Ingenio (Band 1) - Fanny Remus - E-Book

Ingenio (Band 1) E-Book

Fanny Remus

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Beschreibung

EINE WELT OHNE MANGEL - ABER ZU WELCHEM PREIS?

Die größte Errungenschaft der Forschung sind die Magi. Ihre Fähigkeit, unbelebte Materie und Energie allein durch Gedanken zu kontrollieren, löste alle drängenden Probleme der Menschheit.

Melody Vitex, eine Unmagische aus Bakkai City, entdeckt an sich eine merkwürdige Fähigkeit. Sie wird daraufhin von den Freien Magi rekrutiert, die ihr ein schreckliches Bild von Bakkai offenbaren: Der Traum vom Leben ohne Mangel ist an der menschlichen Natur gescheitert – Korruption und Unterdrückung sind an der Tagesordnung. Um dem ein Ende zu setzen und die Vision von Bakkai zu retten, will die Zentralregierung mit skrupellosen Experimenten Magi erschaffen, die in den menschlichen Geist eingreifen können.
Melody muss herausfinden, wem sie vertrauen kann und entscheiden, ob sie sich dem Kampf der Freien gegen die Regierung anschließen möchte. Dann versucht auch noch One, der mächtigste Magi von Bakkai und Sohn des Präsidenten, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Weiß er etwa, was es mit ihrer mysteriösen Fähigkeit auf sich hat?

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Seitenzahl: 325

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Fanny Remus

Impressum

Copyright © 2024 by

WunderZeilen Verlag GbR (Vinachia Burke & Sebastian Hauer) Kanadaweg 10 22145 Hamburghttps://[email protected]

Ingenio (Band 1)Text © Fanny Remus, 2024 Story Edit: Vinachia Burke (www.vinachiaburke.com) Lektorat 1: Mary Stormhouse (www.instagram.com/mary.stormhouse) Lektorat 2: Federstaub Lektorat, Julia M. Weimer Korrektorat: Monika Schulze (www.suechtignachbuechern.de) Cover: Vinachia Burke Satz & Layout: Vianchia Burkewww.vinachiaburke.com ISBN: 978-3-98867-020-5 Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltshinweise

Rebellen gegen Regierung, Wissenschaftlich erklärte Magie, Found Family, Casual Queerness, keine explizite Erotik

In dieser Geschichte gibt es außerdem Szenen, mit

Expliziter Darstellung und Erwähnung körperlicher und seelischer Gewalt (auch gegen Kinder und Jugendliche), Blut, Trisomie 21, Erwähnung von Suizid, Mord und dem Tod Angehöriger, Erwähnung wissenschaftlicher Experimente an Menschen und Drogenkonsum.

Für Vergangenheits-Fanny.

Du hast für diese Geschichte den Mut gehabt, einen neuen Weg zu gehen und mein Leben damit so sehr bereichert.

Ausbruch

MELODY VITEX 17.3.19 – 25.6.99

Melody starrte ihren Namen auf der Gedenkplakette an und fragte sich nicht zum ersten Mal, ob sie tatsächlich tot war. Der Schauer, den ihr der Gedanke über den Rücken jagte, bewies das Gegenteil: Vor Melody leuchtete die Grabnische ihrer Großmutter, nach der sie benannt worden war.

Außer ihr befand sich keine Menschenseele zwischen den kalten, schwarzen Blöcken mit den Gedenkschubladen, die sich nur wegen der indirekten Beleuchtung hinter den Plaketten vom dunklen Abendhimmel abhoben. Box an Box voller Erinnerungen an vergangene Leben. Melody war allein. Wie jeden Tag seit der Gedenkfeier vor ein paar Wochen. Jetzt auf dem Friedhof, aber auch im Alltag. Der Tod ihrer Großmutter hatte erneut ein Ende in ihrem Leben markiert.

Sie seufzte. Wie hatte sie nur so einsam werden können?

Der Unfall vor fünfzehn Jahren, bei dem ihre Eltern gestorben waren, hatte das erste Ende bedeutet. Seither war ihre Großmutter ihr Lebensmittelpunkt gewesen. Darüber hinaus hatte sie niemanden. Nun hatte auch die letzte lebende Verwandte sie verlassen.

Wohnung, Job, Wohnung, mal ein Abstecher, um die Grundversorgung abzuholen – was für ein Leben. Doch Melodys Kraft reichte darüber hinaus nur noch für abendliche Besuche der Grabnischen, immer wenn die Einsamkeit zu schwer wurde. Eine rein symbolische Verbindung zu ihrer Familie, denn natürlich lagen in den Schubladen hinter den Plaketten keine Leichen. Die Atome toter, menschlicher Körper waren viel zu wertvoll, um sie irgendwo verrotten zu lassen. Wie hatten die Magi die Überreste ihrer Großmutter wohl verwendet? Vielleicht waren sie jetzt Nahrung für die Bewohner von Bakkai City, Erde für die Parks in den Quartieren oder Rohstoff für Kleidung – die Fähigkeiten der Magi kannten wohl nur physikalische Grenzen. Sie produzierten, was gebraucht wurde. Unheimlich.

Seufzend strich Melody über die Namen ihrer Familie an der Wand. Nur noch Buchstaben, das war alles, was blieb. Kies knirschte unter Schritten anderer Besucher, gedämpftes Flüstern drang durch die Gänge. Nicht einmal die warme Beleuchtung der Blöcke konnte über die Trostlosigkeit dieses Ortes hinwegtäuschen. Zeit, nach Hause zu gehen.

Nach Hause. Leere Worte für eine leere Wohnung.

Spam. Melody verlangsamte ihre Schritte. Vor dem Ausgang des Friedhofs stand eine Gruppe Menschen. Sie würde warten müssen, bis die Menge sich auflöste. Wegen der Krankheit ihrer Großmutter war es ihr in Fleisch und Blut übergegangen, menschliche Kontakte zu meiden.

Melody beobachtete die Menschen aus dem Schatten eines Gedenkblocks, der dem Ausgang am nächsten war. Leise Gespräche, Schulterklopfen, eine Umarmung. Nähe und menschliche Wärme.

Wenn Melody doch nur ein Teil dieser Gruppe sein könnte … Aber was hielt sie eigentlich noch auf? Ihre Großmutter musste nicht mehr beschützt werden. Der Grund, warum sie sich von anderen Menschen fernhielt, existierte nicht mehr.

Mit zögerlichen Schritten ging sie auf die Gruppe zu. Ihr Herz klopfte, als würde sie etwas Verbotenes tun. Zwei Meter, einer … Sie schlüpfte zwischen ihnen hindurch zum Ausgang, streifte eine Schulter, sah in blaue Augen. Diese ungewohnte Nähe machte sie benommen und löste Schwindel aus. Schnell weiter.

Ein paar Schritte entfernt konnte sie wieder aufatmen und der Nebel in ihren Gedanken verflüchtigte sich. Die Traube am Eingang löste sich langsam auf. Das erste Mal seit Wochen stahl sich ein Lächeln auf Melodys Gesicht. Sie hatte es gewagt!

Wagemut und Euphorie wallten in ihr auf. Diese Gefühle waren unbekanntes Terrain. Sollte sie etwas wagen?

Ein Holo an der Fassade vor ihr ließ bunte Lichter durch die Straße vor dem Friedhof flackern. ›Incredible – die neue Kollektion von Four! Kleide dich wie eine Vollkommene. Jetzt exklusiv bei Vivant auf dem Plaza! ‹

Plaza … Normalerweise entschied Melody sich für den sicheren Weg. Aber nicht heute. Sie musste gar nicht nach Hause. Und sie musste auch niemanden mehr schützen. Zum ersten Mal in ihrem Leben stand es ihr frei, zu gehen, wohin sie wollte. In die Innenstadt! Sie bog nicht nach rechts zu ihrer Wohnung ab, sondern wandte sich Richtung Bahnhof.

Die Bremsen des Zuges quietschten laut. Zur Beruhigung tippte Melody sich immer wieder an ihre Schläfe, um über ihren BioLink zu kontrollieren, ob sie noch auf dem richtigen Weg war. Zum Glück musste er mit dem Finger aktiviert werden, ihre nervösen Gedanken hätten sonst garantiert ein Dauerfeuer an Befehlen ausgelöst.

Ihre Großmutter hatte sich nie an den BioLink gewöhnen können, den sie als erwachsene Frau bekommen hatte. Erst seit der dritten Generation wurde er jedem Menschen direkt nach der Geburt eingesetzt. Eine Schnittstelle vom Gehirn zum Net sei unnatürlich, hatte ihre Großmutter immer gesagt. Das stimmte schon. Aber deswegen musste die Erfindung nicht schlecht sein.

Melody schreckte aus ihren Gedanken hoch. Beinahe hätte sie die Station verpasst, an der sie umsteigen musste. Das letzte Mal hatte sie die Innenstadt als Kind in Begleitung ihrer Mutter besucht. Die Holos berichteten immer von rauschenden Nächten auf dem großen Plaza. Genau das Richtige, um ihre Einsamkeit zu vergessen und etwas Aufregendes zu erleben.

Nach acht Stationen stieg sie von einer wenig genutzten Tube-Linie der äußeren Quartiere, in die wesentlich stärker frequentierte Monorail Richtung Innenstadt. Da es früh am Abend war, blieb ihr noch genug Platz, um sich langsam an die Menschen zu gewöhnen. Immer wieder musste sie ihre verschwitzten Handflächen an der Hose abwischen. Zwischen den Passagieren wurde ihr schwindelig und dieser Nebel von vorhin kehrte in ihren Kopf zurück.

Tief durchatmen, das waren nur die Nerven, das konnte sie abschütteln. Aber ihre Bemühungen halfen nicht.

Der Mann, der ihr gegenüberstand, musterte Melody unfreundlich. Dieser prüfende Blick … Tat sie wirklich das Richtige? Nein, aufgeben kam nicht in Frage. Und wenn nicht jeder sie für ein Bugbrain halten sollte, musste sie sich zusammenreißen.

Am Plaza der Innenstadt angelangt, staunte Melody nicht schlecht. Riesige Hologramme schwebten über dem weitläufigen, ovalen Platz und an den Glasfronten der Gebäude, die um diesen herum in den dunklen Himmel ragten. Überall flimmerten Shows, Anzeigen und Nachrichtensendungen über Monitore in allen Größen. Die Fenster in den unteren Etagen der Wolkenkratzer leuchteten in hunderten Farben. Jeder Club und jede Bar versuchten, Nachtschwärmer anzuziehen, wie das Licht die Motten. Aber nicht nur in den Gebäuden, sondern auch überall auf dem Platz versammelten sich Menschen. Zahlreiche Foodtrucks standen auf dem Plaza verstreut und Menschen füllten an Springbrunnen mit bunten Flüssigkeiten ihre Gläser. Um eine kleine Bühne hatte sich eine Traube gebildet.

All die Eindrücke vermischten sich zu einer schrillen Symphonie der Nacht. Das Gemenge war atemberaubend laut und Melodys Kopf schwirrte von den vielen auf sie einströmenden Eindrücken noch mehr. Es mit den eigenen Sinnen zu erleben, war etwas ganz anderes, als das Treiben nur im Holo zu betrachten. In ihrem Quartier war die Nacht bei weitem nicht so laut, bunt und schrill.

In Bakkai City sollten alle gleich sein. Das war das große Versprechen, das zur Gründungszeit der Stadt viele Menschen angelockt hatte. Vergiss deine Herkunft. Deine Hautfarbe spielt keine Rolle. Liebe, wen du willst; lebe, wie du willst: Trage nur deinen Teil bei und es wird dir an nichts mangeln.

Doch der Anblick der Innenstadt – ob im Holo oder jetzt in der Realität – veranschaulichte immer wieder, dass sich die Grenzen nur verschoben hatten. In Melodys Quartier kamen die Menschen zurecht. Niemand war obdachlos, niemand war hungrig, niemand war reich. In der Innenstadt dagegen hatten sie mehr als nur die zugeteilte Grundversorgung. Hier lebten sie im Luxus.

Wie war das innerhalb des gerechten Systems von Bakkai möglich? Weder ihre Lehrer noch ihre Großmutter hatten ihre Fragen dazu beantworten wollen.

Melody stand am Rand des Plazas. Wenn sie doch nur ein paar ihrer Sinne abstellen könnte. Von überall prasselten leuchtende, piepsende, blinkende und glänzende Eindrücke auf sie ein. Der Platz füllte sich allmählich mit immer mehr Menschen, die fröhlich feierten. Sie trugen Kleidung in allen Farben und Mustern, die Melody sich vorstellen konnte. Selbst Haare und Haut waren meistens farblich passend zu den Outfits gestylt. Die Menschen aus der Innenstadt liebten Extravaganz.

Nur die Mitglieder der Security in ihren grauen Panzerungen hoben sich von den bunten Feierwütigen ab. Auf ihrem langsamen Weg an den Fassaden um den Plaza entlang, hielt sie sich möglichst fern von ihnen. Ja, sie waren nur zur Sicherheit der Bürger da, aber ihre Großmutter hatte ihr eingebläut, immer Abstand zu den Kampftruppen zu halten. Jetzt verstand Melody, warum. Der Anblick der schweren Uniformen und Gewehre ließ ihr Herz in der Brust flattern. Aber schlimmer war die Security ohne Waffen – Magi, unberechenbar. Noch nie hatte sie Angst gehabt, wenn sie in Bakkai unterwegs war. Warum ausgerechnet hier im pulsierenden Herzen der Stadt? Melody flüchtete sich zwischen die Gruppen in Richtung Mitte des Plazas. Als die bunten Farben das Grau verdeckten, konnte sie wieder etwas freier atmen.

Die Menschen um sie herum hatten nicht nur bunte Haare und Klamotten, sie trugen die Farbe auch direkt auf der Haut. Melody hatte vorher nie echte Hautmodifikationen aus der Nähe gesehen. Die eigene Haut von einem Magi behandeln lassen … Unwillkürlich schüttelte sie sich. Dass die Materie-Magi menschliche Körper zumindest oberflächlich verändern konnten, war sicher nützlich. Dass sie nicht tiefer in lebende Organismen eingreifen konnten, wurde allgemein als großer Nachteil gesehen.

Doch magisch in Körper eingreifen oder sogar Leben erschaffen? Eine furchtbare Vorstellung. Selbst – oder gerade – die unglaublichen Magi sollten Grenzen haben. Auch wenn Melody wohl niemanden wissen lassen sollte, dass sie so dachte. Die Öffentlichkeit fieberte jedem Schritt zur Verschiebung dieser Grenzen entgegen.

Jemand traf sie schmerzhaft an der Schulter. »Entschuldigung, Schätzchen. Weniger gaffen, mehr feiern!«

Bevor Melody etwas entgegnen konnte, war der Mann schon davongerauscht. Was hätte sie auch sagen sollen? Er hatte recht. Sie sollte hier nicht nur reglos rumstehen. Ihre Gedanken schweiften wegen des leichten Schwindels viel zu schnell ab. Sie wollte Neues. Doch was jetzt?

Neben ihr prosteten sich Menschen lautstark zu. Ja, mit einem Getränk in der Hand würde sie sich an etwas festhalten können und weniger auffallen. Wenn auch nur ein bisschen. Braune Haare, die ihre Schultern umspielten, blasse Haut ohne Dekorationen und farblose Kleidung der Grundversorgung: Sie fiel zwangsläufig zwischen den ganzen Paradiesvögeln auf.

Um zum nächsten Foodtruck mit Bar zu gelangen, musste sie sich durch die wachsende Menschenmenge drängen. Sie biss sich auf die Lippe, ignorierte die warnende Stimme in ihrem Hinterkopf, die nur noch aus Gewohnheit ertönte, und quetschte sich zwischen den Körpern hindurch. Niemand machte Platz, die Umstehenden schienen sie demonstrativ zu übersehen. Zwischen den ganzen Körpern verlor sie die Bar aus den Augen. Wo musste sie nochmal lang?

Der Plaza drehte sich um sie. Oder sorgte nur der Schwindel dafür, dass es sich so anfühlte? Der Nebel in ihrem Kopf wurde schlimmer. Plötzlich blitzten Bilder vor ihrem inneren Auge auf: eine nackte Frau, die sich räkelte. Ein Hund, der einen Ball fing. Eine Liste von notwendigen Besorgungen … Mit dem Auftauchen der Bilder hörte sie fremde Stimmen, die direkt in ihrem Kopf zu sprechen schienen, als hätte jemand mehrere Persönlichkeiten in ihren Schädel gepflanzt. Sie fühlte Heiterkeit, Ärger, Schmerz, Lust – alles auf einmal.

Was passierte mit ihr? Sie musste aus der Masse heraus! Weg von den vielen Menschen. Da, ein dunkler Fleck zwischen all den flackernden Lichtern. Dort musste sie hin. Als sie die meisten Menschen hinter sich gelassen hatte, rannte sie das letzte Stück zu dem dunklen Gebäude und legte ihre Stirn an das kalte Glas. Aber die Erscheinungen wurden nicht weniger. Immer mehr und immer schneller flossen sie in ihren Geist. Fremde Bilder, unbekannte Töne. Nur noch Pulsieren im Rhythmus dieses Strudels. Aufhören. Stopp! Ihre Knie gaben nach. Erschöpft schlang Melody die Arme um ihren Kopf.

Der Strom an fremden Eindrücken riss an ihrem Geist. Drohte sie wegzuspülen. Wo war sie zwischen all den Bildern? Worte, Gefühle, Stimmen zogen an ihr vorbei. Sie vergaß, wer und wo sie war. Nur noch Strudel, nur noch wirbelnde Farben, nur noch ein Gewirr aus Emotionen.

Druck. Eine Hand lag auf ihrer Schulter. Wie viel Zeit war vergangen?

Die Berührung erinnerte sie daran, dass sie ein Jemand war und nicht nur ein Gedanke in einem Mahlstrom aus Bildern und Tönen. Sie musste auftauchen!Los! Der Druck auf der Schulter wurde stärker. Er war ihr Wegweiser zurück zu ihrem eigenen Geist. Ein Geist, der in einem Körper steckte.

Mit einem mentalen Ruck, der sie alle Kraft kostete, die sie aufbringen konnte, brach sie durch die Mauer aus wirbelnden Farben und Tönen in ihrem Bewusstsein. Neonlichter stachen Melody schmerzhaft in die Augen und sie sog gierig Luft in ihre Lunge, als wäre sie buchstäblich kurz vorm Ertrinken gewesen. Ihre Hände krallten sich an etwas fest und als sie mühsam den Kopf hob, sah sie in braune, freundliche Augen. Echte Augen in der realen Welt. Sie sah Lippen, die sich bewegten. Es dauerte eine Weile, bis die Worte zu ihrem Verstand durchgedrungen waren.

»Alles klar bei dir?«

Sie wollte den Kopf schütteln, war sich aber nicht sicher, ob sie einen besaß.

»Hey! Was ist hier los?« Eine entfernte Stimme, die weit weniger freundlich klang, ließ ihr Gegenüber den Kopf zur Seite reißen.

»Spam! Die Security hat dich auch bemerkt! Kannst du aufstehen? Du solltest verschwinden.«

Als Melody den Besitzer der braunen Augen nur anstarrte, zog er sie hoch, hievte sich ihren Arm über die Schulter und schleifte sie weg vom Plaza in eine der ruhigeren Nebenstraßen. Je weiter sie sich von der Menschenmasse entfernten, desto klarer wurde ihr Geist. Bald konnte sie ohne Unterstützung laufen und hatte wieder eine Vorstellung davon, wer sie war. Nachdem der Fremde sie, sich immer wieder umschauend, noch ein paar Blöcke weitergelotst hatte, ließ er ihre Hand los. Nur wenige Holos flackerten im Zwielicht der menschenleeren Seitenstraße. Melody atmete schnell und massierte sich die Schläfen, um das Hämmern in ihrem Schädel zu beruhigen. Zu ihrem Leidwesen klappte das nicht sonderlich gut.

»Sie sind uns nicht auf den Fersen. Du hattest Glück, dass sie nur für den Bereich um den Tower zuständig sind. Aber die Verstärkung wird nicht lang auf sich warten lassen. Geht’s dir besser?«

Endlich fand sie die Kraft, ihren Retter anzuschauen. Vor ihr stand ein junger Mann mit kurzgeschorenem, dunklem Haar und bronzen schimmernder Haut.

Ein schelmisches Lächeln blitzte in seinem Gesicht auf. »Na, zum ersten Mal Tregg geschmissen?«

Empört riss sie die Augen auf. Der Typ hielt sie für einen Treggy! »Ich hab gar nichts geschmissen!«

Er lächelte noch immer und hob beschwichtigend die Hände. »Schon gut, ich wollte nur ’nen Witz machen. Firewallbrecher und so. Vielleicht haben dir die Farben den BioLink verbrutzelt? Das kann schon mal vorkommen. Du siehst nicht aus, als wärst du häufig in der Innenstadt.«

Jetzt, wo er es ansprach: Auch er sah nicht aus wie ein Innenstädter. Haare, Augen und Haut besaßen einen natürlichen Farbton. Seine Kleidung war einfach. Nur die gut sitzende schwarze Lederjacke, die schlanke Schultern betonte, zeigte, dass er über mehr als BaseCredits verfügen musste.

Hilflos hob Melody die Arme. »Ich weiß nicht, was los war. Bin seit Langem zum ersten Mal in der Innenstadt. Es scheint irgendwas mit der Menschenmenge zu tun zu haben. Die Security …«

»Wir sollten schnell verschwinden. So wie ich deine Lage einschätze, ist es besser, wenn sie dich nicht in die Finger bekommen.« Schon beim Sprechen setzte er sich langsam in Bewegung.

»Was ist mit meiner…« Bevor sie den Satz beenden konnte, gab ihr Knie mitten im Schritt nach. Sie fiel nur nicht, weil ihr Begleiter sie am Arm packte.

Sein Lächeln schwand und er blickte jetzt ehrlich besorgt. »Wo wohnst du? Vielleicht kann ich dich da hinschaffen, ohne dass die Wächter es bemerken.«

In ihre ruhige Wohnung zu gehen, wäre eine Wohltat. Aber ihr wurde übel, als sie an den Bahnhof dachte, an dem es inzwischen vermutlich vor Menschen wimmelte. »Ich will nicht wieder in eine Menschenmenge.«

»Wir finden bestimmt einen Umweg, auf dem weniger Menschen sind. Zumindest wenn du mir verrätst, wo es hingeht.«

»Ich wohne …« Sie stockte. Wollte sie einem Fremden einfach vertrauen? »Warum tust du das?«

Er hob fragend die Augenbrauen.

Sie entwand ihm den Arm, den er immer noch festgehalten hatte. »Ich meine, warum hilfst du mir? Und was weißt du über meine Lage?«

Sein Lächeln kehrte zurück. »Keine Angst, ich bin kein Organ-Hacker, oder so was. Mein Name ist Tim Valo.« Er machte eine kleine verspielte Verbeugung zu seinem Namen. »Ich habe selbst ein gewisses Interesse daran, nicht zu viel Aufmerksamkeit der Security auf mich zu lenken und zumindest eine Ahnung, was mit dir los ist. Aber das möchte ich nicht in einer dunklen Gasse mit dir besprechen.«

Eine Ahnung, was mit ihr los war? Schon um es nie wieder erleben zu müssen, wollte sie das hören. Aber konnte sie ihm vertrauen? Immerhin hatte Tim ihr aus der Klemme geholfen und sie vor einer unangenehmen Begegnung mit den Soldaten bewahrt. Was hatte sie zu verlieren? Allein würde sie es in diesem Zustand nie nach Hause schaffen. Entweder die Security schnappte sie sofort oder Melody nahm Tim mit und hatte eine Chance, dieses Rätsel zu lösen. Lieber er als die Wachen mit ihren Gewehren und Magi-Fähigkeiten. Sie nannte ihm ihre Adresse und folgte ihm in die Nacht.

Der Rückweg dauerte etwas länger als der Hinweg, da sie die beliebte überirdische Monorail mieden und öfter innerhalb des älteren Tube-Systems umstiegen. Aber schließlich standen sie im Wohnzimmer ihrer kleinen Wohnung.

Endlich konnte Melody wieder frei atmen. »Okay. Wir haben es bis hierher geschafft. Jetzt bist du dran. Was hat diesen Strudel in meinem Kopf ausgelöst?«

Tim setzte sich auf ihr Sofa und klopfte mit der flachen Hand neben sich. »Ehrlich gesagt, weiß ich nicht genau, was da mit dir los war. Strudel? Keine Ahnung. Aber ich habe gefühlt, dass du deine Fähigkeiten genutzt hast – was auf dem Plaza natürlich bescheuert ist. Es war nicht sehr deutlich, aber ich hab dich dadurch entdeckt. Und die Security sicher auch.«

Melody wurde heiß. Sie ließ sich neben ihn aufs Sofa fallen. »Fähigkeiten?«

»Genau. Bist du Materie- oder Energie-Magi?«

Melody zog eine Augenbraue hoch. »Ich bin keine Magi.«

»Nicht?«

»Nein, sehe ich etwa so aus?« Sie schnaubte spöttisch.

Tim schürzte die Lippen. »Es ist ja nicht so, dass man uns von außen etwas ansehen könnte. Aber ich hab bei dir auf alle Fälle was gespürt.«

Melodys Augen wurden groß. »Uns? Bist du etwa ein Magi?«

Tim nickte stolz. »Ja, ein Energie-Magi. Sonst hätte ich bei dir nichts fühlen können.«

Melody hatte bisher nicht viele Berührungspunkte mit Magi gehabt. Zum Glück, sie waren unheimlich. Aber jetzt saß nicht nur einer von ihnen in ihrem Wohnzimmer, er behauptete auch noch im Plauderton, dass sie selbst diese Fähigkeiten haben könnte.

Sie rutschte tiefer in die Polster. »Ich soll eine Magi sein? Aber dann wäre ich doch seit meiner Geburt registriert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Regierung sowas übersieht. Außerdem habe ich nicht mal Magi in der Blutlinie.«

Wortlos starrte er auf den Boden.

Spam! Er wusste also doch nichts. Was passierte mit ihr?

Tims Blick kehrte zu Melody zurück. »Ich kenne Leute, die dir helfen könnten. Allerdings kann ich dich nicht so einfach mitnehmen. Kannst du dich irgendwo ein paar Tage verstecken?«

»Warum sollte ich mich verstecken?«

Tim musterte sie ungläubig. »Erinnerst du dich? Die Security ist dir auf den Fersen. Wir mögen Zeit gewonnen haben, aber früher oder später finden sie dich.«

»Aber ich hab doch gar nichts gemacht!«

»Du hast mitten auf dem Plaza Magi-Fähigkeiten außerhalb des Regierungsauftrages angewendet und dich danach der Security entzogen. Das reicht für weitere Nachforschungen. Wenn das alles wäre, würdest du vermutlich mit einer Verwarnung davonkommen. Allerdings behauptest du, dass du nicht registriert bist. Wenn das wirklich so ist, bist du irgendeine Art Anomalie. Du solltest also lieber nicht in die Nähe der Regierung kommen.«

War es schon die ganze Zeit so stickig? Tims Worte erinnerten sie an die immer gleichen Warnungen ihrer Großmutter, sich von der Security und anderen Regierungsmitgliedern fernzuhalten. »Anomalie?«

»Ich kann jetzt nicht ins Detail gehen. Gib mir ein paar Tage und ich werde dir alles erklären können.«

Ihre Brust zog sich zusammen. Das konnte doch alles nicht wahr sein!

Wieder lag Tims Hand auf ihrer Schulter. »Hey, ruhig atmen. Ich werde dir helfen, wenn du mich lässt. Also: Gibt es irgendwo ein Versteck für dich?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich kenne niemanden. Ich bin völlig allein.«

Tim verzog das Gesicht und öffnete den Mund, als ein lautes Klopfen an der Wohnungstür sie beide zusammenfahren ließ.

»Bakkai Security! Aufmachen!« Soldaten! Melody war eine Anomalie und die Security stand deswegen vor ihrer Tür!

Tim sprang auf. »Wir müssen hier weg«, zischte er. Leise öffnete er das Fenster und steckte seinen Kopf hinaus.

Das hämmernde Klopfen dröhnte erneut durch den Raum.

Tim warf ihr einen Blick über die Schulter zu. »Wir sind tief genug, sodass wir springen können, wenn ich uns abfedere. Hast du etwas mit Kapuze griffbereit oder eine Cap?«

Kopfbedeckung. Darauf konnte sie sich konzentrieren und ignorieren, dass Tim gerade gesagt hatte, sie solle aus dem dritten Stock springen. Sie schnappte sich eine Kapuzenjacke von einem Stuhl und schlüpfte hinein.

Tim streckte die Hand nach ihr aus. »Schnell jetzt.«

Er meinte das wirklich ernst! Melodys Füße waren wie mit dem Boden verschmolzen. Das Klopfen hatte aufgehört. War die Security gegangen? Ein heftiges Krachen erschütterte ihre Eingangstür genau wie ihre Hoffnung.

»Komm schon. Sie sind gleich drin!« Tim zog sie neben sich ans Fenster.

»Ich kann doch nicht aus dem Fenster springen!«

»Ich bin Magi, schon vergessen? Ich federe unseren Fall ab und dann müssen wir rennen.« Ohne weiter zu zögern, trat er auf das Fensterbrett.

Ein weiteres Krachen an der Tür. Die Security oder ein Sprung in die Tiefe? Sie biss die Zähne zusammen und stieg neben Tim auf das Fensterbrett. »Okay.«

Schnell schlang ihr Tim einen Arm um die Taille und stieß sich kräftig ab.

Melodys Magen wurde nach oben gedrückt. Gleich würden sie aufprallen! Etwas in Melodys Hinterkopf kribbelte und plötzlich wurde ihr Fall langsamer. Wie durch einen starken Wind gefangen, schwebte sie die letzten zwei Meter zu Boden. Sie waren unverletzt?

Tim drehte sich noch einmal um und mit seiner Handbewegung schloss sich ihr Fenster. »Vielleicht suchen sie so erst mal in der Wohnung. Los jetzt!« Er ergriff ihre Hand und zusammen liefen sie los.

Melody konzentrierte sich auf den sanften Druck seiner Hand und passte ihren Lauf seinem Schritt an. Was hatte sie bloß mit diesem harmlosen Ausflug ausgelöst? Ihr Herz schlug bis zum Hals. Etwas sagte ihr, dass sie nie wieder in die Wohnung zurückkehren würde. Aber tief in ihrem Bewusstsein glomm ein kleiner Funken Hoffnung, als sie hinter Tim durch die Nacht lief. Konnte sie heute ihre Einsamkeit zurücklassen? Vielleicht war dieses Ende auch ein Anfang.

Die Freien

Verzerrte Holos schnellten in der Dunkelheit am Fenster der Monorail vorbei. Melody saß neben Tim und schaute verstohlen unter ihrer Kapuze die vorbeiziehende Stadt an.

»Tim?«

»Ja?« Vorsichtig zog er die Kapuze etwas weiter in ihr Gesicht.

»Warum haben wir vorhin immer wieder angehalten?«

»Ich hab die Kameras mit meinen Kräften manipuliert. So werden sie unseren Weg zwar auch nachverfolgen können, aber erst später, als wenn sie sich direkt mit den Kameras hätten verbinden können.«

Bei jedem Stopp hatte Melodys Hinterkopf gekribbelt wie schon bei ihrem Sprung aus dem Fenster. Spürte sie tatsächlich Tims Fähigkeiten? Lieber nicht drüber nachdenken. »Wohin fahren wir.«

»Das wirst du dann sehen.«

Auf der weiteren Bahnfahrt fand Tim viele Themen, um das Gespräch am Laufen zu halten. Er plauderte über dies und das, riss Witze oder machte sie auf bestimmte Gebäude in der vorbeiziehenden Skyline aufmerksam. Dabei blieb er allerdings immer oberflächlich und erwähnte mit keinem Wort die letzten Stunden. Dieses Geplauder lenkte sie ab und die Ruhe, die er ausstrahlte, übertrug sich nach und nach auf sie. Er war einer jener Menschen, bei denen selbst die schüchternsten Gesprächspartner auftauten. Auf einer Party würde er sicher jedem Anwesenden das Gefühl geben, nur für ihn persönlich da zu sein. Sie hing an seinen Lippen, gefangen von seiner faszinierenden Ausstrahlung. Wie so eine charmante Hauptfigur aus den Holo-Dramen. Solche Menschen gab es also tatsächlich.

In einem Quartier im Westen, am äußeren Rand der Stadt stiegen sie aus. Die Karten von Bakkai zeigten hinter dieser Grenze nur das übliche leere Niemandsland. Doch hier herrschte keine Leere. Verlassene Straßen und Häuserruinen entfalteten sich, wo eigentlich nur eine karge Landschaft sein sollte. Wo führte Tim sie hin? Im schwachen Lichtschein der letzten funktionierenden Straßenbeleuchtung blieb er stehen.

»So, jetzt können wir freier reden. Du weißt ja, wer ich bin. Wie heißt du?«

Melody betrachtete ihren Retter unter zusammengezogenen Augenbrauen. Sollte sie ihm ihren Namen verraten? Aber immerhin hatte er sich in Gefahr begeben, um ihr zu helfen. »Melody.«

Ihm entfuhr ein leises Prusten. Schnell drückte er sich die Hand auf den Mund. »Sorry. Ich will dich nicht auslachen. Ich kannte nur mal eine Melody. Sie war ungefähr hundert Jahre alt und ging nie ohne ihre drei Möpse aus dem Haus. Solche Namen haben meistens nur alte Leute.«

Sie verschränkte die Arme. »Ich wurde nach meiner Großmutter benannt. Sie gehörte zur zweiten Generation.«

In dieser Generation stand es jedem, der ins neu gegründete Bakkai kam, frei, einen neuen Namen zu wählen und sein altes Leben hinter sich zu lassen. Viele wählten Namen mit Bedeutungen wie Hoffnung, Neuanfang oder Fröhlichkeit in allen Sprachen dieser Welt. Ihre Großmutter entschied sich für Melody, weil sie das Leben ohne Mangel mit einem Lied auf den Lippen genießen wollte. Ihre Großmutter hatte wunderbar gesungen. Aber vielleicht klang der Name zwei Generationen später tatsächlich etwas albern.

Tim setzte einen übertrieben verträumten Blick auf. »Ach ja, der Idealismus der zweiten Generation.« Er räusperte sich und seine Miene wurde ernster. »Na gut, das ist jetzt aber nicht das Problem. Ich kann dich zu den Leuten bringen, die vielleicht wissen, was bei dir los ist. Und wenn nicht, können sie es herausfinden. Dafür müssen wir weiter.«

»Was ist da draußen und wer soll da noch sein? Ich dachte, die Stadt endet hier?«

Tim richtete den Blick in die Dunkelheit zwischen den Ruinen. »Heute ist das so. Aber das war es nicht immer. Dass die Monorail bis hier fährt, zeigt, dass dieses Quartier nicht als Randbezirk angelegt war.«

Melody fröstelte. Waren die Schatten zwischen den Ruinen nähergekommen? »Wo sind die ganzen Leute hin?«

»Früher war die Stadt viel größer. Nach der Gründung zu Beginn der zweiten Generation – also vor fünfzig Jahren – lebten ungefähr vierzig Millionen Menschen in Bakkai. Dann kam es innerhalb von 10 Jahren immer öfter zu Katastrophen, die am Ende fünf Millionen Leben kosteten.«

»Fünf Millionen? Davon habe ich noch nie gehört.«

Tim kickte ein Steinchen weg. Es schlitterte aus dem Lichtkegel und blieb in den Schatten liegen. »Das ist etwas, das sie uns in der Schule nicht beibringen, weil es die glorreiche Geschichte Bakkais besudelt.« Er hob den Blick und schaute sie direkt an. »Die Regierung verdreht Informationen oder hält sie ganz zurück. Alles, was ein schlechtes Licht auf die Magi-Fähigkeiten werfen könnte, vertuschen sie systematisch.«

Melody sog schneidend die Luft ein. »Haben Magi Leute umgebracht?«

Tim starrte ins Nichts. »Nicht direkt. Die Kräfte von uns Energie-Magi sind eng mit unseren Gefühlen verknüpft. In der dritten Generation wurden Magi noch nicht von Geburt an registriert. Es kam vor, dass Energie-Kräfte spontan während der Teenagerzeit ausbrachen. Völlig unkontrolliert. Eine absolute Katastrophe. Das ist der Grund, weshalb vor dreißig Jahren die Gen-Überprüfung eingeführt worden ist. Jetzt werden Magi mit zwölf Jahren auf separate Schulen geschickt, in denen sie früh lernen, wie sie solche Ausbrüche vermeiden.«

Bakkai galt als strahlende Stadt des Wohlstands. Konnte es in der Stadt fünf Millionen Tote durch Magi-Katastrophen gegeben haben? »So etwas kann man doch nicht vertuschen. Ich wohne schon mein ganzes Leben in Bakkai und habe nicht mal Gerüchte gehört.«

»Spam, dir fehlt wirklich eine Person zum Reden, oder?«

Eine Monorail rauschte quietschend in der Ferne vorbei.

»Was hat das denn damit zu tun?« Melody vergrub die Hände in den Hosentaschen.

»Diese Sachen findest du nicht im Net, sondern nur in der Gerüchteküche. Wie gesagt: Die Regierung kontrolliert jegliche Informationen in dieser Stadt. Alles, was öffentlich oder privat gesendet wird, muss durch das CityNet. Für sie ist es ein Leichtes, Unerwünschtes offiziell totzuschweigen. Was es doch durch schafft, wird mit den sinnlosen Holo-Shows übertüncht. Die meisten Ruinen wurden von Materie-Magi recycelt. Heute sind nur noch fünf Orte übrig, an denen man überhaupt sehen kann, dass die Stadt einst größer gewesen ist.«

Melodys Kopf würde bald platzen. Und doch drängte alles in ihr nach mehr, als wolle sie Jahre des Nichtwissens innerhalb einer halben Stunde nachholen. »Niemand kann ununterbrochen alles kontrollieren.«

Tim rieb sich den Nacken. »Was denkst du, was die KI im CityNet macht?«

»Sie verteilt die Ressourcen.«

»Und wie macht sie das?«

»Sie sammelt und analysiert sämtliche Daten, die … oh.«

»Manchmal vergesse ich, wie ahnungslos alle in der Stadt sind«, sagte er seufzend.

»Ich bin nicht ahnungslos!«, entgegnete sie energisch.

Er streckte einen Arm den Ruinen entgegen. »Du weißt nichts über die Ursache, geschweige denn über die bloße Existenz dieser Geisterviertel. Aber zweifellos existieren sie. Ist das nicht Beweis genug, dass die Regierung etwas vertuscht?«

»Warum sind die Ruinen dann nicht längst abgerissen, wenn sie alles so dringend verstecken wollen?«

»Sie sind eine Warnung.« Tim schaute sie nicht an. Sein Blick schweifte über die Ruinen. »Eine Machtdemonstration für alle, die ihre Lügen nicht schlucken. Die Selbstdenkenden sollen wissen, wozu die Regierung in der Lage ist.« Ungeheuerlich. Doch sein ernster Tonfall verdeutlichte, dass Tim fest daran glaubte.

Ruhelos trat Melody einen Schritt von Tim weg. Die Regierung sollte berechnend und bedrohlich sein? Aber die Ruinen ließen sich nicht wegdiskutieren. Ihre Wangen brannten. Sie kam sich so naiv vor. Warum wusste sie von nichts?

Tim trat einen Schritt auf sie zu. »Ich sage nicht, dass es deine Schuld ist«, sagte er sanft. »Es ist das Ziel von Karn die Leute naiv und unwissend zu halten. Aber du hast jetzt die Chance, die Wahrheit zu erfahren. Und dafür …« Er wiederholte die Geste in Richtung der Stadtgrenze. »… müssen wir da rein. Leider zu Fuß, da es keine Bahn mehr gibt.«

Gänsehaut kroch langsam über Melodys Arme. Es wurde allmählich kühler. Oder lösten Tims Worte diesen Schauer aus? Die Straße vor ihr verlor sich in Schatten. Doch schien das der einzige Weg zu sein, Licht in die ganze Sache zu bringen.

Er nahm ihre Hand. »Keine Sorge, uns wird da nichts passieren. Heute gibt es keine Patrouillen.« Er zog sie sanft ein Stück, blieb dann aber stehen und drehte sich zu ihr um. »Hast du überhaupt eine andere Möglichkeit nach heute Abend?«

Sie schaute zwischen ihm und der Schwärze des Geisterviertels hin und her.

Er grinste plötzlich breit. »Oder hast du Angst, dass ich dich am Plaza aufgesammelt, vor der Security gerettet und dann hierhergeschafft habe, um dich in einer Ecke zu ermorden? Ich wäre der ineffizienteste Mörder aller Zeiten.«

Krampfhaft unterdrückte sie ein Lachen. »Na ja … Hier gibts keine Kameras und keine Zeugen.«

»Du hast gesehen, dass Kameras für mich kein Problem darstellen.« Er wurde wieder ernst und trat zurück in den Lichtkegel. »Hör mal: Ich werde dich nicht zwingen. Jetzt hast du noch die Chance, wieder umzudrehen. Wenn wir dort ankommen, kann ich das allerdings nicht mehr garantieren. Letzte Chance: Kennst du nicht vielleicht doch noch jemanden, zu dem ich dich bringen könnte?«

Bei diesen Worten verflog Melodys kurzer Anflug von Heiterkeit so schnell, wie er gekommen war. Sie starrte ins Nichts. Wieder zurück in die Stadt? In die leere Wohnung? Zu den Soldaten? Ein heißer Knoten bildete sich in ihrer Kehle.

Tim betrachtete eingehend die Hauswand neben ihnen. War das seine Art ihr etwas Freiraum für ihre Gedanken zu geben?

Wohin sollte sie denn zurückkehren? Es gab nichts mehr in ihrer Vergangenheit. Nie wieder wollte sie so einsam sein; nie wieder die leeren Tage an sich vorbeiziehen spüren. Alles, was kommen mochte, konnte nicht schlimmer sein als die letzten Wochen nach dem Tod ihrer Oma.

Sie trat an ihm vorbei aus dem Lichtkegel in Richtung der Ruinen. »Ich komme mit. Aber versprich mir, dass du mir erklärst, was los ist, wenn wir ankommen!«

Bei ihren Worten hellte sich seine Miene auf. »Ja, soweit ich dich einweihen darf.« Er grinste schon wieder. »Aber ein Problem haben wir dann noch. Wenn du nicht willst, dass ich jedes Mal kichere, wenn ich mit dir rede, kann ich dich nicht Melody nennen. Hast du einen Spitznamen?«

Sie schüttelte den Kopf. Wer hätte ihr schon einen Spitznamen geben sollen?

Er legte die Fingerspitzen aneinander und runzelte in gespieltem Ernst die Stirn. »Mmh, mal sehen. Mel ist zu langweilig. Ody?«

Stand er ihr gerade wirklich an der Grenze von Bakkai gegenüber und dachte sich einen Spitznamen für sie aus? »Ernsthaft? Ody? Findest du meinen Namen wirklich so schlimm?«

»Du hast recht«, sagte er. »Ich muss mich mehr anstrengen.«

Nach einer kurzen Pause lächelte er. »Mit dem Vornamen wird das nix. Wie ist dein Nachname?«

»Vitex?«

»Das funktioniert. Wie wäre es mit Vi?«

Vi. Ein Spitzname. Unter seinem erwartungsvollen Blick schmolzen ihre Zweifel wie Eis in der Sonne. Sie atmete tief ein. Ein neuer Name für ein neues Leben jenseits der Einsamkeit.

»Vi gefällt mir.« Sie lächelte. Aber sollte sie so stolz auf einen simplen Spitznamen sein?

Zufrieden klatschte Tim in die Hände. »Sehr gut! Dann komm, es ist noch ein Stück. Und dieses Mal schleppe ich dich nicht mit, falls du schlapp machst.«

Melody konnte nicht anders, als laut aufzulachen. »Wer macht hier schlapp?« Sie schubste ihn und rannte in die Nacht.

Er holte sie schnell ein und sie lieferten sich ein kleines Wettrennen. Zusammen verließen sie Bakkai City in Richtung Westen.

Melody blieb nach Luft japsend stehen. Nach dem anfänglichen Sprint waren sie eine halbe Stunde im langsamen Trab gelaufen. Tim schaute sich um, sein Atem ging ruhig. Er musste sich aus Rücksicht auf sie zurückgehalten haben.

Keine Holos und Beleuchtungen erhellten die Umgebung. Melody hatte sich noch nie in so tiefer Dunkelheit aufgehalten. Sie konnte im Mondlicht nur Schemen ausmachen und gerade so die Straße unter ihren Füßen erkennen. Die Schatten legten sich auch auf ihre Gedanken. Hätte sie vorhin doch lieber umkehren sollen? »Tim?«

Sie konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber seine Stimme klang ruhig. »Wir sind gleich da. Nur noch ein Stück. Siehst du das flache Gebäude da? Da müssen wir hin.«

Vor ihnen ragte eine bucklige Silhouette auf, viel niedriger als die Hochhäuser um sie herum. Sie entpuppte sich als ein ungefähr fünfstöckiger Bau, dessen Dach durchscheinend wirkte, als wäre es aus Glas. Auf dem umgebenden Gelände bewegten sich mehrere menschliche Gestalten. Plötzlich löste sich eine von ihnen ganz in der Nähe aus der Formation. Sie trug eine Waffe! Melody öffnete den Mund, um Tim zu warnen. Aber er hatte die Frau bereits gesehen und tippte sich an die Schläfe.

Sie ließ die Waffe sinken. »Ah, hey Tim.«

»Sie ist von unserer Wachmannschaft. Vor denen brauchst du keine Angst haben.« Die Wache ließ sie passieren und Tim führte sie zu dem buckligen Gebäude.

Melody blieb stehen. »Warte, warte. Bist Du Dir sicher, dass sie uns helfen? Sie sehen genauso gefährlich aus wie die Security.«

Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ich hab dir gesagt, dass es ab diesem Punkt kein Zurück gibt. Warte noch kurz bis wir drin sind und du wirst mehr erfahren.«

Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Kein Zurück mehr. War sie geradewegs in eine Falle getappt? Aber ändern konnte sie jetzt sowieso nichts mehr.

Als sie sich in Bewegung setzte, drehte Tim sich wieder dem Gebäude zu. »Wir nehmen lieber den Seiteneingang, damit wir nicht so vielen Menschen begegnen.«

Da drin sollten viele Leute sein? Von außen sah es bis auf die Wachen so verlassen aus wie alle anderen Häuser, an denen sie in diesem Geisterquartier vorbeigekommen waren. Sie schluckte schwer und folgte ihm.

Zusammen umrundeten sie das Gebäude und kamen zu einer Glastür. Beim Eintreten spürte Melody einen kurzen Druck auf den Ohren. Tim öffnete eine zweite Tür und Melody riss den Arm vors Gesicht.

Helles Licht ergoss sich in den kleinen Korridor, in dem sie standen. Nach der langen Dunkelheit protestierten ihre Augen schmerzhaft. Als sie sich etwas an die Helligkeit gewöhnt hatte, trat sie an Tim vorbei. Durch eine dritte Tür konnte sie eine Halle unter dem großen Glasdach erkennen, wo Dutzende Lichter brannten.

Tim lächelte stolz über ihr offensichtliches Staunen. »Besondere Lichtbrechung an den Fenstern. Und mit manipulierten Luftkammern halten wir auch den Schall im Gebäude. Nichts dringt nach draußen.«

Melody wusste zwar nicht viel über die Magi, aber genug, um zu ahnen, wie viel Kraft dafür nötig war. Um das möglich zu machen, mussten Energie- und Materie-Magi zusammengearbeitet haben.

»Was ist das für ein Ort?« Sie verrenkte sich fast den Kopf, als sie versuchte, mehr von der Halle zu erspähen.

Doch Tim machte keine Anstalten sie weiter hineinzuführen. Stattdessen klopfte er an die Tür rechts von ihnen. »Hier bekommst du deine Antworten.«

Bevor sie eine weitere Frage stellen konnte, öffnete ihnen ein großer, breitschultriger Mann mit grauen Strähnen im Bart. »Was gibt’s?«

Tim deutete mit dem Daumen über seine Schulter. »Ich hab jemanden aufgegabelt. Sie wird Liv interessieren.«

Der Mann trat zur Seite und ließ sie ohne ein weiteres Wort herein. Hinter der Tür befand sich ein Raum mit zwei Schreibtischen und einem großen Fenster. Auf einem der Tische standen drei breite Bildschirme, daneben stapelten sich mehrere Datenpads. Warum wurden die hier gebraucht? Solche Datensicht-Devices waren nahezu überflüssig, seit jeder den Zugang zum Net im Kopf hatte und sich alles direkt auf die Netzhaut projizieren konnte. Nur bei großen Datenmengen kamen sie noch zum Einsatz, um die Augen zu schonen. In den Holos wurden sie von Hackern genutzt, um Daten von ihren BioLinks und damit illegalerweise vom CityNet fernzuhalten. Sie blieb bei diesem Gedanken unwillkürlich stehen. Erst Waffen und jetzt Hacker-Devices.

Die kleine Frau vor dem Schreibtisch zwirbelte an ihrem Zopf und hatte den Blick fest auf einen der Screens gerichtet. Der große Mann räusperte sich, woraufhin sie ihren Kopf hob. Ihre Augen weiteten sich kurz und sie tippte sich an die Schläfe. Alle Displays wurden augenblicklich schwarz. Statt der Monitore musterte sie jetzt Melody interessiert.

»Hey, Liv«, grüßte Tim fröhlich. »Ich hab einen neuen Schützling für dich.«

Liv sagte nichts, schaute sie nur weiter an. Tim stupste Melody in die Seite.

Drei Augenpaare richteten sich auf sie. War der Raum die ganze Zeit schon so klein? Reiß dich zusammen, du willst Antworten.