Grabenstrasse - Gottfried Aigner - E-Book

Grabenstrasse E-Book

Gottfried Aigner

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Beschreibung

Der Autor hatte keine andere Wahl: Geboren 1933, im Jahr der Machtübernahme durch Adolf Hitler, noch dazu am 20. April, des Führers Geburtstag, erlebte er die Macht des Dritten Reichs als Grundschüler, als Pimpf beim Jungvolk und als Gymnasiast tagtäglich mit Haut und Haaren. Seine individuellen Nebenwege wurden ihm mit Hieben und Strafdienst schnell ausgetrieben. Er ordnete sich ein in die marschierenden Kolonnen, schrie aus vollem Halse >Heil Hitler<, prüfte in seinem Schulatlas die sich ausdehnenden Grenzen des Großdeutschen Reichs, glaubte an die Minderwertigkeit der Juden, der Sinti und Roma. Als Hitler sich umbrachte, ging für den jungen Gymnasiasten eine Welt zugrunde. Noch glaubte er, durch Sabotage und Diebstahl der siegenden US-Armee zu schaden. Dann kam der Wandel, der Kampf gegen Hunger und Kälte, der Aufbau eines privaten Lebensweges, Krieg und Nazi-Reich waren vergessen. Die Zeit verlief ziemlich unbeschwert, niemand wollte mehr an die Sünden der Nationalsozialisten denken. Bis 34 Jahre nach Kriegsende der Film >Holocaust< die Grausamkeiten der Braunhemden und der SS in das Bewusstsein der Deutschen hievte. Nach den Auswüchsen der Neonazis und der auch bei Schülern unverdauten Symbole eines verbrecherischen Systems wird es Zeit, die Philosophie einer unheilvollen Diktatur kennen zu lernen und zu bekämpfen. Der Irrweg des Autors in seiner Jugend ist eine Warnung für alle Demokraten dieses Landes.

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Inhalt

Teil eins (1939-1943)

Mein erster Schultag

Mein ärmliches Zuhause

Boxer unter sich

Pädagogik mit dem Rohrstock

Dunkle Wolken des Krieges

Der Brotkorb wir höher gehängt

Soldatenlieder für Schüler

>Deutschland, Deutschland über alles…<

Hitlers Freundschaft mit Mussolini

Tante Sandel und das Krippenspiel

Neue Schrift und neue Siege

Kampf dem Knollenkiller

Görings Luftwaffe greift ein

Die Ruhe vor dem Sturm

Fleisch für den Mann

Neuer Lebensraum im Osten

Literatur für junge Nationalsozialisten

Verschüttete Milch und Altes Testament

Ich bin der >Mann im Haus<

Der Kuhhirte und der Altbauer

Der größte Heroenkampf beginnt

Sem, Ham und Jafet

Kalter Winter mit drastischen Folgen

Schicksalskampf Stalingrad

Wahrheit oder Lügen

Hoffnung und Verzweiflung

Bomben auf deutsche Städte

Teil zwei (1943-1944)

Endlich Dienst in Uniform

Endlich marschieren und Lieder singen

Hart sein, Schmerzen ertragen

Stark durch Lieder

Mutprobe mit Wichse

Sommerferien. Von wegen...

Das Theaterstück

Bestrafung in der Schule

Strafdienst beim Jungvolk

Gymnasium mit zackigen Lehrern

Hilfskräfte statt Lehrer

Ich bin Arier, na also

Arier, da bist du was!

Die Pimpfenprobe

Gestreckte Arme ragen in den Himmel

Kinofilm für brave Hitlerjungen

Stadtkinder aufs Land

Flakhelfer an die Kanonen

Das vergessene Leningrad

Das Gerücht vom Lebensborn

Verräter am Werk

Widerstand ein Fremdwort?

Die im Keller versteckte Jüdin

Lügen und Geldgeschäfte

Der Feind sieht dein Licht

Die Sprache der Juden

Letzte Reserve Volkssturm

Durchhalten, nicht verzagen

Der Feind rückt immer näher

Rettung durch die Wunderwaffe

Teil drei (1944-1946)

Hitler verspricht den Endsieg

Obergefreiter Aigner macht Station

Vorbereitung auf schlechte Zeiten

Fliehende und verwundete Soldaten

Ein strenges Regiment

Bomben fallen überall

Spiel mit den Jagdbombern

Feindliche Panzer in unseren Gassen

Schutz in sicheren Kellern

Ein ganzes Bauerndorf verhaftet

Ein schwarzer Freitag

Bittere Tage, kein Aprilscherz

Allein im Grau der Welt

Ende des großdeutschen Traums

Besatzer oder Befreier?

Kampf ums Überleben

Kohldampf schieben

Der kleine Krieg der Pimpfe

Neue Kampfstrategien

Der Güterwagen-Raub

Der zweite Blick

Der Job als Küchenhilfe

Spüldienst mit Folgen

Versuchung im Überfluss

Postraub mit Nervenflattern

Organisieren und Schwarzmarkt

Die verheerende Explosion

Unter Verdacht

Ärger mit der Hausdurchsuchung

Liebe gegen Schokolade

Gefahr für blonde Burschen

Das Schnaps-Abenteuer

Der einsame Heimkehrer

Suche nach einem Vorbild

Schlimmer geht’s immer

Mit Josef auf der Reeperbahn

Seltenheit: freudige Ereignisse

Freiheit ade, die Schule ruft

Jahrhundert-Rekord bei Minusgraden

>Fringsen< als Freibrief für Diebstahl

Weniger Kalorien

Frühlingsgefühle mit Eis

Teil vier (1946/47 )

Die Schlammlawine rollt an

Was damals geschah

Heil Hitler, Herr von Hohenlohe

Linientreue Bauern und Frauen

Der Beginn jüdischer Ausgrenzung

Ein Attentat und die Folgen

Persönliche Notizen des Großmauls

Judentransport nach Riga

Deutschland ist „judenfrei“

Judenvernichtung in besetzten Gebieten

Das Warschauer Ghetto

„Ein schnell wirkendes Mittel“

Vernichtung aller europäischen Juden

Teil fünf (danach bis heute)

Flucht in die Verdrängung

Kälte und Hunger

Demokratische Neuheiten: Streiks

Sammeln für den Winter

Währungsreform: die D-Mark kommt

Persilschein für Braungefärbte

Die Mittele Reife naht

Nachhilfe, nicht nur in Mathe

Mittlere Reife und Ende der Schule

Lebenskampf in der 50ern

Aufstand und Sieg

Von der Romantik bis zur Wehrpflicht

Die 50er, 60er und 70er Jahre

Bewegung im All und privat

Wechselhafte Zufriedenheit

Zwei Jahrzehnte Krisen und Attentate

Das vergessene Gewissen

Die brutale Wahrheit

Was wäre, wenn...

Holocaust: Mehr als drei Jahrzehnte nichts gewusst …

Epilog: Wehret den Anfängen

Ein Dankeschön

Das >Kärrele<, ein treuer Begleiter

Vorwort

Was wäre wenn...?

An Hitlers 44. Geburtstag, am 20. April 1933, kam ich auf die Welt. Es war das Jahr der Machtübernahme. Schon 1939, in der Grundschule, wurde ich mit den großartigen Plänen des Führers konfrontiert, ständig bewacht von seinem in jedem Zimmer hängenden Bild. Der Schulanfang fiel mit dem Kriegsbeginn zusammen, eine Zeit, in der Hitler Helden brauchte. Die Ideale des Nationalsozialismus durfte ich dann mit zehn Jahren, 1943 beim Übergang in die Oberschule, als uniformiertes Zwangsmitglied im Jungvolk kennen lernen. Auch was Zucht und Ordnung bedeutet; wenn ich es nicht kapierte, setzte es Prügel. Weder Strafe noch Schmerzen konnten mich jedoch davon abhalten, mit Begeisterung die Befehle des Führers zu beachten. Umso mehr, nachdem ich im selben Jahr die >Feststellung der arischen Abstammung< ausgehändigt bekam. Andere Rassen raus? Kein Problem. Auch schwere Niederlagen hinderten mich nicht, an den Endsieg des Großdeutschen Reiches zu glauben. Selbst 1945, nach dem Einmarsch der Alliierten meinte ich, mit Sabotagen die Kapitulation verhindern zu können.

Mit Hitlers Tod brach für mich eine Welt zusammen. Denn diese Welt konnte ohne die Pläne unseres großen Heerführers nicht existieren. Sein mörderisches Treiben wollte ich lange nicht glauben. Wie konnten solche Verbrechen in meiner protestantischen Kleinstadt verborgen bleiben? Waren wir alle blind? Gab es Menschen, die von den Mordtaten in Konzentrationslagern wussten und schwiegen? Tiefe Nacht brach über mich herein, als sich der Mord von sechs Millionen Juden nicht mehr leugnen ließ. Und in diesem System wollte ich weit nach oben kommen? Als blonder SS-Mann die Regeln bestimmen? Bis heute bereitet es mir Schmerzen, wenn ich überlege, was bei einem Sieg Hitlers und Konsorten aus mir geworden wäre. Was hätte ich gemacht, wenn mir dann die Frau, mit der ich seit mehr als 40 Jahren verheiratet bin, begegnet wäre? Mit der Frau, die Jüdin ist?

Teil eins (1939-1943)

Was damals war…

Bereits Januar 1933 ernannte Reichspräsident Hindenburg den Nationalsozialisten Adolf Hitler zum Kanzler, im März fanden die Reichstagswahlen statt, bei der Hitlers Partei, die NSDAP, die Mehrheit erhielt. Der Kanzler setzte schnell das Ermächtigungsgesetz durch, das alle anderen Parteien verbot. Im November durften die deutschen Wähler die Alleinherrschaft bestätigen, gleichzeitig kam der Austritt aus dem Völkerbund zur Abstimmung. 89 Prozent der Wahlberechtigten nahmen teil, 92 % von ihnen stimmten für die Nationalsozialisten, 95 % befürworteten den Austritt aus dem Völkerbund. Bei solchen Zahlen war es leicht, im Volk den Hitlergruß >Heil Hitler< im Alltag durchzusetzen. Hitler und der Reichsführer SS Heinrich Himmler führten den Gruß auf „altgermanische“ Vorformen zurück. Hitler soll geäußert haben, er betrachte ihn lediglich als Demonstration der Waffenlosigkeit, während Himmler ihn als Variante der Schwurgeste mit emporgehobenem Speer angesehen habe.

Mein erster Schultag

Mit einem alten Schulranzen auf dem Rücken, einer neuen Schiefertafel als Inhalt, dazu Schreibgriffel (griech. grapheion, Schreibgerät), Griffelkasten und Trockentuch, den mit einer Schnur an der Tafel befestigten Schwamm draußen pendelnd, betrete ich im April 1939 das Schulhaus. Am Portal steht der Rektor mit mürrischem Gesicht und zieht seine Taschenuhr aus der Stiefelhose. Ich bin spät dran, das Pausenbrot wurde nicht fertig, der Deckel am Marmeladenglas war verklemmt. Lautes Geschrei, das im Treppenhaus sphärisch hallt, weist mir den Weg zum Klassenzimmer. Ich pralle an der Tür fast mit der Klassenlehrerin zusammen. Sie fordert Ruhe, klopft energisch mit dem Rohrstock auf das Pult. „Heil Hitler, Kinder“. Ich habe schon den Mund zum Grüß Gott gespitzt, die anderen Kinder sind besser informiert: „Heil Hitler, Fräulein Wiedenbauer“. An der Wand hängt ein Bild von Adolf Hitler, der wohlwollend auf die Klasse herabschaut. Wir werden über den nächsten Tag informiert. Es ist der 20. April 1939, Adolf Hitlers Geburtstag, antreten auf dem Schulhof. Ich wedle aufgeregt mit dem gestreckten Finger. Auch ich habe am Zwanzigsten Geburtstag. Bewundernd drehen sich die Mitschüler nach mir um. Ich gehöre zu den Kleinsten, deshalb sitze ich in der hintersten Bank. Aber ich passe voll in das Bild, das sich Hitler von einem deutschen Jungen macht: schlank, strohblond und blaue Augen. Ich spüre den Neid der anderen ABC-Schützen.

Als Geschenk des Führers muss die Klasse am nächsten Tag erst eine Stunde später in der Schule sein. Zeit für mich, durch die Straßen zu schlendern. Ich bewundere die vielen Flaggen mit dem Hakenkreuz. Die seien alle für mich, hatten die Eltern verschmitzt behauptet. Ich glaubte das zwar nicht, bin aber trotzdem stolz. Am Abend sollen die Erstklässler als Zuschauer beim Treffen der Pimpfe 1) sein. Bei diesem Aufmarsch werden die Zehnjährigen in das Jungvolk, Vorstufe der Hitlerjugend, aufgenommen. Ich zähle an den Fingern ab, wie viele Jahre ich noch bis zu diesem Tage warten muss. Ich will schnell Fähnleinführer werden, der arme Junge aus der Grabenstraße, Hitler würde sich bestimmt freuen.

Früh übt sich: Schon im Kindergarten-Alter und als 6-jährige Grundschüler wurde das Marschieren diktiert

Mein ärmliches Zuhause

Ich leide darunter, zur untersten Schicht zu gehören, der Vater Fabrikarbeiter, die Mutter Hausfrau. Knecht und Magd steht in den Papieren, die sie 1936 vor der Heirat vorlegen mussten. Auch in der Schule bilden sich schnell zwei Gruppen: die einen aus den Armenvierteln Grabenstraße und Brühl, die Reichen aus der Oberstadt, Kinder von Abteilungsleitern und Prokuristen. Ich wage es nicht, Mitschüler einzuladen. In der Wohnung riecht es das ganze Jahr nach Bohnen, Rosenkohl und anderem Gemüse, im Winter nach aufgetauten Zwiebeln. Die Familie muss zum kargen Lohn des Vaters in Heimarbeit zuverdienen. Für die Nährmittelfabrik säckeweise im Wohnzimmer Gemüse schälen und schnippeln. Der Geruch bleibt auch in den Kleidern hängen.

Suppenwürfel: Dafür schnippelten wir Gemüse in Heimarbeit

Die Küche ist eng und dunkel, eine Ecke wurde für die Toilette ausgespart. Hinter der Holztür gibt es einen Donnerbalken mit freiem Fall in die Sickergrube, an einem Haken hängt zurecht geschnittenes grobes Zeitungspapier. Die Morgenwäsche wird im Spülbecken neben dem Holzherd erledigt. Ich habe nach langem Kampf wenigstens eine eigene Zahnbürste bekommen. Wenn die Klo-Grube voll ist, stellt der benachbarte Bauer ein Güllefass auf vier Rädern vor das Haus. Der Vater ist bei der Arbeit, später im Krieg, dann muss ich eben mit dem an einer drei Meter langen Holzstange befestigten Gülleschöpfer die Toilettengrube leeren. Weil die Öffnung weit oben ist, läuft mir die Brühe über die Arme. Ich lege die Scheißaktion stets so, dass niemand unterwegs ist - ein Nervenspiel.

Im Sommer können sich die Männer immerhin am Gassenende am Schwengelbrunnen ordentlich waschen. Einmal im Monat wird beim Bäcker, der immer warmes Wasser hat, für 50 Reichspfennig ein Vollbad genommen. Im Winter muss ich, mein Bett steht in der Dachkammer, erst die harte Eisdecke in der Waschschüssel durchschlagen, eine Handvoll kaltes Wasser ins Gesicht soll gut sein für die männliche Schönheit, erzähle ich den Schulkameraden. Die mangelhafte Hygiene war wohl auch Fräulein Wiedenbauer aufgefallen. Meinen Ehrgeiz lobt sie zwar mit fabelhafter Beurteilung: „Er hat gute geistige Anlagen und kommt zu seinen guten Leistungen ohne besondere Anstrengung“. Dann aber die Einschränkung: „Im Schreiben muss er recht pünktlich sein und bei sich selber mehr auf Reinlichkeit halten“.

Familien-Problem: Das behütete Leben in der Pflegefamilie (links) wich bald der Begeisterung für Marschieren und Fahnen

Boxer unter sich

Ich habe bald gelernt, von meiner Armut abzulenken, suche Aufmerksamkeit durch allerlei Streiche und Kraftmeiereien. Beim Hitlergruß flüstere ich meinem Nachbarn immer „Dreiliter“ zu. Bei körperlichen Auseinandersetzungen wiederum setze ich gerne die nackten Fäuste ein und ich schlage manche Nase blutig. Mein Sportlehrer kennt sich in Sportgeschichte aus und erzählt vom legendären, starken John L. Sullivan (1858-1918), dem letzten Boxweltmeister ohne Handschuhe. Und schon habe ich meinen Spitznamen, der bald in John L. und später in Johnny umgeformt wird. Viel lieber wäre ich aber Max Schmeling gerufen worden. Noch nach Jahren spricht ganz Deutschland vom Schwergewicht-Boxweltmeister (von 1930-32), vor allem aber von dem sensationellen K.O.-Sieg über den >schwarzen Bomber< Joe Louis am 19. Juni 1936. Die Überraschung bezeichnete die NS-Propaganda lauthals als „Beweis für die Überlegenheit der arischen Rasse“. Ziemlich schweigsam ging es allerdings zu, als Max im Juni 1938 von Louis schon in der ersten Runde nach mehreren Kopftreffern auf die Bretter geschickt wurde. Also doch lieber John L. beziehungsweise Johnny.

Pädagogik mit dem Rohrstock

Bei den Mädchen prahle ich gerne mit meinen Muskeln, was vor allem der blonden Dora gefällt. In meinem Überschwang laufe ich eines Tages nach vorne und küsse die Blondine auf die Wange. Dieser unerhörte Vorgang missfällt Fräulein Wiedenbauer total und sie greift nach dem Rohrstock. Tatzen geben, Hiebe mit der Rute auf die Innenseite der Hand, gehört bei Lehrkräften zum Ausdruck ihrer unangefochtenen Autorität. Ich stehe also vor der Klasse und soll die linke Hand in Hüfthöhe nach vorne strecken. Beim ersten Hieb ziehe ich die Hand zurück und habe damit nach Ansicht nationalistischer Pädagogen einen Mangel an Willenskraft und Selbstdisziplin bewiesen. Zur Strafe gibt es dann vier statt zwei Tatzen, die Handfläche schwillt entsprechend an, für mich als Noch-Linkshänder ein besonderer Effekt - womit die Umerziehung auf die rechte Schreibhand ihren Anfang nimmt. Als geübter Gezüchteter verstecke ich bald eine Tüte Salz in der Hosentasche, spucke unbemerkt in die geschlagene Hand und reibe das Mineral in die Striemen. So erreiche ich, dass sich die Eltern vielleicht gegen die Misshandlung beim Rektor beschweren. Doch Beschwerden werden nicht gerne gesehen. Ich soll mich anständig benehmen.

Was damals war …

Am 1. September 1939 begründete Adolf Hitler vor dem Deutschen Reichstag den Angriff auf Polen, mit dem der Zweite Weltkrieg begann. Die Wehrmacht wolle „nicht den Kampf gegen Frauen und Kinder“ führen, außerdem wolle sich die Luftwaffe auf militärische Ziele beschränken. Polen solle daraus aber keinen Freibrief ableiten. Zitat: „Polen hat heute Nacht zum ersten Mal auf unserem eigenen Territorium auch mit bereits regulären Soldaten geschossen. Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen! Und von jetzt ab wird Bombe mit Bombe vergolten! Wer mit Gift kämpft, wird mit Giftgas bekämpft. Wer selbst sich von den Regeln einer humanen Kriegsführung entfernt, kann von uns nichts anderes erwarten, als dass wir den gleichen Schritt tun. Ich werde diesen Kampf, ganz gleich, gegen wen, so lange führen, bis die Sicherheit des Reiches und bis seine Rechte gewährleistet sind.“ Deutschland sei deutlich besser auf den Krieg vorbereitet als 1914, und man werde niemals kapitulieren. Weiter: Er werde siegen oder das Kriegsende nicht erleben.

Dunkle Wolken des Krieges

Im Laufe des Frühsommers 1939 ballen sich dunkle Wolken am Himmel zusammen. Die Stimmung ist überall gedrückt, sei es zu Hause, beim Schwatz im Geschäft oder bei den Klugscheißern am Biertisch. Der Donner eines Krieges ist zu hören, die Stimmen der NS-Politiker krächzen aufgeregt aus dem Volksempfänger. Den kleinen schwarzen Bakelit-Kasten, den der Vater verächtlich >Göbbelsschnauze< nennt, hat er für 35 Reichsmark erstanden. Immer wenn die Siegesfanfare ertönt, versammeln sich die Menschen am Deutschlandsender. Für mich ist das zunächst weniger interessant, habe ich doch keine Ahnung, was es bedeutet, dass Hitler acht Tage nach dem gemeinsamen Geburtstag den deutschpolnischen Nichtangriffspakt kündigt. Eher geht in mein Köpfchen der Aufschrei, Deutschland brauche im Osten mehr Lebensraum, um die Ernährung des Volkes sicherzustellen. Daher sei Polen, dessen Kapital vollständig in jüdischer Hand sei, jetzt an der Reihe. Schlimm waren ja die polnischen Überfälle an der Grenze, vor allem aber die Übergriffe auf die deutsche Minderheit. Ganze Familien haben die Deutschenhasser mit der Zunge am Esstisch festgenagelt. Als ich das höre, kriecht Gänsehaut über meinen Rücken, das kann sich der Hitler doch nicht gefallen lassen. Und so nicken alle brav mit dem Kopf, als der Führer am 1. September 1939 in seiner Rede vor dem Deutschen Reichstag verkündet, es werde Bombe mit Bomben vergolten, Gift mit Giftgas bekämpft und schließlich der entscheidende Satz: „Seit 5.45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!“

Dies erledigt das vor Danzig liegende deutsche Schlachtschiff Schleswig Holstein mit Schüssen auf das polnische Munitionsdepot auf der Westerplatte. Der Zweite Weltkrieg hat begonnen.

Der Brotkorb wird höher gehängt

Beeinflusst von den vielen Reden um >mehr Lebensraum< können die Nationalsozialisten zunächst mit großer Zustimmung der Bevölkerung rechnen. Auch wenn mir bei den vielen ungeahnten Ereignissen der Kopf schwirrt, so habe ich doch Verständnis dafür, dass Tage vor den Schüssen auf Danzig Lebensmittelkarten den Einkauf von Brot, Fleisch, Fett, Eier, Marmelade und Zucker regeln. Endlich kann ich meine Note „gut“ im Rechnen einsetzen: 9,6 Kilo Brot im Monat, das sind am Tag 320 Gramm, sechs Scheiben oder Brötchen, das muss doch reichen. Oder 1.600 Gramm Fleisch, das sind vier winzige Sonntagsbraten, bekommt sowieso der schwer arbeitende Vater, wir Kinder haben uns längst an die nackte Soße auf den Nudeln gewöhnt. Niederschmetternd sind dann aber doch die Kürzungen im April 1942: 6,4 Kilo Brot, 1.200 Gramm Fleisch, 825 Gramm Fett. Ausgleich bringen das Gemüse im Schrebergarten, die Hühner und Kaninchen in den kleinen Ställen.

Unterstützt wird der Polenfeldzug von allen Seiten. So erhalten die Schulen eine Anweisung des Reichspropagandaministeriums, das der wohlgenährte Rektor mit wichtiger Miene den Lehrern aushändigt. Ich hatte den Wisch in der Pause vom Lehrerpult geholt. Zusammen mit ein paar Schulkameraden lesen wir ganz leise: „Es muss auch der letzten Kuhmagd in Deutschland klargemacht werden, dass das Polentum gleichwertig ist mit Untermenschentum. Polen, Juden und Zigeuner stehen auf der gleichen unterwertigen Stufe.“ Die jungen Schüler kratzen sich am Kopf, schauen sich fragend an, wollen die Eltern fragen, ob sie den Inhalt verstehen.

Zu Hause ist wenige Tage später Besuch vom Onkel mit Familie. Das mit dem Krieg sei nicht so schlimm, meint der kluge Mann, jetzt machen ja auch die Katholiken mit. Im Städtchen sind 99 Prozent Protestanten, da kommt natürlich die Frage auf, was das denn für Menschen seien, die Katholiken. Die Erklärung geht dann gerade noch in meinen Brummschädel. Als dann vom Reichskonkordat 2) die Rede ist, fallen mir vor Müdigkeit die Augen zu.

Am nächsten Morgen steht der Vater in Uniform vor der Familie: grün-brauner Kampfanzug, genannt feldgrau, derbe Stiefel, auf dem Kopf das >Schiffchen<, in der Hand der Einzugsbefehl. Die Mutter hängt weinend an seinem Hals. Der Rekrut beruhigt: Er komme schnell wieder, beim Einmarsch in Österreich ein Jahr zuvor (März 1938) sei er auch schon nach vier Wochen wieder zu Hause gewesen. Und er schwärmt noch, wie jubelnd die deutschen Soldaten begrüßt worden seien.

Soldatenlieder für Schüler

Die Begeisterung für Soldaten, die Freude, einmal für Führer, Volk und Vaterland kämpfen und sterben zu dürfen, liegt uns im Blut. Soldaten sind Helden, sie werden auch nach ihrem Tod geehrt. So singen wir ebenfalls in der Schule kämpferische Lieder. Ich dringe mit meiner hellen Stimme durch alle anderen. Das ist mir wichtig, denn ich will die Zeugnisnote >gut< halten. Damit alles noch wirksamer wird, lasse ich beim Nachbarn, dem Drechsler Knorp, an der Bandsäge aus einem Brett ein Holzgewehr schneiden. Den Klotz spannt der geschickte Handwerker in die Drechselbank, das rohe Flintenmodell dreht sich um die eigene Achse, mit dem Drechselmesser bearbeitet Knorp die vordere Hälfte, mit kreischenden Tönen fliegen die Späne durch die Werkstatt, bis der Gewehrlauf eine schöne runde Form hat. Im Schuppen finde ich ein altes Leder, das ich zurechtschneide, in das Holz nagle, bis der Schießprügel mit Schwung über der Schulter hängt. So marschiere ich zackig zum Unterricht, muss aber mein Kunstwerk unter der Schulbank verstauen. Verstohlen berühre ich meine Waffe, noch begeisterter klingt das Lied:

„Wer will unter die Soldaten,

der muss haben ein Gewehr,

der muss haben ein Gewehr,

das muss er mit Pulver laden

und mit einer Kugel schwer.“

Nach dem Unterricht schultere ich mein Spielgewehr und marschiere stolz nach Hause. Mit Liedern kann ich sogar bei Muttern punkten. Ihr Lieblingslied ist

„Wenn die Soldaten

durch die Stadt marschieren,

öffnen die Mädchen

die Fenster und die Türen.

Ei warum? Ei darum! Ei warum? Ei darum!

Ei bloß wegen dem Schingderassa, Bumderassa, Schingdara!

Ei bloß wegen dem Schingderassa, Bumderassasa!“

Wenn wir das Lied in der Schule üben, lassen wir die Mädchen weg und singen als dritte und vierte Zeile lieber:

„>laufen die Kinder / alle vor die Türen<.“

Bald haben wir Gelegenheit, mit Begeisterung weitere Marschlieder anzustimmen, der Krieg hat begonnen.

Unter einem Hut: Unter den Fittichen der NSDAP versammelten sich Elite, Maientänzer und das Volk

>Deutschland, Deutschland über alles...<

Der Blitzkrieg, wie Joseph Goebbels, der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, den Marsch durch Polen bezeichnet, ist am 6. Oktober 1939 erledigt. Singend marschiert die Hitlerjugend durch das Städtchen: „Deutschland, Deutschland über alles...“ Ich renne hinterher, will teilhaben am Triumph, versuche den Gleichschritt der älteren Kameraden nachzuahmen. Die Strophe „Von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt“ macht mich neugierig. Im neuen Schulatlas will ich gleich prüfen, ob die Nationalhymne den Tatsachen entspricht. Auf den Seiten 14 und 17 prangt in knalligem Rot das >Großdeutsche Reich<, das Kernland mit dem zu uns gehörenden Österreich. Das deutschsprachige Sudetenland, Teil der Tschechei mit wichtiger Industrie, wurde schon am 2. Oktober 1938 dem Reich eingegliedert. Der britische Premierminister Chamberlain und Frankreichs Ministerpräsident Daladier haben beim >Münchner Abkommen< zugestimmt. Am 15./16. März 1939 marschieren deutsche Truppen im Stechschritt in Prag ein, die Tschechei heißt jetzt Protektorat Böhmen und Mähren. Kurz darauf wird die inzwischen von der Tschechei abgetrennte Slowakei Hitlers Satellitenstaat. Im Atlas schmiegt er sich etwas verfärbt an die Grenze. Jetzt werden aber alle in der Klasse neugierig, akribisch prüfen wir die Grenzen: Die Maas gehört noch nicht ganz ins Reich, der Strom fließt durch Frankreich, Belgien und die Niederlande. Auch die Memel ist zu kritisieren, sie durchfließt Weißrussland und Litauen. Und die Etsch? Auch hier Unzufriedenheit in der Klasse. Sie entspringt im deutschsprachigen Südtirol, ist aber im Atlas Teil von Italien. Die Lehrerin wird unsicher, will sich beim Rektor erkundigen, wann dieser Landesteil eingegliedert wird. Beim Belt ist die Zugehörigkeit unklar, die Meerenge liegt zwischen Deutschland und Dänemark.

Die schlagkräftige deutsche Wehrmacht regelt dann bald die noch offenen Fragen der Grenzziehung: Ohne ernst zu nehmende Drohungen aus Großbritannien, das Deutschland im Dezember 1939 den Krieg erklärt hatte, werden im April 1940 Dänemark und Norwegen ohne großen Widerstand besetzt, im Mai und Juni Frankreich, Belgien und die Niederlande. Der Siegeswille unseres Führers setzt sich durch. Im Osten ist allerdings etwas Stillstand eingetreten, den östlichen Teil Polens hat Stalin, der Chef der Sowjetunion, mit Hitlers Zustimmung im deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt 3) in Anspruch genommen. Und im Süden? Die Lehrerin hat sich schlau gemacht. Dort ist eine Erweiterung des Reiches schlecht möglich, weil Südtirol zu Italien gehört. Und Italien wird von Benito Mussolini regiert, einem Freund von Adolf Hitler. Der wehrt sich gegen alle Versuche Hitlers, die deutschen Südtiroler dem Reich einzugliedern. Beide einigen sich dann auf eine Volksabstimmung, bei der 85 Prozent der Südtiroler Bevölkerung für eine Umsiedlung nach Großdeutschland stimmen 4).

Hitlers Freundschaft mit Mussolini

Die Freundschaft unseres Führers mit dem Herrscher über Italien hat eine lange Geschichte. Um das wirtschaftliche, soziale und politische Chaos, vor allem die Arbeitslosigkeit nach Ende des Ersten Weltkriegs zu beseitigen, erreichte Benito Mussolini nach seinem >Marsch auf Rom< mit 40.000 Schwarzhemden die Macht über Italien. Der bis dahin regierende König Viktor Emanuel hatte Angst vor einem Bürgerkrieg und wählte im Oktober 1921 lieber den starken Mann, der Recht und Ordnung sowie die Zerschlagung des Kommunismus versprach. Adolf Hitlers Weg zur Macht hatte manche Ähnlichkeit mit jenem des Freundes im Süden. So wie unser Weg zu einem beherrschenden Großdeutschland Formen annahm, hatte auch Mussolini den Traum vom >Imperium Romanum<, der Vereinigung aller Länder rund um das Mittelmeer. Beeindruckende Eroberungen unterstrichen die Absichten des Duce, zu Deutsch Führer: 1934 wurde das nordafrikanische Libyen besetzt, 1935 begann der Eroberungsfeldzug des ostafrikanischen Kaiserreichs Abessinien, auch Äthiopien genannt. Die Zusammenarbeit beider mächtigen Europäer wurde 1936 mit der >Achse Rom-Berlin< gefestigt, 1939 mit dem >Stahlpakt<, einer Verpflichtung der militärischen Zusammenarbeit. Etwas verzögert trat Italien schließlich am 10. Juni 1940 in den bereits von deutschen Soldaten gewonnenen Krieg gegen Frankreich ein. Allmählich gestaltete sich die Zusammenarbeit allerdings etwas einseitig, musste Hitler doch im März 1941 Truppen nach Libyen schicken, um den Italienern zu helfen. Auch die Hilfe, vom besetzten Albanien aus das gemeinsame Ziel Griechenland zu erobern, hätte ohne den Eingriff deutscher Truppen zu einer peinlichen Niederlage geführt. (s. auch Kapitel >Neue Schrift und neue Siege<).

Tante Sandel und das Krippenspiel

Ungeachtet des Kriegsdonners ist Tante Sandel, wie die Waldorfschule-Lehrerin von uns genannt wird, im Spätherbst zur Stelle, um mit einer ausgewählten Gruppe das Oberuferer Krippenspiel einzuüben. Der Gründer der Schule hat das Spiel, ursprünglich im donauschwäbischen Dialekt, zum besseren Verständnis leicht verändert. Hauptdarstellerin, die Maria, ist natürlich Eve, die Pfarrerstochter. Ihren Partner, den Josef, spielt Arztsohn Wolfgang Duvernoy. Den lustigen Teil, den der vor Bethlehem Schafe hütenden Hirten, dürfen Martin als Gallus, Albert als Witok und ich als Stichl darstellen. Ich begrüße dann immer das Publikum mit lauter Stimme: „Ihr lieb’n mane Leit sammelt eng zsam, glei wie die Krapfen in der Pfann“. Den meisten Applaus bekommen wir bei der Szene am Morgen vor dem Besuch des Christuskindes. Es hat Glatteis und der Witok weckt mich, den Langschläfer: „ Stichl, steh auf, der Himmel kracht scho!“ Ich antworte: „Ei, lass’n kracha, er is scho alt gnua dazu“. Ich dreh mich auf die Seite, dann ruft Witok: „Stichl, steh auf, die Waldvegala piapa scho!“ Ich wieder: „Ei, lass se nur piapa, ham kloane Kepf, ham bald ausgeschlofa“. Gallus dann etwas lauter: “Stichl, steh auf, d’Fuhrleut knalle scho auf der Stroßn“. Müde wieder ich: „Ei, lasse nur knalle, ham noch gar weit z’foahrn“. Die zwei schreien mich dann ärgerlich an, ich erschrecke, will mich aufrichten, falle aber auf dem Glatteis der Länge nach hin. Der Lacherfolg ist mir sicher. Wir führen das Spiel vor Weihnachten auch in anderen Städtchen auf. In Langenburg passiert es dann, dass ich zu weit vorne auf der Bühne liege und beim Ausrutschen zwei Meter tiefer im Zuschauerraum lande. Das Gelächter ist mit Angstschreien vermischt, ich reibe meine Knie und humple lächelnd wieder hoch zur Bühne. Ein Indianer kennt keinen Schmerz. Tante Sandel kam dann 1941 nicht mehr, die letzten Waldorfschulen wurden von der Partei geschlossen. Das Programm der Schule sei nicht mit den nationalsozialistischen Erziehungsgrundsätzen vereinbar. Ich bedauere zwar, dass ich nicht mehr schauspielern darf, aber die Partei hat immer Recht.

Neue Schrift und neue Siege