Psyche: Verdammt frei - Lucia Herbst - E-Book

Psyche: Verdammt frei E-Book

Lucia Herbst

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Beschreibung

Mythologie mal anders. Der Endkampf um den Olymp beginnt. Mittendrin steht die Göttin der Seele: Psyche. Für alle Fans von Katee Robert und Bea Fitzgerald Der Mythos um Eros und Psyche gilt als die romantischste Geschichte der Antike, allerdings weiß Psyche nichts davon. Sie hat alles vergessen, was vor ihrer Erhebung zur Göttin lag. Mitten im Krieg gegen Zeus beginnt Psyche sich zu erinnern. Und was sie sieht, ist alles andere als romantisch.  Sie fragt sich: Muss man aus Liebe alles verzeihen? Die eigene Freiheit opfern und was würde passieren, wenn man der Liebe das Herz bricht? Zeus lauert bereits darauf, Eros auf seine Seite zu ziehen, denn die gefährlichste Macht der Welt ist die Liebe.  

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© Piper Verlag GmbH, München 2024

Redaktion: Michaela Retetzki

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Emily Bähr, www.emilybaehr.de

Covermotiv: Shutterstock (belov1409, 80’s child, Lauritta, Ammak, ecco); Freepik (rawpixel.com)

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Prolog

1. Flashbacks

2. Das geheime Schloss der Liebe

3. Die Göttin der Liebe

4. Geliebt

5. Heilung

6. Lebensfreude

7. Ein todesähnlicher Schlaf

8. Böses Erwachen

9. Flucht in die Unterwelt

10. Der Westwind

11. Die Gürtel der Macht

12. Schläge und Tritte

13. Poseidon

14. Apollon

15. Seele und Verstand

16. Eine Reise zurück in die Unterwelt

17. Persephones Schönheit

18. Das Wasser der Styx

19. Körner und Schafwolle

20. Hochzeitsnacht

21. Geständnisse

22. Die Angeln der Welt

23. Katastrophen

24. Umdenken

25. Erste Schritte

26. Pläne

27. Die Liebe des Windes

28. Aphrodites Geheimnis

29. Die Seele

30. Verhandlung

31. Heldentod

32. Die Macht der Liebe

33. Die Kinder des Chaos

34. Neuanfang

Epilog

Danksagung

Quellen

Content Notes

Glossar

Acheron

Achilles

Aiakos

Ambrosia

Amphirite

Anput

Anubis

Aphrodite

Apollon

Apophis

Arachne

Ares

Ariadne

Artemis

Askalaphos

Asklepios

Asphodeloswiesen

Athene

Atlas

Atropos

Bellerophon

Charon

Chronos

Chrysaor

Danaiden

Daphne

Deimos

Demeter

Dike

Dionysos

Elysion

Enma

Enyalios

Erebos

Ereschkigal

Erinnyen

Eros

Euryale

Eurydike

Fenriswolf

Flora

Gaia

Gigantomachie

Gorgone

Graien

Hades: Gott

Hades: Unterwelt

Harmonia

Hedone

Hekate

Hektor

Hel

Helheim

Helios

Hemera

Hephaistos

Hera

Herakles

Hermes

Horus

Hundertarmige

Hypnos

Iris

Isis

Izanagi

Izanami

Jadekaiser

Jason

Jörmungandr: Midgardschlange

Kali

Kassandra

Klotho

Kokytos

Koronis

Kronos

Lachesis

Lethe

Leuke

Maat

Marpessa und Idas

Medusa

Menelaos

Metis

Minos

Minthe

Mnemosyne

Moiren

Musen

Naglfar

Nektar

Nergal

Niobe

Nyx

Odin

Odysseus

Olymp

Olympier

Okeanos

Oneiroi

Orpheus

Orphiker

Osiris

Pandora

Paris

Pegasos

Persephone

Perseus

Phlegeton

Phobos

Phorkys

Poseidon

Psyche

Ra

Ragnarök

Rhadamanthys

Rhea

Semele

Seth

Sirenen

Sisyphos

Stheno

Styx

Tartarus

Thanatos

Themis

Theseus

Titanen

Titanomachie

Uranos

Walhalla

Zagreus

Zephyr

Zerberus

Zeus

Zyklopen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Für meine Familie, insbesondere meinen Mann, Sohn, Mama und Papa.

Eure Liebe in all ihren wundervollen Facetten berührt meine Seele.

Bitte beachtet die Content Notes nach den Quellen

Prolog

Nach Medusas und Persephones Mythen

wollen wir Psyches überlieferte Geschichte erzählen.

Auf Aphrodites Geheiß sollte sich das sterbliche Mädchen

mit dem furchtbarsten Monster der Welt vermählen.

Weil Psyche schöner als die Göttin der Liebe war,

tobte Aphrodite vor Eifersucht.

Über ein Orakel befahl sie, Psyche dem Untier zu opfern.

Das grausame Schicksal traf das Mädchen mit voller Wucht.

Aphrodite befahl ihrem Sohn Eros,

ebenfalls einem Gott der Liebe,

über das Ende der Konkurrentin zu wachen.

Doch die Mutter unterschätzte ihres Sohnes begehrliche Triebe.

Eros verliebte sich heillos in das Mädchen

und befahl seinem Diener Zephyr, dem Westwind,

Psyche auf sein Schloss zu fliegen.

Es ist beklemmend, was sich danach entspinnt.

Weder in Psyches erster Nacht auf dem Schloss

noch später durfte sie Eros sehen.

In der Dunkelheit fiel er über die junge Frau her

und ignorierte ihr verzweifeltes Flehen.

Psyche wurde schwanger.

Die Ungewissheit über den Vater des Kindes ließ sie verzweifeln,

bis sie hörte, wie ihre Schwestern über ihren Tod klagten.

Um die beiden zu sehen, musste sie Eros verführen und ihm schmeicheln.

Nach anfänglicher Freude über das Wiedersehen

begannen die Schwestern Psyches Reichtum zu neiden.

Sie befeuerten ihre Angst vor dem Ehemann.

Psyche beschloss, ihm den Hals durchzuschneiden.

Mit einer brennenden Lampe in der Hand

schlich Psyche sich nachts an Eros heran.

Doch als sie seine schöne Gestalt erblickte,

zögerte sie mit dem Messer, ihre Verzückung gewann.

Sie betastete seine Pfeile

und verletzte sich an einer Spitze.

Erst dadurch verliebte sie sich in ihn.

Das Gefühl erfüllte sie mit brennender Hitze.

Etwas Lampenöl tropfte auf Eros’ Schulter.

Er erwachte und bemerkte entsetzt

das Messer in Psyches Hand.

Eros floh und klagte, an der Schulter verletzt:

»Deine Schwestern ersannen dieses Verbrechen.

Das warst nicht du allein!

Dafür werde ich mich an ihnen rächen.

Aber deine Strafe soll meine Flucht sein!«

Eros flog zu seiner Mutter,

ließ die in Liebe entbrannte schwangere Psyche zurück.

Sie versuchte sich das Leben zu nehmen

und sprang von einer Klippe ins Unglück.

Ihr Plan misslang, sie überlebte.

Psyche bat die Göttinnen Hera und Demeter um Schutz,

weil Aphrodite wutentbrannt nach ihr suchte.

Alle jagten das Mädchen davon, aus Angst und Eigennutz.

Psyche rächte sich an ihren neidischen Schwestern:

Sie sollten von einer Klippe in Eros’ Arme springen,

er würde die beiden lieben und unten auf sie warten.

Schadenfroh sah Psyche zu, wie die zwei in den Tod dahingingen.

Während Eros an seiner Brandwunde litt,

stellte sich Psyche der Göttin der Liebe.

Die zornige Schwiegermutter misshandelte das Mädchen.

Die Schwangere ertrug Aphrodites Tritte und Hiebe.

Aphrodite versprach Psyche, sie zu ihrem Geliebten zu lassen,

aber zuvor stellte sie dem Mädchen vier Aufgaben.

Als Erstes musste sie Körner auseinanderlesen.

Ameisen halfen ihr, die Hoffnung nicht zu begraben.

Als Psyche der Schwiegermutter Schafwolle holen sollte,

gab das Schilf ihr einen lebensrettenden Rat.

Das Wasser der Styx besorgte ihr der Adler des Zeus.

Das Mädchen wandelte auf einem gefährlichen Pfad.

Zuletzt sollte Psyche der Göttin der Liebe

etwas von Persephones Schönheit bringen.

Ein Turm erklärte Psyche, wie.

Nur so konnte sie den Abstieg in die Unterwelt bezwingen.

Als sie mit Persephones Schönheit in einem Kästchen

unversehrt aus der Unterwelt zurückkehrte,

öffnete das Mädchen aus Neugier das Geschenk,

weil sie der Wunsch, für Eros schön zu sein, verzehrte.

So oft hatte sie versucht, sich das Leben zu nehmen,

nun war es ihr ohne Absicht gelungen.

Statt der erhofften Schönheit

war Persephones Schatulle ein tödlicher Schlaf entsprungen.

Endlich zeigte sich Eros, der Held der Geschichte.

Er war Aphrodites Schloss entronnen,

verscheuchte den Tod, erhob Psyche zur Göttin der Seele.

Die Liebe hatte gewonnen.

So lautet Psyches allgemein bekannte Geschichte,

doch ist sie auch wahr?

Würde die Göttin der Seele das Gleiche erzählen?

Lasst uns zunächst sehen, was danach geschah.

Die Jahre vergingen.

Man kannte die Götter nur noch aus Legenden.

Niemand glaubte,

ihre Geschichte könnte sich noch wenden.

Bis eines Tages

die Gorgone Medusa sich wagte

und ihren Vergewaltiger Poseidon

samt seiner Gehilfin Athene anklagte.

Persephone mischte sich ein,

erklärte Hades den Krieg,

entfesselte dunkle Kräfte und

verhalf Medusa zum Sieg.

Aber Persephones Kampf war noch lang nicht vorbei,

zu sehr war sie im Hades gefangen.

Sie bat die hellsichtige Psyche um Hilfe, erst dann fand sie die Kraft,

nach dem Thron der Unterwelt zu verlangen.

Was niemand weiß, dank Persephone hat Psyche

nicht nur den todesähnlichen Schlaf besessen,

sondern eine echte Wahl. Persephone gab ihr zusätzlich

das Wasser des Unterweltflusses Lethe: das Vergessen.

Obwohl Eros nun die Herrin der Unterwelt bedrohte

und alles tat, um Psyche ihrer Erinnerungen beraubt zu lassen,

gab Persephone ihr vom Wasser der Erkenntnis zu trinken.

Psyches Vergessen sollte ab jetzt verblassen.

Wir sind die Moiren,

Klotho, Lachesis und Atropos,

drei Göttinnen, die das Schicksal spinnen,

jedoch keinesfalls darüber bestimmen.

Den Schicksalsteppich in all seinen Farben

kann nicht einmal die Liebe zerreißen.

Verwirrt blickt daraus Psyches Abbild.

Wird sie ihre Erinnerungen willkommen heißen?

Wir verfolgen Psyches Schicksal zurück.

Einst mussten wir seine Farbe und Konsistenz verändern,

nun schlägt es eine neue Richtung ein.

Bunte Fäden nähern sich Psyche von den Rändern.

Noch sind Psyches Bilder von früher vage.

Sie fürchtet sich hinzusehen.

Zu Recht. Eine Katastrophe erhebt sich.

Wer wird danach bereit sein, sie zu verstehen?

1. Flashbacks

Etwas streichelt mich im Gesicht. Es ist keine Hand, auch keine Feder … Wind. So fühlt sich Wind auf der Haut an. Ich habe seine Berührung vergessen. Durch meine geschlossenen Lider dringt kein Licht. Jemand trägt mich in den Armen durch die Dunkelheit. Ich hole tief Luft. Eros. Sein unverkennbarer Geruch nach Blumen und Gewürzen umgibt mich. Ich höre das Schlagen seiner weißen Flügel. Seine Aura fühlt sich nicht wie üblich an. Statt mich wie sanftes Sonnenlicht zu wärmen, verbrennt sie mich fast. Er ist wütend. Ich würde gern die Farbe seiner Seele sehen, möchte die Augen öffnen. Warum gelingt es mir nicht? Und warum pocht mein Kopf so unerträglich? Ich stöhne, kämpfe dagegen an. Was ist passiert?

Eros drückt mich fester an sich. »Das wird sie mir büßen«, entfährt es ihm. Der Hass in seiner Stimme macht mir Angst. Noch mehr die Verzweiflung. So kenne ich ihn nicht. Wer wird was büßen? Er fliegt schneller.

Wind.

Der Lufthauch trägt mein Bewusstsein davon. Aus der Ferne dringen Licht und Musik zu mir. Trotz der fröhlichen Melodie und Trommelschläge schluchzen alle.

Ich hole tief Luft und öffne die Augen. Warum verschonen sie mich nicht mit ihrer Trauer? Noch bin ich nicht tot. Mitten unter ihnen erklimme ich den Berg, auf dem ich geopfert werden soll. Mit ihren Tränen erleichtern sie sich ihr eigenes Dasein. Nicht meins.

»Wartet wenigstens, bis ihr auf dem Rückweg seid. Mutter, Vater. Ich bitte euch. Hört auf zu weinen. Lasst es nicht meine letzte Erinnerung an euch sein.«

»Die Götter«, jammert Mutter, »wie können sie so grausam sein? Womit haben wir das verdient?«

»Ihr hättet das Orakel nicht befragen dürfen. Wer fragt, muss auch mit einer Antwort rechnen, die ihm nicht gefällt.«

»Bei deinem Aussehen konnte es nur ein Fluch der Götter sein, dass du bislang nicht verheiratet bist«, erwidert Mutter. »Du bist so schön wie …«

»Hör auf«, falle ich ihr scharf ins Wort, »bitte nicht. Sieh an, was du mit deinen ewigen Vergleichen angerichtet hast. Nun darf ich bei lebendigem Leib meinem eigenen Leichenzug folgen. Wenn du so weitermachst, werden sich die Götter noch etwas Schlimmeres für mich ausdenken.«

»Verärgere nicht die Götter«, sagt Vater mit gedämpfter Stimme und sieht sich um.

»Ja«, bringt eine meiner Tanten zwischen zwei Schluchzern hervor, »ertrage die Strafe der Götter, und eines Tages wird dich der Tod erlösen.«

Ich drehe mich zu ihr um, öffne den Mund, um sie zu fragen, warum sie mich denn nicht gleich töten, um mich zu erlösen, wenn er solch eine Gnade sei, verkneife es mir aber. Auch sie sollen keine bittere Erinnerung an mich zurückbehalten.

Betrübt und voller Sorge betrachte ich Vater und Mutter. Meine geliebten Schwestern sind heute zum Glück abwesend. Ich habe meine Eltern gebeten, sie erst dann von meinem Schicksal zu unterrichten, wenn alles vorbei ist.

»Ich hoffe, dass dir die Erinnerungen an die glückliche Zeit bei deiner Familie die dunklen Stunden mit deinem monströsen Ehemann erhellen werden«, jammert Mutter.

»Bestimmt.« Ich tröste sie, obwohl ich ihr am liebsten sagen würde, dass sie mein Schicksal besiegelt hat, als sie mir zum ersten Mal göttliche Schönheit angedichtet hat. Ich wusste sofort, dass es kein gutes Ende nehmen würde. Die Götter sind eitel. Wie oft habe ich Mutter angefleht, nicht mit mir zu prahlen. Wie sehr habe ich es verabscheut, wenn mich die Menschen für meine Schönheit gepriesen haben.

Ich seufze und sehe hoch zum Felsen auf dem Berggipfel, der vom Orakel als meine Opferstätte benannt wurde. Dort wird mich mein zukünftiger Gemahl abholen. Laut Prophezeiung ist er kein Mensch, sondern jemand, der fliegen kann und überall Schrecken verbreitet. Sogar Zeus und Styx sollen vor ihm erschaudern.

Ich beschleunige meine Schritte, erstaunt blicken mich die Fackelträger an. Es bringt nichts, zu zögern. Sobald ich allein dort oben warte, muss ich zumindest die Tränen meiner Liebsten nicht mehr ertragen. Also eile ich dem laut Orakel furchtbarsten und erschreckendsten Geschöpf der Welt entgegen.

Wind.

Was war das gerade? Mutter? Vater? Ich dachte, ich sei eine Göttin, die keine Eltern hätte. Eros hat stets gesagt, dass er mich in einem Blumenfeld fand, von Schmetterlingen umgeben. Er habe mich für eine Nymphe gehalten. Aber das gerade … es war so klar und deutlich. Ich hatte eine Mutter, einen Vater und zwei Schwestern. In diesem Albtraum sollte ich einem Monster geopfert werden, von dem mich nur der Tod erlösen würde.

»Psyche.« Eros schüttelt mich leicht in seinen Armen und drückt mich an sich. »Wach auf. Bitte, meine Seele, komm zu dir.«

Meine Lider sind zu schwer, auch meine Glieder. Ich kann mich nicht bewegen. Wieso trägt er mich durch die Dunkelheit in seinen Armen? Ich versuche, meine Flügel zu spreizen. Auch sie spüre ich nicht mehr.

Wind.

Ich habe seine Berührung vergessen, genauso wie Mutter und Vater.

»Psyche«, fleht Eros.

Ich höre seine Stimme nur noch von Weitem. Der Wind trägt sie davon.

Ich blicke meinem Hochzeitszug, oder besser gesagt meiner Leichenprozession, hinterher. Vater hält Mutter im Arm. Ich weiß, es fällt ihm schwer, stark zu sein.

Hier auf der Bergspitze peitscht mir der Wind unerbittlich ins Gesicht. Er ist so scharf, dass es wehtut und mir die Augen brennen. Mein Hochzeitsgewand flattert. Der Blumenkranz wurde längst fortgeweht. Es fühlt sich an, als würde mich nur noch mein schwerer Schmuck am Boden halten. Meine Grabbeigaben. Ich lege die großen Ohrhänger ab, die Armreife, die Kette. Wenn derjenige, den die Götter für mich vorgesehen haben, kommt, um mich zu holen, soll er den Schmuck selbst aus dem Staub aufklauben.

Dann blicke ich in die Weite der Landschaft und in den blauen Himmel, den ein paar weiße Wölkchen verzieren, als gäbe es kein Übel in der Welt. Meine letzten Minuten in Freiheit. Tief atme ich die klare Luft ein.

Der Wind beruhigt sich. Er liebkost mein Gesicht, kann mich dennoch nicht von dem, was mir bevorsteht, ablenken. Der Abgrund ist ganz nah. Ich trete an den Rand, breite die Arme aus und stelle mir vor, ich könnte von hier davonfliegen. Nur ein Sprung, und es wäre vorbei. Aber wenn ich mich der göttlichen Strafe für die Blasphemie meiner Mutter entziehe, werden sich die Götter stattdessen an meinen Schwestern, Eltern oder dem Königreich meines Vaters rächen.

Nein, das haben sie nicht verdient. Auch Mutter nicht. Sie hat mir nie etwas Böses gewünscht. Es reicht, wenn eine geopfert wird. Und so trete ich einige Schritte vom Abgrund zurück. Götter … Ich hasse sie. Auf einmal kommen mir die Tränen und laufen heiß meine Wangen hinunter. Der Wind trocknet sie sogleich. Wozu weinen? Auch das bringt nichts. Und so strecke ich das Gesicht dem Himmel entgegen und genieße die letzten Minuten meiner Freiheit.

Ein leises Lachen lässt mich herumfahren. Es ist niemand zu sehen, nur der Felsen. Es ist also so weit. Mein Bräutigam ist gekommen.

»Zeig dich«, fordere ich ihn auf.

»Hast du keine Angst?«

»Natürlich fürchte ich mich.«

»Warum läufst du dann nicht weg, schreist nicht oder liegst nicht schluchzend auf dem Boden?«, fragt die körperlose Stimme, wobei es nur ein Flüstern ist, als würde der Wind zu mir sprechen.

»Würde es etwas an meiner Situation ändern?«

»Du hast recht. Dennoch verstehe ich das nicht. Jeder andere Mensch würde bis zuletzt kämpfen. Das ist doch eure große Tugend. Planst du selbst dann nicht wegzulaufen, wenn du dir all die Schrecken vorstellst, die auf dich zukommen?«

»Noch mal. Was bringt es mir? Flehen, Verhandlungen, Flucht … die Götter haben mein Schicksal beschlossen, mich da hineingezwungen. Ich bin ein Mensch. Unsere Kräfteverhältnisse sind nicht gleich. Es gibt keinen Unsterblichen, vor dem ich davonlaufen könnte. Und wenn sie mich mit einem Monster verheiraten wollen, dann werden sie es tun, egal ob ich will oder nicht, ob ich wegrenne, ob ich weine oder kämpfe. Auch mein zukünftiger Bräutigam scheint kein Mensch zu sein. Sie haben mich ihm versprochen, und er wird mich holen, egal wo ich bin.«

»Du könntest in den Tod fliehen«, sagt die Stimme. »Wolltest du das nicht gerade?«

»Was wäre dann mit meinen Eltern?«

»Ungewöhnlich, das von einer Frau zu hören. Eine solche Vernunft und Opferbereitschaft hätte ich eher einem Helden zugetraut, einem Mann mit einem starken Willen.«

Ich schnaube. »Wieso glaubt ihr alle, dass wir weniger standhaft, mutig und entschlossen sind als Männer? Weniger opferbereit für unsere Lieben?«

Die Stimme schweigt.

»Zeig dich«, verlange ich wieder.

»Lieber nicht.«

»Bist du mein Bräutigam?«

Statt einer Antwort verwandelt sich der Wind innerhalb eines Atemzugs in einen Sturm. Ich taumle zurück. Was wollen die Götter? Mich von der Kante des Berges in den Abgrund stürzen? Ich kämpfe gegen die heulende Naturgewalt an. Vergeblich. Näher und näher rutsche ich zum Abgrund.

Ich falle auf die Knie und kralle die Finger in den steinigen Boden, bis meine Fingernägel brechen. Unerbittlich schiebt mich der Sturm zur Kante. Ich blicke in den Himmel, über den nur vereinzelt die Wolken rasen. Wie kann das sein? Wie kann die Sonne so strahlen und einfach nur zusehen?

Allerdings … wenn das der Wille der Götter oder meines zukünftigen Mannes ist, warum sollte ich mich wehren? Eben habe ich mir eingeredet, dass ich so vernünftig sei, mein Schicksal anzunehmen. Dann sollte ich es jetzt tun. Kniend breite ich die Arme aus, schließe die Augen und lasse mich widerstandslos über die Bergkante wehen. Ich schreie nicht, wehre mich nicht und übergebe mich dem Wind. Statt mich in den Abgrund fallen zu lassen, hebt mich der Wind hoch in die Lüfte.

Licht.

In dem Moment, als die Dunkelheit dem Licht weicht, verliere ich meinen Körper. Eros zieht mich mit sich nach Hause. Ich weiß es. Denn im nächsten Moment umgibt mich der vertraute Geruch unseres Schlosses in einem verzauberten Hain, der von stillen Seen umgeben ist. Ich höre das Zwitschern der Vögel und rieche die prächtigen Blumen, die im ewigen Sommer unseres Gartens gedeihen. Weder für Gottheiten noch für Menschen ist unser Refugium auffindbar. »Der Sitz der Liebe sollte ein Geheimnis bleiben«, sagt Eros stets, wenn ich mich nach Gesellschaft und Gästen sehne. Als Chronos, der Gott der Zeit, mich vor etwa einer Woche auf Persephones Wunsch in die Unterwelt entführt hat, war Eros außer sich. Danach hat er tagelang die Versteckzauber des Hains gestärkt.

Es gelingt mir nicht, die Augen zu öffnen. Warum ist mein Kopf so schwer, das Pochen darin so schmerzhaft? Ich stöhne, versuche etwas zu sagen. Mein Mund ist trocken. Ich kann die Zunge nicht bewegen, die Lippen nicht öffnen. Wir müssen auf der von Säulen umgebenen Terrasse mit unseren Statuen sein. Eros rennt mit mir in den Armen los.

»Halt durch. Ich flehe dich an. Halt durch, meine Seele.« Er drückt mich an sich und klingt so verzweifelt.

Ich würde ihn gern trösten, ihm eine Hand an die Wange legen und ihm sagen, dass alles gut sei, aber … das ist es nicht. Das eben Gesehene verwirrt mich, und eine Frage schwirrt mir wie ein gefangener Schmetterling im Kopf herum: Warum habe ich vergessen, wie sich der Wind anfühlt?

Eros rennt in unser Schlafgemach. Hier riecht es unverkennbar nach unserer Liebe. Behutsam legt er mich aufs Bett und kramt in einem Schrank am anderen Ende des Zimmers. Im nächsten Moment flößt er mir Nektar vermischt mit Ambrosia ein.

Sobald die ersten Tropfen der süßen Flüssigkeit meine Lippen berühren, verflüchtigt sich der Kopfschmerz. Wie die Morgensonne den Nebel vertreibt, so durchbrechen die Götterspeisen den Dunst in meinem Verstand, der mir die Erinnerung an die letzten Stunden verhangen hat. Langsam bekomme ich wieder Luft.

Persephone, schießt es mir durch den Kopf. Sie hat mir während ihrer Krönungsfeier dafür gedankt, dass ich einen Krieg in der Unterwelt verhindert hatte. Dann hat sie mir etwas zu trinken gegeben und sich davor entschuldigt. Wofür? Ein wenig hat es mich gewundert, dass sie mir keinen Wein angeboten hat. Dennoch habe ich mit ihr angestoßen. Mein Getränk war ein selten klares und reines Wasser voller geheimnisvoller Verheißung.

Sobald ich diese Köstlichkeit hinuntergeschluckt hatte, begann dieser unerträgliche Schmerz. Er riss etwas in meinem Kopf ein, löste einen Damm. Eine Barriere, von der ich bisher nicht einmal gewusst habe, dass sie existiert. Ich wehrte mich dagegen. Vergeblich. Als ich den Kampf verlor, schwand mein Bewusstsein.

Die Visionen waren kein Albtraum. Auch keine Halluzinationen, verursacht durch dieses Wasser. Es hat mir den Blick auf etwas eröffnet. Eros sagt stets, dass er nicht wisse, woher ich stamme. Habe ich mich an etwas aus meinem früheren Leben erinnert? War ich ein Mensch, bevor ich zur Göttin wurde? Habe ich die letzten Stunden vor meinem Tod gesehen, bevor ich als Unsterbliche wiedergeboren wurde?

Endlich kann ich die Augen öffnen. Ich richte mich auf. Eros starrt mich an. Dieser stechende Blick ist unheimlich. Das Licht seiner Seele umfließt ihn wie dunkelrote Lava. Das Blau seiner Iriden hat die Farbe des Himmels kurz vor Einbruch der Nacht angenommen. In letzter Zeit hat er mich öfter so angesehen. Genau genommen, seit ich für die UGO als Gutachterin arbeite. Davor hat er mich nie so gemustert. Ich blinzle. Doch. Er hat mich so angesehen. Einmal. Bei meiner ersten Erinnerung an ihn, die nun etwa dreitausend Jahre zurückliegt.

Damals zog er mich aus einer Dunkelheit, die eine friedvolle Ewigkeit versprach, ins Licht. Ich wollte die glückliche Ruhe nicht aufgeben. Denn was mich im Licht erwartete … was eigentlich? Nichts Schönes, vermutete ich. Was war geschehen, bevor ich in die Finsternis getaucht war? Ich wusste nicht einmal mehr, wer ich war. Als ich die Augen aufschlug, hat Eros mich mit ebendiesem Blick angesehen.

Wie damals zwinge ich mich zu lächeln, nicht nur mit den Lippen, sondern mit meiner Seele. Eros soll das Lächeln auch in meinen Augen sehen. Damals wie heute macht mir dieser Gesichtsausdruck Angst. Etwas Lauerndes liegt darin. Etwas, das ich sonst nicht von ihm kenne und erstaunlicherweise nicht benennen kann. Eine Warnung? Panik? Wie ironisch, dass ich jeden durchschaue, nur Eros nicht. Meine Liebe zu ihm verschleiert mir wohl die Sicht auf ihn.

Bevor ich ein Wort herausbringen kann, zieht Eros mich an sich und drückt mich so fest, dass mir die Luft wegbleibt. »Meine Seele.« Seine Stimme zittert. »Wie geht es dir?«

Meine Nackenhaare stellen sich bei der unterschwelligen Drohung in seinem Tonfall auf.

Ich darf Eros nicht wissen lassen, dass ich so etwas wie Erinnerungen aus einem früheren Leben durchlebt habe. Woher ich diese Gewissheit nehme, dass ich nicht mit ihm darüber reden sollte, weiß ich nicht. Ich verlasse mich auf meine Intuition. Vor nicht allzu langer Zeit habe ich mich vor Persephone damit gerühmt, dass ich mit dem Herzen sehen könne.

Etwas Weiteres sagt mir mein sechster Sinn: Persephone wollte mir nicht schaden. Als sie mich umarmte, kurz bevor sie mir den goldenen Kelch mit diesem merkwürdigen Wasser überreichte, strahlte sie Liebe zu mir aus. Wie damals … Ich versuche mich zu erinnern, stoße allerdings wie gegen eine Wand. Hat sie mich schon einmal so umarmt? Ich erahne es. Vielleicht in diesem anderen Leben? Hat sie mich deswegen als Gutachterin für ihren Scheidungsprozess verlangt? Weil sie mich von damals kennt? Das erklärt auch, warum sie mich gefragt hat, was ich bei mir selbst sehen würde.

Eros’ Flügel zittern, während er sich an mich klammert.

Ich atme tief den süßen Geruch seiner Haare und seines Nackens ein. Dann schiebe ich ihn von mir und lege eine Hand an seine Wange. »Es ist alles gut, mein Lieber. Sorge dich nicht. Ich habe wohl das, was Persephone mir gegeben hat, nicht vertragen.«

»Wie viel hast du davon getrunken?«, fragt Eros angespannt.

»Es hat lediglich meine Lippen benetzt. Nicht mal ein ganzer Schluck war es. Kein Tropfen ist meinen Rachen hinuntergeglitten.«

»Sie wird es mir büßen«, zischt er.

Ich zwinge mich zur Ruhe. »Eros, ich glaube nicht, dass sie mir etwas Böses wollte. Ich sehe es.« Um es zu unterstreichen, lege ich mir eine Hand auf die Brust.

Er presst die Lippen zusammen.

»Bitte. Ich weiß, dass sie mir nicht schaden wollte. Es hat sich nur etwas …« Ich suche nach den richtigen Worten. »Es hat sich nur etwas in mir gegen dieses Getränk gewehrt. Mein Körper hat es abgestoßen. Ich wollte es nicht in mir aufnehmen. Das konnte Persephone nicht wissen.«

Eros entspannt sich. Also habe ich die richtigen Worte gefunden, um ihn zu beruhigen. Er umfasst meinen Kopf mit seinen warmen Händen und drückt mir zuerst einen Kuss auf die Stirn und dann zärtlich, als würde er befürchten, mich zu zerbrechen, auf die Lippen. Dann greift er nach meiner Hand mit der Wunde, die nicht verheilen will. Seit ich mich erinnern kann, habe ich diese Verletzung.

»Wir haben die Wunde seit gestern nicht mehr neu verbunden. Lass mich überprüfen, ob Persephones Gift sie verschlimmert hat.« Er holt eine Salbe und frisches Verbandsmaterial aus dem Schränkchen neben unserem Bett.

Als er den Verband am Zeigefinger öffnet, dreht er meine Handfläche schnell zu sich und so von mir weg, dass ich die Wunde an der Fingerkuppe nicht sehen kann. Dennoch habe ich einen kurzen Blick darauf erhascht. Die Wunde ist noch da. Normalerweise ist sie so tief und breit wie ein Marienkäfer. Gerade hatte ich den Eindruck, dass sie etwas kleiner und flacher geworden ist.

Bekümmert zieht Eros den Zeigefinger zu sich und küsst wie so oft die Wunde. Diesmal ist es allerdings keine flüchtige Berührung. Er drückt so fest zu, dass mich ein scharfer Schmerz zurückfahren lässt.

»Es tut mir leid. Es ist tatsächlich schlimmer geworden.« Merkwürdigerweise beruhigt sich das Licht seiner Seele und nimmt wieder den goldenen Schimmer an.

Er lässt meine Hand los. Endlich kann ich die Wunde richtig sehen. Sie ist tiefer und breiter als sonst. Ich muss mich vorhin verguckt haben. Sorgfältig schmiert Eros eine Salbe auf Basis von Nektar und Ambrosia darauf und verbindet sie. Wie damals in meiner ersten Erinnerung an meine Existenz.

Eros saß neben mir auf der Erde, sah mich mit diesem sonderbaren Blick an und saugte an meiner Wunde. Als sich unsere Blicke trafen, hielt er inne und legte beide Hände um meine Finger. »Psyche, meine Seele, wie geht es dir?«

Ich seufzte vor Glück. Diese Berührung fühlte sich so gut an. Doch … Psyche? »Wer bist du?« Ich kämpfte gegen den Schwindel und das berauschende Gefühl seiner Nähe an.

Er weitete die Augen. »Eros?«

»Was machst du da?« Meine Stimme klang schwach.

»Ich habe dich hier gefunden.« Eine kaum hörbare Frage schwang in seinen Worten mit. »Weißt du, wer du bist?«

Ich runzelte die Stirn, blickte in den Himmel, sah mich um, suchte nach einem Hinweis, der mir verraten würde, wer ich war. Dann schüttelte ich den Kopf. »Nein. Du nanntest mich vorhin Psyche. Ist das mein Name? Woher kennst du ihn?«

Eros schluckte. »Ich bin dein Mann. Wir erwarten ein Kind.« Er deutete auf meine Körpermitte.

Ich sah an mir hinunter. Der Bauch war so groß, dass ich wohl kurz vor der Niederkunft stand. Und … obwohl ich mich nicht an diesen Eros erinnern konnte, wusste ich eines mit Sicherheit: Ich liebte ihn. Mit jeder Faser meiner Seele. Mehr als mein Leben und mehr als das ungeborene Kind. Er sagte also die Wahrheit.

Plötzlich fiel alle Anspannung von Eros ab, und er strich sich über die Stirn. »Was für ein Glück.« Er drückte meine verletzte Hand und gab mir einen Kuss darauf.

»Glück?«

Eros lächelte breit. »Ja. Dass ich dich rechtzeitig gefunden habe. Ein furchtbares Monster, ein Untier hat dich gestochen, meine Seele. Es hat dich deiner Göttlichkeit beraubt. Was für eine Erleichterung, dass du noch lebst. Ich werde mit Zeus reden. Mit ein wenig Nektar und Ambrosia holen wir im Nu deine Göttlichkeit zurück. Trauere nicht um die Vergangenheit, die du vergessen hast. Ich werde dich mit einer glücklichen Zukunft entschädigen.«

Warum entschädigen?, fuhr es mir durch den Kopf. Mit ihm an meiner Seite konnte ich mir nicht vorstellen, jemals unglücklich gewesen zu sein. Und wer ist Zeus?

Eros saugte wieder an meiner Wunde, und ich biss vor Glück und Schmerz die Zähne zusammen.

Seitdem haben wir nie wieder über die Vergangenheit geredet. Er hat mir keine Fragen beantwortet und das Thema stets gemieden. Es fand sich auch sonst niemand, der mir etwas über die Zeit vor dem Gedächtnisverlust erzählen konnte. Als hätte ich vor meiner ersten Erinnerung nicht existiert.

Eros ist mit der Wundversorgung fertig und macht einen Knoten in die weiße Binde. Vor Schmerz hole ich scharf Luft und starre irritiert auf den Zeigefinger. Seit er mir vor dreitausend Jahren das Gift aus dem frischen Einstich gesaugt hat, brennt die Wunde zum ersten Mal wieder.

2. Das geheime Schloss der Liebe

Seit wir vor einer Woche nach Persephones Krönungsfeier in unser Schloss zurückgekehrt sind, pocht mein Kopf ununterbrochen, mal mehr, mal weniger. Ich bin noch zerstreuter als sonst, der Schmerz lässt keinen klaren Gedanken zu.

Nachdem mir Eros vor dreitausend Jahren das Gift aus der Wunde gesaugt hatte, brachte er mich hierher, und seitdem ist es mein geliebtes Zuhause geworden. Hier herrscht ewiger Sommer, den Eros mit seiner Macht aufrechterhält. Es ist unsere Kuppel aus Liebe. Hier habe ich unsere Tochter Hedone, die Lebensfreude, auf die Welt gebracht, an deren Zeugung ich mich nicht mehr erinnern kann. Seit den Erinnerungen an mein früheres Leben denke ich wieder oft an sie. Sie ist schnell flügge geworden und hat uns verlassen. Ich vermisse sie. Mehr als je zuvor. Eros behauptet zwar, dass es ihr gut gehe, doch warum meidet sie mich seit Jahrtausenden? Und wie konnte ich all die Zeit so tatenlos bleiben?

Ruhelos streife ich durch unseren Garten, durch die Säulengänge aus weißem Marmor mit Mosaiken aus Diamanten, vergoldeten Fresken und Reliefs. Zum ersten Mal empfinde ich die Stille hier als bedrückend. Seit Persephone mir diesen Trank verabreicht hat, schlafe ich schlecht. So auch letzte Nacht. Die Sonne geht gerade erst auf, und ich bin schon seit über einer Stunde auf den Beinen.

Normalerweise ist Eros ein- bis zweimal in der Woche abwesend. Er kümmert sich dann um seine göttliche Familie, von der er mich fernhält, um mich vor dem intriganten Pack zu schützen, wie er sagt. In der letzten Woche hat er alle Verabredungen abgesagt und sich ausschließlich um mich und um die Wunde gekümmert.

Ohne es zu merken, bin ich zum Rand unserer Sommerkuppel getreten. So weit das Auge reicht, umgeben uns Seen, die stellenweise durch kleine Baumgruppen und Büsche voneinander getrennt werden. Die Ruhe, die uns umgibt, ist magisch.

Trotz der Wärme innerhalb von Eros’ Sommerkuppel fröstelt es mich, und ich lege die Arme um meine Taille. Da draußen ist irgendwo meine Tochter. Warum hat sie mich vergessen? Es tut so weh. Ich beobachte die karge Winterlandschaft der Mecklenburgischen Seenplatte, während sich meine Gedanken überschlagen. Der Frühling steht kurz bevor. Bald werden die ersten Knospen blühen.

Ich blicke hoch. Über den Seen ist der Himmel grau. Kaum merklich bewegen sich die tief hängenden dunklen Wolken über den Himmel. Der Wind treibt sie an. Ein Wind, der nicht bis zum Boden reicht, denn um uns herum bewegt sich kein Ast, kein Baum, und auch die Oberflächen der Seen bleiben stets spiegelglatt. In meiner Vision, Halluzination oder Erinnerung habe ich Wind gespürt. Er war lieblich, heftig und stürmisch.

Als ich in Eros’ Armen geflogen bin, hat mich der Flugwind gestreichelt. Wie konnte ich ihn vergessen, und warum? Es ist seit Jahrtausenden windstill um uns herum. Wie sich wohl die Kälte da draußen anfühlt, so kurz bevor der Frühling erwacht, und der Wind da oben?

Es wird ein besonderer Frühling werden, denn Persephone ist als Naturgewalt erwacht. Ich bin überzeugt, dass sie ab jetzt auch den Lauf der Jahreszeiten wieder beeinflussen wird, und freue mich darauf zu sehen, in welchen Farben die Natur dank ihr leuchten wird. Auf einmal habe ich das dringende Bedürfnis hinauszutreten, die Blase des Liebessommers zu verlassen. Ich hole tief Luft, mache einen Schritt auf die unsichtbare Grenze zu …

»Da bist du ja, meine Seele«, ertönt Eros’ Stimme hinter mir.

Erschrocken fahre ich zu ihm herum. Es fühlt sich an, als hätte ich etwas Verbotenes machen wollen, obwohl Eros mich nie davon abgehalten hat, hinauszugehen. Ich hatte nur kein Bedürfnis, dieses warme und sichere Gewächshaus zu verlassen.

Eros trägt einen leichten Morgenmantel, der bestickt ist mit Vögeln und Blumen. Wenn wir allein sind, bedeckt er sich für mich. Der knappe Lendenschurz ist seine Uniform für draußen. Er sieht wie ich kaum älter als achtzehn Jahre alt aus. Wie jung wir wirken, habe ich begriffen, als ich all die Unsterblichen während Persephones Krönungsfeier gesehen habe. Eros tritt neben mich, seine dunklen Locken schwingen dabei, die Flügel hat er verborgen. Trotz seines Lächelns sehe ich, dass er angespannt ist, beinahe wütend. Seine goldene Seele hat sich orange verfärbt.

Schuldbewusst lächle ich Eros an.

Er mustert mich mit leicht zusammengezogenen Augenbrauen und nimmt meine Hand. »Wolltest du gerade raus?«

»Ja. Ich möchte wissen, wie sich die Kälte da draußen anfühlt.«

Eros schnaubt. »Die ganze Welt flieht vor der Kälte, sehnt sich nach Sommer und Wärme. Nur du nicht, meine Seele. Ich habe es gewusst. Du hättest dich nicht mit den Problemen der Welt und der Götter da draußen befassen dürfen.«

»Warum? Es war mein Wunsch, und ich habe in wenigen Tagen mehr Erfahrungen gesammelt und gelernt als in den letzten dreitausend Jahren.«

Eros’ Unterkiefer spannt sich an. »Ich hatte nicht den Eindruck, dass du dich gelangweilt hättest. Warum hast du nichts gesagt? Ich hätte für Unterhaltung gesorgt.«

»Ich habe mich nicht gelangweilt. Es war auch gut so, wie es war. Nun möchte ich allerdings mehr Anteil an der Welt haben.«

Eros schweigt. Ich drehe mich zu ihm und lege eine Hand auf seine Brust. Mein Handballen liegt auf dem Stoff des Morgenmantels, nur meine Fingerspitzen berühren seine nackte Haut im Ausschnitt. Ich spüre seinen Herzschlag darunter. Er ist härter und schneller als sonst. Ich blicke hoch in seine Augen, über denen ein Schatten liegt, seit wir zurückgekehrt sind.

»Du bist nicht Hades. Du wirst mich hier nicht einsperren und isolieren wie er Persephone. Habe ich recht?«

Eros legt seine Hand über meine. Auf einmal wirkt er unendlich traurig. »Nein. Ich bin nicht Hades. Aber ich verstehe ihn.« Er deutet auf die Seen vor uns. »Darf ich dich begleiten, wenn du hinaustrittst, um die Kälte zu spüren?«

»Ja, gern.« Ich lächle und ziehe ihn hinaus in den scheidenden Winter.

Ich möchte fliegen, in der Kälte baden, die Welt umarmen und das Erwachen der Natur aus nächster Nähe beobachten. Mit ausgebreiteten Armen und wehenden Haaren renne ich über die mit Raureif bedeckten Wiesen. Eros folgt mir, und lachend springen wir in einen eiskalten See. Wir prusten, tauchen einander unter und spielen miteinander wie zwei junge Seeotter. Eros jagt mich unter Wasser. Lachend und kreischend verlasse ich den See.

Mein Gewand klebt unangenehm am Körper, und ich streife es ab. Auch Eros entsteigt dem kalten Nass und zieht seinen triefenden Morgenmantel aus. Ich lasse meine Flügel erscheinen und schlage ein paarmal mit ihnen. Bis zur Begegnung mit Persephone dachte ich, dass sie lediglich eine Zierde seien, viel zu leicht und zart, um mich tragen zu können. Dann allerdings habe ich mit ihnen die falschen Illusionen aus Persephones Geist vertrieben. Sie waren stärker als die Lügen von Hades und Hypnos. Seitdem spüre ich deren Macht. Ich renne los, schlage mit den Flügeln und hebe ab, steige höher und höher.

Eros holt mich ein und ergreift meine Hand. Seine weiß gefiederten Schwingen tragen ihn sicher durch die Lüfte. Das Lachen ist aus seinem Gesicht verschwunden. Schon wieder. »Wo willst du hin?«

Ich zeige nach oben. »Über die Wolkendecke und dort oben mit dem Wind fliegen.«

»Meine Seele«, sagt Eros zögernd, »können wir das nicht ein wenig verschieben und es vielleicht an einer anderen Stelle in die Tat umsetzen? Ich habe Angst, dass uns jemand entdeckt. Dann wäre das Versteck unseres geliebten Zuhauses preisgegeben. Wir hätten keine Ruhe mehr. Die Menschen und Götter haben schon immer nach dem Wohnsitz der Liebe gesucht, um mich zu benutzen.«

Er hat recht. Ich fliege langsamer. Es wird auch wirklich kalt. Zwar macht es mir nichts aus, doch fühlt es sich nicht mehr angenehm an.

»Also gut.« Ich mache kehrt in Richtung Erde. »Dann lass uns zurück nach Hause gehen, uns aufwärmen und frühstücken.«

»Danke, meine Seele.« Eros zieht mich mit sich nach unten, als könnte er es kaum erwarten, mich wieder auf festem Boden zu wissen. Wir sammeln unsere nasse Kleidung ein und fliegen zurück zu unserem Schloss.

Eros zieht mich in einen warmen Seerosenteich des Schlossgartens und nimmt mich in die Arme, um mich aufzuwärmen. Wir treiben im Wasser, schweigen, und ich genieße seine Nähe, die Umarmung und seinen blumigen Duft. Er atmet in meinen Nacken, und ich spüre, dass er mehr will. Er beginnt mich unter das Wasser zu ziehen. Ich versteife mich in seiner Umarmung.

»Was ist los, meine Seele?«, fragt er mit heiserer Stimme.

»Ich habe Kopfschmerzen.« Der Flug und das kalte Bad vorhin haben mich abgelenkt. Hier in der alten Umgebung pocht mein Kopf wieder.

Eros dreht mich zu sich und mustert mich prüfend. »Kopfschmerzen?« Hinter seiner Sorge lauert etwas, das ich nicht benennen kann. »Seit wann hast du die?«

»Seit der Krönungsfeier«, antworte ich.

Eros’ Flügel erscheinen und beginnen leicht zu zittern.

»Mein Lieber, mach dir bitte keine Sorgen. Es wird vorbeigehen.« Ich streiche ihm über die Wange.

»Ich werde Persephone dafür zur Rechenschaft ziehen.« Seine Stimme bebt. »Wenn sie sich dir noch einmal nähert …«

»Bitte nicht! Ich weiß, dass sie mir nichts Böses wollte. Wenn du mich liebst, wirst du nichts gegen sie unternehmen.« Ich lege eine Hand auf seine Schulter. »Versprich es mir.«

»Der Verband ist nass geworden. Wir sollten ihn wechseln.« Er weicht mir aus.

Wegen Persephone werde ich später noch einmal das Gespräch mit ihm suchen. Aber meine Verletzung ist auch ein Thema, worüber ich seit einigen Tagen mit ihm reden möchte. »Jahrtausendelang hast du meine Wunde versorgt. Vielleicht wird es Zeit, dass ich es selbst lerne.«

Eros verengt die Augen, und seine Aura färbt sich tiefrot. Er ergreift die Hand mit dem nassen Verband. »Es macht mir keine Umstände«, sagt er gepresst und zieht mich aus dem Teich.

Mit einem unguten Gefühl folge ich ihm in unser Schlafzimmer, wo wir uns trockene Seidenmäntel überwerfen. Eros holt die Salbe und das Verbandszeug. Nur zögernd halte ich ihm die Hand hin. Wieder drückt er einen Kuss auf die Wunde, abermals brennt sie.

Seit wir zurückgekehrt sind, habe ich das Gefühl, dass meine Verletzung tiefer geworden ist und die Kopfschmerzen nach dem Verbandswechsel schlimmer werden.

Mit zunehmendem Pochen hinter der Stirn kommen mir die Visionen realistischer vor, als würden sie näher rücken und diesen Schmerz verursachen. Das Gefühl, es tatsächlich erlebt zu haben, macht mir Angst. Nein, es müssen Albträume sein. Wer würde schon seine Tochter einem Monster opfern? Ich wünschte, dass ich es niemals gesehen hätte. Auf gar keinen Fall möchte ich tiefer hineintauchen. Diesem Mädchen, in dessen Haut ich steckte, stand in dieser Halluzination Furchtbares bevor. Ich will nicht wissen, was.

Zum ersten Mal in meinem Leben sehe ich weg, verschließe mich vor dem, was in meinem eigenen Kopf vor sich geht. Und zum ersten Mal verschweige ich Eros etwas.

Mit dem Verband ist er längst fertig und mustert mich wohl seit geraumer Zeit. »Du bist so oft in Gedanken versunken, meine Seele. Stimmt etwas nicht? Bedrückt dich etwas?«

Ich hasse es, ihn anzulügen. Persephone soll keine Schwierigkeiten meinetwegen bekommen. »Es ist alles in Ordnung.« Ich achte darauf, dass meine Stimme glücklich klingt.

Zweifelnd hebt Eros eine Augenbraue. »Ich sehe, dass das nicht stimmt. Gibt es etwas, was du mir sagen willst?«

Ich bin froh, dass er die Frage so gestellt hat, dass ich ehrlich zu ihm sein kann: »Nein. Ich will dir nichts sagen.« Ich zögere. »Außer vielleicht eine Frage: Warum gibt es hier in unserem Schloss und um uns herum keinen Wind? Ich sehe am Himmel, dass er existiert. Warum weht er nicht um uns?«

Eros ballt eine Faust. »Der Wind würde lediglich unsere Blumen zerstören und Unordnung hier hereinbringen. Er würde uns nicht schlafen lassen, durch die Fensterritzen heulen und Staub aufwirbeln. Unnötigen Staub. Warum sollte ich ihn hier willkommen heißen? Wieso denkst du auf einmal an den Wind? Es war mir nicht klar, dass du ihn vermisst.«

Während ich über seine Worte nachdenke, fahre ich mir durch die feuchten Haare. »Ich habe ihn nicht vermisst, weil ich nicht wusste, dass es ihn gibt.«

»Wie kommst du auf einmal auf den Wind?« Er versucht seinen Ärger zu unterdrücken, doch in seiner Seele brodelt es wie in einem Vulkan. Warum regt ihn das so auf?

»Als wir geflogen sind, habe ich den Flugwind gespürt. Und mir ist aufgefallen, dass sich die Wolken bewegen. Ich finde das schön.«

Eros atmet auf. »Der Flugwind, klar.«

»Wovor hast du Angst?«, frage ich unvermittelt.

Er mustert mich überrascht, greift dann nach meiner Hand und streicht über meinen Verband. »Ich habe Angst, dass die Wunde schlimmer wird, nachdem du Persephones Gift getrunken hast.«

»Woher willst du wissen, dass es Gift war?«

»Du bist zusammengebrochen.«

»Es war köstlich. So schmeckt kein Gift. Persephone wollte mir nicht schaden.«

»Das glaubst du nur!« Eros springt auf und beginnt, im Zimmer auf und ab zu laufen. »Du durchschaust sie nicht. Aber ich!«

»Nun ja, ich erkenne sehr viel«, antworte ich selbstbewusst. »Sonst hätte mich die UGO kaum eingestellt.«

»Die UGO …«, faucht Eros.

»Mein Lieber«, unterbreche ich ihn, »ich habe die Zeit dort draußen genossen. Um ehrlich zu sein, sehne ich mich danach, wieder hinauszugehen. Ich möchte Persephone wiedersehen, Medusa richtig kennenlernen und weiter mit den Gefängnisinsassen arbeiten.«

Eros bleibt abrupt stehen. »Wirklich? Mit Athene, Poseidon, Apollon?«

»Ja«, antworte ich ungerührt. »Ich glaube, dass ich da etwas bewirken kann. Ich muss zurück an die Arbeit. Und zwar lieber gestern als morgen.«

Eros schnaubt und fährt sich durch die Haare. »Das kommt jetzt unerwartet. Die ganze Woche hast du nichts davon gesagt. Ich dachte, du bist über diese Schnapsidee, für die UGO zu begutachten, hinweg. Jetzt willst du plötzlich zurück. Auch noch in deinem Zustand.«

»Welchem Zustand?«

»Du wirkst abwesend, stehst neben dir, bist nicht du selbst.«

Ich halte seinem Blick stand. »Du bist auch anders.«

Eros’ Augen funkeln. »Wie anders?«

»Na ja. Normalerweise hättest du das Schloss in der letzten Woche mindestens für drei Tage verlassen. Meinst du, ich merke nicht, dass du mich beobachtest? Wie sonst hättest du mich am Rand unseres Gartens gefunden, als ich hinauswollte?«

»Ich mache mir nur Sorgen«, verteidigt er sich. »Und ich habe wohl recht. Du hast mich noch nie wegen Kopfschmerzen abgelehnt.«

»Hast du das etwa persönlich genommen?«

Er massiert sich die Nasenwurzel. »War es denn persönlich gemeint?«

Ich denke nach. Er ist die Liebe. Gerade was das angeht, werde ich ihn nicht anlügen können. »Ich hatte einfach keine Lust. Es war nicht persönlich gegen dich gemeint, sondern gegen den Akt an sich.«

»Den Akt an sich?«, wiederholt er ungläubig.

»Ja. Du hast auch nicht ständig Lust. Du selbst verabscheust das Vorurteil, dass du als die Verkörperung der Liebe ständig erpicht auf körperliche Liebe sein sollst. Die Liebe findet auf so vielen Ebenen statt. Das sind deine Worte.«

Eros seufzt und setzt sich zu mir aufs Bett. »Ist zwischen uns alles in Ordnung, Psyche?«

Es ist selten, dass er mich beim Namen nennt. Er sucht einen Zugang zu mir. Ich hole Luft, um ihm zu versichern, dass alles gut sei, doch ich habe ihm wohl einen Moment zu lang gezögert.

Er springt auf, lässt seine Flügel erscheinen und stürmt zum Fenster. »Ich habe zu lange meine Pflichten vernachlässigt«, sagt er, ohne sich zu mir umzudrehen. »Warte heute Abend nicht auf mich.« Mit einem Satz springt er hinaus und fliegt davon.

Schlagartig verschlimmert sich mein Kopfschmerz. Es ist wie ein Déjà-vu, als hätte ich das schon einmal erlebt. Wir haben uns noch nie gestritten. Er hat mich noch nie so verlassen. Dennoch kann ich das Gefühl nicht abschütteln, dass ich schon einmal gesehen habe, wie er wütend aus dem Fenster fliegt. Verwirrt ziehe ich den Seidenmantel enger um mich und gehe hinaus. Habe ich ihm Unrecht getan? Was passiert gerade mit uns? Wir sind ein Liebespaar. Eros sagt, das glücklichste auf der ganzen Welt. Ich kann ihm nicht widersprechen. Das Band, das uns verbindet, ist so stark, dass ich es manchmal flimmern sehe. Er ist meine Liebe, ich bin seine Seele. Ich habe Eros durch meine Abweisung und Geheimtuerei vor den Kopf gestoßen.

Tief in Gedanken versunken gehe ich im Garten spazieren. Ich blicke in den Himmel. Vielleicht sollte ich wieder hochfliegen, die Kälte vorhin hat mir gutgetan. Das Pochen hinter meiner Stirn nimmt zu.

Ohne es zu merken, bin ich wieder zu der unsichtbaren Barriere gelaufen. Ich werde den Ort nicht gegen Eros’ Willen verlassen, ihn nicht hintergehen, das hat er nicht verdient. Sobald er zurückkommt, werde ich mit ihm reden. Ich werde ihm sagen, was ich fühle, wie es mir geht, ihm von den merkwürdigen Visionen erzählen, die mich quälen, vom Pochen in meinem Kopf und den ungewöhnlichen Schmerzen der Wunde. Und ich werde ihm mitteilen, dass ich mit Persephone reden muss. Ich möchte sie fragen, was es mit diesem Trank auf sich hat.

Im Gegenzug werde ich Ehrlichkeit von ihm verlangen. Er verheimlicht etwas vor mir. Wenn ich ihn nach unserem Leben vor dem Biss dieses Untiers frage, bleibt er stets vage.

Auch wenn es um Hedone geht. Er verlässt jeden zweiten Tag unser Schloss, um sich um seine Eltern, Tanten und Onkel zu kümmern, wie er sagt. Es kann einfach nicht sein, dass niemand weiß, wo sie ist.

Es wird langsam dunkel, ich habe nicht gemerkt, wie der Tag verstrichen ist. Hemera und Nyx werden sich gleich in ihrem Haus am Eingang des Tartarus begegnen. Kennt Nyx diesen Ort, das geheime Schloss der Liebe? Schließlich sind die Nacht, der Schlaf und der Tod überall.

Eine riesige Vogelschar nähert sich mir vom Horizont. Alle paar Sekunden bilden die Tiere verschiedene Formationen. Das Schauspiel ist atemberaubend, so etwas habe ich noch nie gesehen. Tanzen sie für mich? Einer der Vögel wird größer. Ich verenge die Augen, sehe genauer hin. Das ist kein Tier. Das ist ein Wagen, der golden blitzt, obwohl kein Sonnenstrahl auf ihn fällt. Gezogen wird er von unzähligen weißen Tauben, und jemand sitzt darin.

Unweit zur Grenze unseres Schlosses landet der Wagen, und eine wunderschöne Göttin springt heraus. Sie ist sehr offenherzig bekleidet, nur wenige Stofffetzen verbergen ihre Brust und ihren Schoß. Genauso wie Eros seinen Lendenschurz, könnte sie sich auch dieses Kleid sparen. Es offenbart mehr, als es verbirgt.

Das größte und breiteste Stück Stoff an ihr bildet einen Gürtel. Er ist in den Farben Hellblau und Rosa gehalten, ansonsten sieht er erstaunlich schlicht aus. Dass eine Frau wie sie so etwas trägt, macht sie auf eine zauberhafte Weise sympathisch. Ich sehe ihre Aura wie durch einen Schleier. Sie könnte hellblau oder rosa sein, mehr erkenne ich nicht, auch nicht die Bewegungen ihrer Seele. Etwas verdeckt mir die Sicht darauf.

Sie hat hüftlanges goldblondes Haar und große Augen, die rosa wie ein Sonnenuntergang scheinen. Obwohl ich sie noch nie gesehen habe, kommt sie mir bekannt vor. War sie vielleicht bei Persephones Krönungsfeier anwesend? Nein, mit dieser Augenfarbe wäre sie mir aufgefallen. Woher kenne ich sie? Und warum habe ich das Gefühl, dass ich sie meiden sollte?

Eros’ Kuppelbarriere über unserem Schloss muss hervorragend schützen, denn diese Göttin sieht durch mich hindurch. Sie stemmt die Arme in die Hüften. »Eros, du kleiner Mistkerl. Genug Verstecken gespielt. Ich kann es nicht fassen, dass du dich seit Tagen nicht mehr bei mir hast blicken lassen. Zeig dich! Oder muss ich dich holen?«

Ich schlucke. Was hat Eros mit dieser Göttin zu tun? Wer ist sie? Warum besucht er sie regelmäßig? Eifersucht breitet sich wie ein giftiger Sumpf in mir aus.

Die Frau holt Luft und schreit: »Als deine Mutter befehle ich dir, sofort herauszukommen!«

3. Die Göttin der Liebe

Eros’ Mutter? Vor Erleichterung werden meine Knie weich. Eros hat mich nicht mit dieser Göttin hintergangen. Zum ersten Mal sehe ich seine Mutter. Eine Person, die ihm sehr wichtig ist. Ich bedauere es, dass Eros uns voneinander ferngehalten hat. Ohne weiter nachzudenken, durchschreite ich die Barriere zur Außenwelt.

Die Göttin schnaubt verächtlich und verschränkt die Arme vor der Brust. »Na wunderbar. Die wohl übelste Begrüßung, die ich hier erwartet habe.«

Mein Lächeln verflüchtigt sich. Was hat sie gegen mich?

»Hast du Eros in den vergangenen Tagen von mir ferngehalten?«, fährt sie mich an. »War klar, kaum dass du deine Erinnerungen zurückhast, verwandelst du dich von seinem lieblichen Weibchen mit den lächerlichen Schmetterlingsflügeln in eine Rachegöttin, die den Sohn von der liebenden Mutter fernhält.«

So wie sie mit mir redet, kennt sie mich. Ich dagegen habe keine Ahnung, wer sie ist. Welche Erinnerungen meint sie? Die Visionen? Und was hat sie damit zu tun?

Wie aus dem Nichts stürzt Eros einem Falken gleich von oben auf seine Mutter, reißt sie zu Boden und brüllt sie an. »Was hast du hier zu suchen?«

Ich blinzle. Wie redet er mit seiner Mutter?

»Habe ich dir erlaubt, hierherzukommen?« Sie ringen miteinander.

Seine Mutter versucht ihn von sich wegzudrücken. »Es ist allen bekannt, dass sie sich nun erinnert.«

»Sei still.« Eros hält ihr den Mund zu, und sie keucht unter seinem Griff.

Es wird mir zu viel. Ich eile zu den beiden und lege Eros eine Hand auf die Schulter. »Mein Lieber, sie hat mir nichts getan. Warum bist du so grob zu deiner Mutter? Sie hat sich Sorgen um dich gemacht. Ich verstehe sie. Ich würde auch gern wissen, wo Hedone ist.«

Er dreht den Kopf zu mir, während seine Mutter gegen ihn ankämpft.

Blanke Panik steht in Eros’ Gesicht. »Was hat sie dir erzählt?«

»Nur dass sie glaubt, dass ich dich von ihr fernhalte, seit ich mich an irgendwas erinnern könne.«

Eros flucht und packt seine Mutter nun auch noch am Hals.

»Was ist in dich gefahren?« Ich zerre an seinen Armen.

Er starrt seiner Mutter in die Augen. »Hör mir genau zu. Ich werde das nur einmal sagen. Wenn ich dich loslasse, steigst du in deinen Wagen und verschwindest von hier. Ich komme nach, sobald ich es für richtig halte. Wenn nicht …« Er lässt den Rest als unausgesprochene Drohung in der Luft hängen.

Seine Mutter hebt die Hände zum Zeichen, dass sie aufgibt. Eros lässt sie los, steigt von ihr, tritt neben mich und legt mir demonstrativ einen Arm um die Schultern. Seine Mutter erhebt sich und wendet sich zum Gehen. Zuvor wirft sie mir einen Blick zu, der mein Innerstes gefrieren lässt. Unverhohlener Hass schlägt mir entgegen, so deutlich, dass ich ihn mit dem bloßen Auge sehe, dafür benötige ich keinen sechsten Sinn. Es ist erschreckend, wie ein Wesen, in dem der Segen des ewigen Lebens wohnt, so etwas empfinden kann. Das muss sie vergiften. Was habe ich ihr getan, und wann?

Sie steigt in ihren Wagen, und mit einem wütenden »Los!« lässt sie die Tauben wieder in den Himmel steigen. Einige Meter über der Erde dreht sie sich zu mir um. »Ich wünschte, ich hätte es beendet, als ich die Gelegenheit dazu hatte.« Sie spuckt mir vor die Füße.

Eros reißt sich von mir los und möchte sie angreifen. Ich erwische ihn am Ende seines Flügels. Er schleift mich mit, ich stürze auf das kalte Gras. Doch bevor ich aufschlage, fängt er mich auf.

»Es tut mir leid«, sagt er entsetzt. »Es tut mir so leid, dass sie hier aufgetaucht ist, du dir das anhören musstest und ich dich fast zum Stürzen gebracht habe. Geht es dir gut?«

Meine Augen beginnen zu brennen. Aus unerklärlichen Gründen bin ich unendlich traurig. Mein Kopfschmerz wird heftiger. Wenn ich nur weinen könnte. Der Moment, als ich mich an Eros’ Flügel festgehalten habe und er mich von den Füßen gerissen hat, fühlt sich an, als hätte ich ihn schon einmal erlebt. Dieses Déjà-vu ist so real, dass mir übel wird. Meine Sicht verschwimmt.

Auf einmal flößt Eros mir Nektar und Ambrosia ein. Trägt er die Götterspeisen ab jetzt ständig mit sich?

»Bitte, meine Seele«, fleht er, »bleib bei mir. Verlass mich nicht.«

Der süße Geschmack der Götterspeisen hält mich im Hier und Jetzt. Meine Wunde brennt.

Eros hält meine Hand und küsst den verletzten Zeigefinger. Mit dem anderen Arm presst er mich an sich. Er zittert. »Bitte bleib bei mir«, wiederholt er gebetsartig.

Ich beruhige mich. Über uns fliegt in Kreisen seine Mutter und beobachtet die Szene. Ich reiße mich zusammen, umarme Eros und gebe ihm einen Kuss. Zum einen, weil ich es wirklich so meine, aber noch viel wichtiger, um seiner Mutter zu zeigen, dass Eros und ich eine Einheit sind.

»Mein Lieber, es ist alles gut. Komm, lass uns nach Hause gehen«, flüstere ich ihm ins Ohr. Eros steht auf und trägt mich auf seinen Armen zurück in unser Schloss. Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie die Mutter von Eros ein wütendes Gesicht zieht, das ich selbst auf diese Entfernung erkenne. Schließlich dreht sie ab und verschwindet in den Wolken.

Kaum haben wir die Sommerkuppel betreten, möchte ich wissen: »Warum hasst deine Mutter mich?«