Mirror: Schön wie Rosen - Lucia Herbst - E-Book

Mirror: Schön wie Rosen E-Book

Lucia Herbst

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Beschreibung

Eine Münchner Influencerin lernt in der Märchenwelt, dass Schönheit Definitionssache ist. Urban Fantasy Adaption von »Die Schöne und das Biest« Für die Münchner Influencerin Rosalie bricht die Welt zusammen, als ihr Freund ihr während eines versehentlichen Live-Streams Oberflächlichkeit vorwirft und sie sich deswegen im Streit von ihm trennt. Im folgenden Shitstorm wünscht Rosalie sich nur noch weg und wacht plötzlich in ihrem Lieblingsmärchen »Die Schöne und das Biest« auf. Sie beschließt, sich eine neue Existenz im Märchenreich aufzubauen. Doch nicht sie schreibt hier die Regeln, und bei den unerwarteten Schönheitsidealen erweist es sich schwieriger als gedacht, sich einen Märchenprinzen zu angeln. 

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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© Piper Verlag GmbH, München 2025

Redaktion: Michaela Retetzki

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Emily Bähr, www.emilybaehr.de

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com und freepik.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

Wir behalten uns eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Prolog

1 La Belle et la Bête

2 Die liebe Familie

3 Live

4 Die andere Seite

5 Von Hennen und Wölfen

6 Der Herr des Schlosses

7 Geschriebene Pfade

8 Abgewiesene Hoffnung

9 Zwischen Frost und Fieber

10 Geständnisse

11 Schwestern

12 Pläne

13 Im Mondschein

14 Ein Komplott

15 Das goldene Ei

16 Im selben Boot

17 Verborgene Absichten

18 Der Ball

19 Die Patenfee

20 Drei Schuhe, drei Schwestern

21 Wenn der Schuh nicht passt

22 Zerbrochene Märchen

23 Väter und Töchter

24 Die alte Göttin

25 Zwischen den Welten

Epilog

Bonuskapitel: Rosa-Belle und Leo in München

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Prolog

»Hast du die Schweine bereits gefüttert?«, rief die rothaarige älteste Schwester ihrer jüngeren vom Hauseingang über den Garten hinüber zu. Der dichte Schneefall schluckte ihre Stimme und nahm ihr den schrillen Unterton. Sie klang fast freundlich.

»Ja«, antwortete die Angesprochene knapp. Für die Erklärung, dass sie die armen Tiere niemals zu lange auf ihr Abendessen warten lassen würde, fehlte ihr die Puste, da sie gerade eine Schubkarre mit Kuhmist über den Hof karrte.

»Wenn du bei den Hühnern bist, fang schon mal die Henne ein, die keine Eier mehr legt. Wir werden sie morgen früh schlachten.«

Fast wäre die Karre umgekippt. Gerade noch konnte sie das Gleichgewicht halten und stellte sie ab. »Warum?«

»Wir haben Kunde von Vater bekommen. Er kommt morgen zurück.«

»Wäre Fisch nicht etwas bekömmlicher nach der Reise?«, versuchte sie, ihre ältere Schwester umzustimmen.

»Gib dir keine Mühe. Du wirst die nutzlose Henne nicht retten.« Die Rothaarige strich sich eine Haarsträhne aus dem runden Gesicht.

Nun steckte die dritte der drei Schwestern den blonden Kopf aus der Tür und schob sich dann ebenfalls in den Hauseingang. »Vater kommt nach einem Jahr endlich zurück. Da ist es als seine Töchter unsere Pflicht, ihn so gut wie möglich willkommen zu heißen. Du stimmst uns doch zu, Schwester?«

Die frierende junge Frau auf dem Hof verengte die Augen. Die zwei Schwestern einträchtig nebeneinander im Hauseingang zu sehen, versetzte ihr einen bitteren Stich.

Als sie noch in der Stadt gelebt hatten, waren sie ständig miteinander verglichen worden. Nichts war unkommentiert geblieben, weder die Haarfarbe, der Hautton, die Augengröße noch die unterschiedliche Figur der drei, was am schlimmsten gewesen war.

Als sie aufs Land gezogen waren, hatte Vater damit weitergemacht. Erst als er vor einem Jahr in die Stadt aufgebrochen war, um Anspruch auf ein wiedergefundenes Schiff aus seiner bankrotten Handelsgesellschaft zu erheben, hatten die Vergleiche aufgehört.

Sie hatten nie friedlicher zusammengelebt als in diesem letzten Jahr, denn die Hühner, Schweine, Kühe und das Pferd urteilten nicht über ihr Äußeres.

Die drei Brüder waren mittlerweile so mit ihren eigenen Leben beschäftigt, dass sie sich kaum noch in ihrem bescheidenen Zuhause blicken ließen. Der älteste hatte geheiratet, der mittlere machte eine Lehre zum Steinmetz, und der jüngste war dem Militär beigetreten. So waren nur noch die drei Schwestern zu Hause geblieben. Sie hatten die Pflichten auf dem kleinen Hof untereinander aufgeteilt, und so auf sich allein gestellt war zum ersten Mal so etwas wie Frieden zwischen ihnen eingekehrt.

Nein, das stimmte nicht. Als sie klein waren und Mutter noch gelebt hatte, war es ihr irgendwie gelungen, ihre drei kleinen Schönen, wie sie sie immer liebevoll genannt hatte, von den urteilenden Blicken anderer abzuschirmen. Mit Vaters Rückkehr würde der alte Vergleichskampf wieder beginnen.

Der Gedanke an Mutter schnürte ihr die Brust zu. Seit die Albträume vor einigen Wochen begonnen hatten, dachte sie wieder öfter an sie. Mutter hätte gewusst, wie man die Dunkelheit aus Träumen vertreibt.

»Beeil dich! Wir warten nicht ewig mit dem Essen.« Die Rothaarige stemmte die Hände in ihre breiten Hüften.

»Fangt ohne mich an«, erwiderte die junge Frau auf dem Hof. Seit einigen Wochen hatte sie keinen Hunger, sobald die Nacht nahte. Und nun mit der Nachricht, dass Vater zurückkehrte und deswegen eins ihrer geliebten Tiere geschlachtet werden sollte, war ihr der Appetit endgültig vergangen. »Hat Vater den Prozess um das Schiff gewonnen?«

»Nein«, antwortete die Rothaarige. Sie wirkte gleichgültig, als hätte sie nichts anderes erwartet. Vielleicht war sie wie sie selbst insgeheim froh, nicht in die Stadt zurückkehren zu müssen, wo das gnadenlose Urteil der Gesellschaft auf sie wartete.

»Er wird wohl auch keine Geschenke mitbringen können«, ergänzte die Blonde seufzend. »Weder die bestellten Kleider noch den Schmuck.«

Während sie den Karren wieder anschob, blickte sie in den verschneiten Himmel. »Und auch nicht die Rose«, murmelte sie so leise, dass es niemand hören konnte.

Sobald die zwei Schwestern wieder ins Haus verschwunden waren, stapfte sie über den verschneiten Innenhof zum Misthaufen und leerte den Karren aus. Sie wusch sich die Hände im frischen Schnee und zog das Tuch aus grober Wolle enger um ihre Schultern.

Der Schweiß nach der schweren Arbeit im Stall ließ sie frösteln, und sie beeilte sich, in den warmen Pferdestall zu kommen. Drinnen begrüßte sie mit einem freudigen Schnauben das einzige Pferd, das sie nach dem Bankrott ihres Vaters hatten behalten können.

Sie holte ein Zuckerstück aus der Tasche ihrer Schürze und reichte es dem alten Tier. »Heute habe ich leider nur das eine.«

Das Pferd schnaubte zur Antwort und warf den Kopf zurück.

Sie lachte. »Etwas mehr Dankbarkeit bitte. Die Schwestern werden mich umbringen, wenn sie mitbekommen, dass ich den teuren Zucker an dich verfüttere. Und wegen dir werde ich mich heute mit einem bitteren Tee begnügen müssen.« Sie blickte in den Stall und seufzte. »Bevor wir weiterdiskutieren, lass mich erst mal deine Box ausmisten.«

Nachdem sie alle Tiere, die sie besaßen, besucht, verköstigt, gestreichelt und gepflegt hatte, war es bereits Nacht geworden. Erschöpft ging sie ins Haus, wusch sich, zog ihr weißes Nachtkleid an und fiel ohne Abendessen ins Bett.

Das Huhn hatte sie in Ruhe gelassen. Wenn sie es jetzt in einem Käfig einsperrte, würde es wissen, dass es morgen geschlachtet werden würde. Die arme Henne sollte wenigstens eine friedliche letzte Nacht in Unwissenheit des nahenden Todes verbringen.

In den folgenden Stunden fand die junge Frau keinen Schlaf. Sie wälzte sich hin und her und überlegte, wie sie das Huhn retten könnte. Es freizulassen würde das Tier ebenso umbringen wie es daheim zu behalten. Die Wölfe im Wald hinter dem Haus waren gleichermaßen hungrig wie ihre rothaarige Schwester. Vielleicht könnte sie dem armen Vogel ein Ei von einer anderen Henne unterschmuggeln. Diese Notlösung würde das Todesurteil jedoch lediglich um ein paar Tage aufschieben.

Mit einem sorgenvollen Seufzen drehte sie sich auf den Bauch. Der morgige Tag würde sehr anstrengend werden, und die Zeit danach erst recht. Vater würde wieder die Zwietracht unter den Schwestern aufleben lassen. Als der Schlaf sie endlich übermannte, glitt sie dankbar in die Dunkelheit. Ihr letzter Gedanke galt dem Huhn.

»Seht euch die an!«, rief ein Kind und lachte.

Sie konnte den Kopf nicht drehen. Erstarrt wie eine Statue stand sie da und musste hilflos den Spott der Menschen über sich ergehen lassen.

Der Hohn und die Schadenfreude darüber, dass sie wie eine Kuriosität ausgestellt wurde, traf sie hart. Sie wünschte sich, sie könnte daran zerbrechen, aber die Worte verletzten lediglich ihr Inneres, ohne die erstarrte Hülle auch nur anzukratzen. Vielleicht würde das Ganze ein Ende nehmen, wenn sie innerlich starb.

Jemand betatschte ihren Hintern, und plötzlich lachte ein betrunkener Mann, während er sich an ihr rieb. Warum hielt ihn niemand auf? Nur Gelächter begleitete seine obszönen Handlungen, die er vor den Augen der Kinder an ihr ausführte.

Innerlich weinte und schrie sie. Rief um Hilfe, versuchte den Mund zu öffnen, doch kein Wort verließ ihre versteinerten Lippen. Ihr Vater, ihre Schwestern, wo waren sie? Wer hatte ihr das angetan, und vor allem warum? War es der Fluch einer Hexe oder einer bösen Fee? Waren ihre Schwestern ebenfalls betroffen?

Wo befand sie sich überhaupt? Sie konnte nicht einmal die Augen bewegen, war gezwungen, einfach nur geradeaus zu starren. Was sie sah, wirkte wie der Marktplatz einer Stadt, in der sie allerdings noch nie gewesen war. Ein riesiger Brunnen schmückte das Zentrum. Mittendrin wurde die Statue eines gekrönten Paars von Wasser umspielt. Die beiden standen mit dem Rücken zu ihr. Herrschten sie über diese Stadt? Oder waren sie einmal die Regenten hier gewesen? Die Gestalt der weiblichen Statue, die sich beim Mann untergehakt hatte, kam ihr bekannt vor. In ihrer Brust wurde es eng. Waren sie versteinert wie sie? Was war das für eine Hexerei?

Wenn sie nur davonlaufen und sich wehren könnte.

Auf einmal bewegten sich die Menschen auf dem Marktplatz zäher. Die Tauben flogen langsamer, ohne allerdings an Höhe zu verlieren. Als würde jemand langsam die Zeit anhalten. Der Mann, der sie gerade belästigt hatte, verwandelte sich langsam in ein Schwein. Als er entsetzt quiekend auf allen vieren stand, erstarrte die Welt endgültig und stand still. Herunterfallende Blätter schwebten regungslos in der Luft, und ein Ball, den ein Mädchen eben über seinen Kopf geworfen hatte, erstarrte mitten im Flug. Unausgesprochene Worte hingen noch auf den Lippen der Menschen, unvollendete Gesten steckten in ihren Gliedern.

Ihr erstarrtes Herz hätte vor Angst gerast, wenn es dazu in der Lage gewesen wäre.

Die Luft begann zu flimmern, und über die Pflastersteine huschten Lichtflecken, als würde jemand eine Girlande aus bunten Glassteinen in die Sonne halten. Doch das konnte nicht sein, denn der Himmel war bewölkt. Schließlich flossen die bunten Lichter zusammen, und vor ihr erhob sich eine leuchtende Gestalt.

Nein, Gestalt war zu viel gesagt – eher ein Schatten aus Licht. Weder Gesicht noch Einzelheiten wie Kleidung waren zu erkennen. Nur eine Sache stach hervor: Da, wo das Herz sein sollte, klaffte ein Loch in der leuchtenden Brust.

Die Gestalt streckte eine Hand nach ihr aus, schwebte näher heran. Der Wunsch zu fliehen verflüchtigte sich aus ihren Gedanken. Stattdessen begann sie sich danach zu sehnen, das Licht zu berühren. So schrecklich schön der Anblick vor ihr erschien, die Präsenz fühlte sich wie nach Hause kommen an.

»Mama?«, flüsterte sie in Gedanken. Es konnte nicht sein. Mutter war schon so lange tot. Dennoch erinnerte die Präsenz der Gestalt so sehr an sie. Sie strahlte diese Wärme aus, die sie immer gespürt hatte, wenn ihre Mutter morgens reingekommen war, um sie mit einem Kuss zu wecken. Manchmal hatte sie so getan, als würde sie noch schlafen, damit Mutter sie länger in den Arm nahm und wach streichelte.

»Wach auf, ma belle«, wisperte das Licht und berührte ihre Brust.

Ihr Herz machte einen Schlag, und eine heiße Träne rann ihr die Wange hinunter. Wie konnte eine Träne fließen, wenn sie versteinert war? Ihr ganzer Körper erzitterte, als das Herz erneut schlug. Der Stein, der sie gefangen hielt, bekam Risse und begann, in kleinen Brocken von ihr herunterzufallen. Sie holte tief Luft, und die harte Kruste um ihre Brust zersprang.

Nun legte die Lichtgestalt eine Hand an ihre Wange. »Rosa-Belle, wach auf.«

Der Stein zerbarst nun endgültig, und die Explosion riss sie zu Boden.

Schweißgebadet und mit rasendem Puls riss sie die Augen auf. In diesem Moment zwischen Schlaf und Erwachen sah sie die Lichtgestalt aus ihrem Traum vor sich verblassen. Schließlich war sie nur noch in einem Handspiegel, der in einem Ständer auf einem Toilettentisch stand, zu sehen. Dann erlosch die Gestalt auch im Spiegel. Nein – das dunkle Loch in der Brust sog das Licht in sich hinein, verschluckte jegliches Leuchten. Dieser beängstigende Anblick katapultierte sie endgültig in die Realität.

Sie saß auf dem Boden und lehnte mit dem Rücken an der Wand eines winzigen Ankleideraums, den sie noch nie betreten hatte. Wäre die Kammer größer gewesen, würde sie jetzt wohl mit aufgeschlagenem Hinterkopf flach auf dem Boden liegen. Sie war wohl wieder geschlafwandelt. Fahrig strich sie sich über Augen und Stirn. Ihr Kopf pochte unangenehm, als würde ihr jemand von innen gegen die Schläfen trommeln.

Dieser Traum war anders als sonst gewesen. Heller und dennoch beängstigender. Für gewöhnlich war da kein Licht, nur die Starre und der Hohn der Umstehenden, bis die aufgehende Sonne, ein Hahnenschrei oder das Kreischen einer ihrer Schwestern sie aufweckte.

Je verzweifelter sie sich aus der Versteinerung im Albtraum zu lösen versuchte, desto weiter lief sie in der Realität. Inzwischen wussten ihre Schwestern Bescheid, weil sie einige Male in ihre Zimmer eingedrungen war. Den erschrockenen Schreien der beiden nach zu urteilen, gab sie ein gruseliges Bild ab, wenn sie mit glasigem Blick vor ihren Betten stand.

Doch nicht nur ihre Schwestern suchte sie in diesem Zustand heim. Sie war schon einmal in der Küche, im Keller, ja sogar in den Tierställen aufgewacht. Die älteste hatte mittlerweile aufgehört zu schreien, sie brachte sie ruhig zurück ins Bett, wenn sie sie außerhalb ihres Zimmers fand.

Und jetzt war sie erstmals von selbst aus diesem Albtraum erwacht. Nicht ganz – diese Lichtgestalt hatte sie geweckt.

»Rosa-Belle«, flüsterte sie. Das Pochen in ihrem Kopf wurde heftiger, als würde jemand versuchen, eine Mauer einzureißen. Sie schloss die Augen und wiederholte etwas lauter: »Rosa-Belle …« Abrupt richtete sie sich auf und starrte auf den Handspiegel, der nun im Mondlicht schimmerte. »Mein Name … Rosa-Belle. Das ist mein Name!«

Das Mondlicht im Handspiegel wurde heller. Nein, nicht das Mondlicht. Dieses Licht hatte sie eben gesehen. Die Lichtgestalt in ihrem Traum hatte in diesem warmen Ton gestrahlt, der nichts mit dem kühlen Silber des Mondes gemein hatte.

Das Licht im Spiegel zog sich wie ein Vorhang zurück, und Rosa-Belle erblickte ihr Spiegelbild, was sonderbar war, denn sie saß so, dass sie sich eigentlich nicht spiegeln konnte. Sie verengte die Augen. Kein Zweifel: Die Gestalt im Spiegel hatte das gleiche schmale Gesicht, das von kastanienbraunen langen Locken umrahmt wurde, und ihr Spiegelbild sah sie aus den gleichen grünen, etwas zu schräg stehenden Augen an. Die Lider ihres Ebenbildes waren geschwollen und gerötet, als hätte es geweint.

Ihre Zwillingsgestalt ähnelte ihr bis aufs Haar, allerdings war sie merkwürdig gekleidet. Sie hatte ein enges gestricktes Oberteil an, dessen grell gelb-rosa Streifen beim Betrachten beinahe Kopfschmerzen verursachten. Der blau-violett karierte plüschige Schal machte es nicht besser. Hofnarren würden so geschmacklose Sachen tragen, keine Frau von Stand. Nicht einmal als Unterwäsche.

Es war unwirklich. Dafür kam ihr der Albtraum auf einmal sehr real vor. Als hätte sie diese Starre bereits schon einmal erlebt. Nur konnte das nicht sein. Oder war der Albtraum eine Vision der Zukunft?

Rosa-Belle ballte die Fäuste und erhob sich. Langsam näherte sie sich dem sonderbaren Spiegel, streckte die Hand aus. Das Spiegelbild tat das Gleiche. Rosa-Belle würde alles tun, um den Albtraum nicht erneut erleben zu müssen. In diesem Moment überkam sie ein einziger, klarer Wunsch. Gebannt starrte sie in den Spiegel. Als sie den Mund öffnete, um zu sprechen, bewegte auch das Ebenbild die Lippen, und zusammen sprachen sie: »Ich wünschte, ich könnte einfach nur verschwinden.«

Ein plötzlicher Sog in ihrem Herz ließ sie nach Luft schnappen. Sie griff sich an die Brust. Würde sie jetzt sterben? Es tat nicht weh … Das Licht im Spiegel explodierte, und die Welt um sie herum löste sich auf.

1 La Belle et la Bête

»Salut mes belles, hier ist eure Rosalie. Wie ihr seht, habe ich mir für das heutige Adventstürchen etwas ganz Besonderes ausgedacht!« Rosalie drehte sich vor dem Smartphone, auf dem sie gerade das Live auf ihrem Social-Media-Profil gestartet hatte, um die eigene Achse. Der ausladende Rock des goldenen Kleides umschlang ihre Beine und federte wieder zurück in Position. Zufrieden beobachtete sie auf dem kleinen Display, wie ihre in einem Halbzopf zusammengefassten dunklen Locken das Kleid nachahmten und dann anmutig zerzaust über ihre bloßen Schultern fielen. »Heute ist mein Geburtstag, und ich freue mich riesig, dass ich ihn mit euch allen feiern darf!«

Auf dem Display ploppten im Halbsekundentakt Glückwünsche auf, und ihre Followerzahl schnellte nach oben, was ihr eine tiefe Genugtuung verschaffte. Sie schlug sich die Hände, die in eleganten goldenen Handschuhen steckten, vors Gesicht. »Oh, mes belles …« Nun drückte sie sich die Hände an die Brust. Für ein schönes Dekolleté hatte sie heute einen Push-up-BH anziehen müssen, der ein kleines Vermögen gekostet hatte, weil er besonders natürlich wirkte. Die Blicke ihrer Follower und Werbepartner waren ebenso scharf wie gnadenlos, und Natürlichkeit musste teuer erkauft werden. Wortwörtlich. »Ihr seid einfach die Besten. Ich bin euch so dankbar, dass ihr heute mit mir feiert. Ihr seid die großartigste Community, die man sich vorstellen kann. Wenn ihr so weitermacht, knacken wir heute noch die eine Million. Ihr könnt euch nicht vorstellen, was mir das bedeutet!« In Gedanken zählte sie auf: die Crème de la Crème der Werbeverträge, Umzug in das eine schnucklige Loft, das wegen der zu hohen Miete sogar in München schon länger auf dem Markt war, und eine Auszeit auf den Malediven mit Leo.

»Ihr seid unglaublich. Ehrlich! Deswegen habe ich heute einige Überraschungen für euch vorbereitet. Aber bevor ich mehr verrate, beantworte ich euch eine Frage, die ich jetzt unzählige Male gesehen habe: Ihr wollt wissen, wie alt ich heute geworden bin. Ihr wisst schon, dass man das eine Dame nicht fragt«, säuselte sie mit einem Augenaufschlag, nur um dann in den selbstbewussten Feminismus zu switchen. Die Follower mochten diesen Mix aus süßem Mädchen und selbstbewusster Frau. »Nun, mein Alter ist kein Geheimnis. Und ich verstehe überhaupt nicht, warum es für viele so ein Riesenthema ist. Ihr wisst schon, dass der Jugend- und Schönheitswahn ein patriarchales und zutiefst misogynes Konstrukt ist. Es spaltet uns Frauen und raubt uns die Zeit für wichtigere Dinge. Vergesst nie, dass ihr alle schön seid, egal wie alt ihr seid! Und nun zu mir. Heute ist mein fünfundzwanzigster Geburtstag, und ich werde euch genauso problemlos meinen fünfundvierzigsten und fünfundsechzigsten nennen. Denn mes belles, Alter ist nur eine Zahl. Und seht mich heute an«, sie strich sich über das Kleid, für dessen Maßanfertigung die Kostümbildnerin sie richtig abgezockt hatte, »ich bin gekleidet wie eine Fünfjährige und fühle mich sehr wohl dabei!«

Die Zahl der Follower kletterte in schwindelerregender Geschwindigkeit weiter nach oben. »So, und nun zurück zu dem, was ich mit euch vorhabe: Ihr habt sicher schon erraten, dass ich mich gerade als Belle aus Die Schöne und das Biest verkleidet habe. Ich werde euch heute nicht nur zu den Wurzeln dieser zauberhaften Geschichte führen, sondern auch in meine eigene Vergangenheit mitnehmen. Wusstet ihr, dass das Märchen genauso wie ich französische Wurzeln hat? Bevor ich als Kind den allgemein bekannten Zeichentrickfilm gesehen hatte, kannte ich nur die gängige französische Version namens La Belle et la Bête. Meine Oma ist Französin und hat mir mein Lieblingsmärchen wieder und wieder in ihrer Muttersprache vorlesen müssen.«

Rosalies privates Handy vibrierte, und aus dem Augenwinkel sah sie, dass ihr Vater sie anrief. Ein unbehagliches Gefühl braute sich in ihrer Brust zusammen. Hoffentlich wollte er ihr nur gratulieren.

»Mes belles, wenn ihr dranbleibt, werdet ihr im Lauf des heutigen Tages interessante Unterschiede und Details der verschiedenen Versionen des Märchens erfahren. Und das nicht irgendwie. Leo und ich haben ein paar Szenen aus den französischen Originalmärchen nachgestellt, und ich werde die Sketche heute über den Tag verteilt posten. Und das ist noch nicht alles. Ihr dürft mich heute durch den Tag begleiten. Ein kleiner Höhepunkt wird der Besuch an einem meiner Lieblingsplätze in München sein, der sicherlich auch Belle verzaubert hätte: Ich nehme euch mit in die schönste Bibliothek Münchens, wenn nicht sogar ganz Deutschlands, und zwar in die juristische Bibliothek im Neuen Rathaus am Marienplatz. Ansonsten erwarten euch heute noch ein Besuch auf dem Weihnachtsmarkt am Marienplatz und ein Frühstück in einem schnuckeligen französischen Café. Um elf Uhr treffe ich mich dort mit meinen liebsten Menschen. Für alle Fans von Leo und meinem Vater unter euch: Dabei sein lohnt sich! Wenn das Wetter heute mitgespielt hätte, dann hätte ich all das in diesem wunderschönen Kleid gemacht. Ich will es gar nicht mehr ausziehen. Nur ist es für das nasskalte graue Wetter zu schade, deswegen werde ich mir gleich etwas Bequemeres anziehen. Doch zum Abschluss des Tages werden Leo und ich für euch das berühmte Märchenpaar aus Die Schöne und das Biest noch einmal live cosplayen. So, und nun schicke ich euch tausend Rosen aus dem verregneten München.«

Rosalie griff in einen Korb auf einem Beistelltisch neben sich, der durch die Handykamera bisher nicht erfasst worden war, und warf anmutig eine Handvoll künstlicher Rosenblüten in Richtung des Stativs. Ihr Publikum liebte dieses wiederkehrende Element mit den Rosen, die mittlerweile zu ihrem Markenzeichen geworden waren. »Bis später, mes belles!«

Sie beendete das Live und schaltete zusammen mit dem Display auch das breite Lächeln in ihrem Gesicht aus. Besorgt griff sie nach dem privaten Handy und rief mit feuchten Händen ihren Vater zurück.

»Rosalie, alles Gute zum Geburtstag«, begrüßte er sie mit einer abwesenden und leicht monotonen Stimme. Rosalie wusste sofort, was gleich kommen würde. »Leider muss ich das Frühstück mit dir verschieben. Mich hat heute Nacht eine Idee überfallen, die ich jetzt unbedingt weiter ausarbeiten muss.«

Rosalies Mund wurde trocken, und sie antwortete nicht.

»O bitte, jetzt sei nicht so«, fuhr er sie an. »Du weißt, wie wichtig das für mich … für die Welt ist. Frühstücken können wir immer. Aber den Flow einzufangen, das ist für einen Künstler etwas Einmaliges. Kein inspirierter Moment gleicht dem anderen. Jetzt lächle dich im Spiegel an und sei wieder gut, ja? Verdirb es mir bitte nicht, indem du mir ein schlechtes Gewissen aufzwingst. Und es sollte nicht einmal ein exklusives Frühstück für uns zwei werden, sondern nur eine Marketinggeschichte für deinen Account. Du hast ja auch Leo eingeladen.«

»Papa, sorry«, sagte sie so sorglos wie möglich. »Ich war nur gerade abgelenkt. Nein, das ist überhaupt kein Problem. Klar holen wir das nach. Jetzt kümmere dich um deine Idee. Bin schon sehr gespannt darauf.«

»Gut, dann lass es dir schmecken. Ich melde mich wieder, sobald ich meine Gedanken sortiert habe. Kuss und feiere schön. Dafür, dass ich heute für dein Live ausfalle, kannst du ein persönlich signiertes Buch von mir verlosen.«

»Mache ich«, sagte sie mit einem gezwungenen Lächeln, doch sie sprach bereits mit dem Freizeichen. Ihr Vater hatte aufgelegt.

Langsam legte sie das Handy weg und starrte in einem großen Spiegel ihr wunderschönes Spiegelbild an. Zum Lächeln war ihr nicht zumute. Ihr blieb nicht lange Zeit, um über die Absage ihres Vaters zu grübeln. Wieder begann das Smartphone zu vibrieren. Rosalie fuhr herum. Hatte er es sich anders überlegt?

Es war ihre grand-maman. »Rosa-Jolie, meine Hübsche, alles Liebe und Schöne zum Geburtstag! Ich hab dich so unendlich lieb!«

Der französische Akzent legte sich wie eine flauschige Decke um Rosalies Traurigkeit. »Danke, grand-maman. Hab dich auch lieb!«, antwortete Rosalie mit Tränen in den Augen. Dieser Anruf war jetzt genau das, was sie brauchte. Es war auch wieder schön, ihren vollen Namen zu hören. Grand-maman weigerte sich, den Spitznamen Rosalie zu benutzen. »Das ist nicht der Name, den dir deine maman geschenkt hat«, lautete ihre unumstößliche Begründung.

Grand-maman bemerkte sofort, dass etwas nicht stimmte. »Ma chérie, was ist los? Ah, warte, dein Opa und Ciel reißen mir den Hörer aus der Hand. Wir reden gleich weiter.«

Ihr Großvater und ihr Onkel, der nur zehn Jahre älter war als sie, schmetterten ihr ein gut gelauntes Ständchen in den Hörer, wobei sich Ciel einige Male verhaspelte.

»Danke euch!« Rosalie ließ sich breit lächelnd in einen cremefarbenen Sessel fallen. »Wenn ich euch drei nicht hätte …«

»Ciel, das hast du gut gemacht«, lobte Oma gerade ihren Sohn.

»Ja, Ciel«, rief Rosalie in den Hörer, »es war richtig schön!«

»Ich habe lange geübt«, sagte er undeutlicher als sonst, und Rosalie wusste, dass er sich Sorgen machte, weil er ein paar Fehler gemacht hatte.

»Ach Ciel, glaub mir, das war heute mein bestes Geschenk!«

»Oh, aber ich habe noch etwas für dich! Du wirst nie erraten, was es ist.«

»Hm, ist es ein Puzzle?« Rosalie spielte die Ahnungslose und betrachtete lächelnd einen Bücherständer, in dem vierundzwanzig verschiedene Versionen des Märchens Die Schöne und das Biest für verschiedene Altersstufen standen. Je nachdem, was Ciel gerade gefiel. Nur in einem französischen Buch waren zwei Märchen drin: Cendrillon, die französische Version von Aschenputtel, und La Belle et la Bête von Jeanne-Marie Leprince de Beaumont. Ciel liebte die Bilder darin. Er sagte, die Zeichnungen von Belle würden genauso aussehen wie Rosalie, was sie zutiefst freute.

Ciel kicherte. »Nein, Rosa-Jolie! Ich verrat’s dir nicht!«

»Ciel, lässt du mich kurz Rosa-Jolie sprechen?«, fragte grand-maman sanft. »Ich gebe sie dir gleich wieder.«

Brummend überreichte Ciel seiner maman den Hörer.

»So, ma petite, noch mal, was ist los? Hat es etwas mit deinem Vater zu tun?« Bei den letzten Worten kühlte grand-mamans Ton deutlich ab.

Rosalie seufzte. »Ach, es ist nichts Schlimmes. Wir wollten nur im Café Mademoiselle frühstücken gehen, aber bei ihm ist etwas Dringendes dazwischengekommen.«

Grand-maman schnaubte. »Mon Dieu, lass mich raten, er glaubt, von seiner bisher genialsten Idee überfallen worden zu sein?«

»Grand-maman«, beschwörte Rosalie.

»Bon. Wir sollten an deinem besonderen Tag nicht über Hässliches reden. Weißt du was, wir drei springen jetzt ins Auto und sind in einer Stunde da. Kannst du die Reservierung bitte auf vier Personen erweitern?«

»Fünf«, korrigierte Rosalie. »Leo kommt auch.«

»Ah, Leo! Formidable, wie wunderbar! Ich habe ihn schon ewig nicht mehr gesehen. Er ist so ein toller junger Mann. Habt ihr euch schon überlegt, bald zusammenzuziehen?«

»Grand-maman!«

»Schon gut, schon gut. Ich frage ihn das heute einfach selbst.«

»Nein!«, rief Rosalie lachend.

»Ah, du wirst einer alten Frau die Freude erlauben, euch verliebte junge Leute etwas aufzuziehen. Alors, wir bereden alles Weitere gleich, wenn ich dein hübsches Gesicht dabei sehe.« Während grand-maman auflegte, hörte Rosalie noch, wie sie Ciel und Opa zurief, dass sie sich für einen Ausflug nach München fertig machen sollten.

Nachdem Rosalie ihren Freund Leo per Sprachnachricht über die Planänderung informiert hatte, übernahm er die Erweiterung der Reservierung, ohne dass Rosalie ihn darum bitten musste. Bevor sie sich zum Ausgehen fertig machte, wechselte sie noch schnell in ihren Inkognito-Account und rief die Seite ihrer größten Konkurrentin Emily auf.

Im Gegensatz zu Rosalie war Emily von klein auf eine Schönheit gewesen. Es hatte mal einen Trend gegeben, als alle ihre Kindheitsfotos gepostet hatten, um ein Vorher-Nachher zu jetzt zu zeigen. Rosalie hatte ewig suchen müssen, um ein Foto zu finden, auf dem sie nicht pausbäckig in die Kamera grinste. Emily dagegen hatte eine ganze Reihe von Aufnahmen veröffentlicht. Es hatte fast gewirkt, als hätte sie große Mühe gehabt, die Auswahl einzugrenzen.

Emily hatte die eine Million Follower schon längst geknackt, und Rosalie musste ständig aufpassen, dass sich ihre Posts drastisch von Emilys Beiträgen unterschieden. Da Rosalies Account kleiner und somit weniger erfolgreich war, wurde bei ähnlichen Inhalten eher Rosalie unterstellt, Emily nachzumachen, als andersherum. Außerdem hatte Emily bereits Verträge mit all den Werbepartnern, von denen Rosalie noch träumte.

Doch am meisten hasste Rosalie ihre Konkurrentin dafür, dass sie ständig mit ihr verglichen wurde. Mit ihren blonden, welligen Haaren, der durchschnittlichen Größe und den zurechtoperierten Kurven – Rosalie vermutete zumindest eine Brustvergrößerung – hatte Emily für sich die Rolle des Mädchens von nebenan, das zufällig auch noch sexy war, auserkoren. Rosalie dagegen wurde häufig vorgeworfen, mit ihren Modelmaßen unnahbar zu wirken.

Nun verbreitete Emily auf ihrem Account ihre aufgesetzte gute Laune und kündigte an, dass Weihnachten diesmal märchenhaft werden würde. Rosalies Magen verkrampfte sich. Wenn Emily etwas mit Märchen brachte, dann wäre das dreiste Nachahmung ihres Adventskalenders. Dann würde im neuen Jahr zwischen ihr und Emily Krieg herrschen. Schnell wischte sie den Account weg und legte das Smartphone zur Seite. Sie brauchte jetzt eine heißkalte Dusche, um vor dem Frühstück mit Leo all die negativen Gedanken wegzuspülen.

Um ihre Laune zu heben, wählte sie als Outfit einen figurbetonten, gelb-rosa gestreiften Kaschmirpulli mit einer Jeans. Die Farben passten ausgezeichnet zu ihren dunklen Locken und den grünen Augen. Damit sie niemand auf der Straße erkannte und aufhielt, zog sie unterwegs die Kapuze ihrer Jacke über ihre blau-violett karierte Mütze, zu der sie einen passenden Schal trug. Die Farben und das kuschelige Material streichelten ihre Sinne und zauberten die Enttäuschung über Vaters Absage weg. Als sie das Café Mademoiselle, das wie ein heller Salon aus einem barocken französischen Schloss eingerichtet war, betrat, verschwand ihre Verstimmung endgültig.

Sie atmete den Geruch von Kaffee, heißer Schokolade und frischen Croissants ein. Der Tag würde wundervoll werden. Sofort entdeckte sie den reservierten runden Tisch. Auf einer weißen Decke stand ein dreiarmiger goldener Kerzenständer, um den pastellfarbene Rosen arrangiert waren. Die Tischdecke würde großartig auf ihrem Social-Media-Profil aussehen.

Vor dem Tisch stand breit grinsend Leo mit einem bunten Rosenstrauß, der so groß war, dass er höchstwahrscheinlich aus fünfundzwanzig Blumen bestand. Leos blaue Augen blitzten vor Freude, als er auf sie zukam. Er hatte sich schick gemacht und trug ein weißes Hemd zu einer kaschmirfarbenen Hose. Das Outfit betonte seinen natürlich gebräunten Hautton und die goldblonden, dichten Locken, die er heute besonders sorgfältig gestylt hatte. Leo sah im Sommer wie im Winter sonnengeküsst aus und wurde von vielen inklusive Rosalie darum beneidet. Einige seiner Neider auf Social Media unterstellten ihm, er würde in einem Sonnenstudio nachhelfen, was nicht stimmte. Er hätte viel besser an einen heißen Surferstrand als ins verregnete München gepasst oder als Prinz in ein Märchen.

Der heutige Tag würde ihnen beiden viele Follower bescheren. Leo würde heute ganz sicher die fünfhunderttausend Follower knacken. Beim Gedanken an ihre eigene Million, die zum Greifen nahe war, kam bei Rosalie wieder das Hochgefühl eines Geburtstags auf.

Kaum hatte sie die Blumen in Empfang genommen, Leo herzlich begrüßt sowie das Selfie mit ihm und dem Rosenstrauß gepostet, betraten auch schon ihre Großeltern mit Ciel das Café. Grand-maman mit ihren schneeweißen, kinnlangen Locken schwebte förmlich zu Rosalie. Ein wadenlanger Rock umspielte ihre schlanke Figur. Die Augen aller richteten sich auf sie. Mit ihrer Mischung aus Aussehen, Stil, Würde und der für eine Französin typischen Nonchalance war ihre Präsenz überwältigend. Ihr Großvater überragte grand-maman um mehr als einen Kopf und sah mit seinem noch dunklen Vollbart neben ihr wie ein Bär aus. Sie waren die in die Jahre gekommene Schöne und das älter gewordene Biest.

Nach einer herzlichen Begrüßung überreichte Ciel ihr kichernd eine bunte Papiertüte, an der ein mit Helium gefüllter roter Luftballon befestigt war.

Rosalie weitete die Augen. »Ich bin so gespannt, Ciel!« Sie griff hinein und holte eine wunderschön illustrierte Sonderausgabe von Die Schöne und das Biest heraus. Es war ein auf Deutsch geschriebenes Buch, doch die Märchenversion war von Beaumont. Über dieses Buch freute sich Rosalie aufrichtig und musste ihm nicht wie vor zwei Jahren etwas vorspielen, als er ihr ein Pappbilderbuch mit Soundeffekten des Märchens für Dreijährige geschenkt hatte. »Ciel, ich liebe es und wäre nie draufgekommen!« Sie nahm ihn in die Arme und gab ihm einen Kuss auf die Stirn, was Ciel mit einem feuchten Schmatzer auf ihre Wange erwiderte.

»Ich habe dir etwas reingeschrieben«, sagte er so schnell, dass er sich verschluckte.

Grand-maman strich ihm über den Rücken. »Langsam sprechen, mon amour. Geht es wieder?«

Als sie saßen, schlug Rosalie das Buch auf und fand auf der ersten Seite Ciels Widmung in seiner großen kindlichen Schrift:

Rosa-Jolie, unsere Schöne, sei nicht traurig. Es wird alles gut.

Dein Ciel und deine maman

Rosalie blickte hoch und zwang sich zu lächeln. »Die Widmung von dir und grand-maman ist wunderschön. Danke …«

»Non!«, rief Ciel. Im Café drehten sich alle zu ihm. »Das habe ich nicht mit maman, sondern mit Florence geschrieben!«

»Ciel«, sagte Großvater leise. »Lass gut sein. Florence ist nicht da.«

»Doch, das ist sie!« Ciel lief rot an.

»Mon amour.« Grand-maman nahm seine Hand. »Natürlich ist deine Schwester da. Sie lebt in uns und hat aus deinem Herzen zu ihrer petite Rosa-Jolie gesprochen.« Während sie Ciel tätschelte, warf sie ihrem Mann und Rosalie flehende Blicke zu.

»Ich danke dir, Ciel. Richte maman liebe Grüße aus, wenn du wieder mit ihr sprichst.« Rosalie spielte mit, konnte allerdings das Zittern in der Stimme nicht unterdrücken. Seit ihre Mutter vor fünf Jahren spurlos verschwunden war, beharrte Ciel an Rosalies Geburtstagen darauf, dass er mit ihr in Kontakt stehen würde.

Leo nahm unter dem Tisch Rosalies Hand und drückte sie. Er hatte Rosalie vor fünf Jahren aufgefangen und sie durch die Zeit begleitet, als die Polizei nach ihrer Mutter gesucht hatte.

Rosalie formte mit den Lippen ein »Danke«.

Großvater seufzte schwer und winkte einen Kellner heran, der mit einem weißen Tuch über dem Unterarm beflissen herbeieilte.

Als das prächtige französische Frühstück mit frischem Kaffee und Champagner kam, lockerte sich die Stimmung wieder auf. Ciel erzählte von seiner WG und der Arbeit in der Werkstatt für behinderte Menschen. Er hatte eine neue Freundin, was Rosalie sehr freute, und er versprach, Rosalie bis zum nächsten Treffen eine Schale für Chips zu töpfern. Während er ankündigte, sich nun Gedanken über die Bemalung machen zu wollen und dabei nicht gestört werden wollte, fragte grand-maman:

»Leo, mon chéri, ich habe eine Freundin in Schwabing, die sich vergrößern möchte. Alors, ihre Wohnung wird frei. Sie wäre groß genug für euch beide …«

»Grand-maman«, unterbrach Rosalie sie peinlich berührt. »Wir sind fast Nachbarn und mögen unsere Wohnungen. Man muss nicht mehr wie früher zusammenziehen. So sind wir zusammen und haben gleichzeitig unseren Freiraum.«

»Bon, aber …« Sie verstummte und starrte an Rosalie vorbei zur Eingangstür des Cafés.

Rosalie fuhr herum, um zu sehen, was ihre grand-maman so aus dem Konzept gebracht hatte. Ihre Eingeweide verwandelten sich in einen Steinklumpen. Gerade kam ihr Vater herein, und beim Anblick von Rosalies Geburtstagsgesellschaft erstarrte auch er. Er hatte mit Rosalies Großeltern seit vier Jahren kein Wort mehr gewechselt oder sich mit ihnen im selben Raum befunden. Genauer gesagt, seit dem Gerichtsverfahren, das Rosalies Großeltern gegen ihn nach dem Verschwinden ihrer Tochter geführt und verloren hatten.

2 Die liebe Familie

Mit einem versteinerten Gesichtsausdruck schlenderte Rosalies Vater zum Tisch. Leo und sie erhoben sich, während ihre Großeltern und Ciel schweigend sitzen blieben. Die Anspannung griff auf das ganze Café über, die Menschen verstummten und beobachteten die Szene.

»Papa«, sagte Rosalie mit etwas zu hoher Stimme. »Ich dachte, du seist beschäftigt.«

»Wie ich sehe, hast du schnell Ersatz für mich gefunden.«

»Ich … das war …«

Rosalies Vater schnaubte. »Meine Absage war nur Spaß. Eigentlich wollte ich dich überraschen.«

»Oui, das sieht ihm ähnlich«, kommentierte grand-maman, wobei sie demonstrativ zu ihrem Mann sprach.

»Wenn du mir etwas zu sagen hast, dann hab die Courage, es mir ins Gesicht zu sagen!«, brauste Rosalies Vater auf.

Grand-maman sprang auf, und ihre grünen Augen, die Rosalie von ihr hatte, blitzten vor Wut. »Courage? Wie kannst du es wagen, von Courage zu reden, wenn du selbst das feigste Stück Merde bist, das mir je untergekommen ist? Wo ist deine Courage, endlich zuzugeben, dass du Florence ermordet hast?«

»Jetzt geht das schon wieder los!«, schmetterte ihr Vater los. »Mit deinen Anschuldigungen hast du fast meinen Ruf ruiniert! Das Gericht hat mich für unschuldig befunden. Florence ist abgehauen. Kapier’s endlich! Sie ist abgehauen, ohne auch nur zurückzublicken, und hurt gerade irgendwo herum.«

Nun hatten sie auch die Aufmerksamkeit des Personals, das aus der Küche trat.

»Wenn sie noch leben würde, hätte sie sich bei uns gemeldet«, schrie grand-maman.

»Wird Zeit, dass du der Wahrheit ins Gesicht siehst. Florence war keine Heilige!«, konterte er.

»Du hast sie zerstört! Und damit nicht genug, nun machst du bei deiner Tochter weiter. Ihr am Geburtstag aus Spaß abzusagen, nur um den eigenen Wert zu steigern, ist kein Spaß! Sie ist deine Tochter! Einem traurigen Kind eine Freude zu machen, ist einfacher als einem glücklichen.«

»Rosalie ist kein Kind mehr.«

»O doch.« Nun erhob sich auch Großvater. »Du hast schon eins unserer Kinder zugrunde gerichtet. Bei Rosalie werden wir es nicht zulassen.«

»Du erträgst es nur nicht, dass Florence euch vergessen hat«, giftete Rosalies Vater. »Ihr werdet es nicht schaffen, einen Keil zwischen Rosalie und mich zu treiben. Ohne euer Gift wäre Florence bei mir glücklich gewesen!«

»Wäre sie nicht«, nuschelte Ciel.

Rosalies Vater starrte ihn an. »Was verstehst du schon davon?«

Trotzig blickte Ciel hoch und schob das Kinn vor. »Florence hat es mir neulich gesagt.«

Drohend trat Rosalies Vater einen Schritt auf Ciel zu. »Du hast mit ihr geredet? Wo ist sie?«

Ciel tippte auf das Buch, das er Rosalie geschenkt hatte. »Na, hier. Sie ist die ganze Zeit hier.«

»Vielleicht solltet ihr ihn nun in sein Heim zurückbringen«, sagte Rosalies Vater mit einem verächtlichen Schnauben.

Rosalie packte Ciels Hand. »Papa, lass Ciel in Ruhe.« Sie zog ihren Onkel auf die Füße und mit sich zu einem freien Separee am anderen Ende des Raums. Leo folgte ihr schweigend. Sie wäre gern hinausgegangen, allerdings stürmte es gerade, und da Ciel sehr schnell krank wurde, wollte sie ihn nicht dem Schneeregen aussetzen.

»Stellst du dich jetzt auf ihre Seite?«, rief ihr Vater ihr hinterher. »Nur weil ich mir heute einen kleinen Spaß erlaubt habe? Gut, wie du willst, dann habe ich ab heute eben keine Tochter mehr. Du bist genauso verrückt wie deine Mutter …«

Der Rest des Satzes ging in einem Krachen unter. Rosalie fuhr herum. Ihr Großvater war nach vorn geprescht und hatte ihren Vater mit einem Faustschlag ins Gesicht gegen einen gedeckten freien Tisch geworfen. Das darauf befindliche Besteck landete klirrend auf dem Boden, Geschirr zerbrach. Leute sprangen schreiend auf. Einige Männer gingen zwischen die beiden. Die Kellner redeten beruhigend auf die Menschen ein, grand-maman stand schluchzend mittendrin. Rosalie kam sich vor wie die Zuschauerin eines grotesken Films.

Ciels Schluchzen holte sie zurück, sie fuhr herum und trat so vor ihn, dass sie ihm die Sicht auf das Chaos versperrte – zum Glück war sie größer als ihr Onkel –, und legte ihm die Hände auf die Ohren. »Es wird alles gut«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu Ciel, da er sie nicht hören konnte.

Leo trat hinter Rosalie, legte die Arme um ihre Taille und drückte sie an sich. »Es wird wirklich alles gut.«

Rosalie rannen Tränen die Wangen hinunter. Sie glaubte nicht, dass ihr Vater ihre Mutter ermordet hatte, und ihre Mutter hätte grand-maman, Großvater, Ciel und sie selbst nie so im Stich gelassen. Sie hatte sich nicht einmal von Rosalies Vater scheiden lassen, obwohl – wie Rosalie nun verstand – das Leben mit ihm sehr schwierig für sie gewesen sein musste.

Ihr Vater strebte nicht nur bei sich selbst, sondern auch bei anderen stets nach Perfektion und benannte gnadenlos alle Makel, die er bei anderen fand. Rosalies Übergewicht als Jugendliche hatte ihm ebenso missfallen, wie wenn sie nicht die besten Noten schrieb. Wenn sie etwas erreicht hatte, hielt er sich nicht lange damit auf, ihre Erfolge zu feiern, sondern es ging ihm stets darum, es beim nächsten Mal noch besser zu machen und das Ergebnis zu übertreffen. Unter seinem Einfluss hatte Rosalie nun Modelmaße, hatte zwei Jahrgänge übersprungen, war mittlerweile mit einem Jurastudium fertig und gehörte mit fast einer Million Followern zu den erfolgreichsten Influencerinnen Deutschlands.

Auch er selbst hatte es mit dieser Einstellung zu einem gefeierten Bestsellerautor geschafft und jeden Preis der Literaturszene abgeräumt.

Ihre Mutter hatte sich nach Kräften bemüht, ihrem berühmten Mann keine Schande zu sein, wie er es oft sagte. Nun war sie verschwunden. Hinter Rosalie wurde es statt leiser zunehmend lauter. Sie würde Hausverbot in diesem Café bekommen. Warum dachte eigentlich niemand daran, dass ihre Mutter auch hätte entführt worden sein können? Nur weil man sie nicht gefunden hatte und nie eine Lösegeldforderung eingegangen war, hieß es nicht, dass es nicht hätte sein können.

Rosalie schloss die Augen. Es war der furchtbarste Geburtstagsmorgen, den sie je erlebt hatte. Abgesehen von dem vor fünf Jahren, als ihre Mutter verschwunden war.

Die Szene wurde durch zwei Polizisten unterbrochen. Jemand hatte wohl die Polizei gerufen. Rosalies Großeltern und ihr Vater erstatteten gegeneinander Anzeige, und Rosalie konnte den Cafébesitzer beschwichtigen, indem sie sofort großzügig für den entstandenen Schaden aufkam. Ihr Vater verschwand grußlos, und Rosalies Großeltern brachen mit Ciel zurück nach Augsburg auf, nachdem sie sich herzlich von ihr verabschiedet hatten. Leider konnten sie nicht länger bleiben, da Ciel sich so aufgeregt hatte, dass er so schnell wie möglich in seine gewohnte Umgebung zurückmusste. Rosalie hoffte inständig, dass dieses unselige Frühstück keine epileptischen Anfälle bei ihm auslösen würde.

Leo brachte sie nach Hause, und sie posteten noch ein gut gelauntes Live von unterwegs. Vor ihrer Haustür bat Rosalie ihn, ihr etwas Zeit und Raum für sich selbst zu geben. Leo verstand es richtig. Er gab ihr einen zärtlichen Kuss und strich ihr über die Haare. »Hol mich, wenn du es dir anders überlegst.« Dann ging er zum Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo er unter dem Dach wohnte.

Bei sich daheim weinte Rosalie über ihrem Kaffee. Wenn Mutter da wäre, dann wäre das alles nicht passiert. Die letzten fünf Jahre wären für sie alle so viel einfacher gewesen. Wo war sie? Lebte sie noch? Rosalie wollte so gern daran glauben. Nur warum meldete sie sich dann nicht? Ein abstruser Gedanke kam ihr. Vielleicht sollte sie eine Séance abhalten und versuchen, mit Mutters Geist zu sprechen. Das war wirklich das Einzige, was sie noch nicht unternommen hatte, um sie zu finden.

Und dann nagte da stets der leise Verdacht an ihr. Hatte Vater vielleicht doch etwas damit zu tun? Mutter war in den letzten zwei Jahren vor ihrem Verschwinden, genauer seit Rosalie volljährig geworden war, freier geworden. Sie hatte sich von Rosalies Vater nicht mehr so viel gefallen lassen, hatte trotz seines heftigen Protestes wieder angefangen zu arbeiten, war wieder öfter bei ihren Eltern in Augsburg gewesen. Es war ihr stets gelungen, Rosalie aus den Ehekonflikten rauszuhalten, sogar als sich das Ganze gegen Ende zugespitzt hatte.

Hätte Rosalie nachfragen sollen? Aber sie dachte, ihre Mutter hätte grand-maman und Großvater, die sie da unterstützten. Hätte ihre Mutter sie gebraucht? Rosalie war damals sehr mit ihrem Jurastudium und dem Aufbau ihrer Social-Media-Karriere beschäftigt gewesen. Hätte sie etwas tun können, um Mutters Verschwinden zu verhindern?

Der Nachmittag rückte voran, und es wurde Zeit, sich für den Adventsmarkt und den Besuch in der juristischen Bibliothek vorzubereiten. In den letzten Stunden hatte sie einige kurze Clips gepostet, in denen Leo und sie Die Schöne und das Biest nachstellten. Ihre Follower waren glücklich. Sie bekam viele Likes, Herzchen und Komplimente. Da sie mit ihrem Freund zusammen auftrat, hielten sich die Männer zurück, allzu sexistisch zu kommentieren, denn sie gehörte ja zu einem Mann, und das wurde respektiert. Sie kannte den Hass, den ungebundene Influencerinnen im Netz oftmals abbekamen, nur zu gut und war froh, dass sie dem nicht ausgesetzt war.

Sie verzichtete darauf, sich umzuziehen, das würden ihr viele Follower als Angeberei auslegen, sondern frischte nur ihr natürliches Make-up auf. Sie sah bei Weitem nicht so aus, wie sie sich fühlte. Aus dem Spiegel strahlte ihr eine natürliche Schönheit entgegen und nicht das Häufchen verheultes Elend. Sie versuchte sich an einem Lächeln. Es hatte sich rentiert, sich die Zähne aufhellen zu lassen. Sie überstrahlten den letzten Rest ihrer Traurigkeit. Hinter der Rüstung ihrer Schönheit konnte sie sein und fühlen, wie sie wollte, und solang es ihr die Menschen abnahmen und sie für das, was sie sahen, liebten, würde sie auch alles andere irgendwie überleben.

Leo holte sie pünktlich ab und musterte sie besorgt, während sie den dicken Schal höher zog und sich dahinter versteckte.

»Willst du lieber zu Hause bleiben?«, fragte er. »Wir sagen alles ab. Ich könnte behaupten, dass ich Kopfschmerzen oder so was habe. Und dann bestellen wir uns etwas Ungesundes zum Essen und sehen uns alte Krimiserien an.«

»Nein. Es ist alles gut. Niemanden interessiert es, wie ich Burger esse.«

»Ich meinte auch nicht, dass wir es für jemanden machen. Nur wir zwei. Keine Handys, keine Familie. Einfach nur wieder wir. Wann haben wir uns das letzte Mal so einen Abend gegönnt?«

Rosalie blieb stehen, zog den Schal hinunter und schenkte Leo ihr schönstes Lächeln. »Nur noch drei Lives: vom Weihnachtsmarkt, aus der Bibliothek und das Cosplay von zu Hause. Danach bestellen wir uns was und sehen uns alte Serien an. Versprochen.«

Er runzelte die Stirn. »Ich kenne dich, Rosalie. In diesem Tonfall redest du nur, wenn es dir wirklich beschissen geht.«

»Welcher Tonfall?«

»Ich weiß nicht. Ich bekomme Gänsehaut davon. Du klingst nicht wie du selbst, eher wie ein Klon von dir.«

Sie prustete und lief weiter. »Komm jetzt.«

»Seit wann hältst du es für nötig, mir etwas vorzuspielen … mich auszuschließen? Als würdest du mir nicht mehr vertrauen.«

»Das bildest du dir nur ein.« Sie nahm seine Hand. »Wir sind einfach beide sehr beschäftigt.«

»Ich bin nicht so beschäftigt, dass ich mir nicht Zeit für dich nehmen könnte. Du lässt mich nicht mehr in deine Nähe.«

Sie erwiderte nichts, denn sie betraten gerade den Eingang zur U-Bahn, und da wollte sie sich nicht mit ihm streiten, es waren einfach zu viele Ohren in der Nähe. »Lass uns später darüber reden«, bat sie ihn und drückte seine Hand.

Sie wollte es nicht zugeben, aber er hatte recht. Sie hatte sich schon länger von ihm entfremdet. Warum, das konnte sie nicht sagen. Er war für sie da, kannte sie, kümmerte sich um sie, ihre Familie und ihre Follower liebten ihn. Deswegen hatte sie es auch nie geschafft, die zunehmende Kühle zwischen ihnen beiden anzusprechen. Ihre Follower würden sie für ein Miststück halten, sollte sie grundlos mit ihm Schluss machen. Eine Begründung wie »Ich habe mich weiterentwickelt und er nicht« würde garantiert auf Unverständnis stoßen. Auch wenn es stimmte. Sie hatte in den letzten Jahren trotz aller familiärer Schwierigkeiten so viel erreicht und war noch lange nicht am Ende. Sie hatte Ziele. Er dagegen war in der Gegenwart stecken geblieben und verschwendete kaum einen Gedanken an die weitere Zukunft.

Er hatte keine zwei Klassen übersprungen und studierte noch Sportwissenschaften. Was er später damit anfangen wollte, wusste er nicht, und das brachte Rosalie zur Weißglut. Während sie gefühlt mit Dreimeilenstiefeln in eine erfolgreiche Zukunft raste, versumpfte er in der Gewöhnlichkeit, nutzte sein Potenzial nicht aus, sondern genoss den Moment, wie er immer wieder betonte. Irgendwann musste sie es ihm sagen. Nur nicht heute. Und sie musste sich noch eine Strategie für danach überlegen, insbesondere, wie sie es ihren Followern beibringen sollte.

So in Gedanken versunken bemerkte sie es kaum, wie sie ankamen und Leo sie am Marienplatz aus der U-Bahn direkt auf den Weihnachtsmarkt navigierte. Sie sog tief die Luft ein, die nach Zimt, Lebkuchen und Glühwein roch. An den Ständen blitzten bunte Weihnachtskugeln und Figuren. Die Menschen schoben sich entweder gemächlich aneinander vorbei oder standen redend und lachend in Grüppchen zusammen. Nur hier und da drängte sich ein ungeduldiger Passant, der den Marienplatz lediglich überqueren wollte, durch die Menschenmassen und störte den beschaulichen Frieden, über den das gotische Neue Rathaus wachte.

Rosalie zückte das Handy, und pünktlich zu ihrem Live begann das Glockenspiel zu läuten. Sie wollte eben die Aufnahme starten, als Leo ihr plötzlich mit einem »Warte« die Hand auf die Schulter legte.

»Warum?«, fragte Rosalie ungeduldig, weil sie das Glockenspiel unbedingt auf dem Video haben wollte.

Statt zu antworten, winkte Leo jemandem zu und rief: »Sophie, Mia, hier!«

Widerwillig steckte Rosalie das Handy ein. Sie musste sich zusammenreißen, um das Gesicht nicht zu einer wütenden Fratze zu verziehen, als die beiden jungen Frauen breit lächelnd zu ihnen eilten. Früher waren die drei unzertrennliche Schulfreundinnen gewesen: die ausgelassene Sophie, die stille Mia und die schlaue Rosalie. Sie hatten sich prächtig ergänzt und sich mit ihren unterschiedlichen Stärken gegenseitig unterstützt. Allerdings hatten sie sich so sehr in verschiedene Richtungen entwickelt, dass Rosalie den Kontakt zu ihnen schon längst eingestellt hätte, wenn Leo nicht gewesen wäre. Er pflegte die Freundschaft zu den beiden, weil er fand, dass sie Rosalie guttaten.

Sophie hatte wegen ihrer Körperfülle etwas Schwierigkeiten, sich durch die Menschenmenge zu schieben. Ständig jammerte sie über ihr Gewicht, unternahm allerdings nichts dagegen. Rosalie hatte ihr von gemeinsamem Sport über Ernährungsberater und Ernährungs-Apps alles Mögliche angeboten. Sophie fing zwar stets enthusiastisch an, zog allerdings nichts bis zum Ende durch. Nun studierte sie Sozialpädagogik, was Rosalie sehr wunderte. Wie wollte sie anderen helfen, wenn sie mit sich selbst nicht zurechtkam?

Mia studierte mit mittelmäßigem Erfolg BWL und führte eine unglückliche On-off-Beziehung mit einem Narzissten. Sanft, gutgläubig und gutmütig, wie Mia war, kam sie nicht von ihm los, hoffte stets, dass er sich ändern würde, entschuldigte seine Kälte und Seitensprünge, suchte den Fehler bei sich. Es war ihm gelungen, ihr einzureden, dass sie schuld an seinem beschissenen Verhalten sei.

Rosalie hasste ihn abgrundtief, und aus Hilflosigkeit hatte sie sich von Mia entfernt. Sie ertrug es nicht mehr, ihrer ehemals besten Freundin dabei zuzusehen, wie sie von dem Mistkerl ausgesaugt wurde und vor allem nichts dagegen tat, egal wie oft Rosalie auf sie eingeredet und ihr Hilfe angeboten hatte. Mia blieb bei ihm, und Rosalie hatte im Gegensatz zu Leo schon längst die Geduld mit Mia verloren.

»Alles Liebe zum Geburtstag, Rosalie!«, gratulierten sie beinahe zeitgleich, als sie endlich bei ihnen ankamen, und Sophie fiel Rosalie um den Hals. Mia wartete geduldig, bis Sophie fertig war, und kam dann schüchtern lächelnd auf Rosalie zu.

»Danke, ihr Lieben!«, sagte Rosalie, während sie Mias Umarmung erwiderte. »Was für ein Zufall!«

»Nicht ganz«, erwiderte Sophie lachend. »Leo hat uns geschrieben, wann ihr hier sein werdet. So können wir gemeinsam auf dich anstoßen. Wie in alten Zeiten.«