Göttin der Vergessenen - Lucia Herbst - E-Book

Göttin der Vergessenen E-Book

Lucia Herbst

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Beschreibung

Mythen-Retelling der nordischen Totengöttin Hel Gemeinsam mit ihren beiden Brüdern wächst Hellia im Verborgenen auf, versteckt vor dem Göttergeschlecht der Asen, die die Kinder des Loki fürchten. Doch nur ein Fehler von Hellia genügt, und die drei werden entdeckt. Ihre Brüder werden in Ketten gelegt, Hellia in die Welt des ewigen Eises verbannt. Der Wunsch nach Rache brennt heiß in ihr, doch Loki und das Schicksal haben eigene Pläne für sie. Schon bald muss Hellia sich entscheiden, wofür sie einstehen möchte: Vergeltung oder Gerechtigkeit.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Impressum E-Book

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© Piper Verlag GmbH, München 2025

Redaktion: Michaela Retetzki

Karte: Astrid Grenzdörffer

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Emily Bähr, www.emilybaehr.de

Coverabbildung: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

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Inhalte fremder Webseiten, auf die in diesem Buch (etwa durch Links) hingewiesen wird, macht sich der Verlag nicht zu eigen. Eine Haftung dafür übernimmt der Verlag nicht.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Anmerkungen

Karte

1. Die Stimme der Steine

2. Schicksal

3. Spuren im Schnee

4. Ein ungleicher Kampf

5. Das Licht der Hoffnung

6. Asgard

7. Flucht

8. Ein alter Baum

9. Runen

10. Der Garten der Idun

11. Gefangene

12. Der Fluch der Jugend

13. Die Facetten der Liebe

14. Die Götterversammlung

15. Ratatösk

16. Eine alte Wette

17. Die Quelle des Lebens

18. Ein Portal

19. Das Heer der Gefallenen

20. Fylgja

21. Umwege

22. Draugr

23. Licht in der Dunkelheit

24. Die Midgardschlange

25. Der Brunnen der Weisheit

26. Der Gott der List und Täuschung

27. Fesseln

28. Verschmachtung

29. Vater

30. Wurzeln des Todes

31. Eine neue Welt

32. Macht

Epilog

Danksagung, Nachwort und was mir sonst noch einfällt …

Content Notes

Yggdrasil, die neun Welten und die drei Brunnen

Die neun Welten

Die Brunnen

Glossar

Zwerge und ihre Artefakte

Runenalphabet

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Widmung

Für meinen Sohn.

Du stehst noch am Anfang deiner Reise. Ich wünsche dir, dass du die richtigen Fragen findest und dich nicht mit vorgefertigten Antworten begnügst.

Anmerkungen

In diesem Roman kommen Themen vor, die für manche belastend sein könnten. Die Content Notes werden ganz am Ende aufgelistet, beinhalten allerdings kleine Spoiler für die Handlung.

Passt auf euch auf!

Beachtet bitte das kurze Glossar am Ende des Romans.

Da es den Rahmen dieses Buches gesprengt hätte, all meine Rechercheergebnisse zur nordischen Mythologie hier aufzunehmen, findet ihr auf meiner Website www.lucia-herbst.de nicht nur ein vollständiges Glossar mit ausführlichen Erklärungen, sondern auch eine farbige Darstellung des Weltenbaums Yggdrasil mit seinen Welten. Die Zeichnung auf meiner Website hat mein Vater nach meinen Vorgaben explizit für mich angefertigt.

Karte

1. Die Stimme der Steine

Die Schneeflocken tanzten vor dem Eingang der Höhle, und ich hätte mich so gern zu ihnen gesellt. So langsam, dass Mutter es nicht bemerkte, schob ich mich in Richtung des Lichts. Mit einem Kamm, den Vater ihr geschenkt hatte, fuhr sie sich abwesend lächelnd durch das bodenlange Haar. Es leuchtete wie die Lichtstrahlen, die sich manchmal durch die Wolken in unsere Behausung verirrten.

Zwar entging Mutter meine Bewegung, allerdings nicht meinen älteren Brüdern. Fenrir drehte seinen Wolfsschädel zu mir und verengte die schwarzen Augen zu Schlitzen. Jörmungandr wickelte sich mit der Spitze seines Schlangenkörpers um einen meiner Fußknöchel.

Ich sank in mich zusammen, und wie eine Schneeflocke über dem Feuer schmolz die Vorfreude auf einen kurzen Ausbruch nach draußen dahin. Jörmungandrs Bewegung hatte Mutters Aufmerksamkeit auf mich gelenkt. Sie hielt inne, und mit einem Gesichtsausdruck, der mir verriet, dass sie meine Absicht erkannt hatte, legte sie den Kamm weg. Ich senkte den Kopf.

»Jörmungandr«, sagte Mutter. »Es zieht so kalt herein. Verschließe den Eingang, mein kleiner Quell.«

Ach, Hellia …, zischte er voller Bedauern in meinem Kopf, während er zum Eingang kroch.

Hast du nicht bald genug von deinen kläglichen Ausbruchsversuchen?, grollte Fenrir. Jörmungandr und ich wissen, was du vorhast, noch bevor du auch nur einen Finger gerührt hast.

Ich fletschte die Zähne in seine Richtung, und er erwiderte die Geste. Seine war eindrucksvoller, sowohl weil er im Gegensatz zu mir eine lange Schnauze hatte und seine Zähne viel spitzer waren als auch weil er das Ganze mit einem Knurren untermalte.

Während Jörmungandr seinen Leib anschwellen ließ und mit einigen Windungen den Höhleneingang versperrte, erhob sich Mutter. Sie streckte eine Hand nach mir aus. »Hellia, mein Licht, willst du mich auf einen Spaziergang zum Herz des Berges begleiten?«

»Ist schon gut, Mutter. Ich weiß, dass es draußen gefährlich ist und uns niemand, insbesondere aus Asgard, finden darf, bevor wir drei nicht ausgewachsen sind. Du brauchst dich nicht zu wiederholen.«

»Du weißt es hier«, sie zeigte auf meinen Kopf, »aber es ist bislang nicht hier angekommen.« Nun legte sie sich die Hand auf die Brust. »Ich habe wohl noch nicht die richtigen Worte für dich gefunden. Lass es mich noch einmal versuchen. Bitte, Hellia, komm mit mir.«

Fenrir flutete meinen Geist mit seiner Schadenfreude, während ich mich widerwillig erhob.

Du hast Glück, dass Mutter dich nicht hören kann, fuhr ich Fenrir in Gedanken an, sonst würde sie dich auch bitten mitzukommen.

Dann petz doch!

Keine Lust. So muss ich deine Wolfsvisage wenigstens für kurze Zeit nicht ertragen.

Unsere Behausung ist groß genug. Du kannst gern eine Höhle auf der entgegengesetzten Seite des Berges beziehen.

Sobald wir zurückkommen, erzähle ich Mutter, dass du mich geärgert hast.

Schluss jetzt!, zischte Jörmungandr und verengte seine goldenen Augen. Fenrir, als Ältester solltest du Hellia nicht ständig ärgern. Sonst erzähle ich Vater, dass ihr zwei Mutter mit euren Streitereien Kummer bereitet. Glaubt ihr, sie merkt es nicht?

Schlagartig zogen sich Fenrir und ich aus dem Geist des jeweils anderen zurück und spähten zu Mutter.

Sie beobachtete uns mit gerunzelter Stirn. »Streitet ihr?«

Obwohl sie uns auf die Welt gebracht hatte, konnte sie nicht so tief in unseren Geist eindringen, wie Fenrir, Jörmungandr und ich es untereinander vermochten. Das war auch nicht nötig. Sie musste unsere Gedanken nicht hören, um Bescheid zu wissen.

»Nicht mehr«, übernahm ich es, für uns drei zu antworten, da Jörmungandr nicht laut sprechen konnte und Fenrir nur unter größter Anstrengung. Unseren Zwist ihr gegenüber abzustreiten, war sinnlos. Noch nie hatte sie sich von uns täuschen lassen.

»Wir reden später darüber.« Mit einer anmutigen Handbewegung bedeutete sie mir, ihr zu folgen. »Komm, Hellia.«

Fenrir hielt sich mit Kommentaren zurück und ließ mich lediglich spüren, dass ich das ernste Gespräch mit Mutter verdient hatte.

Während ich ihr tiefer in den Berg folgte, fühlte ich mich wie so oft in letzter Zeit einsam. Vater hatte uns eindringlich davor gewarnt, die Höhlen des Berges zu verlassen, weil uns irgendwelche Asen jagen und umbringen könnten. Ich hatte noch nie einen der Asen gesehen. Sie waren weit weg, draußen stürmte es beinahe ununterbrochen. Wie sollten sie uns finden? Und auch wenn sie kamen, warum sollten sie uns etwas antun? Wir hatten keinen Streit mit ihnen.

Vater und Mutter wollten oder konnten meine Argumente nicht verstehen. Ich hatte bisher wohl auch nicht die richtigen Worte für die beiden gefunden. Obwohl Fenrir und Jörmungandr ebenso wie ich neugierig auf die Welt waren, hielten sie zu unseren Eltern. Sie alle verband die Angst vor dem, was passieren könnte. Mutter fand nur deswegen nicht die richtigen Worte für mich, weil ich außerhalb ihrer Befürchtungen lebte. Und solange das der Fall war, würde ich sie nicht verstehen.

Mutter ergriff meine Hand. Bei ihrer warmen Berührung schmolz mein Widerstand, und ich trat etwas näher zu ihr. Sie roch so herrlich nach etwas, das ich nicht beschreiben konnte. Manchmal wehte der Wind ähnliche Gerüche in unser Höhlenlabyrinth. Einmal hatte Mutter mir erklärt, dass es der Duft von Blumen und Wäldern war. Danach hatte sie zahlreiche Pflanzen mit einem Stück Kohle an die Höhlenwände gezeichnet. Vater hatte das bei seinem nächsten seltenen Besuch bemerkt und mir kurze Zeit später Krüge mit flüssigen Farben mitgebracht. Das Ausmalen hatte mich so sehr begeistert, dass ich tagelang keinen Fluchtversuch unternommen hatte.

Nun zog mich Mutter an unseren Wandmalereien vorbei in das Innere des Berges, weg von der Wärme des Feuers, das Vater uns geschenkt hatte. Sie strahlte leicht von innen, was die bunten Steine in den Wänden so stark zum Funkeln brachte, als würden sie sich freuen, Mutter wiederzusehen. Wenn ich allein hier unterwegs war, glitzerten sie viel weniger begeistert. Allerdings brachte ich auch nicht so viel Licht mit.

Mit dem Zeigefinger ihrer zarten Hand strich Mutter über die Wand. »Danke für euer Licht«, flüsterte sie. Als Antwort erfüllte das Raunen der Steine die Luft. Zwar verstand ich ihre Sprache nicht, dennoch lauschte ich gern ihren Stimmen, die so unterschiedlich waren wie ihre Farben. Am lautesten wisperten die roten. Am leisesten die durchsichtigen. Die blauen rauschten wie Regen, die grünen pfiffen wie der Wind.

»Ich wünschte, ich könnte sie verstehen«, entfuhr es mir. Vielleicht wäre ich dann weniger einsam.

Mutter drückte meine Hand. »Sie haben auch noch nicht die richtigen Worte für dich gefunden.«

»Was muss ich tun, um mich mit ihnen unterhalten zu können?«

Mutter schwieg lange. »Wissen«, sagte sie endlich.

»Was wissen? Kannst du es mich lehren?«

»Ich wünschte, ich könnte es dir ersparen.«

»Warum willst du, dass ich unwissend bleibe?«

»Es gibt wundervolles Wissen, zum Beispiel, wie sich Wärme oder eine Umarmung anfühlen. Und es gibt Entsetzliches, das niemand kennen sollte. Leider versteht man die Steine erst, wenn man von allen Erfahrungen gekostet hat. Sobald du den Asen begegnest, wirst du begreifen …«

»Ständig fängst du mit diesen Asen an!«, unterbrach ich sie und entzog ihr meine Hand. »Warum sollten sie uns etwas antun? Wir haben sie weder verletzt noch beleidigt. Du verlangst von mir, dass ich mich vor etwas fürchte, ohne es zu kennen.«

»Weil ich dich und deine Brüder schützen möchte.«

»Bei Jörmungandr und Fenrir hast du es geschafft. Die beiden sind viel stärker als ich, aber du hast ihnen so viel Angst vor den Asen eingejagt, dass sie sich freiwillig hier verkriechen.«

»Sie haben keine Angst vor den Asen, sondern um dich. Genauso wie ich.«

»Haltet ihr mich für schwach?«

»Nein, aber für zu jung. Wir machen uns Sorgen um dich, weil wir dich lieben.«

»Fenrir nicht. Er ärgert mich ständig.«

»Doch, mein Licht. Wenn Fenrir dich nicht lieben würde, hätte er dich schon längst allein rausgehen lassen.«

»Mutter, wie lange soll ich noch eingesperrt bleiben, weil ihr euch fürchtet, ohne zu wissen?«

Wir traten aus dem Gang in meine Lieblingshöhle. Die Decke war so hoch, dass selbst Mutters Licht sie nicht erreichte. Wenn ich hier war, stellte ich mir vor, unter dem Nachthimmel zu stehen. Die gegenüberliegende Wand konnte man am weit entfernten schwachen Funkeln der bunten Steine erahnen. In der Mitte lag ein klarer See, der wie Mutter von innen heraus leuchtete. Seine Oberfläche war übersät mit kleinen Inseln, die aus riesigen bunten Steinen bestanden. Sie fingen Mutters Licht auf und gaben es um ein Vielfaches heller wieder zurück. Ihre Stimmen waren so laut, dass ich manchmal glaubte, einzelne Worte verstehen zu können. Am liebsten würde ich die Nächte hier verbringen, aber weder Mutter noch meine Brüder hielten es lange hier aus. Auch jetzt zog Mutter die Schultern hoch und legte die Arme um sich.

»Darf ich im See baden?« Ich rannte zum Ufer und begann, das Kleid, das Vater mir einmal geschenkt hatte, von den Schultern zu streifen. Es war der größte See unter unserem Berg und mittlerweile einer der wenigen, der Jörmungandr genügend Platz zum Schwimmen bot. Ich hatte ihn selten für mich allein, weil mich meine Brüder auf Schritt und Tritt begleiteten, und wollte jetzt die Gelegenheit nutzen, um ungestört darin zu tauchen.

»Wenn du nach dem, was ich dir gleich erzählen werde, noch ins Wasser steigen willst, darfst du natürlich.« Mutters Stimme klang so niedergeschlagen, dass ich zu ihr herumfuhr.

Sie setzte sich auf einen breiten Felsen, legte eine Hand neben sich und sah mich erwartungsvoll an. Mit einem unguten Gefühl zog ich mein Kleid wieder hoch, kehrte zu ihr zurück und ließ mich neben ihr nieder. Was war so schlimm, dass es sie derart traurig stimmte? Mutter zu drängen, hatte keinen Sinn, also wartete ich.

Sie starrte auf den Boden und fuhr mit dem nackten Fuß sanft über eine Stelle im Felsen, in dem eine Ansammlung von bunten Steinen in Mutters Licht funkelte. »Weißt du, was das ist?«

»Na, Steine.«

»Und weißt du, was es einmal war?«

Ich schwieg.

»Diese Steine haben eine Vergangenheit. Sie können reden und haben eine Stimme, weil sie einst gelebt haben.« Sie suchte meinen Blick, nahm meine Hand und strich mit dem Daumen über meine Haut. »Sie waren die Knochen des ersten Jötunn Ymir. Er war unser Vorfahr, ohne den es kein Leben gäbe. Alle ähneln ihm, die Jötnar ebenso wie die Asen.«

»Auch Jörmungandr und Fenrir?«

»Sie erinnern anders als dein Vater, du oder ich an Ymirs Existenz, aber ja.«

Ich sah mich in der Höhle um, die vor bunten Steinen strotzte. »Ymir muss wunderschön gewesen sein.«

»Das war er. Schrecklich schön.«

»Warum ist er gestorben?«

»Weil Odin ihn mithilfe seiner beiden Brüder ermordet hat.«

Kälte stahl sich in meine Seele. »Warum? Waren sie nicht auch seine Nachkommen?«

»Weil sie mehr Welten erschaffen wollten, über die sie herrschen konnten. Ymir entstand aus dem Feuer der Welt Muspellsheim und dem Eis des Reichs Niflheim. Odin und seine Brüder konnten Muspellsheim wegen der Hitze nicht betreten. Über Niflheim herrschte Ymir. Sie töteten ihn und erschufen aus seinem Körper weitere Reiche, darunter unser Jötunheim«, Mutter deutete mit der freien Hand um sich, »Midgard, die Welt der Menschen, und ihr eigenes Reich Asgard.«

Mich fröstelte es bei dem Gedanken, dass die Steine unter unseren Füßen einst Knochen waren. »Wie können sie so schön sein?«

»Genauso wie das Wasser des Sees vor dir, das einst Ymirs Blut war. Oder die Wolken. Odins Frau Frigg hat sie aus Ymirs Gehirn gewebt.«

Ich starrte Mutter an. Vor meinem inneren Auge erschien ein Meer aus Hirnmasse, vor dem eine über und über mit Blut besudelte Frau saß. Summend tauchte sie die Hände in die Masse, und … der Rest verschwamm, da ich mir dieses Weben nicht genau vorstellen konnte.

»Was erzählen sie?«, fragte ich, um mich von der grausigen Vorstellung abzulenken, und deutete mit der Fußspitze auf die Steine. Meine Stimme bebte, weil ich langsam begriff.

»Von Ymirs Todeskampf, seinem Schmerz und der Enttäuschung über Odins Verrat.«

Nun schwieg ich, und Mutter gab mir Zeit, das Gesagte zu verarbeiten. »Warum verstehst du sie?«, flüsterte ich.

»Weil ich schon so lange lebe, dass ich Tod, Schmerz, Verrat und das Wirken von Odin kennenlernen konnte. Begreifst du jetzt, warum ich nicht will, dass Odin dich und deine Brüder entdeckt? Kannst du jetzt nachvollziehen, warum für mich die Edelsteine ab dem Moment, als ich sie verstanden habe, ihre Schönheit verloren haben? Warum ich es kaum in dieser Höhle aushalte?«

Meine Augen begannen zu brennen, und mein Brustkorb wurde eng.

Mutter legte ihre Hände um mein Gesicht. »Es tut mir so leid, dass ich dir diese Traurigkeit nicht ersparen konnte. Deswegen habe ich es so lange wie möglich hinausgeschoben, dir davon zu erzählen. Aber lieber bist du wegen meiner Worte als wegen Odins Taten so betrübt. Du kannst dir nicht vorstellen, was Odin mit dir und deinen Brüdern machen würde, wenn er erfahren würde, dass es euch gibt.«

»Mutter, warum? Wir haben Odin nichts getan, ihn weder beleidigt, geschlagen noch ihm etwas weggenommen. Warum hasst er uns?«

Sie beugte sich zu mir vor. »Er hasst uns, weil wir ihn an Ymirs Macht erinnern, auf die er stets neidisch war. Er mag über so viele Reiche und Welten herrschen, wie er mag. Letztlich tanzt er nur auf Ymirs Leichnam.«

Zum ersten Mal im Leben wurde mir übel, und der gebratene Fisch, den ich heute früh verspeist hatte, bahnte sich seinen Weg nach draußen.

Mutter legte mir eine Hand auf den Bauch. »Lass ihn nicht umsonst gestorben sein.«

Ich atmete tief durch und schluckte. »Warum hält niemand Odin, Thor und die anderen Asen auf?«

»Weil alle glauben, dass Ymir den Tod verdient hat. Als Sieger bestimmt Odin, was überliefert wird. Er hat verbreitet, dass Ymir grausam und gewalttätig war. Odin hat sein Verbrechen als Heldentat verklärt und lässt sich dafür feiern. Kaum jemand war dabei, und niemand würde es wagen, einen Gott wie Odin der Lüge zu bezichtigen, geschweige denn, ihn zur Rechenschaft zu ziehen.«

»Warum lässt er uns nicht in Ruhe? Er hat doch schon gesiegt.«

»Wir Jötnar sind die direkten Nachfahren von Ymir und ihm am ähnlichsten. Nachdem er Ymir ermordet hatte, versuchte er, alle Jötnar in Ymirs Blut zu ertränken. Es ist ihm misslungen, weil sich ein Paar retten konnte. Odin will nicht, dass wir erstarken. Er fürchtet sich vor einer Armee aus Jötnar, die eines Tages Gerechtigkeit für Ymir und seine Kinder fordert. Damit uns niemand hilft, beschimpft er uns als Riesen, Thursen oder Trolle, behauptet, wir seien blutrünstig, grausam und abscheulich.«

Wie eine Handvoll Sand klares Wasser trübt, verschmutzte die furchtbare Wahrheit über den Ursprung und die Teilung der Welt meine Seele. Zum ersten Mal erahnte ich, was hinter dem Eingang unserer Höhle lag.

Ich verzichtete auf ein Bad in Ymirs Blut, und das Wispern der Steine klang nicht mehr faszinierend, sondern unheimlich. Obwohl ich die Worte weiterhin nicht verstand, wusste ich nun, was sie mir mitzuteilen versuchten. Dieses Mal wehrte ich mich nicht wie sonst, als Mutter die Höhle verließ. Mit gesenktem Kopf folgte ich ihr und beobachtete traurig das Funkeln von Ymirs Knochen unter meinen Füßen.

»Es tut mir leid«, sagte Mutter, als wir uns dem Teil der Höhle näherten, in dem meine Brüder auf uns warteten. »Ich wünschte, ich hätte deinen Blick auf die Welt nicht trüben müssen.« Mutter blieb stehen und umarmte mich. »Mein Licht, du darfst wegen Ymir traurig sein und dennoch weiterhin die Schönheit seiner Überreste bewundern.«

Ich schmiegte mich an sie. »Auch wenn ich mir im ersten Moment gewünscht habe, die Wahrheit nie erfahren zu haben, bin ich dir dankbar dafür.« Ich löste mich von ihr, um ihr in die goldenen Augen zu blicken. »Dieses neue Wissen befähigt mich, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ich möchte unsere Höhle nicht mehr verlassen, weil ich verstehe, und nicht, weil ich Angst habe. Dieses Mal hast du die richtigen Worte gefunden, Mutter.«

Erleichtert lächelte sie mich an.

»Angrboda!«, erklang eine Stimme vom Eingang unserer Höhle. Sie klang dumpf hinter den Windungen von Jörmungandr, trotzdem erkannte ich sie sofort und rannte los, um Vater zu begrüßen.

2. Schicksal

Bei Vaters Anblick brach Fenrir schwanzwedelnd in Geheul aus. Jörmungandr schrumpfte, während er sich gleichzeitig lose um Vater wand, und ich flog ihm um den Hals.

Vater erwiderte lachend meine Umarmung, riss mich von den Füßen und wirbelte mich herum. »Hellia, mein Sonnenstrahl.« Er stellte mich auf die Beine und riss die Augen auf. »Bei Ymirs Schädel, bist du groß geworden! Bis auf deine blauen Augen wirst du deiner Mutter immer ähnlicher.« Er wuschelte mir durch die Haare. »Ich habe dich vermisst.«

Ich verschränkte die Arme und schob die Unterlippe vor. »Warum hast du uns dann nicht früher besucht? Fenrir sind fünf neue Zähne gewachsen, und Jörmungandr ist um sieben Windungen länger geworden. So lange hast du auf dich warten lassen.«

Müde strich sich Vater über das Gesicht. »Ach, Hellia, wenn du nur wüsstest, wie gern ich mehr Zeit mit euch verbringen würde.«

»Loki, willkommen. Wir haben auf dich gewartet«, ertönte Mutters Stimme.

Vater blickte hoch, und sein Gesicht leuchtete so hell auf, dass die bunten Steine in den Wänden aufblitzten. »Angrboda.« Wenn er mit Mutter sprach, klang er stets ehrfurchtsvoll. Er befreite sich sachte aus Jörmungandrs Windungen und schob sich zwischen Fenrir und mir hindurch zu Mutter, die noch vor dem Gang stand, aus dem sie und ich vorhin zurückgekehrt waren.

Sie breitete die Arme aus, und die beiden versanken in einer innigen Umarmung. Vaters feuerrotes Haar, das ihm bis zur Taille reichte, vermischte sich mit Mutters goldenen Strähnen. Er war etwas kleiner als sie und wirkte neben ihr schmächtig. Zusammen ergaben sie ein wundervolles Bild voller Frieden und Liebe. Es war unglaublich, dass sie einen Sohn wie Fenrir gezeugt hatten.

Hey! Ich an deiner Stelle wäre vorsichtig mit dem, was du denkst, meinte Fenrir. Sieh dich doch mal an. Du kommst weder in Schönheit noch in Stärke an die beiden heran.

Raus aus meinen Gedanken, oder ich rupfe dich kahl.

Mit welchen Kräften?

Ich knirschte mit den Zähnen. Am liebsten wäre ich auf seinen Rücken gesprungen und hätte ihm von hinten die Lefzen so weit hochgezogen, dass er sabbern musste. Fenrir erkannte wohl mein Vorhaben und drückte sich mit dem Hinterteil gegen die Wand.

Dreht euch mal zu Vater um, zischte Jörmungandr.

Fenrir und ich fuhren herum. Vater hielt Mutter zwar noch umschlungen, hatte den Kopf allerdings zu uns gedreht. Seine sonst schwarzen Augen glühten, und unser Lagerfeuer flackerte warnend auf.

»Wir gehen in die Höhle mit dem Wasserfall spielen«, sagte ich kleinlaut, und wir verzogen uns mit eingezogenen Köpfen. Unterwegs begannen Fenrir und ich, einander zu schubsen und uns gegenseitig die Schuld dafür zuzuschieben, Vater verärgert zu haben. Jörmungandr achtete darauf, dass wir nicht zu laut wurden, um Vater und Mutter nicht zu stören. Sie sahen sich selten, und wenn, dann nur kurz, da Vater auch mit uns dreien zusammen und einzeln Zeit verbringen wollte.

Ich werde Vater alles über dich erzählen, drohte ich Fenrir, als wir in unserer Spielhöhle ankamen, die uns wegen Jörmungandr langsam zu klein wurde. Letztes Mal hat er gesagt, du sollst mich in Ruhe lassen.

Passend zu meiner Stimmung toste der Wasserfall heute besonders wütend, weil es in den vergangenen Tagen viel geregnet hatte.

Wenn du das machst, erzähle ich ihm, dass du jeden Tag ein paarmal versuchst abzuhauen, konterte Fenrir. Ganz besonders wird es ihn interessieren, wie traurig das Mutter stimmt.

Wehe! Ich stürzte mich auf ihn, zog ihn in den kleinen Teich vor dem Wasserfall und versuchte, ihn darin zu ertränken oder zumindest so nass wie möglich zu machen.

Du Schwächling! Mit einer Pfote fegte er mich von den Beinen, und ich fiel rücklings ins Wasser. Du kannst nichts, außer mich ein wenig nass zu spritzen.

Ha! Und genau deswegen wird Vater dir nicht zuhören. Ich rappelte mich hoch und stapfte triumphierend aus dem Wasser.

Jetzt hast du auch noch den Verstand verloren, knurrte Fenrir.

Obwohl er viel mehr Zähne hatte als ich, grinste ich gerade breiter. Du stinkst, wenn du nass bist. Nicht einmal Vater wird es länger als drei Atemzüge in deiner Nähe aushalten.

Darauf entgegnete Fenrir nichts, stattdessen stürzte er sich mit hochgezogenen Lefzen auf mich.

Jörmungandr glitt schnell wie eine Lawine zwischen uns, und im nächsten Moment verknoteten wir uns zu einem fauchenden, schreienden, knurrenden Knäuel.

»Störe ich?«, ertönte Vaters Stimme.

Schlagartig erstarrten und verstummten wir. Vater lehnte am Eingang unserer Spielhöhle. Fenrir öffnete sein Maul und ließ so unauffällig wie möglich Jörmungandrs Schwanzspitze hinausgleiten. Das Gleiche tat Jörmungandr mit einer von Fenrirs Hinterpfoten und meinem Bein. Ich hob mein Knie vom Hals des Wolfes, und er senkte seine Vorderpfote. Ich wollte ihn erwürgen, er mir wohl den Kopf abreißen. Obwohl wir drei uns gerade am liebsten umgebracht hätten, wussten wir beim Anblick von Vaters hochgezogener Augenbraue, dass wir einander schützen würden. Ich verwarf sogar meinen Plan, mich über Fenrir zu beschweren.

Danke, murmelte er. Ich verrate auch nichts über dich.

»Nun?« Vater zog auch die andere Augenbraue hoch.

Um Zeit zu schinden, watete ich aus dem Wasser, zupfte mein Kleid zurecht und setzte mich mit überkreuzten Beinen auf den Boden. Hektisch überlegte ich. Wenn ihm nicht passte, was ich sagte, würde er mit uns zur Strafe wegen der Prügelei bestimmt wieder im Höhlenlabyrinth Verstecken oder Fangen spielen. Das war seine neueste Art, uns zu bestrafen, vor allem wenn sich Mutter bei ihm über uns beschwert hatte.

Dabei verwandelte er sich in allerlei Asen-Ungeheuer und hatte riesigen Spaß daran, uns zu jagen. So wusste ich nun, wie Thor, Odin, Heimdall, Thor, Tyr, Freyr, Freya, Skadi, Frigg und noch ein paar andere aussahen. Nach Vaters sogenannten Spielen verfolgten die Asen uns noch nächtelang in den Träumen, und ich verlor für einige Tage die Lust, die Welt zu erkunden. Wenn da draußen solche Monster hausten, war es in der Höhle bei Mutter und meinen Brüdern auf jeden Fall sicherer. Aber dann überwog stets der Gedanke, dass Vater sicher übertrieb, um uns unter dem Berg zu halten.

Vater räusperte sich.

Da niemand von uns Lust hatte, eine weitere Bekanntschaft mit einem unheimlichen Asen-Monster zu machen, überschlugen sich Fenrir und Jörmungandr mit Vorschlägen, die ich Vater unterbreiten sollte.

Sag ihm, dass es unser neuestes Spiel ist, kam von Jörmungandr.

Nein, sag ihm, dass du auf den glitschigen Steinen ausgerutscht bist und wir dich aufgefangen haben, riet mir Fenrir.

Warum ich? Du hättest auch ausrutschen können. Oder Jörmungandr, konterte ich.

Ich habe vier Pfoten, du nur zwei.

Und ich habe gar keine, zischte Jörmungandr ungehalten in meinem Kopf.

»Ich warte.« In Vaters Gesicht zuckte ein Mundwinkel, was nichts Gutes bedeutete. Diesen Gesichtsausdruck voller Vorfreude hatte er stets kurz vor einer Jagd.

Ich erhob mich. »Vater, es war meine Schuld. Wenn du jemanden jagen willst, dann nimm mich.«

Jörmungandr und Fenrir starrten mich an.

Und mit welchen Klauen und Zähnen willst du ihn besiegen? Fenrir trat neben mich. Mit so tiefer Stimme, dass seine Worte wie brechende Felsen klangen, formte er Silbe für Silbe die Worte: »Vater, ich bin der Älteste und habe Hellia geärgert. Sie ist noch jung. Jage mich.«

Jörmungandr glitt zu uns. Dabei schwoll er zu einer Größe an, dass er fast die ganze Höhle ausfüllte. Das Wasser des Teichs flutete den Boden. Schützend wand er sich um uns. Er konnte nicht einmal so umständlich wie Fenrir sprechen, aber das musste er auch nicht. Er war neben, vor und hinter uns.

Ich berührte meine Brüder an ihren Rücken. Ich liebe euch.

Zwei Wellen aus Zuneigung schwappten über mich, und auf einmal war es mir egal, welches Spiel Vater dieses Mal für uns parat hatte. Zusammen würden wir alles durchstehen. Wirklich alles.

Vater lachte auf und klatschte in die Hände. »Gratuliere. Ihr drei werdet also endlich erwachsen. Heute habt ihr bereits gewonnen. Merkt euch diesen Moment. Ich möchte, dass ihr in Zukunft immer so füreinander einsteht. Verstanden? Und nun kommt mit zu eurer Mutter ans Feuer. Wir müssen es ihr erzählen. Außerdem wird es mir hier langsam zu nass.« Er schüttelte ein Bein.

Fenrir entfuhr ein leises Knurren. Was hat er vor?

»Das ist gut, mein Junge. Bleib stets misstrauisch und vertraue niemandem außer deinen Geschwistern.« Vater drehte sich um und winkte uns hinter sich her.

Die erste Hälfte des Weges schwiegen wir ungläubig, während Vater mit wippenden Schritten vorausging. Mit einem kleinen Feuer, das über seiner Handfläche schwebte, erleuchtete er sich den Weg. Wir benötigten kein Licht, um uns hier zurechtzufinden. Jeder Stein, jede Biegung und Öffnung in unserem Höhlenlabyrinth waren uns vertraut.

Bevor wir Mutter erreichten, musste ich etwas wissen. Ich hatte Angst vor Vaters Antwort und noch mehr, dass Mutter sie hörte. »Vater, soll Fenrir nicht einmal dir vertrauen?«

Er drehte den Kopf leicht nach hinten, zum Zeichen, dass er mich gehört hatte. »Nein. Und nicht nur Fenrir, auch du und Jörmungandr dürft niemandem außer euch dreien vertrauen.«

Ich ballte eine Faust. »Und was ist mit Mutter? Dürfen wir ihr auch nicht vertrauen?«

»Sobald ihr die Dunkelheit unter diesem Berg verlassen habt, werden sich eure Wege trennen. Sie wird euch zwar stets lieben, aber für euch nicht mehr erreichbar sein. Lernt von ihr, hört ihr zu, solange ihr hier seid, danach wird es zu spät sein.«

»Und was, wenn wir niemals gehen?«, fragte ich trotzig.

Vater blieb stehen und drehte sich zu mir um. Seine Augen glitzerten im Licht des Feuers, während er den Blick auf meinen innersten Wunsch richtete. »Der Drang, frei zu sein, hat in deinem Geist so tiefe Wurzeln geschlagen wie Yggdrasil in den Welten, die du so unbedingt erkunden möchtest.«

Schuldbewusst senkte ich den Kopf. »Ich habe kurz vor deiner Ankunft mit Mutter geredet und verstanden, warum ich hierbleiben muss … Ich bin zu schwach, um da draußen zu überleben.«

Vater beugte sich zu mir vor. »Eines Tages wirst du rausgehen. Dann wird sich deine Schwäche in eine besondere Stärke verwandeln. Weil du deine Probleme nicht mit roher Gewalt wirst lösen können, wirst du gezwungen sein zu denken. Das ist etwas, das du und ich gemeinsam haben. Hör zu, beobachte und lerne, Wichtiges von Belanglosem zu unterscheiden. So wirst du Verborgenes sehen, Unbegreifliches verstehen und Wege finden, deine Feinde zu vernichten, ohne auch nur einen Finger zu rühren.«

Ich starrte Vater an. Mir fiel nichts ein, was ich darauf erwidern konnte, ohne ihn so vor den Kopf zu stoßen, dass er mit mir zur Strafe tagelang Verstecken spielte. Er redete Unsinn, von dem ich weniger als die Hälfte verstand.

»Und ihr zwei«, Vater blickte von Fenrir zu Jörmungandr, »müsst auf eure kleine Schwester aufpassen. Bis sie ihre Stärke findet, wird sie eure Kraft, Krallen, Zähne und euer Gift brauchen. Zusammen werdet ihr eines Tages unbesiegbar und zum Schrecken der Asen werden.«

»Und was, wenn wir nicht zu deren Schrecken werden wollen? Was, wenn wir nichts mit ihnen zu tun haben wollen?«

Vater seufzte. »Leider folgt das vorherbestimmte Schicksal nicht den Wünschen.«

»Woher willst du wissen, dass es vorherbestimmt ist?«

»Weil ich zuhöre.«

»Wem?«

»Allen.«

»Wenn die Asen und wir tatsächlich aneinandergeraten, wirst du uns helfen?« Vergeblich versuchte ich, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. Seine Worte klangen so endgültig.

»Ich werde es weder dürfen, können noch wollen.«

»Warum nicht?«

Vater drehte sich wieder um und setzte seinen Weg fort. »Das werdet ihr herausfinden, sobald ihr diese Höhlen verlassen habt. Aber noch sind wir alle hier. Lasst uns unsere verbleibende gemeinsame Zeit genießen. Kommt, ich habe uns Fisch mitgebracht.«

In diesem Moment wünschte ich mir zum ersten Mal, er würde mit uns Verstecken und Fangen spielen, lachen und seine Späße treiben. Die Traurigkeit und der Ernst in seiner Stimme machten mir Angst.

»Weiß Mutter, dass du uns erlaubst, die Höhlen zu verlassen?«

Er seufzte. »Ich erlaube es euch nicht, dennoch werdet ihr es eines Tages tun. Eure Mutter und ich hoffen, dass es nicht zu früh geschehen wird. Ihr braucht noch Zeit, um da draußen zu überleben.«

Jörmungandr und ich werden ab jetzt besonders scharf darauf aufpassen, dass du nicht abhaust, grollte Fenrirs Stimme in meinem Kopf. Obwohl er sehr laut dachte, konnte er seine Angst nicht übertönen.

Müsst ihr nicht. Ich möchte nicht, dass sich unsere und Mutters Wege trennen. Hier kann ich allen vertrauen. Auch wenn Vater sich selbst ausnimmt, meint er es bestimmt nicht ernst. Außerdem, wie soll das gehen, Schwäche in Stärke verwandeln und Unbegreifliches verstehen? Ich will mir weder Feinde machen, die ich vernichten muss, noch euch deswegen in Gefahr bringen. Wenn das alles da draußen auf mich wartet, verzichte ich auf meine Freiheit.

Das ist schön, zischte Jörmungandr. Dann kann alles so bleiben, wie es ist.

3. Spuren im Schnee

Vater verließ uns am nächsten Tag, und bis zu seinem nächsten Besuch einige Monde später verspürte ich kein Bedürfnis mehr, auch nur einen Schritt nach draußen zu treten.

Wie sich jeder aufgewühlte Sand im Wasser nach einer Zeit lang wieder absetzt, so taten es auch meine aufgewirbelten Gefühle nach dem Gespräch mit Mutter über Ymirs Ende und mit Vater über unser angebliches Schicksal. Ich streifte viel durch unser Labyrinth, verbrachte lange Nächte allein am See im Herzen des Berges und versuchte zu verstehen, was die Steine sagten. Auf Fenrirs Neckereien ging ich seltener ein, und er begann, mir vorzuwerfen, langweilig wie Jörmungandr zu werden. Während mich meine Brüder anfangs nicht allein durch die Höhlen wandern ließen, damit ich nicht abhaute, vertrauten sie mir zunehmend, da ich keinen Versuch mehr unternommen hatte wegzulaufen.

Um der Langeweile zu entfliehen, schliefen Fenrir und Jörmungandr so viel, dass es still in meinem Kopf wurde. Zum ersten Mal konnte ich meine Gedanken zu Ende verfolgen und meine Gefühle, Wünsche und Träume ergründen. Noch vor einigen Mondzyklen bestimmten Abenteuerlust und der Drang nach Freiheit mein Handeln. Nun machte ich mir viele Gedanken über den Ursprung der Welt und den Zweck meines Daseins.

Auf Letzteres fand ich keine Antwort. Hatte Vater vielleicht das mit seinen Worten gemeint? War das das Unbegreifliche, das ich verstehen, und das Verborgene, das ich sehen sollte? Seine Worte gingen mir nicht mehr aus dem Kopf. Er hatte mich indirekt ermuntert, in die Welt zu treten. Und nun, da ich es durfte, wollte ich nicht mehr.

Aber einen Rat von Vater befolgte ich: Ich redete viel mit Mutter und hörte ihr zu. Gebannt lauschte ich an Vaters nicht erlöschendem Feuer ihren Geschichten über Yggdrasil und die Welten, die er stützte und nährte, die drei Brunnen an seinen Wurzeln, die drei Nornen, die ihn wässerten, und die Tiere, die im Baum lebten. Sie erzählte mir mehr von den Asen, Wanen, Alben, Zwergen und Jötnar.

Meine Verbundenheit zu Mutter wurde noch tiefer, wie noch nie zuvor suchte ich ihre Nähe. Wenn sie schlief, wartete ich ungeduldig darauf, dass sie aufwachte, und wenn sie jagte, saß ich vor dem Eingang und hielt Ausschau nach ihr, um sie weiter mit Fragen zu überhäufen. Mutter freute sich sehr, mich geistig wachsen zu sehen, wie sie es nannte.

Erst in dieser Zeit erkannte ich, dass Mutter nicht nur wunderschön und sanft, sondern auch alt und weise war, tief verbunden mit der Welt, der Erde, dem Wasser und Himmel. Oft lag ich mit dem Kopf auf ihrem Schoß, und sie strich mir über das Gesicht, die Wangen und Haare, während sie erzählte. Nie da gewesener Frieden und Ruhe breiteten sich unter unserem Berg aus, und es hätte wohl ewig angedauert, wenn nicht eines Morgens Vater zurückgekehrt wäre.

Dieses Mal begrüßte ich ihn mit einer freudigen Umarmung, allerdings viel verhaltener als bei unserem letzten Treffen. Erstaunt stellte ich fest, dass ich nun größer war als er. Er sah blass aus, nicht so makellos wie sonst. Feine Linien hatten sich in seine Haut auf der Stirn sowie zwischen den Augenbrauen gegraben, als hätte er sehr lange nicht geschlafen und nicht genügend gegessen.

»Hellia, du bist erwachsen geworden.« Wie letztes Mal blickte Vater mir in die Augen und richtete seinen Blick auf mein Inneres. »Mein ungestümes kleines Mädchen hat sich verändert. Ich bin so erleichtert, dass du dir und deinen Brüdern noch kostbare Zeit geschenkt hast.«

Ich wollte ihm gerade erklären, dass weder ich noch einer meiner Brüder vorhatte, den Berg jemals zu verlassen, als Fenrir aus der Dunkelheit eines Gangs zu uns ins Licht des Feuers trat. Auch er war weiter gewachsen. Seine Schultern reichten mir bis zur Hüfte, und das Fell war nun so schwarz wie die Dunkelheit in unserer tiefsten Höhle.

Ihm folgte Jörmungandr mit den nicht mehr enden wollenden Windungen seines Körpers. Auf den ersten Blick wirkte er schwarz wie Fenrir, doch wenn Feuer oder Tageslicht auf seine Schuppen fielen, glänzten sie wie dunkelgrüne Steine im Wasser.

Vater musterte meine Brüder, und die Linien in seinem Gesicht wurden tiefer. »Ich kann dieses Mal nicht so lange bleiben. Angrboda, können wir einen Spaziergang zu den Wurzeln des Berges machen?«

Auch in Mutters Gesicht bildeten sich auf einmal feine Linien. Bei den Wurzeln des Berges lagen die tiefsten Höhlen, die wir nur selten aufsuchten. »Natürlich.« Sie knetete die Finger, während sie zu Vater trat.

Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich in die Dunkelheit.

Ich wartete, bis sie außer Sichtweite waren, und setzte mich in Bewegung, um ihnen heimlich zu folgen.

Was hast du vor?, fragte Fenrir.

Es ist etwas passiert. Hat Vater nicht gesagt, ich soll das Verborgene finden? Sie wollen allein reden, und ich werde herausfinden, was sie vor uns verheimlichen.

Ich glaube nicht, dass Vater damit gemeint hat, dass du sie belauschen sollst, mischte sich Jörmungandr mit sanfter Stimme ein.

Das ist Auslegungssache, und wir können gern darüber reden, wenn ich mehr weiß. Kommt ihr mit?

Wenn wir zu dritt in den engen Gängen dort herumschleichen, werden sie etwas merken, sagte Fenrir. Wir werden im Geiste bei dir bleiben.

Du solltest sie nicht ermutigen, Fenrir. Was, wenn Vater sie erwischt? Mir ist es zu gefährlich. Ich bin raus.

Jörmungandr verschloss seinen Geist. Gut, dann sollte er eben unwissend bleiben. Dafür feuerte Fenrir mich an, während ich Vater und Mutter hinterherschlich.

Endlich kamen wir an. Hier unten war es kalt und feucht. Aus weiter Ferne erkannte ich Vaters Feuer und Mutters Leuchten. So tief unter dem Berg steckten besonders viele bunte Steine in den Wänden und warfen das Licht meiner Eltern tausendfach in verschiedenen Farben zurück. Ich hätte sie gern noch länger bewundert und mir Namen für einige seltene Farben ausgedacht, aber ich durfte den Inhalt des Gesprächs nicht verpassen. Lautlos wie Jörmungandr kroch ich weiter und spitzte wie Fenrir die Ohren, als ich ihre Stimmen vernahm. Sie stritten.

»Loki, ich weiß, dass du sehr beschäftigt bist. Komm doch erst wieder, wenn du keine Probleme mehr hast.«

»Du willst, dass ich als Toter zurückkehre?« Er fuhr sich mit beiden Händen übers Gesicht. »Es tut mir leid. Ich habe meine schlechte Laune hierhergebracht, das hast du nicht verdient. Ich …« Vater schwieg.

»Loki, warum hast du mich hierhergebeten? Hör auf, es hinauszuzögern. Sag endlich, was los ist.«

Vater blickte um sich, lauschte. Ich hielt den Atem an und drückte mich so flach wie möglich auf den Boden. Ich schloss sogar die Augen, damit er sie im Dunkeln nicht aufblitzen sah.

»Es ist niemand hier«, sagte Mutter.

Vater schnaubte. »Wir sollten die drei nicht unterschätzen. Es sind schließlich meine Kinder.«

»So? Du fürchtest also dich selbst in deinen Nachkommen.« Mutter klang amüsiert. Mit sanfter Stimme fuhr sie fort. »Loki, was ist los? Was hat sich seit deinem letzten Besuch verändert, dass du so panisch bist?«

»Bei meinem letzten Besuch war mir noch nicht klar, dass sie euch bereits auf der Spur sind. Davor wart ihr nur ein Gerücht, zusammengetragen aus Friggs Ahnungen und vagen Aussagen von Seherinnen. Ihr wart für die Asen nur mögliche Schrecken der Zukunft. Jetzt seid ihr für sie Tatsachen.«

Mein Herzschlag beschleunigte sich. Wir, ein Schrecken für die Asen? Was redete Vater für einen Unsinn? Das war eher andersherum.

Zügle deine Gedanken. Sonst höre ich nichts, ertönte sehr leise Fenrirs Stimme in meinem Kopf. Wir waren so weit voneinander entfernt, dass sein übliches gedankenfüllendes Grollen einem Flüstern glich.

»Die Asen haben wohl schon seit längerer Zeit herausgefunden, dass es euch tatsächlich gibt, und suchen nach euch«, fuhr Vater fort. »Noch schlimmer, sie kreisen euch zunehmend ein. Odin hat unzählige Späher nach Jötunheim geschickt. Eher früher als später wird er euren Aufenthaltsort finden. Riesen sind gutgläubig. Und wen die Asen nicht täuschen oder überzeugen können, den werden sie erpressen und bedrohen. Bitte lass uns ein Versteck in einer anderen Welt suchen.«

»Und welche schlägst du vor? Wer würde uns aufnehmen? Die Asen sind überall. Sie haben uns hier noch nicht entdeckt. Warum sollte sich das ändern? Du hast so lange an dem Schutzzauber für diesen Berg gearbeitet. Du selbst hast gesagt, dass uns niemand hier finden wird, solange wir nicht hinaustreten, außer du selbst verrätst unseren Aufenthaltsort.« Sie zögerte. »Hast du …?«

»Nein! Ich würde dich niemals ausliefern!«

»Dann ist doch alles gut. Dieser Berg hegt einen alten Groll gegen Odin. Du hörst die Steine doch auch. Sie werden uns verstecken und für uns funkeln, solange wir sie brauchen. Hier sind wir willkommen. Hier wird Hellia lernen, Ymirs alte Stimme zu verstehen. Seit deinem letzten Besuch hat sie angefangen zu fragen.«

»Angrboda, ich flehe dich an, lass mich euch von hier wegbringen, bevor es zu spät ist.«

Mutter seufzte. »Welchen Ort schlägst du vor? Wer will uns nicht tot sehen?«

»Nidhöggr in Niflheim.«

Mutter antwortete so lange nicht, dass ich vorsichtig den Kopf hob und ein Auge einen Spalt weit öffnete. Steif wie ein Felsbrocken stand sie da und starrte Vater an.

Endlich kam Leben in sie, und sie wich vor ihm zurück. »Das ist nicht dein Ernst. Nidhöggr, der Drache, der an Yggdrasils Wurzeln nagt? Was sollen die Kinder von ihm lernen? Wie man hasst und Welten vernichtet?«

»Wenn wir sie nicht vor den Asen verstecken können, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie genau das tun werden. Ganz ohne Lehrmeister. Und du tust Nidhöggr unrecht. Du kennst ihn nicht wie ich. Sie werden von ihm nichts lernen, was sie nicht wissen müssen.«

Mir stellten sich alle Nackenhärchen auf.

Was? Was hat Vater gerade gesagt?, vernahm ich Fenrirs leise Stimme. Du hast gerade so laut gedacht.

Erzähle ich dir später. Oder nicht? Wegen dir verstehe ich auch nichts! Du bist jetzt erst mal raus. Ich verschloss meinen Geist und lehnte die Stirn gegen den kalten Steinboden. Wie sehr bereute ich es in diesem Moment, nicht auf Jörmungandr gehört zu haben. Mutters Worte über das Wissen kamen mir wieder in den Sinn: Es gibt Entsetzliches, das niemand kennen sollte. Dass wir vielleicht Welten zerstören würden, war so etwas.

»Ich verstehe dich nicht …« Mutters Stimme zitterte. »Während deines letzten Besuchs hast du Hellia ermuntert, eines Tages ins Licht zu treten, jetzt willst du unsere Kinder an den dunkelsten Ort der Welten bringen, wo das grausamste aller Geschöpfe lebt.«

»Letztes Mal habe ich gehofft, dass Odin für die drei noch sehr lange ein Schreck aus meinen Spielen bleibt. Ich dachte, die drei haben noch Zeit, die eigenen Kräfte und alle Welten zu entdecken, ihren eigenen Weg zu finden, so stark zu werden, dass sie selbst über ihr Schicksal bestimmen können. Da wusste ich nicht, dass die Asen bereits nach euch suchen. Übrigens irrst du, was Nidhöggrs Höhle angeht. Es mag der dunkelste Ort sein, aber das grausamste Geschöpf lebt nicht dort. Es sitzt auf dem Thron von Asgard. Und um unsere Kinder vor Odin zu schützen, bin ich bereit, die drei zu Nidhöggr zu bringen.«

Mutter schluchzte auf. »Verschone wenigstens Hellia. Sie ist noch so jung. Gib wenigstens ihr eine Chance, einfach nur sein zu dürfen und ihren eigenen Weg zu gehen, so wie du es ursprünglich vorhattest. Vielleicht kann sie am Ende alles zum Guten wenden.«

Vater seufzte. »Also gut. Wenn du und Hellia es für euch behaltet, dass ich der Vater bin, hat sie vielleicht eine Chance auf ein freies Leben.«

Vater und Mutter wollten mich von Fenrir und Jörmungandr trennen? Zum zweiten Mal im Leben hatte ich das Gefühl, mich übergeben zu müssen.

Was ist los?, drängte sich Fenrir in meinen Kopf. Er hatte wohl meinen Gefühlszustand erspürt. Hellia, öffne deinen Geist! Was ist passiert?

Ich dachte nicht daran, ihn meine Gedanken sehen zu lassen. Sie wirbelten wie ein Schneesturm durcheinander, und ich konnte keinen von ihnen fassen. Bevor ich mit Fenrir und Jörmungandr darüber sprach, musste ich mich beruhigen. Ich kroch zurück. Das Wichtigste war jetzt, dass Vater und Mutter mich nicht entdeckten. Sobald ich sicher außer ihrer Hörweite war, rappelte ich mich hoch und rannte so schnell, dass meine nackten Füße kaum den Boden berührten. Unbewusst floh ich in unsere oberste Höhle, direkt unter der Bergspitze. Hier hatte ich den größten Abstand zu Mutter und Vater.

Unterwegs kristallisierte sich aus dem Gedankenchaos eine Gewissheit heraus: Ich musste mit meinen Brüdern verschwinden. Irgendwohin, weit weg, wo uns weder unsere Eltern noch die Asen finden konnten. Wir würden so lange dort bleiben, bis diese Gerüchte über uns vergessen waren und sich in Lügen verwandelt hatten. Wir würden den Asen aus dem Weg gehen und allen beweisen, dass wir weder bösartig noch gefährlich waren. Frei und vor allem zusammen würden wir unseren Weg finden.

Die kurze körperliche Anstrengung hatte mir gutgetan und den Sturm in meinem Geist beruhigt. Ich sah nun klar vor mir, was ich zu tun hatte: Als Erstes musste ich meine Brüder über das Vorhaben unserer Eltern informieren, bevor Vater und Mutter die beiden fanden. Ich würde Jörmungandr bitten, sich so klein wie möglich zu machen, und ihn dann unter meinem Kleid verbergen. Dann würden wir zu dritt den Berg auf der Suche nach einem neuen Versteck verlassen. Die Asen rechneten bestimmt nicht damit, dass wir unter freiem Himmel herumliefen. Außerdem suchten sie nach drei Wesen, sie wussten nicht, wie wir aussahen. Sollte mir ein Ase begegnen, würde ich vorgeben, eine Jötunn zu sein, die gerade mit ihrem Bergwolf spazieren geht.

Ich öffnete meinen Geist. Jörmungandr, Fenrir, wo seid ihr? Ich muss sofort mit euch reden. Kommt in die oberste Höhle unter der Bergspitze.

Ach, willst du jetzt doch wieder mit mir reden?, knurrte Fenrir.

Mach jetzt! Ist Jörmungandr in deiner Nähe? Ich bekomme ihn nicht zu fassen.

Woher soll ich wissen, wo er sich verkrochen hat?

Schnell!, schrie ich im Geist. Such ihn, und dann seht zu, dass ihr herkommt! Es ist dringend. Falls du Vater oder Mutter in der Nähe spürst, mach einen Riesenbogen um sie.

Sobald sich Fenrir alarmiert in Bewegung gesetzt hatte, um Jörmungandr aufzuspüren, öffnete ich meinen Geist und zeigte ihm alles, was ich an der Wurzel des Berges gesehen und gehört hatte. Eine gigantische Welle aus Fenrirs Wut brach über mir zusammen, spülte meine Angst und Bestürzung weg. Ein tiefes Grollen baute sich in Fenrirs Innerem auf.

Sei still!, rief ich, bevor er den ganzen Berg zum Erzittern brachte. So werden Vater und Mutter augenblicklich wissen, wo du bist.

Trotz seines Zorns verschluckte er das Knurren und erstickte fast daran, was eine Lawine von Flüchen nach sich zog.

Während ich auf meine Brüder wartete und hoffte, dass sie es unbemerkt zu mir schafften, lief ich Fingernägel kauend in der Höhle auf und ab. Der Ausgang nach draußen befand sich etwa zehn Schritte entfernt, hinter einer leichten Biegung. Ich hatte mich früher schon einmal fast ganz hinausgeschlichen und erinnerte mich noch an das breite Plateau vor dem Höhleneingang und den atemberaubenden Ausblick in die Weite. Gebirgsketten, deren Gipfel in den Wolken verschwanden, reckten sich stolz in den grauen Himmel, so weit das Auge reichte. Dampfende Seen brodelten in den eisüberzogenen Tälern. Wie gern hätte ich mich damals in dem kühlen Weiß gewälzt und mich danach im heißen Wasser aufgewärmt. Jetzt war das alles nicht mehr wichtig.

Wo blieben die zwei nur? Ich drehte mich um, um eine neue Runde zu starten, und erstarrte. Gerade befand ich mich an der einzigen Stelle der Höhle, von der aus ich einen kleinen Streifen des Himmels und des schneebedeckten Plateaus sehen konnte. Dort hatte sich eben etwas bewegt. Ich hielt den Atem an, verengte die Augen. Nichts war zu hören. Nur mein Blut pulsierte mir in den Ohren. Hatte ich mich geirrt? Ich drückte mich gegen die Wand, um besser hinausblicken zu können.

Da war es wieder. Kurz glitt etwas Dunkles, das wie ein dunkelgrüner Stein unter Wasser glitzerte, am äußeren Rand des Eingangs entlang und verschwand sofort wieder aus meinem Blickfeld. Ich konnte es nicht glauben. Hatte Jörmungandr, der Vernünftigste von uns dreien, tatsächlich den Schutz des Berges verlassen? Ich schlich näher zum Ausgang, und was ich sah, bestätigte meine Vermutung. Im Schnee wand sich eine breite Spur, die nur eine riesige Schlange hinterlassen konnte.

4. Ein ungleicher Kampf

Ich musste Jörmungandr schleunigst zurückholen. Was, wenn die Asen ihn sahen oder, noch schlimmer, unsere Eltern ihn draußen erwischten? Was für eine Ironie des Schicksals, dass er und nicht ich als Erster unsere Höhlen verlassen hatte.

Ich holte tief Luft, um ihn zurückzurufen, biss mir dann aber auf die Lippen. Das würde zu viel Lärm machen. Lautlos rannte ich hinaus, drehte mich in die Richtung, wohin Jörmungandr geglitten sein musste, und folgte seiner Spur den Berg hinauf.

Jörmungandr!, versuchte ich so laut wie möglich seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Er musste ganz nah sein, deswegen konnte er meine Gedanken selbst dann nicht überhören, wenn er es wollte. Was treibst du da? Antworte mir! Du bringst uns alle in Gefahr. Gerade von dir hätte ich es am wenigsten erwartet. Von Fenrir vielleicht …

Das sagt die Richtige, antwortete Fenrir aus der Ferne irgendwo tief unter dem Berg. Wie oft habe ich uns alle vor deinem Leichtsinn gerettet?

Was ist los?, meldete sich endlich Jörmungandr verschlafen und öffnete seinen Geist für uns.

Verdutzt blieb ich stehen. Er klang so leise, als wäre er am anderen Ende unseres Höhlenlabyrinths.

Ah, da ist er ja. Hat sich in den großen See verkrümelt, erklärte mir Fenrir. Raus da! Wir müssen dir etwas Wichtiges …

Mit voller Wucht erkannte ich, dass ich einen furchtbaren Fehler begangen hatte. Meine Panik lähmte nicht nur mich, sondern für einen Moment auch meine Brüder. Dann kochten meine Gedanken über.

Als Erster begriff Jörmungandr, was vorgefallen war und wo ich mich gerade befand. Zurück! Hellia, das ist eine Falle!

Noch bevor er es zu Ende gedacht hatte, war ich schon auf dem Rückweg. Ich machte einen riesigen Satz, konnte den Eingang der Höhle schon sehen, doch als ich noch mitten in der Luft war, schrie ein Rabe über mir, und jemand packte mich an einem Fußknöchel. Ich wurde zurückgerissen und prallte auf die Felsen. Der Schmerz des Aufpralls verschlug mir den Atem, ich sah nur verschwommen, konnte mich nicht bewegen. Etwas Schweres legte sich auf meine Brust und drückte mich so fest auf den Boden, dass auch die letzte Luft aus meiner Lunge herausgepresst wurde.

Hellia!, schrien Jörmungandr und Fenrir gleichzeitig. Die zweite Silbe meines Namens klang viel lauter, als würden sie sich mir mit rasender Geschwindigkeit nähern.

Bleibt, wo ihr seid!

Mein Blick klarte auf, und als ich erkannte, wer sich über mir aufgebaut hatte, schrie ich vor Entsetzen so laut, dass das Eis um uns herum krachend aufriss. Von den Bergseiten um uns herum stürzten Schneemassen dröhnend in die Tiefe.

Über mir stand Thor und drückte mich mit seinem riesigen Hammer auf den Boden. Er grinste triumphierend durch seinen dunkelroten Bart, den ich ihm am liebsten aus dem Gesicht gerissen hätte.

Hellia! Zum ohrenbetäubenden Aufruhr der Natur gesellte sich Fenrirs Knurren, das alles übertönte. Halt durch!

Nein! Es ist Thor! Holt Vater. Kommt nicht raus!

Von einem Vorsprung über dem Höhleneingang sprang jemand hinunter, schlitterte auf Skiern zu uns und kam knapp neben meinem Kopf zum Stehen. Ich erkannte Skadi, die Asin, die die Menschen laut Vaters Erzählungen wegen ihrer Jagd- und Skikünste verehrten. Um die Schultern trug sie eine Schlange, die so groß war wie Jörmungandr noch vor einigen Monden. Skadi warf sie neben mich auf den Boden. Das tote Tier roch nach Verwesung, Salz und Wasser.

Die Asin löste die Skier von ihren Füßen und verpasste der Schlange einen Tritt. »Für diese Seeschlange hat Njörd etwas gut bei mir.« Sie musterte mich. »Das war der perfekte Köder für diesen hübschen Fang hier.«