Medusa: Verdammt lebendig - Lucia Herbst - E-Book
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Medusa: Verdammt lebendig E-Book

Lucia Herbst

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Beschreibung

Ich, die Gorgone Medusa, erzähle meine Geschichte. Götterfantasy aus der griechischen Sagenwelt. SERAPH 2023 in der Kategorie »Bestes Debüt«! »Ich bin ich selbst, und ich habe Macht. Die einzige, die ich mir jemals gewünscht habe. Die über meinen Körper.« Köln, in der Gegenwart. Medusa lebt. Jahrtausendelang musste sie sich vor den Göttern und Menschen verstecken. Sie hat es satt, das Monster ihrer eigenen tragischen Geschichte zu sein, und wagt das Undenkbare: Sie stellt Poseidon und Athene, die Götter des Olymps, die sie zum Monster gemacht haben, vor ein internationales Göttergericht. Dieser unerhörte Vorfall sorgt unter den Unsterblichen dieser Welt für einen Aufruhr, denn Medusa ist nicht die Einzige, die etwas zu sagen hat gegen die Ungerechtigkeiten der Götterwelt ... »Ich liebe Bücher die sich an die griechische Mythologie anlehnen und dieses Buch ist definitiv ein Highlight! Unbedingt lesen!«  ((Leserstimme auf Netgalley))

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Michaela Retetzki

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Emily Bähr, www.emilybaehr.de

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass sich der Piper Verlag die Inhalte Dritter nicht zu eigen macht, für die Inhalte nicht verantwortlich ist und keine Haftung übernimmt.

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Prolog

1. Abschied

2. Enttarnt

3. Ordnung und Krieg

4. Aufbruch

5. Training

6. Flügel und Talismane

7. Der Gerichtssaal

8. Eine grausige Familie

9. Prozessbeginn

10. Schutz und Wut

11. Wort gegen Wort

12. Der erste Freund

13. Annäherung und Albtraum

14. Miese Tricks

15. Ein Weg zurück

16. Vater

17. Schwestern

18. Frühling und Unterwelt

19. Stein und Flug

20. Gerüche und Jäger

21. Zwei gegen eine(n)

22. Bunker

23. Mutter-Sohn-Ding

24. Wiedersehen und Tränen

25. Flug und Freundschaft

26. Sünde

27. Bett und Kleider

28. Glaube und Leben

29. Fesselnde Dunkelheit

30. Schande

31. Mut und Krieg

32. Schutzengel und Freiheit

33. Pforte zur Hölle

34. Verschmelzung

35. Verwandlung

36. Intrige

37. Urteil

38. See und Strafe

39. Chaos und Flucht

40. Fluch und Leben

41. Viel mehr

42. Der Monat danach

43. Weiblich und frei

Epilog

Danksagung

Content Notes

Glossar

Schlangen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Prolog

Um die Gorgone Medusa, eine finstere Kreatur aus alter Zeit,

ranken sich düstere Sagen.

Zwei Versionen erzählen wir hier.

Welche wahr ist, darf man uns nicht fragen.

Einst diente Medusa im Tempel der reinen Göttin Athene.

Die Schönheit der Priesterin lockte die Massen.

Sogar Poseidon, der Gott der See, erlag ihren Reizen.

Er konnte den Blick nicht mehr von der Sterblichen lassen.

Auf dem Altar von Athenes heiliger Stätte

verführte Medusa den Herrscher der Meere.

Sie beschmutzte trotz Keuschheitsgelübde die Reinheit des Tempels

und verlor ihre Ehre.

»Keinen Mann wirst du jemals wieder verführen«,

sprach Athene erzürnt nach der ruchlosen Tat.

Die Göttin verschwand,

bestürzt und enttäuscht nach Medusas Verrat.

Gleich darauf wuchsen Medusa

statt ihrer dunklen Haarpracht giftige Schlangen.

Es erschienen Hauer und Klauen,

Schuppen bedeckten ihre rosigen Wangen.

Wütend und ohne ein Zeichen von Reue

floh die Verfluchte in die sternlose Nacht.

Eine Sterbliche sollte nicht mit den Göttern spielen

und mit deren unendlichen Macht.

Wer fortan das neu erschaffene Monster erblickte,

erstarrte zu Stein.

Das Entsetzen gemeißelt ins Antlitz.

Die Lippen verformt zu einem ewigen stummen »Nein!«.

Jahrelang hörte Athene die Menschen

über Medusas Grausamkeit klagen.

Die Göttin beschloss,

das von ihr erschaffene Monster endgültig zu jagen.

Als Krieger erwählte Athene

einen sterblichen Sohn des allmächtigen Zeus.

Mit göttlicher Hilfe köpfte er die Gorgone.

Damit wurde eine Legende geboren, vom Helden Perseus.

Zwei Geschöpfe Poseidons

entsprangen Medusas Hals:

Chrysaor mit dem goldenen Schwert

und Pegasos, das weiße geflügelte Pferd.

Perseus überreichte der Göttin

demütig Medusas Kopf und Blut.

Seitdem ziert das Haupt der Gorgone Athenes Schild

als Mahnmal für die göttliche Wut.

Das Blut der Medusa zeigte

tödliche und heilende Kraft.

Das schenkte Athene dem Heiler Asklepios,

damit er im Namen der Göttin Gutes erschafft.

Die Jahre vergingen,

die Macht der großen Olympier schwand.

Ein Gerücht wurde laut:

Medusas Geschichte sei anders als allen bisher bekannt:

Medusa war schön, doch hätte sie

weder Poseidon verführt noch Athene hintergangen.

Im Gegenteil,

die Götter hätten ein furchtbares Verbrechen an ihr begangen.

Poseidon fiel über die junge Frau her

und ignorierte ihre Schreie.

Sie floh zu Athene,

im Vertrauen, dass ihre geliebte Göttin sie befreie.

Medusa flehte vor Athenes Füßen

um eine helfende Hand,

während sie sich Poseidons roher Gewalt

ausgeliefert fand.

Die jungfräuliche Göttin sah zu,

ließ Poseidons Verbrechen geschehen.

All ihre Abscheu und Wut

bekam das Opfer zu spüren, für das Vergehen …

zu schön zu sein.

Es fällt schwer, diese Version der Geschehnisse zu verstehen.

Wir sind die Moiren,

Klotho, Lachesis und Atropos,

drei Göttinnen, die das Schicksal spinnen,

jedoch keinesfalls darüber bestimmen.

Die Wahrheit? Wir kennen sie,

dürfen sie aber nicht verraten.

Wir weben, was da ist. Sobald wir reden und lenken,

wird die Ordnung der Welt aus den Fugen geraten.

Der Schicksalsteppich

besteht aus den Entscheidungen aller Geschöpfe.

Traurig blickt daraus Medusas Porträt.

Sie und ihre fünfzig Schlangenköpfe.

Jahrtausende sind mittlerweile vergangen,

selbst wir spinnen und weben nicht mehr per Hand.

Moderne Technik hilft uns

bei der mühsamen Arbeit vom Band.

Nur die Fäden der mystischen Wesen

halten wir fest in den Fingern.

Besonders bei den mächtigen Göttern

dürfen wir den Zug auf keinen Fall verringern.

Übrigens, entgegen der Sage

ist Medusas Schicksalsfaden niemals gerissen.

Endlich können wir es teilen,

dieses geheime, uralte Wissen.

Das einsame Garn fühlt sich kräftiger an,

schillert grün und golden vor Leben.

Es lässt sich sogar mit bunten Fäden,

die sich von außen dazuschlängeln, verweben.

Medusa lebt.

Und nun ist sie so weit, ihre Stimme selbst zu erheben.

1. Abschied

Synchron wippt das Kobrapärchen Orpheus und Eurydike zum Beat der lauten Musik. Ich spüre die Bewegung ihrer Leiber, wo sie den Schläfen entspringen. Vergeblich versuchen sie, die anderen Schlangen auf meinem Kopf zum Mittanzen zu animieren. Wenigstens die zwei haben die Enttäuschung überwunden, dass wir heute nicht rausgehen, und veranstalten ihre eigene kleine Party.

Eine Band besingt den Karneval, das Leben und die Freiheit, schafft es allerdings nicht, mich abzulenken. Hestia, eine sonst sanftmütige Anakonda, schnappt nach den beiden, und es kommt zu einer Rangelei auf meinem Haupt. Ich ignoriere sie. Das sollen sie untereinander klären. Wie ein gefangenes Tier streife ich durch mein Loft.

Nein. Ich bin kein Tier, das wäre schön. Ich bin ein Monster.

Nervös kaue ich an den Fingerkrallen. Maat müsste längst wieder da sein. Aus welchen Kulturen wurden die drei Richtenden ausgelost? Wann beginnt die Verhandlung? Konnte sie es durchsetzen, dass der Prozess unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet?

Hestias Kopf senkt sich in mein Blickfeld. Orpheus und Eurydike halten jetzt still und schmollen.

Ich streiche über den kühlen Körper der Würgeschlange und flüstere: »Mach dir keine Gedanken, ich bin okay. Gerade jetzt, lass den beiden ihren Spaß.«

Hestia schickt mir Aufmunterung und Liebe, die wie Wölkchen im Gedankengewitter verpuffen. Tröstend wickelt sie sich mir um die Schultern.

Es ist elf Uhr morgens, und in elf Minuten beginnt der Karneval, nur heute ohne meine heimliche Anwesenheit. Ich meide die Aussicht aus dem Fenster auf die Turmspitzen des Kölner Doms. Das ist der Tag, dem die Schlangen und ich sonst das ganze Jahr entgegenfiebern. Normalerweise würde ich an diesem Tag in einer Seitengasse der Fußgängerzone stehen und das bunte Treiben der Menschen beobachten. Aus dem losen Turban würden ein paar Reptilien dekorativ herausspitzen. Die Schlangen achten stets penibel darauf, dass jede drankommt und dennoch keine zu lange auf dem begehrten Aussichtsposten bleibt.

Vorbeitorkelnde Jecken würden mir anerkennende Blicke zuwerfen und mich für das »superjeile« Kostüm feiern. Einige kostbare Stunden lang würde ich beinahe dazugehören.

Nur nicht heute. Ich kann es nicht riskieren, entdeckt zu werden. Die Götter des Olymps wissen seit Sonnenaufgang, dass ich noch lebe. Sie werden schon längst nach mir suchen.

Insgeheim bin ich froh, dass Maat es zu gefährlich fand, mich zur Anklageerhebung mitzunehmen. Ja, ich selbst habe die altägyptische Göttin der Ordnung vor einem Jahr gebeten, die Ermittlungen und das Verfahren gegen Poseidon und Athene einzuleiten. Aber jetzt, wo der Prozess näher rückt, fürchte ich mich panisch davor, den beiden antiken Gottheiten entgegenzutreten.

Vielleicht hätte ich das alles gar nicht erst anzetteln dürfen, denn mein geliebtes Zuhause hat sich seit einem Jahr von einer Zuflucht in ein Gefängnis verwandelt. Gerade jetzt wird mir das schmerzlich bewusst.

Plötzlich blinken die Warnleuchten, die mit den Bewegungsmeldern im Treppenhaus verbunden sind. Ich drehe die Musik leiser. Jemand hämmert gegen die Eingangstür. Die Schlangen richten sich alarmiert auf. Angespannt starren wir alle zusammen die Tür an. Maat kann es nicht sein. Sie würde über ihre antike kleine Statue im Gästezimmer kommen. Nur einer kennt die Codes für den Gebäudekomplex und vermeidet es aus Rücksicht auf meine Privatsphäre, direkt im Loft aufzutauchen.

»Asklepios?« Ich klinge schrill, und vor Aufregung lisple ich mehr als sonst. An das laute Sprechen mit der langen Zunge und den Hauern konnte ich mich auch nach über dreitausend Jahren nicht gewöhnen.

»Hast du Maat erwartet?« Asklepios’ Stimme klingt dumpf hinter der dicken Sicherheitstür.

Er weiß also schon über den Prozess Bescheid.

Langsam nähere ich mich der Tür. »Bist du allein?«

»Musst du mich das wirklich fragen?«

Ich schalte das Alarmsystem aus und überprüfe im Garderobenspiegel noch schnell, ob die grünen Kontaktlinsen sitzen und die goldenen Iriden mit den schlitzartigen Pupillen vollständig verbergen. Wobei mich nur das linke Auge interessiert, denn das rechte ist ein Glasauge. Ich will meinen einzigen Freund nicht aus Versehen versteinern. Zumindest hoffe ich, dass er noch ein Freund ist.

Als ich ihn hereinlasse, meidet er meinen Blick. Seine weißblonden Haare sind heute glanzlos, und er ist ungewöhnlich blass. Er lässt so viel Abstand zwischen uns, dass ich mich wohlfühle.

Die meisten meiner Schlangen mögen ihn, allen voran Eros, die orangefarbene Kreuzotter, der sich seit Jahrtausenden mehr als eine Freundschaft wünscht und sich entsprechend bei Asklepios’ Anblick in Pose wirft.

Im Gegensatz dazu haben einige da oben Beißfantasien, wie Ares, die rot-schwarz-weiß gestreifte Korallenotter. Zu gern würde er seine Giftzähne in etwas Lebendigem vergraben. Bis jetzt konnte ich sowohl Eros als auch Ares im Zaum halten. Die Freundschaft zu Asklepios ist zu kostbar, als dass ich sie durch unüberlegte Launen meiner Schlangen gefährden würde.

Jetzt stehen wir uns einen Moment zu lang wortlos gegenüber. Schweigend folgt Asklepios mir schließlich in die offene Essküche.

»Kommst du direkt von einer Karnevalssitzung?« Ich versuche, nicht zu verkrampft zu klingen, und achte auf die Zischlaute. »Gehen die Jahresabschlussversammlungen los?«

»Wie kommst du darauf?«

»Ich wüsste nicht, weswegen du sonst freiwillig deinen Arztkittel gegen einen Chiton tauschen würdest. Kaffee?« Ich wende mich dem professionellen Gerät aus Stahl zu und drücke vorsichtig mit einer Krallenspitze den Aufwärmknopf. Asklepios geht in den Essbereich.

»Ich komme vom Olymp.«

Angestrengt beobachte ich die blinkende Kontrollleuchte der Kaffeemaschine.

»Warum hast du mir nichts gesagt?«

Ich schweige, suche nach Worten.

»Wolltest du mich später einweihen? Oder nie? Ich verstehe das nicht. Weißt du, wie es für mich war, als Zeus vorhin bei einer gigantischen Götterversammlung eröffnet hat, dass du noch lebst und Poseidon und Athene verklagst?«

Mir wird heiß. So war das nicht geplant.

»Ich wollte dich raushalten«, antworte ich leise und drehe mich zu ihm um. »Maat und ich haben gedacht, Poseidon und Athene würden die Angelegenheit möglichst unauffällig aus der Welt schaffen wollen. Ihre Götterreputation steht auf dem Spiel.«

»Die Geschichten sind doch allen bekannt!«

»Gerüchte und Mythen sind das eine. Ein Prozess, Beweise und eine Verurteilung etwas ganz anderes.«

»Nun, Athene und Poseidon sind überzeugt, dass sie den Prozess gewinnen werden.« Asklepios lehnt an dem weißen Esstisch und mustert mich. Sein junges, makelloses Gesicht ist von Sorgenfalten durchzogen. »Hast du mir jemals vertraut?«

Vor dieser Frage fürchte ich mich seit einem Jahr.

»Damit hat das nichts zu tun. Du steckst meinetwegen schon ewig in der Zwickmühle. Ich wollte es nicht noch schlimmer machen.«

»Nicht noch schlimmer? Was glaubst du, wie lange sie brauchen werden, um unsere Verbindung aufzudecken?«

»Und das ist der andere Grund. Die hätten sofort gerochen, dass du etwas weißt. Ich habe Maat sogar verboten, dich als Zeugen zu benennen. Wenn ich verliere, kannst du weitermachen wie bisher.«

Er lacht bitter, was überhaupt nicht zu seinem gütigen und geduldigen Wesen passt. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie wütend sie gerade sind.« Er stößt sich vom Tisch ab und nähert sich mir einige Schritte. »Athene wird die Zeichen deuten können. Ein uraltes Pharma- und Medizinimperium, das als Logo einen Stab hat, um den sich eine Schlange wickelt. Das schreit geradezu nach uns beiden.«

Ich senke den Kopf. Seine Angst ist berechtigt. Für einen Verrat würden die Olympier sogar den eigenen Leibarzt bestialisch bestrafen, egal wie genial und unersetzbar er ist.

»Und diese Maat, glaubst du wirklich, sie kann dich schützen? Vor ihnen allen? Sie und welche Armee?«

Er ist nicht er selbst, und ich bin froh, dass der Küchenblock zwischen uns steht. Noch etwas fällt mir auf. Er spricht Maat falsch aus.

»Es heißt nicht Maaaaaat, sondern Ma’at. Und du unterschätzt sie«, sage ich leise und hoffe, dass ich recht habe.

»Nein, du überschätzt Ma’at.« Er übertreibt demonstrativ die Pause in Maats Namen nach dem ersten A. »Warum bist du überhaupt noch hier? Ich habe keine Barrieren bemerkt, bin bis hier oben durchspaziert. Sie kann nicht der ganzen Welt eröffnen, dass du noch lebst, und darauf hoffen, dass schon nichts passiert.«

»Das hier ist schon ein Versteck …«, verteidige ich Maat.

»Und was sind ihre Beweggründe? Warum macht sie das? Was hat sie davon?«

»Die Wiederherstellung von Ordnung und Gerechtigkeit. Das hat sie davon!« Langsam werde auch ich wütend. Meine Schlangen streifen mir unruhig über die Haut. »Sie ist die Personifikation dieses Konzepts, das deiner Familie fremd ist.«

»Sie war die Personifikation dieses Konzepts. Die altägyptischen Götter haben sich noch mehr in ihrer eigenen Welt abgeschottet als die Olympier.« Seine blauen Augen blitzen. »Egal wie mächtig sie einmal war, ihre Zeit ist längst vorbei. Sie hat keine Chance gegen den Olymp.«

Meine Hände zittern. Die Schlangen richten sich auf und einige fauchen. Ich drehe mich wieder zu der Kaffeemaschine, weil ich nichts Unüberlegtes sagen will. Schweigend bereite ich einen doppelten Espresso mit einem Spritzer Zitronensaft für Asklepios und einen Cappuccino mit Honig im Milchschaum für mich zu. Ich schiebe ihm den Becher über den Küchenblock zu. Er beachtet ihn nicht. Mit aufrichtiger Sorge betrachtet er mich, und das ist mir noch unangenehmer als seine Vorwürfe. Ich schweige.

Seufzend nimmt er den Becher. »Wie hast du sie eigentlich gefunden?«

»Ich habe sie angerufen.« Ich klammere mich an das warme Getränk. »Wie du hat sie den Glauben an die Menschen nicht verloren. Sie hat in München eine Anwaltskanzlei.«

»Ja, aber wie bist du auf sie gekommen? Und auf dieses Gericht? Wie nennt sich das Ding? UGO?«

»Ja, Universelle Götterorganisation«, erkläre ich so leise, dass das Lispeln fast verschwindet. »Weißt du noch, als vor etwa drei Jahren im Bermudadreieck vor Puerto Rico diese untergegangene Insel mit dem Tempel entdeckt wurde?«

»Die Inschriften und die Herkunft konnten bis heute nicht eindeutig bestimmt werden«, sagt er nachdenklich.

Ich bin froh, dass wir uns wieder auf einer vertrauten Ebene unterhalten: der wissenschaftlichen. »Hast du Apollon …«, ich räuspere mich, »also deinen Vater mal gefragt, was das für ein Tempel ist?«

Asklepios zögert. »Ja, er wusste es auch nicht. Er meinte, das müsse eine Kultur vor der Zeit der Olympier gewesen sein.«

»Er lügt. Ich habe kurz nach der Ausgrabung eine Dokumentation darüber gesehen. Die Kamera schwenkte über ein Wandrelief und ich erkannte darauf abgewandelte Motive für griechische, ägyptische, nordische, sumerische, afrikanische, süd- und nordamerikanische Götter. Einige andere waren mir gänzlich unbekannt.«

Seit der Verwandlung habe ich eine Möglichkeit gesucht, Athenes Fluch zu brechen. Dabei durchforstete ich Aufzeichnungen aus allen bekannten Zivilisationen nach ähnlichen Sagen und Wesen. Gegen meine Bibliothek und Antiquitätensammlung ist das Britische Museum ein Trödelladen.

»Mir war sofort klar, dass sich auf dieser Insel einst die Götter aller zum damaligen Zeitpunkt bekannten Kulturen getroffen haben müssen. Übrigens, auf einer Säule waren auch Apollons Harfe und Schriftzug neben den Zeichen der restlichen elf Olympier abgebildet.«

Asklepios runzelt die Stirn. »Wenn das stimmt, dann hatten die Götter einen Grund, die Insel zu versenken und den Tempel dem Meer zu überlassen.«

Ich schnaube. »Ja, sie hatten einen sehr guten Grund dafür. Die Aufrechterhaltung der Tyrannei. Über Jahrtausende! Maat hat mir von der UGO mit dem Göttergericht erzählt, dass die Institution nach verheerenden Götterkriegen gegründet wurde. Die UGO sollte weltweit Frieden und Gerechtigkeit sicherstellen. Nur deine Familie hat die UGO von Anfang an sabotiert. Eine mögliche Einmischung in ihr Einflussgebiet war für die Olympier undenkbar.«

Asklepios schweigt, und ich lasse ihm Zeit, die Informationen zu verarbeiten.

»Also gut, angenommen, Maat sagt die Wahrheit. Ich kann mir trotzdem nicht vorstellen, dass sie nur an Gerechtigkeit interessiert ist. Sie hat dich gezielt ausgesucht! Vielleicht um die eigene Präsenz in der Welt zu steigern, oder sogar, um den altägyptischen Göttern neuen Antrieb zu geben?«

»Nicht sie hat mich ausgesucht, sondern ich sie. Ich habe vor einem Jahr online ihre Anwaltskanzlei in München entdeckt. Zufällig.«

»Ja klar, zufällig! Sie ist nur eine der mächtigsten altägyptischen Göttinnen. Die vertraut ganz sicher auf Zufälle.«

»Dann nenn es Schicksal. Niemand hat mich gezwungen, ihre Nummer zu wählen.«

»Du wolltest also eine menschliche Anwaltskanzlei anrufen?«

»Natürlich nicht. In das Logo ihrer Kanzlei war ›Schu‹, Maats Straußenfeder, eingearbeitet. Ich war einfach nur neugierig, was eine Anwältin in München mit Ägyptologie zu tun hat. Außerdem versuche ich, Zeichen zu deuten. Gerade ich muss wissen, wo welche Unsterblichen aktiv sind.«

»Wie soll ich mir das vorstellen? Du hast da angerufen und dich mit ›Hi, Medusa hier, die echte!‹ vorgestellt?«

So bissig kenne ich ihn nicht. Ist das sein wahres Gesicht? Demaskiert die Angst vor seiner Familie sein wirkliches Wesen? Seine Worte verletzen mich. Er hat mich noch nie von oben herab behandelt. Ich würde das Gespräch gern beenden, aber ich möchte unbedingt, dass er mich versteht. Er soll mir nicht helfen, das wäre zu gefährlich. Ich wünsche mir einfach nur, dass mein einziger Freund wenigstens im Geheimen zu mir hält.

»Ich habe sie angerufen, und sie wusste sofort, dass ich kein Mensch bin.«

»Wie konntest du deine Existenz einem wildfremden Wesen offenbaren? Nach allem, was wir jahrtausendelang unternommen haben, um dich zu verstecken!« Das Hämische ist weg. Da sind wieder Sorge und Angst.

»Ich wusste einfach, dass ich ihr vertrauen kann. Sie hat mir, ohne zu zögern, ihre Hilfe angeboten.«

Asklepios fährt sich mit einer Hand über die Stirn. Auf einmal wirkt er müde. »Also hast du all das, die UGO, Maat und diese an Wahnsinn grenzende Anklageerhebung jahrelang vor mir verheimlicht.«

»An Wahnsinn grenzend? Es ist meine erste und vielleicht einzige Chance, sie für alles bezahlen zu lassen!«

Wir schweigen.

»Noch mal«, sagt er. »Du weißt nicht, was Maat im Schilde führt. Ich habe dich von Anfang an geschützt. Freiwillig. Warum konntest du diesmal nicht zu mir kommen?«

»Weil mir dein Beweggrund klar ist: mein Blut!«, entfährt es mir. »Sag mir, welches ist dir wichtiger? Das heilsame aus der rechten oder das selten giftige aus der linken Körperhälfte?«

Ein harter Zug bildet sich um seine Lippen.

»So siehst du das also? Mir war nicht klar, dass du auf Rache aus bist und ich nur eine Art Organhändler für dich bin.«

»Das war nicht so gemeint. Du bist mein Freund. Dennoch bist du ein Teil deiner Familie. Bisher hat meine Existenz sie nicht bedroht. Das wird sich nun ändern …«

»Und du warst dir nicht sicher, welche Partei ich ergreifen würde?«, unterbricht er mich. »Nach allem, was sie meiner Mutter und mir angetan haben? Von wegen, du wolltest mich raushalten.«

Ich hole tief Luft. »Wenn ich zu dir gekommen und dich eingeweiht hätte, was hättest du mir geraten?«

»Es sein zu lassen.«

»Siehst du!« Meine Schlangen bäumen sich fauchend auf.

»Nur zu deinem Besten! Du weißt, wozu sie fähig sind. Sie haben es sogar geschafft, diese UGO aus dem Weltgedächtnis zu löschen. Wie hast du dir dein Leben nach dem Prozess vorgestellt? Es läuft gut, so wie es ist …«

»Ja, für dich!«, falle ich ihm ins Wort. »Du leitest unser Pharmaimperium, kannst dich frei bewegen, wirst weiterhin verehrt, dein Logo ziert jede Apotheke.«

»Es ist unser Logo. Ohne die Schlange wäre es nur ein Stab.«

»Es ist der Äskulapstab und nicht der Stab des Asklepios und der Medusa!«

»Ich beteilige dich an allem, ohne deine Sicherheit zu gefährden. Du lebst in Luxus, hast einen eigenen Häuserblock, eine Bibliothek, eine museumsreife Antiquitätensammlung, ein Labor, um das dich jede Uniklinik beneiden würde. Außer rausgehen kannst du machen, was du willst. Was willst du noch? Fehlt dir Ruhm?«

Diese Unterstellung raubt mir den Atem. »Was ich noch will? Nur das, was mir zusteht und was deine Familie mir geraubt hat.« Ich muss aufpassen, den Kaffeebecher in der Hand nicht zu zerdrücken. »Ich wünsche mir Freiheit. Rausgehen zu können, wann ich will. Ich will Gerechtigkeit, und dass alle die Wahrheit erfahren. Nenn es Rache, wenn du willst. Und weißt du was, ja, ich will auch den Ruhm. Nicht den traurigen eines Monsters, sondern die Anerkennung für meine Leistungen in der Forschung.« Ich zittere, und die Schlangen wickeln sich mir beschwichtigend um den Hals und die Oberarme.

»Ich merke schon. Dir ist mit Vernunft nicht beizukommen.«

»Hast du ihnen bereits verraten, wo ich bin?«

Wieder Schweigen. Ich klammere mich förmlich an den Becher.

»Nein … Sie haben mich noch nicht danach gefragt.«

Die ganze Bedeutung seiner Worte sickert in meinen Verstand. Ich will es nicht wahrhaben, kann es nicht glauben, und langsam löst sich eine Träne aus dem linken Auge.

Asklepios senkt den Kopf. »Was du da losgetreten hast … dein Schutz liegt nicht länger in meiner Hand. Und vorhin, du hattest recht. Etwas zu verschweigen ist eine Sache, Zeus und die anderen anzulügen eine ganz andere.«

»Also stellst du dich auf ihre Seite«, flüstere ich.

»Nein, ich halte mich da raus, nachdem ich vor vollendete Tatsachen gestellt wurde. Es ist dein Krieg.«

»Verstehe. Bist du deswegen gekommen? Wolltest du mir das sagen?«

Asklepios dreht mir den Rücken zu. »Es wäre besser, wenn wir den Kontakt erst einmal einstellen. Die Gelder aus unserem Unternehmen und der Forschung fließen weiter an dich. Meine Hilfe brauchst du ja nicht mehr.«

Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Hilflos sehe ich zu, wie er zur Eingangstür geht.

Als er die Türklinke in der Hand hat, zögert er. »Nur noch eins: Du solltest schnell von hier verschwinden. Leb wohl.«

Die Tränen spülen die Kontaktlinse aus dem linken Auge. So endet also eine jahrtausendealte Freundschaft. Nun, was soll man von einem Sohn des Apollon und Enkelsohn des Zeus auch anderes erwarten?

Sobald die Tür hohl ins Schloss gefallen ist, schleudere ich den Kaffeebecher gegen die Wand.

2. Enttarnt

Dunkel läuft der Kaffee an der weißen Wand entlang, und die Scherben fliegen durch die ganze Küche. Es ist mir egal. Blind vor Tränen breche ich auf dem kühlen Mosaikboden zusammen.

Während ich auf der Seite liegend schluchze, kümmert sich Hestia um mich. Sie züngelt mir über das feuchte Gesicht und schmiegt sich sachte an meinen Hals. Herakles, die Python, meine schwerste Schlange, hat die Obstschale auf dem Küchenblock erreicht und versucht, mich mit einem Apfel zu trösten, den er mir ein wenig ungeschickt mit dem Maul anreicht. Sogar Hades, die ungesellige Schwarze Mamba vom Hinterkopf, beteiligt sich an den zärtlichen Versuchen der Schlangen, mich aufzumuntern, und streicht mir beschwichtigend über den Rücken.

Es dauert eine Weile, bis ich mich beruhige. Noch zitternd rapple ich mich in eine sitzende Position hoch und erlöse Herakles von dem Apfel. Wut und Trauer mischen sich zu einem unerträglichen Gefühlscocktail.

Statt mir Vorwürfe zu machen, hätte Asklepios froh sein können, dass ich ihn so lange rausgehalten habe. Was für ein Freund. Bei der allerersten Schwierigkeit zieht er den Schwanz ein. Dabei wurde er von den Olympiern noch nicht einmal richtig bedroht.

Mit dem Handrücken trockne ich die feuchten Wangen. Nein. Ich tue Asklepios unrecht. Nicht auszudenken, was seine Familie ihm meinetwegen antun könnte. Ich selbst bin das beste Beispiel für deren Grausamkeit. Jedes Wesen mit einem halbwegs funktionierenden Selbsterhaltungstrieb würde so handeln wie er. Ich stehe auf und gehe zum riesigen grünen Sofa, das mitten im Wohnbereich steht.

Wo bleibt nur Maat? Hoffentlich ist ihr nichts passiert.

Zum nervösen Herumstreifen im Loft fehlt mir jetzt die Kraft, und so lasse ich mich in die dicken Polster und flauschigen Kissen des Sofas fallen. Hermes, die neugierige Kreuzotter, wickelt sich sofort um die Fernbedienung und reicht sie mir.

»Ich habe gerade echt keine Lust auf Fernsehen«, flüstere ich.

Orpheus und Eurydike erscheinen vor meinem Gesicht und starren mich auffordernd an.

»Also gut.« Damit die Reptilien Ruhe geben, parke ich sie vor dem überdimensionalen Flachbildfernseher.

Auf dem Kanal wird der Kölner Karnevalsumzug ausgestrahlt, und die Schlangen sind sofort vom Bildschirm hypnotisiert. Nur Hestia lässt mich nicht aus den Augen. Ich vergrabe das Gesicht in den Kissen.

»Und hier kommt ein Wagen in den Regenbogenfarben«, höre ich den Kommentator sagen. »Ein schönes Statement für Toleranz. Unsere Gesellschaft ist bunt. Traut euch hinaus. Ihr seid wunderbar, so wie ihr …«

Ich schnappe mir die Fernbedienung und schalte mit einem verächtlichen Schnauben den Fernseher aus. Die Schlangen protestieren, allen voran Orpheus und Eurydike. Hestia hat sie schnell wieder im Griff.

Das Gerede von Toleranz kann ich gerade nicht hören. Ich möchte diesen Kommentator erleben, sollte ich ihm nachts außerhalb des Karnevalsumzugs begegnen. Wäre er dann weiterhin der Meinung, dass das Monster vor ihm wunderbar sei? Ich bin sogar wortwörtlich bunt, mit den schimmernden grünen, goldenen und schwarzen Schuppen, die über den ganzen Körper verteilt sind und selbst Stirn und Wangenknochen schmücken. Vor allem aber mit meinen Schlangen, die verschiedenen Arten angehören und deren Farben vom klassischen Grau-Braun über Rot, Grün und sogar bis zu einem leuchtenden Blau reichen. Genau genommen bin ich das Paradebeispiel für ein friedliches und buntes Miteinander auf engstem Raum.

Was würden die Menschen wohl von einem Karnevalswagen halten, den die Community der verdammten, noch lebendigen Monster organisieren würde? Würden sie klatschen oder schreiend davonrennen, wenn die Sirenen, Arachne und ich mit meinen Schwestern, den Gorgonen und Graien, tanzend dem Wagen folgen würden? Doch um eine Gemeinschaft zu bilden, müsste ich sie alle erst finden.

Ich fahre mir mit den Händen über das Gesicht. Gerade habe ich andere Probleme. Wo bleibt Maat? Und nun nagt noch eine weitere Sache an mir: Asklepios’ Warnung, kurz bevor er gegangen ist. Wusste er etwas Konkretes und hat es mir verschwiegen, oder war das lediglich eine diffuse Sorge als Nachhall unserer gemeinsamen Vergangenheit?

Am liebsten würde ich zu Maats Statue beten, aber ich will sie nicht stören. Wer weiß, womit sie gerade beschäftigt ist. Sie hat heute im Bermudadreieck bei der Auslosung der drei Richtenden für meinen Prozess die Gottheiten aller Unterwelten aus den alten und neuen Kulturen auf einem Fleck versammelt gesehen. Das war bestimmt kein Spaß.

Am liebsten wären mir weibliche Göttinnen als Richterinnen, die würden mich vielleicht besser verstehen. Andererseits, wenn ich da an Athene denke und was sie mir angetan hat … Eine richtende Göttin aus einem Matriarchat wäre ein Traum.

Meine Smartwatch vibriert und ich schrecke hoch. Das habe ich ganz vergessen. Um mich abzulenken, habe ich heute früh ein Experiment im Labor ein Stockwerk tiefer gestartet. Nun ist der PCR-Test fertig und ich könnte mit dem Versuch weitermachen. Asklepios wartet schon sehnsüchtig auf die Ergebnisse für die Weiterentwicklung des neuen Antibiotikums. Nein, nach der Szene vorhin tut er es wohl nicht mehr.

Seufzend tauche ich wieder aus den Kissen empor und blinzle. Die Kontaktlinse fehlt. Ich eile ins Bad zum Kontaktlinsenvorrat. Nicht auszudenken, wenn Maat erscheint und unwissend meinen gefährlichen Blick abbekommt.

Als ich eine zum rechten Auge farblich passende Linse auf einer Krallenspitze balanciere, faucht Hydra, die blau-schwarz gestreifte Seeschlange. Auch die anderen Reptilien richten sich alarmiert auf. Ihre geballte Anspannung schwappt mir ins Gehirn und ich erstarre in der Bewegung.

Die Sinne aller Schlangen verschmelzen mit den meinen. Wir hören, wie sich ein Tropfen aus dem Wasserhahn der Badewanne löst. Seit wann tropft er? Statt dumpf auf dem Wannenboden aufzuschlagen, ertönt ein klares Platschen. Ich drehe mich zu dem Geräusch. In der großen runden Wanne steht knöcheltief das Wasser. Es müsste eigentlich abfließen und … da ist noch etwas anderes: Es stinkt nach Seetang und Salz.

Wie in einem schlechten Film zieht sich die stehende Flüssigkeit zusammen, verdichtet und formt sich zu einer ungeheuerlichen Kreatur mit krallenbesetzten Tentakeln und einem riesigen Maul, das dem eines Hais ähnelt. Entsetzt lasse ich die Kontaktlinse fallen.

Augen … Wo sind die Augen des Monsters? Es hat keine. Nur einer hat die Fähigkeit, mir so etwas übers Wasser ins Haus zu schicken: Poseidon.

Das Seemonster wendet sich zielgerichtet in meine Richtung. Einen Wimpernschlag lang stehen wir uns regungslos gegenüber. Ares prescht fauchend vor, und im Bad bricht die Hölle los. Während die Korallenotter und seine engsten Freunde, die beiden grünen Baumschlangen Medea und Phobos, versuchen, in die Reichweite der fleischgewordenen Horrorgestalt zu kommen, renne ich kreischend in Richtung Badezimmertür.

Die Blindschleiche Persephone findet diese Reaktion sehr angebracht und rollt sich völlig verängstigt in der linken Halsbeuge zusammen.

Ich stolpere über den Badteppich, falle beinahe hin, kann mich gerade noch halten. Das Monster zertrümmert mit Leichtigkeit die Badewanne und walzt in meine Richtung. Zum Glück hat das Bad die Ausmaße einer Therme. Ich erreiche die Tür, eile hindurch und schmeiße sie mit voller Wucht hinter mir zu. Ares und seine Gang schaffen es gerade noch rechtzeitig, sich in Sicherheit zu bringen, sonst wären die Köpfe ab, so wie das Tentakelende, das mich fast erreicht hat und mir zuckend vor die Füße fällt.

So gern sich die drei kriegerischen Schlangen mit diesem Vieh auf der anderen Türseite prügeln würden, die meisten Reptilien stimmen mir zu, dass ich mit meiner fehlenden Kampferfahrung keine Chance gegen das Monster habe. Ich wünschte, ich könnte so kämpfen wie in den ganzen Verfilmungen über mich. Wieso denken die Menschen eigentlich, dass man automatisch zu einer Kung-Fu-Meisterin wird, nur weil man ein paar Reptilien auf dem Kopf hat? Mit meinem Aussehen konnte ich mir nie einen Lehrer suchen. Ja, ich habe Krallen, Hauer und die meisten Schlangen sind giftig, trotzdem hoffe ich, dass ich diesem Seemonster nie so nahe komme, dass ich diese Waffen einsetzen muss.

Maat. Hoffentlich kann sie kämpfen. Egal wo sie ist und was sie gerade macht, das ist ein Notfall. Ihre Statue steht im Gästezimmer. Am besten funktioniert die Kontaktaufnahme, wenn man die kleine Nachbildung in der Hand hält, aber da meine Anwältin schon öfter hier war, klappt es vielleicht aus der Entfernung.

»Maat, hilf mir«, schreie ich, während ich durch die Küche renne. Warum muss dieses Loft so verdammt riesig sein? Ich höre, wie das Monster hinter mir durch die Tür bricht und, dem Krach nach zu urteilen, ein Stück Wand mitnimmt. Als ich über das Sofa springe, bekommt Ares die Fernbedienung auf der Sofalehne zu fassen. Er rollt sich wie eine Sprungfeder zusammen und schleudert sie auf das Seemonster.

»Maat, bitte! Erhöre mich!«, brülle ich.

Ich muss nur noch den Gang überwinden. Ein feuchter Tentakel schlingt sich um meinen Hals und saugt sich fest. Sofort stürzen sich die Schlangen darauf, beißen und zerren mit voller Kraft. Der Greifarm zieht sich wie eine Schlinge zu, drückt mir die Luft ab, gleichzeitig werde ich nach hinten zum Maul des Ungeheuers gezerrt.

Ich umfasse das glitschige Ding. Wie durch Gelee schneide ich mit den Krallen durch den Tentakel hindurch. Kurz bin ich selbst erstaunt, wie einfach das ging. Das Kreischen im Nacken lässt mir keine Zeit, den kleinen Erfolg zu feiern. Unzählige weitere Fangarme wickeln sich um meinen Körper und die Arme.

Ich erstarre, mein Atem stockt. Mich flutet die Erinnerung an das letzte Mal, als mich jemand an den Handgelenken festgehalten hat. Ich spüre wieder Poseidons Hände, wie er …

Mir wird übel. Der Kopf leert sich.

Mit beißender Wut übernehmen die Schlangen die Kontrolle über meinen Körper. Sie kämpfen, und ich lasse es willenlos geschehen. Meine Hände und Füße schlagen wie Peitschen um sich, weitere Tentakel fliegen zu Boden. Mit einer Geschwindigkeit, die ich von mir nicht kenne, winde ich mich aus dem Klammergriff des Seemonsters.

Als ich wieder Luft kriege, dränge ich die Schlangen aus dem vorderen Bewusstsein zurück, übernehme die Führung und sprinte die restlichen Meter zum Gästezimmer. Schon sehe ich Maats handflächengroße Statue: eine kniende ägyptische Göttin mit Flügeln und einer Straußenfeder im Haar.

»Maat!«, kreische ich und strecke die Hände aus. Auch meine langen Schlangen schnellen nach vorn, um die Statue zu fassen.

Ein dicker Tentakel legt sich mir um den Knöchel und reißt mich von den Füßen. Mit ungeheurer Gewalt werde ich gegen eine Wand geschleudert. In derselben Sekunde weiß ich, dass Hestia die Statue zu fassen bekommen hat.

Ich knalle mit der Stirn gegen die Steinmauer. Asklepios’ Warnung fährt mir durch den Kopf. Er hat mich also verraten.

»Maat«, flüstere ich, bevor ich das Bewusstsein verliere.

3. Ordnung und Krieg

Die Dunkelheit zerrt und zieht an mir, schlägt ihre Zähne in meine Haut, beißt, liebkost mich und faucht. Irgendwie verzweifelt. Ich tauche aus den Untiefen meines Bewusstseins empor. Es ist nicht die Dunkelheit, sondern die Schlangen versuchen, mich zu wecken.

»Wach auf«, befiehlt eine dumpfe Stimme aus der Ferne. Jemand hat mich an der Schulter gepackt.

Es stinkt nach abgestandenem Meerwasser. Das Seemonster des …

Poseidon!

Ich fahre in die Höhe, schlage die Hand weg und reiße die Augen auf. Ein tiefes, animalisches Knurren entfährt mir. Wild blicke ich um mich, bereit, jeden zu versteinern, der sich in Sichtweite befindet.

Maat kauert neben mir auf dem Boden. Sie trägt eine verspiegelte Sonnenbrille. Das Zimmer steht unter Wasser, meine Kleidung ist durchnässt und klebt mir unangenehm am Körper.

Mein Kopf pocht. So fühlt sich also eine Gehirnerschütterung an. Stöhnend greife ich mir an die Schläfen. Wenn die Schlangenkörper nicht gewesen wären, mein Schädel wäre bei der Wucht des Aufpralls wie eine Eierschale zerplatzt. Ares, der vorn an der Stirn entspringt, hat das meiste abgefangen. Dennoch ist seine Quetschung fast vollständig wieder verheilt. Nicht umsonst war Asklepios so scharf auf mein Blut, das sogar Tote zum Leben erwecken kann, wenn es aus der rechten Seite entnommen wird.

»Hast du Kontaktlinsen drin?«, fragt Maat.

Ich blinzele und schüttle den Kopf.

Die Schlangen sind hochalarmiert. Nach dem Angriff des Seemonsters verstehe ich ihre Nervosität. Aber es ist nicht nur das. Etwas stimmt nicht. Beinahe alle Reptilien haben sich zum Eingang gedreht, bis auf Persephone, die sich in meiner Halsbeuge verkriecht.

»Maat …«, beginne ich schwach.

»Mit Selbstverteidigung hast du es nicht so, oder?«, unterbricht mich eine fremde Stimme.

Ich fahre herum. Ein hochgewachsener junger Mann steht vor dem Eingang. Auch er trägt eine Sonnenbrille. Die Schlangen fluten meinen Kopf mit völlig gegensätzlichen Impulsen. Wenn sie könnten, würden sie jetzt in alle Richtungen auseinanderstieben, sich verstecken oder angreifen.

Maat legt mir eine Hand auf den Oberarm. »Horus ist auf meine Bitte hin mitgekommen. Er hat dich vor dem Seemonster gerettet.«

Horus … der altägyptische Gott des Himmels, des Lichts und des Krieges, der mit einem Falkenkopf dargestellt wird. Der Mann vor mir hat keinen Vogelkopf, dafür hohe Wangenknochen und eine schmale, leicht gekrümmte Nase. Trotzdem sind die Schlangen hysterisch, denn sie spüren in ihm den Falken, ihren natürlichen Feind. Maat hat ihn mitgebracht, versuche ich mich selbst und mein Oberstübchen zu beruhigen.

Einen Kriegsgott hätte ich mir bulliger oder durchtrainierter vorgestellt. Der hier hat, der drahtigen Statur nach zu urteilen, seine Kämpfe früher nicht durch Kraft, sondern durch Wendigkeit und Schnelligkeit entschieden. Ein Falke eben. Seine schwarzen welligen Haare sind in einem lockeren Hipster-Dutt im Nacken zusammengebunden. In der rechten Hand hält er ein altertümliches Krummschwert, das so gar nicht zu der legeren modernen Kleidung – T-Shirt, hochgekrempelte Hose und Flipflops – passen will. Maat hat ihn also in der Menschenwelt aufgegabelt, wohl an irgendeinem Strand. Als er mich schief angrinst, entblößt er zwei prominente Eckzähne. Ein Gott von einem Mann, würde jede Frau jetzt denken. Nur ich falle nicht darauf herein. So wie meine Schlangen den Falken in ihm fürchten, traue ich dem Mann in ihm nicht.

Maat seufzt. »Egal was ihr alle von ihm haltet, wir brauchen Horus, wenn wir den Prozess überleben wollen.«

Das Lächeln des Kriegsgottes wird breiter, was meine Schlangen noch mehr aufregt. Mir ist die Sache überhaupt nicht geheuer.

»Das wird als Beweis nicht reichen«, murmelt Maat und fährt mit einem Finger durch das trübe Wasser auf dem Boden.

»Das war Asklepios«, lisple ich. »Kurz vor dem Angriff war er hier.« Sein Verrat liegt mir bitter auf der Zunge.

»Das sieht mir nach Poseidons Werk aus«, erwidert Maat ruhig und erhebt sich.

»Glaubst du, dass dieser Asklepios das Seemonster hierhergeführt hat?«, fragt Horus und watet ein paar Schritte auf Maat und mich zu, was durch heftiges Fauchen auf meinem Kopf quittiert wird. Der Kriegsgott runzelt die Stirn, doch er bleibt stehen.

Ich versuche zwar, die negativen Emotionen der Schlangen auszublenden, wende mich trotzdem demonstrativ an Maat. »Er meinte beim Abschied, ich solle schnell von hier verschwinden.«

»Das beweist nur, dass er den Olympiern alles zutraut. Deswegen muss er sie nicht hergeführt haben«, antwortet sie.

»Und wie kam das Monster so schnell hierher?« Ich balle die Fäuste.

»Sie haben dich bisher nur deswegen nicht gefunden, weil sie nicht nach dir gesucht haben«, antwortet Maat.

Aus tiefstem Herzen hoffe ich, dass sie recht und dass Asklepios nichts damit zu tun hat. Sie reicht mir eine Hand und zieht mich hoch. Kaum auf den Beinen, lehne ich mich an die Wand, weil sich der Raum dreht.

»Geht’s?«, fragt Maat besorgt. »Wir müssen hier weg. Kannst du ein paar Sachen packen?«

»Wird gleich. Die Anklageerhebung … Wie ist es gelaufen? Wer sind die Richtenden? Wann beginnt der Prozess? Wird die Öffentlichkeit ausgeschlossen?«

»Heute in einem Monat«, sagt Maat.

Ich schlucke. So schnell?

»Und es wird ein öffentlicher Prozess. Es tut mir leid.«

Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn das Seemonster mich vorhin erledigt hätte.

»Die gute Nachricht ist: Hel ist dabei.«

Mein Herz macht einen Hüpfer. Hel! Etwas Besseres hätte mir nicht passieren können. Die Herrin der nordischen Unterwelt Helheim, die zu Unrecht verbannt und zum Monster erklärt wurde.

»Die anderen beiden?«, frage ich atemlos.

»Enma aus Japan. Er gilt als unparteiisch und wird sich am Ende auf das verlassen, was sein Seelenspiegel zeigt.«

»Das ist gut, oder? Wenn Poseidon und Athene vor den Spiegel treten, wird das ein kurzer Prozess.«

»Dieses Instrument ist für Menschen gedacht«, erwidert Maat. »Götter sind komplex. Ich bin mir nicht sicher, wie und ob er überhaupt bei einer Göttin wie Athene funktioniert. Es wäre eine Katastrophe, wenn sie den Spiegel austricksen kann und Enma sich aus Gewohnheit darauf verlässt. Deswegen wird der Spiegel nicht gleich am Anfang zum Einsatz kommen. Ich möchte zunächst einige Zeugen befragen, um eine Grundlage für die Seelenspiegelungen zu schaffen. Wahrheit zieht Wahrheit an.«

Meine Euphorie wegen Hels Auslosung verflüchtigt sich wieder.

»Ich hoffe, dass es funktioniert«, fährt Maat fort. »Dann musst du nicht vor den Spiegel treten.«

Ja, ich hoffe auch inständig, dass es mir erspart wird. Die Erinnerungen an sich sind schon schlimm genug. Es noch einmal nachzuerleben, und das vor Publikum … Ich weiß nicht, ob ich das kann.

»Und der dritte?«, frage ich und versuche erst mal, nicht weiter an Enmas Spiegel zu denken. Die Göttin der Ordnung hat den letzten ausgelosten Richtenden nicht bei den guten Nachrichten einsortiert.

»Nergal.«

Meine Brust wird eng. »Der sumerische Unterweltgott?«

Maat nickt schweigend.

»Kann man da nichts machen? Der ist doch befangen. Wenn Nergal mich sieht, hält der mich sofort für schuldig!« Ich deute auf meinen Kopf.

Mit Nergal habe ich keine Chance auf ein einstimmiges Urteil. Er wurde von Ereschkigal, einer Schlangen- und Unterweltgöttin, in die Ehe sowie in die Position eines Unterweltgottes getrickst. Bei meinem Äußeren wird er mir niemals glauben.

»Er ist noch eine unbekannte Konstante«, erwidert Maat. »Vor einigen Jahrtausenden hätte ich dir sofort recht gegeben, aber ich habe ihn heute mit Ereschkigal erlebt. Sie wirkten harmonisch.«

Ich atme tief durch, versuche mich zu beruhigen. Kann ich dem Gericht trauen?

»Die Richterschaft ist gerade unser geringstes Problem«, sagt Maat. »Heute sind nicht nur Athene und Poseidon erschienen. Alle zwölf Olympier waren da, obwohl sie noch nicht wussten, worum es geht. Als ich Anklage erhoben habe, demonstrierten sie mir, dass ich mit der Gegenwehr aller rechnen muss. Sie haben durchgesetzt, dass es ein öffentlicher Prozess wird, mich beschimpft, bedroht und versucht, das Gericht zu beeinflussen.«

Maats Bericht ist beklemmend. Die Olympier werden die Richtenden und die Zeugen bestechen oder bedrohen. Und sie haben bewiesen, wie effektiv sie sind. Innerhalb kürzester Zeit haben sie mich ausfindig gemacht und beinahe umgebracht. Es ist ein Albtraum. Auf keinen Fall kann ich dem Gericht vertrauen.

»Wie haben sie dich bedroht, Maat?«, fragt Horus und fasst sein Krummschwert fester.

Sie schnaubt verächtlich. »Nicht der Rede wert.«

»Dieses verfluchte Schlangenpack«, entfährt es dem Kriegsgott, und er geht auf Maat und somit auch auf mich zu. Dabei schiebt er noch etwas auf Ägyptisch hinterher, das sich wie ein paar saftige Flüche anhört.

Er hat gerade mich mitsamt meinen Schlangen beschimpft, und nun treibt uns der Falkengott auch noch in die Enge. Die Reptilien bäumen sich einstimmig fauchend auf. Ich drücke mich gegen die Wand.

»Horus, nicht!« Maat stellt sich vor mich.

»Wieso bist du hier, Falke?«, frage ich wütend. »Wenn du dich nicht eingemischt hättest, gäbe es ein Schlangenpack weniger.«

Horus stutzt und bleibt endlich stehen. »Das ist mir so rausgerutscht … Also … Es tut mir leid.« Er klingt erstaunlich aufrichtig.

»Seine Eltern und ich glauben, dass Horus als ehemaliger Kriegsgott eine gute Wahl ist, um dich und mich zu schützen.« Maat seufzt. »Vielleicht hätte ich lieber Mehit fragen sollen.«

»Natürlich bin ich eine bessere Wahl als diese Löwin«, beteuert Horus. »Außerdem habe ich dank Seth nicht nur Kampf-, sondern auch Gerichtserfahrung. Wie lange dauerte mein Prozess gegen meinen lieben Onkel? Achtzig Jahre?«

»Ich glaube, mir wäre Mehit lieber«, sage ich zu Maat.

»Mehit hat sich damals für den Schlaf entschieden«, kontert Horus. »Maat, willst du sie wirklich wecken? Die neue Welt wird für sie ein Schock sein. Wer weiß, was sie alles anstellt. Und dann hast du nicht nur den Prozess, sondern auch eine wild gewordene Löwengöttin am Hals.«

Maat dreht sich zu mir. »Nur wenige von uns haben sich für das weitere Leben in der Welt entschieden. Die meisten schlafen. Und vom Rest ist Horus der Einzige, der den Olympiern wirklich gewachsen ist.«

»Kannst du nicht seine Mutter fragen? Isis?«

»Lediglich Isis ist mächtig genug, um meine und Horus’ Aufgabe gleichzeitig für die Dauer des Prozesses zu übernehmen. Sie muss die Siegel des Seth und Apophis bewachen.« Sie legt beruhigend eine Hand auf meinen Oberarm. »Horus wird dir nichts tun. Du kennst die Geschichten über ihn. Er ist nicht wie die Götter des Olymps, und ich bürge für ihn.« Sie beugt sich zu mir vor und fügt leise hinzu: »Und du willst nicht wissen, was seine Mutter mit ihm machen wird, wenn er einer Frau gegenüber respektlos auftritt.« Bei diesen Worten umspielt ein seltenes Lächeln Maats ernstes und meist unbewegtes Gesicht.

Horus prustet los und hebt abwehrend die Hände. »Das will ich auch nicht wissen. Glaubt mir.«

Ich schließe die Augen und gehe in mich. Mir fällt nichts Negatives über den Kriegsgott ein. Er hat mich vorhin gerettet. Und … die Olympier haben sich formiert.

»Also gut.« Ich versuche durch Horus’ Sonnenbrille zu blicken. »Nur komm mir nicht zu nahe!«

Die Schlangen sind gegen diese Entscheidung und unterstreichen das mit wildem Fauchen. Nur eine macht nicht mit: Aphrodite, meine Regenbogenschlammnatter.

Mit einem zufriedenen Lächeln weicht Horus zurück und gibt mir wieder mehr Raum.

»Wie haben die Olympier auf die Anklage reagiert? War Amphirite, Poseidons Frau, da?«, frage ich leise Maat.

»Sobald sie erfahren haben, dass du noch lebst, ist Poseidon ausgerastet. Er hat beinahe einen Tsunami in der Region ausgelöst. Die versammelten Richterschaftskandidaten konnten das gerade noch in einen Sturm umwandeln. Und nein, Poseidon war allein da.«

»Verdammt«, flüstere ich, und meine Hände werden feucht bei dem Gedanken an Poseidons Wut. »Vielleicht wäre es besser, alles abzublasen.«

»Mach dir keine Sorgen«, sagt Maat. »Die Olympier sind mächtig, doch wir sind es auch. Wir müssen anfangen, altes Unrecht wiedergutzumachen, wenn wir nicht riskieren wollen, dass die Welt aus den Fugen gerät. Es war längst überfällig, dass sich jemand traut, das große Göttergericht einzuberufen.«

Ich habe das Gefühl, dass Maat mir durch die Sonnenbrille bis ins Herz blickt, als sie sagt: »Das Spiel hat begonnen.«

Warum nur habe ich bei diesen Worten den Eindruck, dass ich der Bauer bin, der allein mitten auf dem Feld steht?

4. Aufbruch

Nachdem ich mir wieder Kontaktlinsen eingesetzt habe, packe ich für mindestens einen Monat. Um den Wasserschaden und das zertrümmerte Bad werde ich mich kümmern, wenn ich zurückkomme. Oder falls ich zurückkomme.

Maat ist ins Gästezimmer verschwunden, und ich bekomme am Rande mit, dass sie nach dem Angriff auf mich alle Zeugen in ein Schutzprogramm aufnimmt.

Horus folgt mir auf Schritt und Tritt, hält aber zu meiner Erleichterung Abstand. Die ablehnende Haltung der Schlangen ist offensichtlich. Sobald er mir zu nahe kommt, schnappen sie nach ihm, allen voran Ares. Auch ich muss mich zusammenreißen, um den Kriegsgott nicht anzufeinden. Nur Aphrodite findet Horus mit jeder Minute sympathischer, was Eros äußerst missfällt.

Wir schweigen. Ich muss mich konzentrieren, um nichts zu vergessen, vor allem die Technik aus dem Arbeitszimmer. So wandern Festplatten mit den Ergebnissen der medizinischen und archäologischen Forschungen, Laptops, Bluetooth-Lautsprecher, Kopfhörer, Ladekabel und diverse Powerbanks in den Koffer. Das Wissen darauf gehört mir, und niemand soll es sich in meiner Abwesenheit aneignen. Ich hoffe, dass ich in Maats Versteck Strom habe. Sie ist gerade dabei, etwas zu organisieren. Für jedes Gerät habe ich Reservegeräte, denn mit den Krallen nutzen sich die Dinge, vor allem die Tastaturen, schnell ab. Nach einer Viertelstunde habe ich einen Koffer gepackt, der auch als Großlieferung für einen Technikmarkt durchgehen würde.

»Brauchst du den ganzen Kram?«

Ich fahre herum. Zu nah. Horus steht zwei Meter hinter mir und betrachtet mit einer hochgezogenen Augenbraue den Kofferinhalt.

»Anscheinend schon!«, gifte ich.

Im gleichen Moment spannen sich Ares, seine Gang und diesmal auch Herakles mit Eros wie Sprungfedern an, schnellen vor und schnappen nach Horus. Das bringt mich aus dem Gleichgewicht und ich muss mich am Schreibtisch festhalten. Zwar kommt nicht einmal die lange Python an den Kriegsgott heran, trotzdem finden die anderen Schlangen den Angriff hervorragend, was sich in meinem Kopf als kollektive Genugtuung entlädt.

Horus zuckt nicht einmal. Dennoch hebt er abwehrend die Hände und tritt einen großen Schritt zurück. Die Sonnenbrille hat er abgelegt und beobachtet mich permanent aus dunklen scharfen Augen. Das ist mir unangenehm und ich fühle mich wie eine meiner Bakterienkulturen unter dem Mikroskop. Asklepios hat mich nie so angestarrt, nicht einmal in der ersten Zeit, nachdem er mich gefunden hatte. Eros pflichtet mir wehmütig bei. Er vermisst Asklepios. Irritiert meide ich Horus’ Blick und versuche, mich wieder auf die Sachen zu konzentrieren, die ich nicht vergessen darf.

»Wie funktioniert ihr eigentlich zusammen? Hast du die Schlangen unter Kontrolle oder sie dich?«, fragt der Kriegsgott mit unterdrücktem Lachen.

»Ich wüsste nicht, was dich das angeht!« Mein Kopf faucht zustimmend.

»Ich frage mich nur, wen ich anfangen soll zu trainieren, die Schlangen oder dich.«

»Du willst was? Such dir einen Hund zum Abrichten!«

»Zum Abrichten fehlt uns die Zeit«, erwidert er todernst und mustert die Schlangen. »Mir würde es schon reichen, euch zu koordinieren.«

Ich weiche vor ihm zurück.

»Danke, wir kommen auch so gut zurecht.« Ares streicht mir bestärkend über die Wange.

»Also findest du es gut, dass eine Qualle dich k. o. schlagen kann?« Horus’ Mundwinkel zuckt.

Mir fällt ein, dass ich mich noch nicht bei ihm bedankt habe. Gequält schließe ich kurz die Augen. Ich habe keinen Grund, ihn zu hassen. Er hat mir nichts getan. Noch nicht, flüstert eine böse Stimme aus den dunklen Ecken meines Unterbewusstseins.

»Danke für vorhin«, presse ich hervor.

Er lacht. »Du siehst aus, als hättest du dich selbst versteinert.«

Die erstarrten Gesichter unschuldiger Opfer erscheinen vor meinem inneren Auge. »Lustig, nicht wahr«, sage ich bitter.

Schlagartig wird er ernst. »Tut mir leid.« Verlegen streicht er sich eine lose Haarsträhne aus der Stirn. »Schon wieder. Und gern geschehen.«

Die Aufrichtigkeit in seiner Stimme geht mir gegen den Strich. Wenn ich ehrlich bin, suche ich seit dem Augenblick unserer Begegnung krampfhaft nach einem Grund, warum er mein Feind sein sollte. Die Schlangen brauchen keinen Anlass, für sie ist die Sachlage klar: Dieser Falkenvisage kann man keinen Millimeter über den Weg trauen. Nur Aphrodite enthält sich.

Trotz der Entfernung zwischen uns tritt er einen weiteren Schritt zurück. »Wie viel Raum brauchst du, um dich einigermaßen wohlzufühlen?«

Entschlossen blende ich die Schlangen aus und fokussiere mich auf mich selbst, versuche mich zu entspannen. Je besser es mir gelingt, desto wilder führt sich die obere Etage auf. Dieser Alleingang gefällt ihnen gar nicht. Ein kurzes Knurren von meiner Seite und eine Drohgebärde von der treuen Hestia bringen die restlichen Schlangen wieder zur Vernunft.

Horus beobachtet uns aufmerksam.

»So wie jetzt, in etwa«, sage ich freundlicher.

Ich bin mit dem Packen fertig. In zwei Koffern verstaut sind insbesondere Technik, Kontaktlinsen, Maxikleider und Pflegeprodukte für schuppige Haut, die ich eigens für mich entwickelt habe. Der Rest ist ersetzbar.

»Ganz schön mutig von dir«, sagt Horus und reißt mich aus den Gedanken.

Ich sehe ihn verständnislos an.

»Na, die Sache mit dem Prozess.«

»Mag sein.« Ich beuge mich über den Koffer, um ihn zu schließen. »Ohne Maat hätte ich mich nicht getraut. Ich mache das nur, weil ich sie an meiner Seite weiß, und weil ich glaube, dass ich mit ihr wirklich eine Chance habe, zu gewinnen.« Mit beiden Händen stemme ich mich auf den Kofferdeckel.

»Ja, Maat ist richtig gut. Ich übrigens auch. Mit mir hast du eine reelle Chance, das zu überleben.«

Der Versuch, mich mit diesen Worten zu beruhigen, schlägt fehl. Unwillkürlich balle ich die Hände zu Fäusten. Dabei hinterlassen meine Krallen tiefe Kratzer auf der Kofferoberfläche.

»Und das werden wir weiter ausbauen«, sagt er begeistert.

Ich fahre zu ihm herum. Er deutet auf meine Hände. »Es ist eine Verschwendung, dass du das nicht richtig einsetzen kannst.«

»Ich steige nicht mit den Olympiern in den Ring!«

»Medusa.« Maat steht im Türrahmen. »Das tun wir. Auf allen Ebenen. Sie werden alles versuchen, und wir müssen für alles gewappnet sein.«

»Aber …«

»In alten Zeiten hätte ich eine Armee von Leibwächtern für dich organisiert. Jetzt habe ich nur Horus, um uns beide zu schützen. Die Olympier sind schlau und werden unfair spielen. Falls sie dich irgendwo allein erwischen, wäre es wichtig, dass du dich wenigstens so lange verteidigen kannst, bis Hilfe kommt.«

»Ich bin keine Kriegerin, ich bin Wissenschaftlerin«, sage ich kleinlaut.

»Und ich bin eine Anwältin, doch selbst ich beherrsche grundlegende Kenntnisse in Selbstverteidigung.«

»Wisst ihr, was, ich trainiere euch beide. Dann ist Maat deine Übungspartnerin. Wäre das ein Deal?«, fragt Horus.

Erleichtert lächele ich das erste Mal seit seiner Ankunft. Seine Augen weiten sich und er erwidert mein Lächeln. Dabei leuchten seine dunklen Iriden golden auf.

»Sie werden dich mit all deinen Ängsten konfrontieren«, sagt Maat. »Sie werden über dich und Asklepios bereits Bescheid wissen. Er wird keine Wahl haben und ihnen Informationen über dich geben. Angst vor Berührungen, Panik vor Nähe, Scham, Unsicherheit, deine Unfähigkeit zu kämpfen …«

Ich bekomme keine Luft, fühle mich durch ihre Worte in die Ecke getrieben. Die Schlangen drängen sich ins obere Bewusstsein, wollen mich schützen, langsam verliere ich die Kontrolle an sie.

Horus klatscht einmal, und die Aufmerksamkeit der Reptilien richtet sich schlagartig auf ihn. Ich blinzele.

»Wir haben einen Monat Zeit, dich auf das Treffen mit ihnen vorzubereiten«, sagt Maat. »Es wird schwer. Du musst lernen, bei dir zu bleiben, wenn sie dir körperlich oder emotional zu nahe kommen.«

Das war Absicht. Maat hat mir demonstriert, dass ich der Begegnung mit den Olympiern noch nicht gewachsen bin. Es tut weh, ich bin wütend, aber ich verstehe.

»Es tut mir leid, dass ich dir nicht mehr Zeit geben kann«, fährt sie leise fort. »Vor allem, da wir nicht nur gegen Athene und Poseidon antreten, sondern gegen die Olympier als Ganzes. Deswegen müssen wir schnell zuschlagen. Sie dürfen sich nicht weiter formieren. Es ist schon ein Wunder, dass sie die Prozessvorbereitungen nicht viel früher bemerkt haben.«

Ich bin nicht allein. Maat und Horus wollen mir aufrichtig helfen, meine Wahrheit zu beweisen. Entschlossen richte ich mich auf und balle die Fäuste. »Ich werde alles tun, was nötig ist.«

5. Training

Enttäuscht sehe ich meinem Schwert hinterher, wie es in hohem Bogen durch die Luft fliegt.

»Fokus nach vorn!« Horus geht nahtlos in den Nahkampf über, und ich weiche instinktiv zurück.

Die Schlangen, allen voran Ares mit seiner Gang, drängen sich ins vordere Bewusstsein. Meine Bewegungen werden fließender, schneller. Sobald Horus in Reichweite ist, packe ich ihn an den Schultern und versuche, die Hauer in seinen Hals zu rammen.

»So nicht.« Horus windet sich ohne größere Schwierigkeiten aus meinem Griff.

Ares und seine Freunde schaffen es noch, ihre Zähne in seinen rechten Oberarm zu graben, bevor Horus mich in einer fließenden Bewegung auf den Boden wirft und ich mit dem Rücken auf die Trainingsmatte knalle. Mir bleibt kurz die Luft weg.

»Alles okay?« Horus streckt mir die unverletzte linke Hand entgegen. Mit einem schlechten Gewissen greife ich zu, und er zieht mich mit einem kräftigen Ruck auf die Beine.

Seit fast vier Wochen leben wir nun im Bermudadreieck auf einer kleinen Insel. Sie steht unter dem Einfluss der altägyptischen Götter und gehört im weiteren Sinn zum Gelände der UGO. Das ist zurzeit der sicherste Ort vor den Olympiern.

Nach wochenlangem intensiven Kampftraining macht mir Horus’ Nähe keine Angst mehr. Hestia, Persephone und besonders Aphrodite auf meinem Kopf haben schnell Vertrauen zu ihm gefasst, und das half mir anfangs, Horus’ Anwesenheit zu ertragen. Mehr als die Hälfte meiner Schlangen mag Horus auch weiterhin nicht, allen voran Ares, Eros und Herakles.

Ich kann gar nicht genau sagen, wann ich die Berührungsängste zu dem Kriegsgott verloren habe, und vor allem warum. Mittlerweile ist er einfach nur mein unbarmherziger Trainer und sogar so etwas wie ein Freund, mit dem ich viel lache.

Maat trainierte anfangs mit, ihr Terminkalender ist allerdings so voll, dass sie bereits nach einer Woche nicht mehr bei den Übungsstunden auftauchte. Die UGO muss entstaubt und neu aufgestellt werden. Maat ist viel unterwegs, belebt alte Kontakte und knüpft neue, sammelt Informationen und Verbündete.

»Du bist nicht bei der Sache. Aufgeregt wegen morgen?«, fragt Horus ernst.

»Was glaubst du?« Ich pikse mir mit einer Kralle in den rechten Zeigefinger, drücke ein bisschen Blut heraus und lasse es auf Horus’ Bisswunden tropfen, um das Gift der Schlangen zu neutralisieren. Die Wunden ziehen sich sofort zu und Horus’ Augen leuchten kurz auf.

»Danke«, sagt er mit belegter Stimme und betrachtet mich merkwürdig. Ich fühle mich unwohl unter diesem Blick und wende mich ab.

»Keine große Sache«, murmele ich.

»Doch.«

Wir durchlaufen diese Prozedur jeden Tag seit unserer Ankunft hier. Horus trainiert mich, die Reptilien beißen ihn, wobei es inzwischen nicht mehr so viele sind, und ich spendiere ihm anschließend zur schnelleren Heilung ein paar Tropfen meines wundersamen Blutes aus der rechten Körperhälfte. Ich kann mir nicht erklären, warum die Stimmung danach jedes Mal so sonderbar wird. Wie jetzt. Wir haben nicht geknutscht, verdammt! Ich habe ihn nur mit einer Arznei versorgt, denn nichts anderes ist mein Blut.

Horus hustet und ich fahre herum. Er schnappt nach Luft und ist rot im Gesicht. Besorgt klopfe ihm auf den Rücken.

»Geht schon wieder«, sagt er mit erstickter Stimme und tritt einen Schritt zurück.

Alles klar. Ich gehe zu meinen Sachen in der Ecke des Trainingsraums, um zu trinken. Als ich wieder zurück auf der Matte bin, hat sich Horus beruhigt.

»Du bist gut vorbereitet.« Er bewegt probehalber die Finger der verletzten Hand. »Nur lass die Schlangen nicht die Kontrolle übernehmen. In dem Zustand bist du nicht waffenfähig. Deine Reptilien haben ein paar gute Bewegungen drauf, aber sie denken nicht wie jemand, der Arme und Beine hat.«

Ares faucht.

»Sie sollen dich beraten. Überlasse ihnen nicht das Kommando. Ansonsten bist du jetzt schon eine ernst zu nehmende Gegnerin.«

Ende der Leseprobe