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Bitte sag mir, dass ich im Koma liege.
Warum sonst sollte ich im absoluten Nichts aufwachen, wo mir eine körperlose Stimme den Auftrag gibt, Antworten zu finden. Natürlich hat sie vergessen zu erwähnen, auf welche Fragen. Klar.
Und als wäre das nicht schon schräg genug, soll ich der neueste Mitbewohner in einer Penthouse-WG voller exzentrischer Gottheiten sein? Ab jetzt bin ich wohl: Tekno – Gott der Logik. Coolcoolcool.
WG-Leben, Gott sein, Antworten auf unbekannte Fragen finden … Klingt machbar, oder?
Entdecke eine neue Welt, die näher an dir dran ist, als du denkst. Enträtselst du das Geheimnis des Götterhains?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Über die Autorin
Inhaltshinweise
Kapitel 1 - Tekno
Kapitel 2 - Amo
Kapitel 3 - Authentica
Kapitel 4 - Famer
Kapitel 5 - Relexa
Kapitel 6 - Deziro
Kapitel 7 - Potenco
Kapitel 8 - Innova
Kapitel 9 - Unika
Kapitel 10 - Lib
Zwiegespräch
Nachwort
Danksagung
Cover
Fanny Remus
Götterhain
Impressum:
Fanny Remus, Berlin
erschienen im To|be|Read-Schreibkollektiv
Lektorat: Monica Becker (Lektorat Subtext, lektorat-subtext.webnode.page)
Korrektorat: L. Mattis
Buchsatz: Fanny Remus, Odd One out buchdesign
Coverillustration: Felix Oesinghaus (felixoesinghaus.com)
www.fannyremus.de, [email protected]
IG: @fannyremus, TT: @fannyremus_autorin
Über die Autorin
Fanny Remus erleuchtet durch das Schreiben neue Wege. Ob Dystopie, Romance oder Roman: Ihre Geschichten wirbeln Staub unbeschrittener Pfade auf.
Erfahre die Vielfalt des Lebens in Fannys philosophischen Welten. An der Seite bunter Figuren suchst du Antworten auf die großen Fragen, brichst Tabus und entdeckst neue Perspektiven.
So verändert ihr Seite für Seite die Welt.
Ihr Weg mit dem Fahrrad zum Mond startet in Berlin, wo sie sich mit ihrem Ehemann das Leben nach ihren Bedingungen einrichtet.
Bereits erschienene Titel:
Die Farbe der Vernunft – eine dystopische Liebesgeschichte
That fucking Bet – Spicy Romance
Der Seerosenzirkel – Dark Academia Omegaverse
Reihe: Bakkai City Chronicles – Cyberpunk Dystopie, WunderZeilen Verlag
Über To|be|Read
Ein gutes Buch ist kein Zufall und veröffentlichen kann man es nicht allein. Deswegen haben sich im TBR-Kollektiv sieben Autor*innen zusammengeschlossen, um gute Geschichten zu veröffentlichen.
Viele Augen sehen mehr als zwei, fünf Hirne denken besser als eins, fünf Herzen fühlen stärker als eins – dafür steht To|Be|Read.
Für alle, die Heilung suchen.
Inhaltshinweise
Gottheiten neu interpretiert
Quest Fantasy
Mystery
Mental Health
Found Family
MlM Romance
Slowburn
Keine explizite Erotik
Aber auch:
Gruselgestalten
Albträume
Mysteriöse/diffuse Bedrohung
Bewusstlosigkeit/Koma
Seichter Bodyhorror
Konfrontation mit Trauma und schlechter Behandlung
Mobbing
Depression
Negative Glaubenssätze, Selbstsabotage
Verzweiflung bei Kleinkindern
Tekno
Ich bin nicht die logische Abfolge von Prozessen, keine Einsen und Nullen. Ich bestehe nicht aus Befehlen, die automatisch ausgeführt werden.
Ich bin die Neugier, wie weit es noch geht, die Sehnsucht nach dem Unbekannten, nach dem Ausdehnen enger Grenzen – ich bin ein Symbol für vieles, das einen gemeinsamen Ursprung hat: Entwicklung.
Schmerz! Ein letztes kreischendes Aufbäumen meiner Nerven, das sich mir ins Bewusstsein bohrt. Etwas knackt widerwärtig.
Und dann nichts mehr.
Natürlich, jetzt sterbe ich auch noch. Was für ein passender Abschluss für den beschissensten Tag meines Lebens.
Wenn sich der Sensenmann dann mal bitte beeilen könnte … Ich hab schließlich nicht den ganzen Tag Zeit. Obwohl, jetzt vermutlich schon. Ha.
Oh, Natsuki wird so richtig angepisst sein. Tot kann ich den Deal schlecht durchziehen. Und außer mir wird das niemand hinbekommen. Sorry, Natsuki.
Ich setze mich auf. Das geht also noch. Um mich herum ist nichts als Schwärze. Kein Licht, kein Geräusch. Nicht mal den Boden unter mir kann ich fühlen. Aber ich sitze irgendwo, so viel ist klar. Und meinen Körper sehen kann ich auch, trotz des fehlenden Lichts. Als hätte mich jemand einfach auf eine schwarze Leinwand gemalt. Mmh, kein Blut, alle Gliedmaßen sitzen an Ort und Stelle und auch mein Brustkorb, der eben noch wie eine geplatzte Melone mein Innerstes offenbart hat, erfreut sich bester Geschlossenheit unter dem blauen Karohemd. Habe ich nicht ein graues Shirt getragen?
»Willkommen!«, donnert eine Stimme durch das Nichts.
»Äh, danke. Aber … wo genau?«
»Genau da, wo du sein sollst. Herzlichen Glückwunsch, du bist jetzt ein Gott. Oder eine Göttin. Oder Gottheit. Wie auch immer du willst.«
»Bin ich bei einem freakigen Streamingformat gelandet?«
»Nein, du stehst deinem Schicksal gegenüber.«
»Ganz schön düster. Haha.«
»Wow, der war sogar für deine Verhältnisse lahm.«
»Du kennst mich?«
»Klar. Wir kennen alle.«
»Aha.«
Die Stimme schweigt.
Ich schiebe meine Brille höher auf die Nase. »Ähh, also wie war das noch? Gott oder so? Bin ich in der Hölle gelandet? Himmel? Hatten die Christen recht?«
»Oh, nein. Keine Religion hats gerafft. Aber alle hatten zumindest ein paar Teile richtig. Dafür gibts Fleißpunkte.«
So komme ich nicht weiter. »Okay, anders. Wer bist du?«
»Wir.«
»Was?«
»Wer sind wir wäre korrekt. Denn wir sind alle.«
»Menschen?«
»Facetten. Oder Existenzen. Anteile. Wie auch immer du es nennen willst.«
»Aha. Gerade sprechen alle zu mir und ernennen mich zu einem Gott.«
»Klasse, das hast du schneller kapiert als die anderen vor dir.«
Zentimeter für Zentimeter taste ich meinen Kopf ab.
»Was machst du da?«, fragt die Stimme.
»Ich muss einen schweren Gehirnschaden haben. Vielleicht liege ich auch im Koma.«
»Du liegst nicht im Koma. Deine Seele wurde aus der ewigen Reise herausgelöst, weil du hier der neue Gott werden sollst.«
»Aha.«
»Irgendwas sagt uns, dass du uns immer noch nicht glaubst.«
»Nein, nein. Eine körperlose Stimme, die alle ist, ernennt mich in einem Raum voller Nichts zu einem neuen Gott. Klingt voll logisch.«
»Logisch, das ist das Stichwort.«
Es schnippt. Eine glänzende Tür erscheint vor mir in der Schwärze. Auf einem Display über der Klinke blinken die Buchstaben ZUGANGSCODE EINGEBEN.
»Das ist dein Weg.«
Blink. Blink. Wie ein mechanisch blinzelnder Roboter. »Wohin?«
»Dahin, wo du Antworten findest. Für uns.«
»Antworten. Auf welche Frage?«
Ein scharfer Windzug fährt mir durchs Haar.
»Wir haben echt keinen Nerv dafür. Entweder du gehst jetzt durch diese Tür und wirst der neue Gott oder wir schicken dich wieder in den Kreislauf zurück. Wir können dir aber nicht sagen, wo du dann landen wirst.«
Leuteschinder. Man wird sich doch wohl nochmal über seinen eigenen Tod wundern dürfen. »Du-«
»Ihr.«
»Ihr habt gerade was von logisch gesagt. Wenn ich eine Entscheidung treffen soll, dann muss ich mehr wissen. Je schneller d- ihr mir die Infos gebt, desto schneller kann ich mich entscheiden. So einfach ist das.«
Die Stimme grummelt. »Kannst du nicht einfach aufstehen und durch die Tür gehen?«
»Ihr habt auch gesagt, ich kann wieder zurück. Ich glaube, ich will lieber weiterleben, als ein Gott zu werden.«
»Was? Du willst keine göttliche Macht?«
Ich zucke mit den Schultern. »Als Mensch war ich ziemlich gut.« Grauer Nebel wallt in meinem Geist auf. Irgendwas sagt mir, dass eigentlich Erinnerungen ablaufen sollten. Aber da ist nichts als dieser Nebel. »Denke ich«, schiebe ich verwirrt hinterher.
»Das ist doch Blödsinn.«
»Na hört mal. Irgendwas passiert mit mir, ich träume wahrscheinlich oder liege im Koma. Da waren Schmerzen und Blut. Und dann befiehlt mir jemand Unsichtbares, dass ich doch jetzt bitte ein Gott werden soll.« Ich verschränke die Arme vor der Brust.
»Wir befehlen gar nichts. Und nun stell dich nicht so an und mach, was wir sagen.«
»Seht ihr!« Mit ausgestrecktem Zeigefinger deute ich in die Dunkelheit. »Nö, so nicht. Schickt mich wieder zurück! Sofort.«
»Nein!«
»Doch!«
»Aber …«
»Nein! Ist mir egal. Ihr könnt mich nicht einfach festhalten! Lasst mich in Ruhe. Ich will weg.«
Stille.
»Hallo?« Hier bis in alle Ewigkeit allein festzusitzen wäre wohl die am wenigsten erstrebenswerte Option.
»Wir sind da.« Schwermut liegt in diesen Worten.
»Schmollt ihr?«
»Ist es wirklich so furchtbar mit uns?«
Habe ich gerade ernsthaft die Gefühle der Entität allen Seins verletzt? Das kann doch nur ein Witz sein. Die Stimme wirkt jedenfalls gerade ganz und gar nicht wie eine Übermacht. Eher wie ein verletztes Kind. Was sie etwas sympathischer macht, zugegeben.
»Im Moment verlangst du nu-«
»Ihr.«
Ich atme einmal tief durch. »Ihr verlangt von mir zu folgen. Wenn ihr mir erklärt, was ihr wollt, können wir vielleicht drüber reden.«
»Mmh. Wir müssen herausfinden, was da drin hinter der Tür los ist.«
Obwohl es unmöglich sein sollte, schält sich eine noch dunklere Silhouette aus dem Nichts vor mir. Eine Frau? Die Umrisse verschwimmen und wabern, sodass ich es nicht genau sagen kann.
»Und warum geht ihr dann nicht einfach rein und guckt nach?«
»Wir kommen da schon seit langem nicht mehr rein.«
Kann eine Stimme schaudern? Denn so fühlt sich die Mischung zwischen Seufzer und Fauchen an, die durch das Nichts zischt.
Plötzlich erhebt sich ein Rauschen um uns herum wie Blätter im Wind. Nur ohne Blätter. Und ohne Wind. Vielleicht will mein menschliches Gehirn nur ein Muster erkennen, aber ich kann Worte ausmachen. Gruselig. Angst. Schlecht. Versagen. Wer auch immer da spricht, scheint schlechte Laune zu haben. Das Rauschen wird lauter, drückt mir gegen die Ohren, engt mich ein. Ich will hier weg! Wieder zurück. Nicht wissen, was hinter dieser Tür liegt. Wenn schon eine transzendente Existenz Angst hat, was soll ich dann erst …?
Hilfe.
Ein Flehen liegt in diesen zwei Silben, das Flehen eines einsamen Kindes, das sich verlaufen hat. Hilfe. Ein Wort. Nur ein kleines Wort in der Kakophonie des Unheils-Chores. Doch es ändert alles. Es bricht mir das Herz. Gegen meinen Willen weiß ich, dass ich diese Bitte nicht abschlagen kann.
Ich muss ein Gott werden und helfen.
»Welche Antworten sucht ihr?«
So plötzlich, wie das Rauschen anhob, verstummt es.
»Hilfst du uns?«
»Dafür muss ich wissen, was ihr braucht.« Ich weiß längst, dass ich es tun werde. Doch ich kann ich mich nicht dazu bringen, einfach zuzusagen.
»Das … wissen wir nicht.«
Na klar, easy. Ich werde ein Gott, gehe durch eine Tür und löse das Rätsel der Existenz. Doch durch den Sarkasmus kitzelt noch etwas anderes durch meinen Verstand. »Was wartet dort auf mich?«
»Der Götterhain. Mehr können wir dir auch nicht sagen.«
Ächzend stemme ich mich hoch. »Es kann nicht schaden, mal einen Blick hineinzuwerfen.« Ich stehe auf etwas, aber kein Boden ist sichtbar. Keine Schatten, nichts Greifbares. Mein Gehirn verknotet sich. Irgendwie 2D und doch bin ich plastisch. Übelkeit wie auf einem wankenden Schiffsdeck steigt in mir hoch.
Schnell wende ich mich der Tür zu. Wenigstens sie wirkt … real. »Also muss ich nur durch diese Tür gehen, um ein Gott zu werden?«
»Sagen wir, dass das der letzte Schritt ist.«
»Klingt einfach. Wie ist das Passwort?«
»Du brauchst ab jetzt keine Passwörter mehr.«
Ich zeige auf das Display. »Aber da wird eine Eingabe verlangt?«
»Das gilt für die anderen. Aber nicht für dich. Wenn du willst, dass sich das Schloss entriegelt, wird es das tun.«
Ja, logisch. D’uh. Da ich aber auch keine andere Lösung habe, lege ich probeweise die Hand auf die Klinke. Und siehe da, es piepst, surrt und das Display zeigt ZUGANG GEWÄHRT. Entschlossen drücke ich die Tür auf.
Autsch. Helles Licht sticht mir in die Augen. Gleißendes Licht. Okay. Ich schätze, das gehört sich so für einen Aufstieg in die Göttlichkeit.
»Husch, husch.«
»Ist da jemand ungeduldig?«
»Es ist anstrengend, so konzentriert zu sein. Wir wollen doch keinen stadtweiten Kopfschmerz riskieren.«
»Stadtweit-?«
»Keine Fragen mehr. Wir wollen Antworten.«
Druck in meinem Kreuz schiebt mich weiter.
Mit einem Fuß schon über die Schwelle stemme ich mich dagegen. »Wartet. Was für ein Gott bin ich?«
»Ist das nicht offensichtlich? Du bist der Gott der Logik. Genug jetzt.«
Ein letzter kräftiger Stoß zwischen die Schulterblätter und ich stolpere ungelenk über die Schwelle. Kein sehr göttlicher Auftritt, das gibt Abzug in der Haltungsnote. Die Tür fällt mit einem leisen Plopp hinter mir ins Schloss.
Diiiiing Doooooong.
Ich zucke zusammen. Das Gebimmel ertönt direkt über mir. Klingt nicht gerade nach Himmelsglocken. Eher nach Bahnhofsansage. Vorsicht an Gleis 2, ein neuer Gott fährt auf.
Doch statt eines Bahnsteigs liegt ein kleiner Flur vor mir. Wow. Falls das hier doch ein Traum sein sollte, ist mein Unterbewusstsein ein Meister des Understatements.
Zwei Schritte weiter öffnet sich der Flur in einen weitläufigen Raum. Ein Dschungel an verschiedensten Topfpflanzen – an den Wänden, von der Decke hängend, auf kleinen Tischen. Zwischen den Blättern blitzen weiße Wände hervor. Ein Steinboden glüht warm unter meinen Füßen. Fußbodenheizung?
Vor mir die Rückseite einer Couch, auf der bequem zehn oder zwölf Menschen Platz finden. Sie schwingt sich in der Mitte des Zimmers halbrund um eine gemauerte, offene Feuerstelle. Kein Schornsteinfeger genehmigt ein Kaminfeuer mitten im Raum. Nicht mal ein Abzug an der Decke … Aber ich will mal nicht mäklig sein. Götter brauchen wohl keinen Arbeitsschutz.
Ich schiebe ein großes, saftiggrünes Blatt beiseite und trete in den Raum.
»Wow«, entfährt es mir.
Hinter einer weiten Fensterfront breitet sich eine dicke Wolkendecke aus, über der sich ein mit Sternen übersäter Himmel erstreckt. Regenbögen glühen in allen Farben vor dem dunklen Sternenhimmel. Mit bloßem Auge kann ich schimmernde Sternennebel und sich träge drehende Galaxien ausmachen. Unglaublich!
Alles wirkt unwirklich. Und doch realer als jeder Traum, den ich je gehabt habe. Der Stoff des Sofas gleitet sanft über meine Fingerspitzen, ich rieche den feinen Duft eines Hibiskus in meiner Nähe.
Moment mal, draußen ist es Nacht und hier drinnen erkenne ich jedes Detail, obwohl kein Licht brennt. Es ist taghell. Die Wolkendecke wiederum sieht aus, als würde die Mittagssonne sie in goldenes Licht tauchen.
Ach, das ist doch alles unmöglich! Ich schiebe meine Brille hoch und reibe mir die Augenwinkel mit Daumen und Zeigefinger. Mindestens ist es unlogisch, wenn ich die Maßstäbe der Erde ansetze. Aber welche Maßstäbe soll ich sonst nutzen? Die eines Traums, einer Halluzination? Ich habe noch nie halluziniert, also kann ich das wohl nicht ausschließen. Ist das alles ein schlechter Trip? Obwohl, so schlecht wäre der gar nicht. Das Naturschauspiel da draußen ist ziemlich grandios.
Ein leiser Seufzer lässt mich zusammenfahren. Huch, da liegt ja jemand. Nein, nicht jemand. Dort liegt der verdammte Prototyp eines Mannes. Einen übertrieben muskulösen Arm hinter dem Kopf verschränkt liegt er mit geschlossenen Augen quer über den Polstern direkt vor mir. Dunkle Haarsträhnen hängen ihm leicht ins Gesicht und weiße geometrische Muster zieren die goldbraune Haut, die sich am ganzen Körper über definierte Muskeln spannt. Damn, dieser Kerl ist ein Kunstwerk!
Jetzt bin ich sicher: Ich bin nicht auf der Erde und das dort ist kein normaler Mensch. Das kann nur ein Gott sein.
Plötzlich schaut mich dieser Adonis aus unergründlichen, goldenen Augen an. »Sieh an, jemand Neues!« Er schießt hoch, schwingt sich geschmeidig über die Lehne des Sofas und baut sich dicht neben mir auf. Ich verrenke mir fast den Hals, um ihm in die Augen zu sehen. Ein Berg Mann türmt sich vor mir auf.
»Willkommen! Ich bin Deziro, kannst mich Dez nennen und er. He Leute, jemand Neues!«, ruft er über die Schulter in das Penthouse.
Seine schiere Präsenz überwältigt mich beinahe, sodass mir alle Worte im Hals stecken bleiben.
Er tippt mir auf die Stirn. »Halluuu? Jemand zuhause?«
Pff, ich geb dir gleich zuhause. Ich schlage seine Hand weg und trete einen Schritt zurück. Reiß dich zusammen. »Wo bin ich hier?«
Er breitet die Arme aus. »Wo schon? Im Götterhain.«
Prüfend mustere ich die moderne Einrichtung zwischen den Blättern und Zweigen der Flora. »Hain? Alles, was ich sehe, sind Topfpflanzen und ein Sofa.« Demonstrativ nehme ich die Brille ab, putze sie mit einem Hemdzipfel und rücke sie aufreizend langsam wieder auf der Nase zurecht. »Nein, immer noch nicht besser. Zugegeben, es sind recht viele Pflanzen, aber nichts, was das hier als Hain qualifizieren würde.«
»Ugh, Logik.« Er verzieht das Gesicht, als hätte ich direkt unter seiner Nase einen stinkenden Furz abgelassen.
»Na hör mal«, protestiere ich verschnupft. Kann er nicht einfach lachen, statt mich direkt zu verurteilen?
Ein Kichern erklingt hinter Deziro. Eine drahtige Gestalt mit weißen Rastazöpfen, die in Kontrast zur lohbraunen Haut stehen, schlendert ins Zimmer. »Früher haben die Gottheiten etwas anders gewohnt. Inzwischen haben wir ordentlich umdekoriert. Die meisten ziehen fließend Wasser und Strom dem harten Waldboden vor. Was bleibt, ist der Name.«
Deziro setzt eine träumerische Miene auf. »Also der Outdoor-Sex fehlt mir schon irgendwie. Es ist einfach anders unter einem hohen Blätterdach …«
Was zum …?
Wieder ein Kichern. »Ach, lass dich von Dez nicht verunsichern. Aber ich fürchte, du musst dich dran gewöhnen. Er ist schließlich die personifizierte Leidenschaft. Ich bin Amo, weder er noch sie, also en.« Lächelnd legt en die Hand auf die Brust und deutet eine Verbeugung an. »Ich stehe im Zeichen der Liebe.«
»Was denn? Was denn? Läuft die Vorstellungsrunde schon?« Eine bunte Figur kommt unter einem Torbogen ins Penthouse gestürmt. Noch eine Gottheit? Das wird langsam unübersichtlich.
»Ich bin Famer, er, ich bin der Ruhm!« Er baut sich mit erhobenem Kinn mitten im Zimmer auf. Mit den quietschbunten Klamotten und den pinken Haaren zu kalkweißer Haut hätte man ihn aber selbst in einer Ecke kaum übersehen können.
Hinter Famer treten fünf weitere Personen durch den Torbogen. Okay, reicht dann, danke! Was soll das alles? Wo bin ich nur gelandet? Ich kneife mir in den Arm, um aufzuwachen. Aber es tut nicht weh.
Dez tätschelt mir die Schulter. »Alles klar? Bist ein bisschen blass um die Nase. Wirst dich bald an alles gewöhnt haben. Lass uns die Vorstellungsrunde beschleunigen.« Mit dem Arm auf meiner Schulter zieht er mich zu sich heran und zeigt mit dem Finger auf die erste Person neben dem Fenster. »Die Kleine ist Authentica, sie ist die Göttin der Glaubwürdigkeit.«
Ein Teenager-Mädchen mit dunkelblondem Haar und Sommersprossen winkt zu uns herüber, bevor sie sich seufzend im Schneidersitz auf den Boden lümmelt.
Dez’ Finger rückt eine Person weiter. »Das ist Potenco, die Macht.« Er beugt sich vertraulich zu mir herunter, die Lippen nah an meinem Ohr. »Manchmal ein bisschen mürrisch, die Gute.«
»Ich kann dich hören, Dez«, tadelt sie mit tiefer Stimme. Auch ohne die Warnung hätte ich mich nie mit ihr anlegen wollen. Ihr schwarzer Anzug spannt sich über Arme, die so dick wie meine Oberschenkel sind. Finster blickt sie in die Runde und wirft sich die dicken Braids über die Schulter. Ich schlucke. Ob sie damit manchmal Leute verprügelt?
Wieder ein Weiterrücken von Dez’ Zeigefinger. »Lib, einfach nur Lib. Die Freiheit.«
Lib trägt welliges schwarzes Haar wie aus einer Shampoo-Werbung. Die Kleidung schlackert zu groß um einen schlanken Körper und hat denselben Oliv-Ton wie Libs Haut.
»Innova erkennst du an den roten Haaren und den Farbklecksen auf der Hose – sie ist natürlich die Kunst.«
Innova schaut mit verschränkten Armen herüber. Die Frisur schießt wie stachelige Flammen aus ihrem Kopf, die Sommersprossen auf der blassen Haut fügen die passenden Funken zu diesem Bild hinzu. Feurig.
»Und zu Relexa muss ich wohl nicht viel sagen, sie verkörpert Wohlbefinden.«
Die kleine Frau, auf die Dez zeigt, liegt um ein großes Kissen geschlungen auf der Couch und gähnt herzhaft, das glatte blonde Haar liegt wie eine Decke um ihre Schultern.
Ich schaue sie alle der Reihe nach an. »Schön, euch kennenzulernen, schätze ich. Aber erwartet bitte nicht, dass ich mir das jetzt alles gemerkt habe. Seid ihr sowas wie eine Theatertruppe?«
»Theater!« Famer seufzt auf und strubbelt sich durch die pinken Haare. »Als würde auch nur eine von den Schnarchnasen da reinpassen. Wir sind Gottheiten und stehen für die Dinge, denen die Menschen huldigen.«
»Das muss alles viel für dich sein.« Amo kommt um das Sofa herum und scheucht Dez von mir weg. Die Stellen, an die bis eben noch sein Körper gepresst war, werden kalt. Ich lasse mich von Amo zum Sofa führen und in die Kissen drücken. En setzt sich neben mich. Die anderen folgen unserem Beispiel. Die Göttin mit dem roten Iro kuschelt sich mit an Relexas Kissen, Lib hockt sich auf die Lehne zwischen ihnen und Famer. Dez setzt sich natürlich genau neben mich. Nur die grimmige Frau im Anzug scheint am Ende der Couch ein bisschen Abstand zu allen anderen zu halten. Und das Mädchen – Authentica? – bleibt auf dem Boden sitzen.
Dez schnipst und über der Feuerstelle in der Mitte des Raumes lodern Flammen auf. Angenehme Wärme legt sich auf meine Haut. Unsicher schiele ich zur Zimmerdecke, doch kein Ruß setzt sich dort ab. Die Flammen entwickeln nicht mal Rauch. Also brauchen sie vermutlich auch keinen Schornsteinfeger.
»Jetzt bist du dran.« Amo legt mir vertraulich eine Hand auf den Oberschenkel. Ganz schön touchy-feely diese Gottheiten. »Welche Gottheit bist du?«
Ich zucke mit den Schultern. »Die Stimme draußen hat was von Logik gesagt.«
Dez sinkt tiefer in die Polster. »Also wirklich Logik. Bah.«
Schon wieder Bah! Als wäre ich ein widerliches Insekt oder so. »Was habe ich dir eigentlich getan?«
Er grinst unverschämt. »Nichts, alles gut. Ich hatte mir nur einen … spaßigeren Spielgefährten erhofft.«
Was …? Nein! Nein, ich will gar nicht wissen, an welche Art Spiele ein Gott der Leidenschaft denkt. Ist eh nur unlogischer Quatsch.
Famer drängelt sich in den schmalen Raum zwischen Dez und mir und legt vertraulich den Arm um meine Schultern. Hab ich ein Schild um den Hals, auf dem Bitte streicheln steht? »Wie sollen wir dich nennen, bis du einen Namen hast?«
»Tekno.« Nanu? Wo kommt das her? Aber ja, das ist mein Name, kein Zweifel. Tekno, Gott der Logik. Wow, mein Unterbewusstsein ist echt nicht sehr subtil.
Famer richtet sich ein Stück auf. »Ein endgültiger Name?«
»Was meinst du damit? Ich bin Tekno. Punkt. Und er.«
»Du hast tatsächlich schon einen endgültigen Namen?«, staunt Amo.
Was wundern die sich so rum? »Natürlich. Dinge müssen benannt werden.«
Famer lacht so dröhnend, dass meine Ohren klingeln. »Die meisten von uns haben Jahrzehnte der menschlichen Zeitrechnung gebraucht, um einen angemessenen Namen zu finden.«
Ich rümpfe die Nase. »Wie ineffizient.«
Die Rote – Innova, meine ich – gackert und klatscht in die Hände. »Du hast alle Sprachen der Menschheit zur Verfügung, ausgestorben oder nicht, und du nennst dich Tekno?«
Jetzt sie auch noch. Was erwarten sie denn von mir? Woher soll ich wissen, wie das mit dem Gottsein so funktioniert? »Es erscheint mir logisch.«
Dez stöhnt auf. »Logik! Er ist ein Gott und argumentiert mit Logik. Das Kollektive Bewusstsein wird auch immer fauler.« Mit einem Arm drückt er Famer an die Sofalehne, um mir direkt in die Augen zu schauen. »Tekno, Tek, du gestaltest ab jetzt die Regeln in der Welt mit.«
Vor dem Fenster wirbelt eine Galaxie am Wolkenhorizont. »Dann sollten diese Regeln logisch sein.«
Schaudernd vergräbt Dez das Gesicht in den Händen. »So trocken kann doch niemand sein. Du bist ein Gott geworden und alles, was dich interessiert, ist Logik.« Er springt auf, plötzlich nur noch mit einem Lendenschurz bekleidet. »Pure Lust, Leidenschaft, die Berge versetzt: Das ist die Triebfeder des Lebens!« Die letzten Worte untermalt er anschaulich mit einem Hüftstoß, der den Schurz fliegen lässt. Holla, hat der ein Gerät.
Relexa seufzt wohlig bei diesem Anblick und Famer schaut immer wieder zwischen seinem und Dez’ Schritt hin und her. Selbst die strenge Potenco kann sich hungrige Blicke auf Dez’ Körper nicht verkneifen.
Ugh, er ist wohl sowas wie ein Ballkönig hier. Ich schaue ihm betont unbeeindruckt ins Gesicht. »Vorsicht, damit könntest du jemanden verletzen.«
Stolz reckt Dez die Brust. »Ganz genau.«
O je … Na, da ist schon mal klar, wem ich aus dem Weg gehe. Aber … »Also ernsthaft, wo bin ich? Und wie komme ich hier her?«
Authentica winkt mich zu sich herüber. »Vielleicht begreifst du es, wenn du es siehst.«
Gut, so kann ich etwas Abstand zwischen mich und diese aufdringlichen Personen bringen. Ich hocke mich neben sie ans Fenster. »Was soll ich sehen?«
Sie deutet nach unten in die regenbogenschimmernde Wolkenwand. Es passiert … nichts. Will sie mich verkackeiern? Doch dann, ganz langsam, werden die Wolken durchscheinend und schließlich reißen sie auf und geben den Blick auf Hochhäuser, geschäftige Straßen, Bahnen, Autos und flackernde Lichter frei. Donnerwetter. Wir sind hoch oben in einem Hochhaus, einem übernatürlich hohen Hochhaus.
»Das ist die Stadt. Wir sind die Verkörperung dessen, woran die Menschen, die dort leben, glauben. Wenn der Glaube an etwas Neues verbreitet genug ist, dann wird eine neue Seele ausgewählt, die einen Platz als Gottheit einnimmt.« Authentica lächelt mich an. »So wie du jetzt.«
Was zum …? Ganz genau studiere ich die Straßenzüge, Häuser und Parks. Ich kenne diese Straßen! Dort unten lebe ich. Na ja, jetzt offenbar nicht mehr. Ich reibe mir über die Brust, um die Erinnerung an brechende Rippen zu vertreiben. Das braucht nun wirklich niemand.
»Gott der Logik«, flüstere ich. Die Scheibe vor mir beschlägt durch meinen Atem und raubt mir kurz die Sicht. War es das, was das Kollektive Bewusstsein meinte? Soll ich die Fragen der Stadt beantworten?
»Mmh«, brummt Dez vom Sofa. »Die Menschen denken wohl immer mehr, dass die Technik sie retten und alles richten wird. Logik …« Die restlichen Worte murmelt er nur noch, sodass ich sie nicht mehr verstehe. Ist vielleicht besser so.
Bist wohl beleidigt, großer Mann. Die Menschen wissen Vernunft halt zu schätzen. Ätsch.
Amo stellt sich neben mich. »Verstehst du es? Wir sind Symbole. Die Menschen geben uns Bedeutung, wir geben ihnen Sicherheit und Orientierung.«
Symbole … Das heißt, neben mir steht die leibhaftige Verkörperung der Liebe. Die ist wohl Dauerbrenner unter den Menschen. »Und je mehr sie an etwas glauben, desto mächtiger sind wir?«
Milde, wie es sich für die Liebe gehört, lächelt en zu mir herunter. »Scharf geschlussfolgert.«
»Aber was machen wir?«
Innova schnalzt mit der Zunge. »Wir? Wir machen gar nichts, außer zu sein. Das beeinflusst die Menschen und die machen dann was. Klar, das sieht im Einzelnen selten sinnvoll aus. Aber insgesamt bekommen sie das schon ganz gut hin.«
Skeptisch schiele ich auf die Straßen hinunter. »Ich finde eher, wir, äh, sie verkacken es ganz schön.«
Amo schmunzelt. »Ach, sei nachsichtig mit ihnen. Sie sind so jung. Gerade mal 300.000 Jahre. Da kann man sich schon mal verrennen.«
Na holla, das sind ja Dimensionen hier. Aber ja, ergibt schon Sinn, dass die Liebe älter als die Menschen ist.
Ich fahre mir wieder über die Brust. »Aber worin bestehen meine Kräfte jetzt genau?«
»Das musst du selbst herausfinden.« Famer wirft sich in die Brust. »Ich zum Beispiel bin der Ruhm, ich kann mitreißen und begeistern. Die Herzen im Sturm erobern.«
Okay, okay. Langsam kann ich das alles sortieren. »Also mischen wir uns unter die Leute?«
»Oh, nein!«, sagt Amo schnell. »Wir dürfen nicht dorthin. Du kannst den Götterhain nicht verlassen. Sobald du aus der Tür hinaustrittst, bist du an der Schwelle zur materiellen Welt. Deine Seele würde zurückgesogen in den ewigen Kreislauf. Wahrscheinlich.«
Unwillkürlich rücke ich ein Stück vom Fenster ab. Ich muss hierbleiben, bis ich das alles verstanden habe. Und ich hab es versprochen. Nur etwas passt noch nicht zusammen. »Aber gerade gings mir da draußen ganz gut.«
»Das liegt daran, dass das Kollektive Bewusstsein bei dir war und dein Erwachen begleitet hat. Ohne diese Aufmerksamkeit bist du da draußen verloren.«
Das ist eine Antwort, die nur mehr Fragen aufwirft. »Was ist das Kollektive Bewusstsein? Und ich war da draußen nicht in der Stadt, sondern nur in einer Schwärze.«
Amo hebt beide Hände. »Sachte. Du wirst es schon noch verstehen. KB ist alle. Früher waren sie öfter bei uns. Dez und ich erinnern uns noch.« Dez nickt langsam. »Aber seit einiger Zeit ernennen sie nur noch neue Gottheiten. Draußen im Nichts. Ein Ort jenseits von Zeit und Raum.«
»Und der Götterhain ist nicht jenseits von Zeit und Raum?«
»Nein. Die beiden Dinge laufen hier atypisch, sind aber nicht völlig ausgehebelt«, sagt Authentica. »Das Nichts ist anders. Dort würdest du dich vielleicht einfach auflösen.« Sie schaudert kaum merklich und streicht sich mit den Händen über die Oberarme.
Okay, verstanden. Lieber nicht zur Tür raus. »Warum kommt das Kollektive Bewusstsein nicht mehr her?«
Amo zuckt mit den Schultern und auch der Rest der Runde blickt nur ratlos drein. Diese Antwort ist dann wohl eine von denen, die ich finden soll. Aber dafür muss ich noch viel besser verstehen, was im Götterhain vor sich geht.
»Aaaach, das ist doch alles alter Käse«, tönt Innova und streckt alle viere von sich. »Mir ist langweilig. Wenn ihr mich braucht, ich bin in meiner Dimension.« Winkend tritt sie unter dem breiten Bogen durch, durch den alle gekommen sind.
Die übrigen Gottheiten schauen Amo an. En scheint sowas wie ein Anführer zu sein.
»Schon gut«, lenkt en sanft ein. »Ich übernehme ab hier.«
Sofort kommt Bewegung in die Truppe und die meisten Gottheiten gehen Innova nach. Na danke, ist meine Ankunft so unspektakulär? Für einen Götterreigen schon, schätze ich.
Relexa bleibt auf der Couch liegen. Sie hat sich in eine Decke eingemummelt und atmet gleichmäßig. Und ausgerechnet Dez stellt sich zu Amo. »Du musst das nicht allein machen. Mir ist eh nach Abwechslung zumute.«
Dankenswerterweise trägt er jetzt wieder eine Hose. Stimmt, das wollte ich vorhin schon fragen, bevor ich … abgelenkt wurde. »Also können wir unsere Kleidung beeinflussen?«
Dez grinst. »Was denn, traurig, dass ich wieder mehr anhabe?«
Pah!
Doch dann winkt er ab, bevor ich etwas erwidern kann. »Ja, können wir. Unsere grundlegende Gestalt ist durch das Kollektive Bewusstsein festgelegt, sie kann sich nur verändern, wenn sich das Bild ändert, das die Menschen von den Dingen haben, die wir symbolisieren. Aber Kleidung, Schmuck und ähnliche Äußerlichkeiten sind ganz uns überlassen.« Dez’ Blick wandert an mir hoch und runter. »Weswegen ich mich ernsthaft frage, warum du dieses blaue Karohemd trägst.«
Das überhör ich jetzt mal. Ich hab keine Zeit, mich zu prügeln. Und das sage ich nicht nur, weil ich absolut keine Chance gegen diesen muskelbepackten Adonis habe. Tausend Fragen brennen mir unter den Nägeln und meine Mission ist es, Antworten zu finden.
Ich stehe auf und wende mich an Amo. »Also sind es im Grunde die Menschen, die Macht über die Gottheiten haben und nicht umgekehrt.«
En legt den Kopf schief. »Das ist nicht ganz richtig. Komm mit, wir zeigen es dir.«
Amo
Ich bin nicht die Selbstaufgabe, nicht das Sich-Verlieren in einem anderen, für mich musst du keine Opfer bringen.
Ich bin das Verzeihen von Fehlern, das Laufen in den Schuhen eines anderen, ich bin Verständnis - ich bin ein Symbol für vieles, das einen gemeinsamen Ursprung hat: Verbindung.
Gemeinsam mit Amo und Dez trete ich zum ersten Mal durch den Torbogen. Er führt zu einem … Flur? Wir stehen vor einer halbrunden Wand, in die zehn Türen eingebettet sind. Sie schimmern zart in allen Farben des Regenbogens und jede hat eine Plakette.
»Das ist der Eingang zu meiner Dimension.« Amo deutet auf eine Tür in der Mitte des Halbrunds.
Darauf prangt Amo in silbernen Buchstaben. Alle Türen tragen Namen. Ich zähle zur Sicherheit stumm durch. Wer weiß, wie weit ich meinen Sinnen heute noch trauen kann. Aber es bleibt dabei. »Zehn Türen? Wir sind nur neun.«
Dez und Amo tauschen einen besorgten Blick, dann deutet Dez auf eine Tür rechts von uns. Ui, die sieht aber nicht gut aus. Stumpf und farblos hebt sie sich von den anderen ab. »Unika, Individualität. Sie … kommt seit einiger Zeit nicht mehr heraus.«
»Sollten wir dann nicht mal nachseh-?«
»Nein!« Dez schiebt sich zwischen mich und die farblose Tür, als würde ich sie aufsprengen wollen.
Hu? War das nicht ein bisschen zu heftig?
Amo schüttelt betrübt den Kopf. »Wir können fremde Dimensionen ohnehin nicht ohne Erlaubnis betreten. Sie müsste die Tür schon für uns öffnen.«
»Und wenn sie da drin liegt und Hilfe braucht?«
Dez lacht, aber es gerät etwas wacklig. »Sie ist eine Göttin, natürlich braucht sie keine Hilfe. Vielleicht braucht sie einfach mal etwas Urlaub. Sie wird bestimmt wieder rauskommen.«
»Also ist sie noch nicht lange weg?«
Das eh schon unsichere Lächeln tröpfelt aus Dez’ Gesicht. »Zeit ist hier merkwürdig und spielt nur eine geringe Rolle.«
Weiß ich nicht, Adonis. Das wirkt alles etwas verdächtig. Ich schiele nochmal zur Tür.
»Lass uns nicht darüber reden«, sagt Amo und würgt damit eine zweifellos brillante Erwiderung ab, die ich mir gerade zurechtlegen wollte. »Das wirst du später verstehen. Jetzt kümmern wir uns erstmal darum, dass du das Grundprinzip begreifst.« Damit stößt en die Tür auf und bedeutet mir und Dez mit großer Geste und nicht ohne Stolz im Blick, einzutreten.
Na gut, ist schon richtig. Eins nach dem anderen. Ich trete durch einen Nebelvorhang, der mir feucht über die Wangen streicht. Dann stehe ich plötzlich in der Kulisse des kitschigsten Heimatfilms, den ich je gesehen habe. Vor mir eröffnen sich weite, hügelige Wiesen unter einem azurblauen Himmel. Blumen in Hülle und Fülle strecken ihre Köpfe in Richtung Sonne, Schmetterlinge und Kolibris schwirren geschäftig zwischen Büschen in voller Blütenpracht umher.
In einiger Entfernung ragen bunte Stoffzelte in die Höhe, zwischen denen Menschen tanzen, lachen und gemütlich beieinandersitzen. Meine Fresse, ist das idyllisch. Was für ein Hippie-Traum.
Beim Anblick von Amos Gesichtsausdruck, der so friedlich und ausgeglichen wirkt, als wäre en ein Engel und keine Gottheit, verkneife ich mir jeden urteilenden Kommentar. Ich betrete etwas Heiliges, fast schon Intimes. »Es gibt Menschen hier?«, frage ich stattdessen.
Amo legt den Kopf schief. »Ja und nein. Sie sind nicht so real wie die Menschen unten in der Stadt. Mehr Erinnerungen oder Projektionen. Unterbewusstes.«
»Projektionen? Wovon? Und wo sind wir überhaupt? Und wie funktioniert diese Tür?« Nachdem wir alle hindurch sind, hat sie sich geschlossen und steht nun frei und funkelnd auf dem Hügel.
Dez stöhnt und reibt sich das Gesicht. »Amo, du musst weitermachen. Ich halte so viel Logikverhaftung nicht aus.« Damit plumpst er ein Stück von uns entfernt ins Gras am Hang, steckt sich einen Halm in den Mund und lässt Schmetterlinge zwischen seinen Fingern hindurchflattern. So reiche ihm jemand ein Träubchen! Er sieht aus wie ein verdammter antiker Gott. Mmh. Okay, das ist wohl auch genau das, was er ist.
Amo schmunzelt. »Lass uns ein Stück gehen, Tek. Hier wirds dir sicher bald zu … Lass uns einfach gehen.«
Ähh, will ich es wissen? Es hat mit Dez zu tun, also vermutlich nicht. Brav trotte ich Amo hinterher. Gemeinsam schlendern wir über sanfte Hügel und nähern uns den bunten Zelten. Mit der weißen Robe und dem schwebenden Gang wirkt en wirklich wie eine Gottheit, die durchs Paradies wandelt. Ich bin mächtig fehl am Platz mit meinem Karohemd und den Sneakers.
Amo macht eine huldvolle Geste mit ausgestrecktem Arm, die die Hügel um uns herum einschließt. »Das ist meine Dimension. Hier wirken meine Kräfte. Wir können nicht runter in die Stadt und nicht direkt mit den Menschen in Kontakt treten. Das heißt aber nicht, dass wir keinen Einfluss haben.« En winkt den Projektionen im Vorbeigehen und sie springen enthusiastisch auf und ab.
»Amo! Kommst du rüber?«, ruft ein Mann in flatternden Kleidern.
En streckt grüßend die Hand in Richtung des Rufenden. »Ich bin gerade beschäftigt, Isaiah. Ich komme später zu euch.«
Isaiahs Gesicht leuchtet auf, als hätte die Nachricht alle seine Wünsche auf einmal erfüllt. »Wir warten auf dich.«
Mit einer sanften Kopfbewegung nimmt Amo diese Ankündigung entgegen. »Diese Projektionen sind Fetzen von Bewusstsein, die ihren Weg in mein Reich finden. Menschen, die an die Liebe glauben und ihr einen hohen Wert beimessen, bekommen so beschränkten Zugang zu mir und ich kann sie beeinflussen. Was immer ich sie erleben lasse, wird ihr Bild von der Liebe prägen. Sie tragen es dann mit sich in ihre Realität.«
»Ohne dass sie was davon mitbekommen?«
Wir umrunden einen Hügel. In der Ferne taucht ein Wäldchen mit zarten Bäumchen auf.
»Manchmal können sie sich erinnern, aber die meisten Menschen halten solche Erfahrungen für Träume oder gar Halluzinationen.«
Erwischt. Wenn es sowas wie Träume gar nicht gibt, dann muss ich das alles auch wirklich erleben. Doch kann einem nicht auch ein Traum erzählen, dass er kein Traum ist? Allerdings fühlt sich das hier schon eine ganze Weile viel realer an als jeder Traum, den ich je hatte. Ich muss rausfinden, wie sehr ich mich auf mein Gefühl verlassen kann.
Weiches Gras streicht mir plötzlich über die Fußsohlen. »Hä? Wo sind meine Schuhe?«
»Schuhe wären eine Verschwendung auf meiner schönen Wiese.« Amo lacht und macht eine elegante Bewegung aus dem Handgelenk. »Ich habe mir die Freiheit genommen, sie zu entfernen. In meiner Dimension habe ich selbst über andere Gottheiten begrenzte Macht.«
Das sanfte Kitzeln schickt mir wohlige Schauer die Waden herauf. »Und doch lasst ihr andere Gottheiten nur mit Einladung in eure Dimensionen.«
Auf einem etwas höheren Hügel auf halbem Weg zwischen Zelten und Wäldchen bleibt Amo stehen. En breitet die Arme aus. Der bauschige Stoff der Robe, der im Wind flattert, unterstreicht die Anmut dieser Geste. »Alles hier ist entstanden, weil ich es so wollte. Doch die Projektionen gehören nicht zu mir. Du – oder jede andere Gottheit – könntest sie beeinflussen und damit auch das Bild der Liebe, das sie haben.« En legt die Hände auf die Brust, direkt über dem Herzen. »Wir lassen nur herein, wem wir vertrauen können.«
Ich schlucke schwer. »Und du vertraust mir?«
Wieder dieses Schmunzeln. Kleiner Schmunzelhase. Irgendwie mag ich das an Amo.
»Sei mir nicht böse, aber du bist keine Gefahr für mich. Menschen, die Kraft aus der Liebe ziehen, sind meistens nicht sehr empfänglich für strikte Logik.« En dreht sich in die Richtung, aus der wir gekommen sind. »Dez ist oft bei mir, Liebe und Leidenschaft funktionieren gut zusammen und wir haben ähnliche Ziele.«