine krasse Veränderung das für mich war. Bis dahin war ich es gewohnt, allein zu sein. Plötzlich war ich umgeben von Menschen, im Zentrum nächtelanger chaotischer Aufnahmesessions, die manchmal in Partys ausarteten, wenn Freundinnen und Möchtegernfreundinnen und andere Mitläufer, angelockt vom Sexuallockstoff der Musik, auftauchten. Bald schon machte sich Carters begrenzte Toleranz gegenüber Computern bemerkbar. Er hasste es, auf Mäuse zu klicken und auf Bildschirmen rumzutippen. Also durchkämmte er Auktionsseiten nach altem Equipment, alles, was Regler hatte, die er schieben, und Knöpfe und Einstellringe, an denen er drehen konnte. Er kaufte für viel Geld einen Bass-Synthesizer und einen Drumcomputer aus den Achtzigern, legendäre Geräte, die die meisten nur als Software kannten. Eine Zeit lang vertieften wir uns in Electro und matschige Acid Sounds und hielten uns für die Könige der Block Party, die Superstars des Raves.

Bis dahin hatte ich mir keine großen Gedanken über den Unterschied zwischen den digitalen Klängen, mit denen ich aufgewachsen war, und ihren analogen Vorfahren gemacht, Klänge, die durch die Veränderung der elektrischen Ladung in einem echten Stromkreis entstanden. Strom ist nicht digital. Man bekommt ihn nicht in kleinen Datenpaketchen. Strom fließt durch die Luft, durch Leiter und schießt aus den Händen verrückter Wissenschaftler in Stummfilmen. Falls Strom in irgendeiner Hinsicht futuristisch ist, dann als alte Version der Zukunft, launisch, unbeständig, quasi lebendig. Wenn man mit alten Synthesizern herumspielt und Klänge produziert, indem man in Oszillatoren Schwingungen erzeugt, entspricht das eher einem Chemieexperiment als der überdrehten Zwanghaftigkeit in einem digitalen Studio. Carter und ich entwickelten uns zu Kennern analoger Halleffekte. Die Dateien-Archive im Internet interessierten uns nicht, stattdessen fand ich ein paar Schaltpläne, nach denen wir einen primitiven Federhall bauten, der fantastisch vibrierte und schepperte, wovon wir bei jeder Aufnahme übermäßigen Gebrauch machten. Wir wollten wie Lee Perrys Black Ark Studio in Jamaika klingen. Perry war damals unser Idol, unser Gott. Der Mann probierte einfach alles aus. Um einen bestimmten Rhythmus zu erzeugen, vergrub er Mikrofone unter Palmen und trommelte dann auf der Erde herum. Wir probierten dasselbe mit einer Pinie (wir lebten ja im Nordosten), mit mittelmäßigem Ergebnis. Einmal schüttete er eine Sandschicht auf den Studioboden, baute einen hohlen Drumriser aus Holz und Glas und füllte ihn mit Wasser. Das sollte den Klang des Schlagzeugs beeinflussen. Wir bauten etwas Ähnliches und setzten prompt das neu eingerichtete College-Studio unter Wasser.

Wir bewunderten die Musik von Leuten wie Perry, aber uns war klar, dass es nicht unsere war. Das ignorierten wir allerdings so gut es ging, indem wir unsere hautfarbenbedingte Unzulänglichkeit hinter einer Art professoralem Wissen versteckten: Wer spielte Congas auf der B-Seite, was genau war collie. Die wenigen Schwarzen an unserer Schule waren uns zu adrett oder zu christlich oder waren Basketballcracks, die Wirtschaft studierten, Mädchen aus Studentenverbindungen entjungferten und in der Mensa laut über ihre Lieblingsmarken schwafelten. Es kam uns ungerecht vor. Wir waren es, die zum Soundclash nach Kingston wollten. Wir wussten, wonach John Coltrane suchte, als er im Mittelteil von A Love Supreme sein Tenorsaxofon überblies. Es gab einen Nigerianer namens Ade, den wir mochten, weil er mit seinen kurzen Dreads ein bisschen wie der jamaikanische Sänger Hugh Mundell aussah, der mit einundzwanzig Jahren erschossen wurde. Ade rauchte viel von Carters Gras, während er über die Brutalität der Polizei debattierte, aber das änderte nichts daran, dass er Wildlederloafer und eine Patek Philippe trug. Sein Vater war in Lagos im Ölgeschäft tätig.

Es dauerte nicht lange, bis wir voller Scham auf unsere Rastaphase zurückblickten. Carter hatte für kurze Zeit eine rot-gold-grüne Mütze getragen und fürchtete jetzt, dass Bilder von ihm mit der Mütze auf Facebook auftauchten. Wir hatten das Gefühl, dass unsere Liebe zur Musik uns das Recht verlieh, schwarz zu sein, aber als wir dann später nach New York gingen, redeten wir nicht mehr darüber. Wir wollten nicht, dass man uns für weiße Vorstadtkids hielt, die Bilder mit Starkbier-Flaschen und Gangposen von sich posteten.

In unserem letzten Jahr zogen Carter und ich in eine Wohnung außerhalb des Colleges. Für mich zeichnete sich eine ungewisse, beängstigende Zukunft ab. Ich brachte kaum meine Miete auf, obwohl ich einen Job in der College-Verwaltung hatte und außerdem bei einem Deli Wraps und Sandwiches belegte. Ich hatte genug Schulden, um von Eisbergen und schwankenden Bücherregalen zu träumen. Wenn Carter »den Abflug« machte, dann ich auch, und zwar zurück zu meinem Vater nach New Jersey. Ich war nicht sicher, ob ich es ertragen würde, in meinem alten Kinderzimmer zu liegen und auf die Toten im Flur zu lauschen. Für den Ernstfall hatte ich Schlaftabletten gehortet.

Also bemühte ich mich um ein Praktikum bei einem Aufnahmestudio in New York oder Los Angeles. Ich hätte alles genommen – Kaffee kochen, Kabel schleppen –, was mich einer bezahlten Stelle näher brachte, bevor einer meiner diversen Kreditkartenanbieter mich vor Gericht zerrte. Ich hatte mir eine Deadline gesetzt. Wenn ich bis zu einem bestimmten Zeitpunkt keinen Job im Musikbusiness gefunden hatte, würde ich das Angebot meines Cousins annehmen, der mir ein Vorstellungsgespräch bei seinem Maschinenbauunternehmen in Boston organisieren wollte. Falls das auch nicht klappte, konnte ich immer noch irgendwas mit Technical Support oder in der Gastronomie machen.

Carter dagegen musste sich natürlich keine Sorgen machen. Er spielte mit dem Gedanken, mit seiner aktuellen Freundin, einem Model namens Mariam oder Miriam, auf Reisen zu gehen. Sie war Afrikanerin und hatte einen französischen Akzent, ihr Vater war der Konsul von Senegal in San Francisco, glaube ich. Carter wollte mit ihr auf einer Jacht durch die Karibik segeln. Ich wollte Zeit mit ihm verbringen, den letzten Tropfen aus unserer Freundschaft wringen, bevor sich unsere Wege trennten. Denn genau so würde es laufen: Für ihn begann der Rest eines traumhaften Lebens, während ich bestenfalls in irgendeinem Gewerbegebiet vor dem Kopierer hockte und schlimmstenfalls in der Klapse mit nacktem Arsch im Krankenhemd vor mich hin vegetierte. Den Tränen nahe verbrachte ich Stunden in meinem Zimmer und stellte mir Carter auf Poolpartys vor und wie er auf Dachterrassen Cocktails trank. Ich trauerte ihm nach, als wäre er schon weg.

Carter hatte bald die Nase voll von meiner Lethargie. Er wurde immer sarkastischer und dachte sich abfällige Spitznamen für mich aus. Ich war der Roboterprofessor, der Tin Man. Mir fehle es an Spontanität und an Herz. Inzwischen hörte er weder unsere alten House- und Techno-Sachen noch andere aktuelle Musik, jedenfalls nichts mit digitalen Sounds. Er hatte eine Hip-Hop-Phase gehabt und sich übers Internet 12-inches von Detroiter Produzenten aus den Achtzigern und Neunzigern besorgt. Jetzt interessierte er sich nur noch für Ethno-Musik und kratzige Doo-Wop-Singles. The Flamingos, The Clovers, The Stereo Sound Of The !Kung Bushmen. Kaum irgendwas hatte mehr Bestand in seinen Augen, alles war verschmutzt von den digitalen Sünden der Moderne. »Nix als Nullen und Einsen«, spottete er und erklärte damit einen Großteil der jüngsten Kultur für nichtig. »Ohne jede Verbindung zum menschlichen Körper.« Hätte ich nicht seine teuren Drumcomputer und Keyboards benutzt, wären sie verstaubt.

Eines Abends saßen wir noch spät in der Küche. Während ich einen Joint rauchte, um den Gestank von Schinken und Mayonnaise aus dem Deli loszuwerden, zupfte er verträumt auf seinem neuen Spielzeug herum, das morgens per Kurier gekommen war, eine Gibson-Mandoline aus den Zwanzigern. Er habe iTunes gelöscht, erklärte er feierlich und hielt die Mandoline so, dass das Licht auf die Sunburst-Lackierung fiel.

»Kann ich verstehen. Die Samplingrate …«

»Scheiß auf die Samplingrate. Die ist mir total egal, könnte von mir aus eine Million Hertz sein. Von wegen verlustfrei. So ein Schwachsinn. Es geht immer was verloren, schnallst du das nicht?«

Er hielt mir einen Vortrag, den ich mir schon tausend Mal angehört hatte. Technologie sei eine Falle. Moderne Musiker seien in einem Kasten eingesperrt. Digitaler Sound sei immer limitiert und eine Zumutung für den Hörer. Man könne nicht unter Null gehen, ob ich da schon mal drüber nachgedacht hätte? Was war mit der Seele, dem Schwingen einer Saite aus Tierdarm, der Resonanz von lackiertem Palisander? Alles reduziert auf zwei Zahlen. Null oder Eins. Irgendwann hörte ich nicht mehr zu. Er umklammerte den Hals seiner Mandoline, als versuchte er, ihr flüchtiges Wesen zu fassen. Auf mich wirkte er high, mehr als sonst. Ständig kratzte er sich und schlug und zupfte wild auf den Saiten herum. Als ich ihn fragte, was er genommen habe, sah er mich nur an und marschierte dann in den Raum, den wir als Studio benutzten. Ich hörte ihn rascheln und scharren, ging ihm nach und sah, wie er die Kabel aus dem Steckfeld zog.

»Was machst du da?«

»Was ich schon vor Jahren hätte tun sollen. Das ganze Zeug wandert in den Müll.«

»Du bist total breit, Carter.«

»Was geht dich das an?«

In der Hand hielt er eines der wenigen Teile, die tatsächlich mir gehörten, ein teures Digital-Delay, das er in seinem Stahlgehäuse hin und her schwenkte.

»Bitte, Carter. Du machst es kaputt.«

Er verzog spöttisch den Mund, ging ans Fenster und warf das Gerät hinaus. Ich hörte, wie es auf den Bürgersteig krachte. Wir befanden uns im zweiten Stock. Da unten hätte gut jemand stehen können. Das sagte ich ihm. »Sei nicht so ein Weichei«, meinte er. »Ist doch nur ein Ding.«

Ich versuchte, ruhig zu bleiben. Ich hatte den ganzen Tag auf Trinkgeldbasis gearbeitet; ich hatte auf dieses Gerät gespart; außerdem hätte jemand getötet werden können … Ich hatte den ganzen Tag gearbeitet, ich hatte gespart, außerdem hätte jemand getötet werden können und … Ich stürzte mich auf ihn und versuchte, ihn am Hals zu packen. In diesem Moment wollte ich ihn umbringen. Ich wollte sein Aussehen und seinen Charme abkratzen, damit das Skelett aus Geld darunter sichtbar wurde. Carter galt als imposante Erscheinung, aber das lag vor allem an seiner Ausstrahlung. Im Grunde war er ziemlich schmächtig. Wenn er aus der Dusche kam oder im Bett lag und schlief, sah er aus wie ein verwahrlostes Straßenkind.

Mein Angriff haute ihn um. Seine langen blonden Locken breiteten sich auf dem Sofa aus, und er riss überrascht die Augen auf wie eine Figur in einem japanischen Zeichentrickfilm. Als hätte er mich noch nie zuvor gesehen. Ich kniete auf seiner Brust und drückte ihm die Kehle zu. Ich fühlte mich, als hätte ich Ketamin geschnupft und auf einmal alle Zeit der Welt. Ich betrachtete die Poren in seinem Gesicht und das Loch in seinem rechten Ohrläppchen, wo mal ein Ring gesteckt hatte. Ich wollte etwas sagen, aber mein Mund war zu trocken. Eine weiße Kruste klebte an seinem linken Nasenloch, keine Ahnung, was genau er geschnupft hatte, auf jeden Fall sagte ich: Ich bin kein gewalttätiger Mensch, wobei ich nicht sicher bin, ob ich die Worte wirklich aussprach. Plötzlich sah ich mich selbst dort auf der Couch liegen, sah meine vor Überraschung weit aufgerissenen Augen und war schockiert. Wahrscheinlich lockerte sich mein Griff, denn im nächsten Moment drehte er sich und warf mich auf den Fußboden. Ich hielt ihn weiter gepackt, verkrallte mich in sein T-Shirt und spürte jetzt seine Hände an meinem Hals. Während wir über den Teppich rollten, hörte ich unter mir die Mandoline splittern.

Natürlich hatte er nicht ganz unrecht mit seinem Vorwurf, sonst hätte ich nicht derart die Kontrolle verloren. Ich hatte immer Respekt vor materiellen Dingen. Nicht als Statussymbol oder so. Ich will nicht um etwas beneidet werden. Carter musste sich nie nach etwas sehnen, ein Werkzeug, Spielzeug oder ein Instrument, etwas, das ihm mehr Möglichkeiten bot oder ihm das Leben erleichterte. Wenn er etwas haben wollte, klickte er nur drauf und es kam. Ich hatte Stunden damit verbracht, Tage, manchmal Wochen, von Musikequipment zu träumen, das ich mir nicht leisten konnte. Die Mandoline war toll, weil man etwas mit ihr anfangen konnte. Das Geräusch, als sie zerbrach, nahm meinem Angriff jede Energie.

Carter machte sich los und drückte seine Knie auf meine Arme. Auf mir sitzend schlug er mir mit der Faust ins Gesicht. Menschen sehen immer erregt aus, wenn sie gewalttätig werden. Sie vergessen sich und werden angreifbar. Ich schmeckte Blut im Mund, und in meinem aufgewühlten Zustand kam mir der Gedanke, dass, wenn ich mich von ihm bewusstlos oder sogar totschlagen ließ, all meine Probleme gelöst wären. Es wäre ein Leichtes gewesen, mich in die Dunkelheit fallen zu lassen, mit seiner wutverzerrten Visage vor Augen.

Aber dann kam es doch anders. No beautiful death for Seth. Kaum wehrte ich mich nicht mehr und schloss die Augen, schien Carter das Interesse zu verlieren, jedenfalls ließ er von mir ab, lehnte sich schwer atmend an die Couch und rieb sich die Kehle. Ich drehte mich zur Seite und hustete. Die Mandoline war in zwei Teile zerbrochen, der Hals war glatt unter der Kopfplatte abgeknickt.

»Verdammte Scheiße«, krächzte er. »Was zum Teufel …«

»Du kannst nicht immer alles mit Geld klären.«

»Hau ab.«

»Mach das nicht. Du kannst nicht so mit den Leuten umgehen.«

»Wenn dir der scheiß Kasten so wichtig ist, kauf ich dir einen neuen.«

»Mach, was du willst, ist mir egal.«

Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war er weg. Das war’s dann wohl mit unserer Freundschaft. Wenn er nach Hause käme, würde er mich sicher rausschmeißen. Aber er kam nicht. Tage vergingen, mehrere Wochen. Ich bediente die Kunden im Deli und schrieb Bewerbungen. Ich war wie gelähmt. An Musik dachte ich nicht. Es gibt einen Ort, an den ich manchmal gehe, an dem nichts eine Bedeutung hat. Die Welt ist flach, eindimensional. Jedes Gefühl ist wie das andere. Ob man jemandem die Hand auf die Haut legt oder sie an eine Kerze hält. Wenn es besonders schlimm wird, überträgt sich das aufs Sehvermögen. Ich schaue aus dem Fenster und sehe einen Strudel aus Farben und Formen, die sich zu nichts zusammenfügen. Licht in verschiedenen Wellenlängen. Ich kann stundenlang Computerspiele spielen oder im Internet Pornos gucken. Falls ich überhaupt ans Essen denke, schmeckt es wie Asche.

Während ich darauf wartete, dass Carter zurückkam und diesem Zustand ein Ende bereitete, rannte ich mit dem Maschinengewehr durch Irrgärten, masturbierte, bombardierte fremde Städte und dachte die ganze Zeit nur daran, dass ich mir den Gaumen verbrannt hatte und nichts mehr schmecken konnte. Eines Tages kam ich von der Arbeit nach Hause und entdeckte zwischen den Pizzaschachteln und der schmutzigen Unterwäsche auf meinem Bett ein nagelneues Digital-Delay. Beim Anblick der eingeschweißten Verpackung bekam ich vor Aufregung Zuckungen. Er hatte mir vergeben. Ich war nachts durch die Wohnung gelaufen und hatte ihn aufs Übelste beschimpft, um ihn weit von mir zu stoßen. Aber jetzt war er zurück und hatte mir vergeben. Ich führte einen völlig absurden Freudentanz auf, eine Hand in die Höhe gestreckt, die andere am Bund meiner Jogginghose, die ständig runterrutschte. Als ich mich wieder einigermaßen im Griff hatte, flitzte ich durch die Wohnung, räumte das Sofa auf, auf dem ich die meiste Zeit verbracht hatte, sammelte Getränkedosen ein und kippte den Inhalt mehrerer improvisierter Aschenbecher – Teller, Dosen, kleine Plastikflaschen – in eine Einkaufstüte. Ich duschte und betrachtete mich im Spiegel. Wenn ich den Bauch einzog, bildeten meine hervorstehenden Hüftknochen einen Hohlraum. Ich konnte die Rippen zählen. Ich fragte mich, ob Carter das auffallen würde.

Ich hatte gerade abgewaschen und wischte den Boden, als er mit einem Joint im Mundwinkel reinspaziert kam. Er war bei Freunden in Kalifornien gewesen und trug jetzt – offenbar voller Stolz – einen Porkpie-Hut, eine Armeejacke, alte Nike-Sneakers und an allen Fingern silberne Ringe. Nichts davon hatte ich je an ihm gesehen. Offensichtlich hatte er die Zeit in Kalifornien hauptsächlich damit verbracht, sich neu einzukleiden.

»Hey, Bro«, sagte er.

Ich widerstand dem Impuls, ihn zu umarmen, und passte mich seinem Tonfall an.

»Was geht?«

»Tut mir aufrichtig leid, Mann. Ich hab dir ein neues Delay gekauft.«

»Hab ich gesehen. Danke, Bro. Wegen der Mandoline …«

»Vergiss es. Ich hab eine neue bestellt.«

Und damit war die Sache gegessen. So war es häufig mit Carter. In beiderseitigem Einverständnis erklärten wir eine Sache für erledigt und verloren kein Wort mehr darüber. Am selben Abend fragte er mich, ob ich mit ihm nach New York ziehen wolle. Ich konnte es kaum glauben. Auf einmal sah die Welt ganz anders aus. Ich war so verzweifelt gewesen, und jetzt würde ich mit Carter in New York wohnen. Ich war ein Gesalbter des Herrn.

KONZERTE, KLUBS, PARTYS. Partys in Kellerbars, auf Dächern, in Lagerhäusern in Bushwick, wo Wasser an den Wänden herunterfloss. Ich mittendrin, vom Türsteher reingewunken, abgenickt, Bändchen ums Handgelenk, Getränkebons, ein Näschen Koks. Wir fuhren mit dem Fahrrad nach Coney Island. Wir nahmen im Prospect Park Drogen aus chinesischen Laboren. Im Nachhinein erscheint es mir absurd, wie viel Zeit wir damals hatten. Über Kaffeetrinken und Plattenläden abgrasen verging manchmal ein ganzer Tag.

Kinder reicher Leute lernen normalerweise irgendwann – ob von ihren Eltern oder durch bittere Erfahrungen –, dass gewisse Dinge hinderlich sein können, wenn man zu jemandem eine echte Beziehung aufbauen will. Gewisse Dinge heißt in diesem Fall Geld. Carter ertrug es nicht, wenn man darüber redete. Eine falsche Bemerkung, und schon war das Gespräch beendet, er drehte sich einfach um und ging. Als wir nach New York zogen, hatte ich eine fast religiöse Einstellung zu den vielen damit verbundenen Vorzügen entwickelt: verneigen, Hände aufhalten, still und leise Danke sagen. Geld war Carters unsichtbarer Gehilfe, ein guter Geist, der im Hintergrund die Strippen zog. Wagen fuhren vor, Restaurantrechnungen wurden beglichen. Wenn es Zeit für einen Tapetenwechsel war, verwandelte sich die Stadt in einen Strand oder eine Skihütte. Der Trick war, es einfach so hinzunehmen. Da ich nicht nachvollziehen konnte, warum ausgerechnet ich Carters treuer Knappe geworden war und nicht jemand anders, kam mir das alles unwirklich vor. Eine Illusion, roter Staub, irgendwelcher Kram, der in FedEx-Kartons ankam.

Als Carter beschloss, ein Tonstudio für uns einzurichten, war es praktisch über Nacht da. Eines Tages kam er in mein Zimmer mit Schlüsseln für ein Gebäude in Williamsburg in der Hand. Wir setzten uns aufs Rad und fuhren hin. Die Handwerker waren bereits am Werk, bauten Trennwände ein und kümmerten sich um die Schallisolierung. Das Equipment war überwältigend, jedes Teil hatte eine Geschichte und war mindestens vierzig Jahre alt, Röhrenverstärker, Fuzzboxes aus den Sechzigern und ein Mischpult, das in den Fame Studios in Muscle Shoals gestanden hatte. Der Gesang lief über zwei AKG C12 Mikros aus den Fünfzigern, die fünfzehntausend Dollar kosteten. Als der Umbau fertig war, stöpselten wir die Kabel ein und fingen an, uns nach Jobs umzugucken. Ich war gerade mal sechs Monate aus dem College raus, saß in New York und war verdammt noch mal Mitinhaber eines Tonstudios. Carter hatte eine sehr genaue Vorstellung davon, was er dort machen wollte. Wir priesen uns als Audio-Künstler an, als Handwerker des Analogklangs. Wer wollte, konnte sogar auf Viertel-Zoll-Band aufnehmen. Er kannte ein Presswerk, wo wir daraus Schallplatten machen konnten, also Musik aufnehmen, die zu keinem Zeitpunkt digitalisiert worden war. Meine Damen und Herren: der gute alte Stereoklang. Treten Sie näher.

Carter schnitt sich die Dreadlocks ab und lief rum wie ein Goldgräber im Jahr 1849. Er war nicht der Einzige. Zu der Zeit wimmelte es auf der Bedford Avenue nur so von Hobos und Trappern. So sahen sie aus, unsere ersten Kunden, Wildwest-Pioniere und Revolverhelden, die über dem Schlagzeug hingen oder an Effektgeräten herumdrehten. Irgendwann wurde mir klar, dass dies kein 19.-Jahrhundert-Revival war. Es war ein Sixties-Revival, ein Revival des Western-Revivals in den Sechzigern. Ihre Freundinnen trugen Ponchos und breite Schlapphüte, und alle fotografierten sich gegenseitig mit Sepia- und Gelbfiltern.

Was seinen persönlichen Musikgeschmack betraf, trieb sich Carter irgendwo in den Fünfzigern in einem Keller in Houston herum und sang mit Lightnin’ Hopkins über einen Gitarrenverstärker. So musste alles klingen. Dumpf, schnarrend und rau. Ein Stück, das er immer wieder spielte, hieß Black Cat Bone. Es klang grauenhaft, wie in einem Sarg aufgenommen. Für ihn war es der Gipfel der Soundästhetik. Seine Sammelleidenschaft hatte ganz neue Ausmaße angenommen. Wenn er bei einer Auktion überboten wurde, schrie er den Bildschirm an. Manchmal saßen wir abends am Sofatisch, koksten und kippten Kurze, und er erklärte mir, warum er diese oder jene Platte unbedingt brauchte. Und dass ich (als Spock, Tin Man etc.) ja sowieso nicht verstehen könne, was das für ihn bedeutete.

Währenddessen entwickelten wir unseren eigenen Sound. Die und die Orgel. Der und der Handclap. Steck die Gitarre in eine Höhle, und der Gesang muss roh und rauchig sein und möglichst weit vorne. Ein bisschen Plattenspielerkratzen, sodass es nach früher klingt. Rockbands liebten uns. Wir machten ein Album mit ein paar Punk-Mädchen aus L. A., die Fans von den Detroiter Girlgroups aus den Sixties waren. Hochtoupierte Haare und Seemannstattoos, das volle Programm. Wir blähten ihre Harmonien zu gewaltigen Melodramen auf, legten hier und da ein bisschen Fuzz drauf und pressten es auf rosa Vinyl. Das Ding war nach einer Woche ausverkauft. Dadurch wurde man im Internet auf uns aufmerksam, und wir bekamen den Auftrag, ein paar Nummern für das Album einer bekannten englischen Band aufzunehmen. Ich hasste ihre Musik und den ganzen Rolling-Stones-Junkie-Troubadour-Quatsch, der dazugehörte, aber es war eine Chance, und wir sahen zu, dass wir es nicht vermasselten. Die Gegenwart ist trocken, aber sobald man Hall drauflegt, hört man die Zeit rückwärts laufen, hinein in die Vergangenheit, in Echo und Desaster. Das ist eigentlich nur ein Trick, clever eingesetzte Technik, außer eben manchmal. Vor zwanzig Jahren. Vor dreißig Jahren … Durch Abstand entsteht Sehnsucht. Dann öffnet sich eine Lücke, in die alles fallen muss. Als die Briten hörten, was wir aus ihren drei Akkorden gemacht hatten, waren sie völlig aus dem Häuschen. Seine Stimme klinge super, meinte der Sänger in seinem genäselten Londoner Tonfall. Zeitlos. Wie Skip James.

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, ein Studio zu nutzen. Mit bestimmten Mitteln lassen sich unvorstellbare Räume im Kopf öffnen. Man kann den Hörer in einen Raum stellen, den es gar nicht gibt, den es nicht geben kann.

WANN HABE ICH DEN BEZUG ZUR ZUKUNFT verloren? Ich weiß noch, wie nah sie sich anfühlte, wie aufregend. Die alte Welt löste sich auf, der ganze Schmutz der Vergangenheit wurde vom digitalen Regen weggespült. Die Zukunft war spiegelglatt, metallisch. Quecksilbertropfen formten Raumschiffe, Waffen, Frauen und Männer. Inzwischen würde ich behaupten, die Zukunft liegt hinter mir. Jedenfalls außer Reichweite für mich. Es wäre leicht, Carter die Schuld daran zu geben, seiner sentimentalen Vorliebe für das Knistern und Rauschen, aber letztendlich bin ich genauso dafür verantwortlich. Ich bin unachtsam geworden. Ich habe mich fallen lassen. Nostalgie: vom griechischen nóstos (Heimkehr) und álgos (Schmerz).