Grabkammer - Tess Gerritsen - E-Book
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Grabkammer E-Book

Tess Gerritsen

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Beschreibung

Jane Rizzoli und Dr. Maura Isles: Der Tod steht ihnen gut!

Eine ägyptische Mumie, die keine ist. Ein grausiger Schrumpfkopf im Museum. Und eine Moorleiche in einem Kofferraum … Jane Rizzoli und Dr. Maura Isles stehen vor ihrem bisher schwierigsten Fall!

Dr. Maura Isles soll der Untersuchung eines sensationellen Fundes beiwohnen: einer ägyptischen Mumie, zufällig entdeckt im Keller eines Bostoner Museums. Doch bald wird klar: Die einbalsamierte Tote wurde erst kürzlich ermordet – und in ihrem Mund verbirgt sich eine Goldmünze mit geheimnisvoller Botschaft. Schnell gerät die junge Archäologin Josephine Pulcillo ins Visier der Ermittlungen von Detective Jane Rizzoli, weil sie über besondere Kenntnisse traditioneller Bestattungsmethoden verfügt. Als in Josephines Auto jedoch eine Moorleiche entdeckt wird und die junge Frau spurlos verschwindet, befürchten Jane und Maura das Schlimmste ...

Ein teuflisches Gespinst aus Besessenheit und alten Familiengeheimnissen.

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Seitenzahl: 545

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Tess Gerritsen

Grabkammer

Ein Rizzoli-&-Isles-Thriller

Deutsch von Andreas Jäger

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »The Keepsake« bei Ballantine Books, a division of Random House Inc., New York.

1. AuflageCopyright der Originalausgabe © 2008 by Tess GerritsenCopyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2009 by Limes Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenPublished by Arrangement with Terry GerritsenDieses Werk wurde im Auftrag der Jane Rotrosen Agency LLC vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.Covergestaltung: www.buerosued.deCovermotiv: plainpicture/Folio Images/Åke Nyqvist wr · Herstellung: samSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN: 978-3-641-02686-8V003www.blanvalet.de

Für Adam und Joshua, um deretwillen die Sonne scheint

Jede Mumie ist ein Abenteuer, ein unentdeckterKontinent, den wir zum ersten Mal betreten.DR. JONATHAN ELLIAS, Ägyptologe

1

Er kommt, um mich zu holen.

Ich spüre es in den Knochen, ich wittere es in der Luft, so unverkennbar wie der Geruch nach heißem Sand und exotischen Gewürzen und dem Schweiß von hundert Männern, die in der Sonne schuften. Es sind die Gerüche der westägyptischen Wüste, und sie sind für mich noch immer lebendig, auch wenn das Land fast eine halbe Erdumrundung von dem dunklen Schlafzimmer entfernt ist, in dem ich jetzt liege. Fünfzehn Jahre sind vergangen, seit ich diese Wüste durchquert habe, doch wenn ich die Augen schließe, bin ich gleich wieder dort; ich stehe am Rand des Zeltlagers und blicke zur libyschen Grenze, dorthin, wo die Sonne untergeht. Der Wind klagte wie eine Frau, wenn er durch das Wadi rauschte. Noch immer höre ich das dumpfe Schlagen der Spitzhacken und das Kratzen der Schaufeln, und ich habe noch immer das Heer ägyptischer Grabungshelfer vor Augen, die wie fleißige Ameisen über die Ausgrabungsstätte schwärmen und ihre Gufa-Körbe voll Erde schleppen. Als ich damals vor fünfzehn Jahren in dieser Wüste stand, kam ich mir vor wie eine Schauspielerin in einem Film über ein Abenteuer, das eine andere erlebt hatte. Nicht ich. Und ganz bestimmt war es kein Abenteuer, das einem stillen Mädchen aus dem kalifornischen Indio an der Wiege gesungen worden war.

Das Scheinwerferlicht eines vorbeifahrenden Autos dringt durch meine geschlossenen Lider. Als ich die Augen aufschlage, ist Ägypten verschwunden. Ich stehe nicht mehr in der Wüste und blicke zu einem Himmel auf, den der Sonnenuntergang mit blutroten Streifen überzieht. Stattdessen bin ich wieder auf der anderen Seite der Erdkugel, in San Diego, wo ich in meinem dunklen Schlafzimmer liege.

Ich stehe auf und gehe barfuß zum Fenster, um auf die Straße hinauszuschauen. Es ist eine etwas heruntergekommene Wohnsiedlung mit verputzten Einfamilienhäusern, gebaut in den Fünfzigerjahren, als Mini-Villen mit Dreiergaragen noch nicht als Erfüllung des amerikanischen Traums galten. Diese Häuser haben etwas Ehrliches; gebaut, um den Bewohnern Schutz zu bieten, und nicht, um die Nachbarn zu beeindrucken, und ich fühle mich sicher hier in meiner Anonymität. Nur eine ganz normale alleinerziehende Mutter, die ihre liebe Mühe mit ihrer bockigen Teenagertochter hat.

Ich spähe durch die Gardinen auf die Straße und sehe, wie eine dunkle Limousine einen halben Block vor meinem Haus abbremst. Der Wagen hält am Bordstein, und die Scheinwerfer erlöschen. Ich warte darauf, dass jemand aussteigt, aber nichts dergleichen geschieht. Eine ganze Weile sitzt der Fahrer einfach nur da. Vielleicht hört er noch Radio, oder er hatte Streit mit seiner Frau und traut sich nicht, ihr unter die Augen zu treten. Vielleicht sitzt ja auch ein Liebespaar in dem Wagen, das keine andere Möglichkeit hat, sich zu treffen. Ich kann mir so viele Erklärungen ausdenken, keine davon im Geringsten beunruhigend, und dennoch bricht mir der Angstschweiß aus, und ein Schauer überläuft mich.

Einen Augenblick später leuchten die Scheinwerfer der Limousine wieder auf. Der Wagen fährt los und rollt langsam die Straße hinunter.

Selbst als er bereits um die Ecke verschwunden ist, stehe ich noch mit flatternden Nerven am Fenster, die feuchten Finger um die Gardine gekrampft. Ich gehe wieder ins Bett und liege schwitzend auf der Decke, doch ich kann nicht schlafen. Obwohl es eine warme Julinacht ist, lasse ich das Fenster immer verriegelt, und ich bestehe darauf, dass meine Tochter Tari ihres ebenfalls geschlossen hält. Aber Tari hört nicht immer auf mich.

Jeden Tag hört sie weniger auf mich.

Ich schließe die Augen, und wie immer kehren die Bilder von Ägypten wieder. Stets ist es Ägypten, wohin meine Gedanken sich wenden. Noch bevor ich zum ersten Mal den Boden des Landes betreten hatte, träumte ich schon davon. Als ich sechs Jahre alt war, sah ich ein Foto des Tals der Könige auf der Titelseite der National Geographic und hatte sofort ein Gefühl des Wiedererkennens, als betrachtete ich ein vertrautes, geliebtes Gesicht, das ich beinahe vergessen hatte. Das war es, was dieses Land für mich bedeutete – ein geliebtes Gesicht, das ich unbedingt wiedersehen wollte.

Und im Laufe der Jahre schuf ich nach und nach die Voraussetzungen für meine Wiederkehr. Mit einem Stipendium in der Tasche ging ich nach Stanford, wo ein Professor auf mich aufmerksam wurde und mich nachdrücklich für ein Sommerpraktikum bei einer Grabung in der Libyschen Wüste empfahl.

Im Juni, am Ende meines vorletzten Studienjahrs, bestieg ich schließlich die Maschine nach Kairo.

Noch heute, in der Dunkelheit meines Schlafzimmers in Kalifornien, erinnere ich mich, wie meine Augen vom grellen Sonnenlicht schmerzten, das der weiß glühende Sand reflektierte. Ich rieche die Sonnencreme auf meiner Haut und spüre das Prickeln der Sandkörner, die der Wind mir ins Gesicht weht. Diese Erinnerungen machen mich glücklich. Die Schaufel in der Hand und die Sonne auf den Schultern – es war die Erfüllung der Träume eines jungen Mädchens.

Wie schnell doch ein Traum zum Albtraum werden kann. Als glückliche Studentin bestieg ich das Flugzeug nach Kairo. Drei Monate später kehrte ich zurück, und ich war nicht mehr dieselbe Frau.

Ich kam nicht allein aus der Wüste zurück. Ein Monster folgte mir.

Im Dunkeln schlage ich jäh die Augen auf. Waren das Schritte? Hat da eine Tür geknarrt? Ich liege auf den feuchten Laken, und mein Herz schlägt wild gegen meine Rippen. Ich wage nicht aufzustehen, und ich wage nicht, im Bett zu bleiben.

Irgendetwas stimmt nicht in diesem Haus.

Nach Jahren des Versteckspielens bin ich klug genug, die Warnungen nicht zu ignorieren, die mir die Stimme in meinem Kopf zuraunt. Nur diesen eindringlichen Einflüsterungen habe ich es zu verdanken, dass ich noch am Leben bin. Ich habe gelernt, jede Abweichung vom Gewohnten zu registrieren, jede noch so kleine Störung. Ich merke auf, wenn ein unbekanntes Auto durch meine Straße fährt. Ich bin sofort hellwach, wenn eine Kollegin erwähnt, dass jemand nach mir gefragt habe. Ich lege mir ausgeklügelte Fluchtpläne zurecht, lange bevor ich sie tatsächlich brauche. Mein nächster Schritt ist bereits geplant. In zwei Stunden können meine Tochter und ich über die mexikanische Grenze sein, ausgestattet mit neuen Identitäten. Unsere Pässe mit den neuen Namen stecken schon in einer Seitentasche meines Koffers.

Wir hätten schon längst aufbrechen sollen. Wir hätten nicht so lange warten dürfen.

Aber wie überredet man ein vierzehnjähriges Mädchen, alle seine Freunde zurückzulassen? Tari ist das Problem; sie begreift nicht, in welcher Gefahr wir schweben.

Ich öffne die Nachttischschublade und nehme die Pistole heraus. Sie ist nicht registriert, und es macht mich nervös, eine Schusswaffe im selben Haus zu haben, in dem ich mit meiner Tochter lebe. Aber nach sechs Wochenenden auf dem Schießstand kann ich immerhin mit dem Ding umgehen.

Meine nackten Füße machen kein Geräusch, als ich mich aus dem Zimmer schleiche und den Flur entlanggehe, an der geschlossenen Tür meiner Tochter vorbei. Ich mache den gleichen Kontrollgang, den ich schon tausendmal gemacht habe. Wie jede gejagte Kreatur fühle ich mich im Dunkeln am sichersten.

In der Küche kontrolliere ich die Fenster und die Tür. Ebenso im Wohnzimmer. Alles ist gesichert. Ich gehe zurück in den Flur und halte vor dem Zimmer meiner Tochter inne. Tari ist in letzter Zeit geradezu fanatisch auf ihre Privatsphäre bedacht, aber an ihrer Tür ist kein Schloss, und ich werde auch nie zulassen, dass sie eines bekommt. Ich muss jederzeit einen Blick in ihr Zimmer werfen können, um mich zu vergewissern, dass sie wohlauf ist.

Die Tür knarrt laut, als ich sie öffne, aber das Geräusch wird Tari nicht wecken. Wie bei den meisten Teenagern gleicht ihr Schlaf einem Koma. Das Erste, was ich bemerke, ist der Luftzug, und ich seufze resigniert. Wieder einmal hat Tari meine Wünsche ignoriert und ihr Fenster offen gelassen, wie schon so oft.

Ich habe das Gefühl, ein Sakrileg zu begehen, wenn ich die Waffe in Taris Zimmer mitnehme, aber ich muss dieses Fenster schließen. Ich trete ein und bleibe neben dem Bett stehen, um ihr beim Schlafen zuzusehen und auf den stetigen Rhythmus ihres Atems zu lauschen. Ich erinnere mich an den Moment, als ich sie zum ersten Mal erblickte, im Arm der Hebamme, schreiend und mit rotem Gesicht. Ich hatte achtzehn Stunden in den Wehen gelegen und war so erschöpft, dass ich kaum den Kopf vom Kissen heben konnte. Aber nachdem ich einen Blick auf mein Baby geworfen hatte, wäre ich aus dem Bett aufgesprungen und hätte sie gegen eine ganze Legion von Angreifern verteidigt. In diesem Moment wusste ich, wie ich sie nennen würde. Ich dachte an die Worte, die in den großen Tempel von Abu Simbel eingraviert sind, die Worte, die Ramses der Große wählte, um seiner Liebe zu seiner Frau Ausdruck zu verleihen:

Nefertari, um deretwillen die Sonne scheint

Meine Tochter Nefertari ist der einzige Schatz, den ich aus Ägypten mitgebracht habe. Und ich habe wahnsinnige Angst, sie zu verlieren.

Tari gleicht mir so sehr. Es ist, als ob ich mir selbst beim Schlafen zusähe. Mit zehn Jahren konnte sie bereits Hieroglyphen lesen. Mit zwölf konnte sie sämtliche Dynastien bis hin zu den Ptolemäern aufsagen. Jedes Wochenende zog es sie ins Anthropologische Museum. Sie ist in jeder Hinsicht eine Kopie von mir, und in all den Jahren habe ich noch keine offenkundigen Spuren ihres Vaters in ihrem Gesicht oder ihrer Stimme entdecken können – oder auch, was das Allerwichtigste ist, in ihrer Seele. Sie ist meine Tochter, mein Kind und niemandes sonst, frei vom Makel des Bösen, das sie gezeugt hat.

Aber sie ist auch eine normale Vierzehnjährige, und das ist in den vergangenen Wochen immer wieder ein Quell der Frustration für mich gewesen, je deutlicher ich spüre, wie das Dunkel um uns näher rückt, je öfter ich nachts wach liege und auf die Schritte eines Monsters lausche. Meine Tochter ahnt nichts von der Gefahr, weil ich ihr die Wahrheit vorenthalten habe. Ich will, dass sie zu einer starken, furchtlosen Frau heranwächst, einer Kriegerin, die sich nicht vor Schatten fürchtet. Sie versteht nicht, warum ich mitten in der Nacht durchs Haus schleiche, warum ich die Fenster verriegele und jedes Türschloss zweimal kontrolliere. Sie glaubt, dass ich mir übertriebene Sorgen mache, und es stimmt: Ich mache mir Sorgen für zwei, um die Illusion aufrechtzuerhalten, dass alles in bester Ordnung sei.

Und das glaubt Tari auch. Sie mag San Diego, und sie freut sich auf ihr erstes Highschool-Jahr. Sie hat hier Freunde gefunden, und wehe der Mutter, die versucht, einen Teenager von seinen Freunden zu trennen. Sie ist genauso eigensinnig wie ich, und wenn sie sich nicht so sträuben würde, hätten wir die Stadt schon vor Wochen verlassen.

Ein Windstoß weht zum Fenster herein und kühlt den Schweiß auf meiner Haut.

Ich lege die Waffe auf dem Nachttisch ab und gehe zum Fenster, um es zu schließen. Einen Moment halte ich noch inne und atme die kühle Luft ein. Draußen ist die Nacht jetzt vollkommen still, nur das Sirren eines Moskitos ist zu hören. Da spüre ich ein Pieksen in der Wange. Erst als ich den Arm hebe, um das Fenster herunterzuziehen, wird mir klar, was dieser Moskitostich bedeutet. Und ich spüre den eisigen Hauch der Panik im Nacken.

Es ist kein Fliegengitter vor dem Fenster. Wo ist das Fliegengitter?

Da erst spüre ich die Nähe des Bösen. Während meine zärtlichen Blicke auf meiner Tochter ruhten, ruhte sein Blick auf mir. Es hat uns die ganze Zeit beobachtet, auf den richtigen Augenblick gewartet, auf die Gelegenheit zum Sprung. Jetzt hat es uns gefunden.

Ich drehe mich um und blicke dem Bösen ins Gesicht.

2

Dr. Maura Isles wusste nicht, ob sie bleiben oder flüchten sollte.

Sie blieb im Halbdunkel des Parkplatzes vor dem Pilgrim Hospital stehen, in sicherer Entfernung von den grellen Scheinwerfern und dem Kreis aus Fernsehkameras. Sie legte keinen Wert darauf, gesehen zu werden, und die meisten der Lokalreporter würden die Frau mit der auffallenden Erscheinung wiedererkennen, deren blasser Teint und streng geschnittenes schwarzes Haar ihr den Spitznamen »Königin der Toten« eingebracht hatten. Noch hatte niemand Mauras Eintreffen bemerkt, und nicht eine einzige Kamera war auf sie gerichtet. Stattdessen war die Aufmerksamkeit der rund ein Dutzend Reporter voll und ganz auf einen weißen Lieferwagen konzentriert, der soeben vor dem Krankenhauseingang vorgefahren war, um seinen berühmten Fahrgast abzuliefern. Die Hintertüren des Transporters wurden aufgestoßen, und ein Blitzlichtgewitter erhellte die Nacht, als die prominente Patientin behutsam aus dem Wagen gehoben und auf eine Rolltrage gelegt wurde. Diese Patientin war ein Medienstar, dessen plötzlicher Ruhm den einer einfachen Rechtsmedizinerin weit überstrahlte. Heute Abend war Maura lediglich ein Teil des ehrfürchtig staunenden Publikums, angezogen von derselben Attraktion, die auch für den Aufmarsch der Reporter verantwortlich war. Wie hysterische Groupies drängten sie sich an diesem warmen Sonntagabend vor dem Krankenhauseingang.

Alle konnten sie es kaum erwarten, einen Blick auf Madam X zu erhaschen.

Maura hatte schon oft mit Reportern zu tun gehabt, doch die fanatische Gier dieses Haufens erschreckte sie. Sie wusste, wie schnell ein neues Opfer, das sich in ihr Blickfeld verirrte, die Aufmerksamkeit der Meute auf sich ziehen konnte, und heute Abend fühlte sie sich ohnehin schon schutzlos und emotional angeschlagen. Sie spielte mit dem Gedanken, dem Gedränge zu entfliehen und wieder in ihren Wagen zu steigen. Doch alles, was sie stattdessen erwartete, waren ein stilles Haus und vielleicht ein paar Gläser Wein zu viel, die ihr Gesellschaft zu leisten hatten, wenn Daniel Brophy es nicht konnte. Und in letzter Zeit gab es viel zu viele solcher Abende. Aber das war es nun einmal, was sie sich eingehandelt hatte, als sie sich in ihn verliebte. Das Herz trifft seine Entscheidungen, ohne die Konsequenzen abzuwägen. Es schaut nicht voraus zu den einsamen Nächten, die unweigerlich folgen.

Die Rolltrage mit Madam X wurde ins Krankenhaus geschoben, und das Wolfsrudel der Reporter jagte ihr nach. Durch die Glastür sah Maura die hell erleuchtete Eingangshalle und die erregten Gesichter, während sie allein draußen auf dem Parkplatz stand.

Sie folgte der Entourage in das Gebäude.

Die Trage rollte durch die Eingangshalle, verfolgt von den verblüfften Blicken der Besucher, vorbei an aufgeregten Schwestern und Pflegern, die mit ihren Fotohandys auf der Lauer lagen, um sich einen Schnappschuss zu sichern. Die Parade zog weiter und bog in den Flur ein, der zur Bilddiagnostik führte. Aber an der nächsten Zwischentür wurde nur die Rolltrage durchgelassen. Ein Krawattenträger von der Krankenhausverwaltung trat vor und versperrte den Reportern den Weg.

»An dieser Stelle müssen Sie leider umkehren«, sagte er. »Ich weiß, Sie würden alle zu gerne dabei sein, aber der Raum ist sehr klein.« Er hob die Hände, um das enttäuschte Gemurmel zum Verstummen zu bringen. »Mein Name ist Phil Lord. Ich bin der Öffentlichkeitsreferent des Pilgrim Hospital, und wir freuen uns sehr, an dieser Untersuchung mitwirken zu dürfen. Eine Patientin wie Madam X wird schließlich nur alle – nun, sagen wir alle zweitausend Jahre eingeliefert.« Er lächelte, als ihm die erwartete Heiterkeit entgegenschlug. »Das CT wird nicht lange dauern; wenn Sie sich also ein wenig gedulden möchten, wird einer der Archäologen gleich im Anschluss herauskommen und die Ergebnisse bekannt geben.« Er wandte sich zu einem blassen Mann von ungefähr vierzig Jahren um, der sich in eine Ecke zurückgezogen hatte, als hoffte er, dort nicht bemerkt zu werden. »Dr. Robinson, möchten Sie vielleicht ein paar Worte sagen, bevor wir loslegen?«

Zu dieser Menge zu sprechen, war ganz offensichtlich das Letzte, wonach dem bebrillten Mann der Sinn stand, doch er holte tief Luft und trat tapfer ein paar Schritte vor, wobei er seine Brille hochschob, die ihm auf die Nasenspitze gerutscht war. Dieser Archäologe hatte so gar nichts von einem Indiana Jones an sich. Mit seiner hohen Stirn und seinem verkniffenen Silberblick wirkte er eher wie ein Buchhalter, der gegen seinen Willen ins Rampenlicht gezerrt wurde. »Mein Name ist Dr. Nicholas Robinson«, begann er. »Ich bin Kurator am …«

»Könnten Sie etwas lauter sprechen, Dr. Robinson?«, rief einer der Reporter.

»Oh, Verzeihung.« Dr. Robinson räusperte sich. »Ich bin Kurator am Crispin Museum hier in Boston. Wir sind unendlich dankbar, dass das Pilgrim Hospital uns so bereitwillig angeboten hat, die Computertomographie von Madam X hier durchzuführen. Dies ist eine ganz außergewöhnliche Gelegenheit, einen gründlichen Einblick in die Vergangenheit zu gewinnen, und wenn ich diesen Andrang hier sehe, kann ich nur annehmen, dass Sie alle ebenso aufgeregt sind wie wir. Meine Kollegin Dr. Josephine Pulcillo, die Ägyptologin ist, wird herauskommen und zu Ihnen sprechen, wenn das CT abgeschlossen ist. Sie wird dann die Resultate bekannt geben und Ihre Fragen beantworten.«

»Wann wird Madam X öffentlich ausgestellt?«, rief ein Reporter.

»Noch in dieser Woche, denke ich«, antwortete Robinson. »Der neue Ausstellungsbereich ist schon fertig, und …«

»Irgendwelche Hinweise auf ihre Identität?«

»Warum ist sie bisher nicht ausgestellt worden?«

»Könnte es sich um ein Mitglied der Königsfamilie handeln?«

»Ich weiß es nicht«, erwiderte Robinson und blinzelte heftig unter dem Sperrfeuer von Fragen. »Zuerst einmal müssen wir klären, ob es sich tatsächlich um eine weibliche Mumie handelt.«

»Sie haben sie vor einem halben Jahr gefunden, und Sie kennen noch immer nicht ihr Geschlecht?«

»Diese Untersuchungen sind sehr zeitaufwendig.«

»Ein Blick sollte doch wohl genügen«, meinte ein Reporter, und die Menge lachte.

»Es ist nicht so einfach, wie Sie glauben«, sagte Robinson, dem die Brille schon wieder auf die Nasenspitze gerutscht war. »So eine zweitausend Jahre alte Mumie ist extrem fragil und muss mit großer Behutsamkeit gehandhabt werden. Ich fand es schon nervenaufreibend genug, sie heute Abend in diesem Lieferwagen hierherzutransportieren. Für uns als Museum hat die Konservierung der Exponate höchste Priorität. Ich betrachte mich als ihren Hüter, und es ist meine Pflicht, sie zu beschützen. Deswegen haben wir uns ausreichend Zeit genommen, dieses CT mit dem Krankenhaus abzustimmen. Wir arbeiten langsam, aber dafür sehr sorgfältig.«

»Was hoffen Sie durch das heutige CT herauszufinden, Dr. Robinson?«

Plötzlich strahlte Robinsons Gesicht vor Eifer. »Herausfinden? Nun, alles! Ihr Alter, ihren Gesundheitszustand. Die Methode ihrer Konservierung. Wenn wir Glück haben, können wir sogar ihre Todesursache ermitteln.«

»Ist das der Grund, weshalb die Leiterin der Rechtsmedizin auch hier ist?«

Die ganze Schar wandte sich wie eine vieläugige Kreatur zu Maura um, die sich ganz im Hintergrund gehalten hatte, und starrte sie an. Sie verspürte den wohlbekannten Wunsch, sich in irgendein Loch zu verkriechen, als die Fernsehkameras zu ihr herumschwenkten.

»Dr. Isles«, rief ein Reporter, »sind Sie hier, um eine Diagnose zu stellen?«

»Wieso ist das Rechtsmedizinische Institut überhaupt involviert?«, fragte ein anderer.

Die letzte Frage verlangte eine umgehende Antwort, ehe die Presse die Fakten völlig verdrehen konnte.

Mit fester Stimme sagte Maura: »Das Rechtsmedizinische Institut ist nicht involviert. Es bezahlt mich auf jeden Fall nicht dafür, dass ich heute Abend hier bin.«

»Aber Sie sind hier«, bemerkte der blonde Frauenschwarm von Channel 5, den Maura noch nie gemocht hatte.

»Auf Einladung des Crispin Museums. Dr. Robinson fand, es könnte nützlich sein, auch die Ansicht einer Rechtsmedizinerin zu dem Fall zu hören. Also rief er mich letzte Woche an, um zu fragen, ob ich Interesse hätte, bei dem CT dabei zu sein. Glauben Sie mir, kein Rechtsmediziner würde sich eine solche Gelegenheit entgehen lassen. Ich bin genauso fasziniert von Madam X wie Sie, und ich kann es kaum erwarten, ihre Bekanntschaft zu machen.« Sie warf dem Kurator einen vielsagenden Blick zu. »Wird es nicht allmählich Zeit, dass wir anfangen, Dr. Robinson?«

Sie hatte ihm gerade eine Rettungsleine zugeworfen, und er ergriff sie sofort. »Ja. Ja, es wird Zeit. Wenn Sie bitte mitkommen würden, Dr. Isles.«

Sie bahnte sich einen Weg durch die Menge und folgte ihm in die Abteilung Bilddiagnostik. Als die Tür hinter ihnen zufiel und sie die Presse endlich los waren, stieß Robinson einen tiefen Seufzer aus.

»Mein Gott, ich bin fürchterlich, wenn es darum geht, vor Leuten zu reden«, sagte er. »Danke, dass Sie dem Elend ein Ende gemacht haben.«

»Ich habe Übung darin. Viel zu viel eigentlich.«

Sie gaben sich die Hand, und er sagte: »Es freut mich, Sie endlich kennenzulernen, Dr. Isles. Mr. Crispin wollte auch Ihre Bekanntschaft machen, aber er hatte vor ein paar Monaten eine Hüftoperation, und er kann immer noch nicht längere Zeit stehen. Er hat mich gebeten, Ihnen Grüße auszurichten.«

»Als Sie mich fragten, ob ich dabei sein möchte, haben Sie mir verschwiegen, dass ich mich durch diese Meute würde kämpfen müssen.«

»Die Presse?« Robinsons Miene war gequält. »Das ist ein notwendiges Übel.«

»Notwendig für wen?«

»Für unser Überleben als Museum. Seit dem Artikel über Madam X sind unsere Besucherzahlen steil in die Höhe geschnellt. Und dabei haben wir sie ja noch gar nicht ausgestellt.«

Robinson führte sie durch ein Labyrinth von Gängen. An diesem Sonntagabend war es in der Abteilung für Bilddiagnostik sehr ruhig, und die Räume, an denen sie vorbeikamen, waren dunkel und leer.

»Es dürfte ein bisschen eng werden da drin«, erklärte Robinson. »Selbst für eine kleine Gruppe ist in dem Raum kaum Platz.«

»Wer ist noch alles dabei?«

»Meine Kollegin Josephine Pulcillo, der Radiologe Dr. Brier und ein CT-Assistent. Ach ja, und ein Kamerateam ist auch da.«

»Haben Sie die engagiert?«

»Nein. Die sind vom Discovery Channel.«

Sie lachte verblüfft. »Also, jetzt bin ich aber wirklich beeindruckt.«

»Es bedeutet allerdings, dass wir aufpassen müssen, was wir sagen.« Er blieb vor der Tür mit der Aufschrift CT stehen und sagte leise: »Ich glaube, sie filmen schon.«

Sie schlüpften unauffällig in den CT-Kontrollraum, wo das Kamerateam in der Tat schon aufzeichnete, während Dr. Brier die Technologie erläuterte, die sie anwenden würden.

»CT ist die Abkürzung für ›Computertomographie‹. Unser Gerät schießt aus Tausenden von verschiedenen Blickwinkeln Röntgenstrahlen auf den Patienten oder die Patientin ab. Anschließend verarbeitet der Computer diese Informationen und erzeugt ein dreidimensionales Bild der inneren Anatomie. Sie werden es auf diesem Monitor sehen können. Es wird aussehen wie eine Serie von Querschnitten – so, als hätten wir den Körper in lauter dünne Scheiben zerlegt.«

Während die Kameras und Mikrofone weiter aufnahmen, trat Maura an das Sichtfenster. Und durch die Scheibe erblickte sie Madam X zum ersten Mal.

In der ganz eigenen Welt der Museen waren ägyptische Mumien die unumstrittenen Superstars. Ihre Vitrinen waren es, um die sich in aller Regel die Schulkinder drängten, wo sie sich die Nasen am Glas platt drückten, fasziniert vom seltenen Anblick des Todes. In der modernen Welt bekam man nicht allzu oft eine echte menschliche Leiche zu Gesicht, und wenn, dann nur in der akzeptablen Form einer Mumie. Alle liebten Mumien, und Maura bildete da keine Ausnahme. Gebannt starrte sie durch die Scheibe, dabei war da lediglich ein Bündel mit den Konturen eines menschlichen Körpers zu sehen, das in einer offenen Kiste lag, jeder Zentimeter Haut unter uralten Leinenbinden verborgen. Auf dem Gesicht ruhte eine Maske aus Kartonage – das gemalte Gesicht einer Frau mit ausdrucksvollen dunklen Augen.

Aber dann zog eine andere Frau im CT-Raum Mauras Aufmerksamkeit auf sich. Mit Baumwollhandschuhen an den Händen beugte die junge Frau sich über die Kiste, um das Verpackungsmaterial aus Schaumstoff herauszunehmen, mit dem die Mumie gepolstert war. Schwarze Ringellocken fielen ihr ins Gesicht. Sie richtete sich auf und strich sich das Haar nach hinten, und jetzt konnte Maura ihre Augen sehen – ebenso dunkel und faszinierend wie die gemalten Augen der Maske. Ihre mediterranen Züge wären in einem ägyptischen Tempelgemälde nicht weiter aufgefallen, doch ihre Kleidung war absolut modern: eine hautenge Jeans und ein Live-Aid-T-Shirt.

»Sie ist wunderschön, nicht wahr?«, murmelte Dr. Robinson. Er war neben Maura getreten, und im ersten Moment war sie sich nicht sicher, ob er Madam X oder die junge Frau meinte. »Sie scheint in einem ausgezeichneten Zustand zu sein. Ich hoffe nur, dass der Körper selbst ebenso gut erhalten ist wie diese Leinenbinden, in die sie gehüllt ist.«

»Was glauben Sie, wie alt sie ist? Können Sie eine Schätzung wagen?«

»Wir haben eine Probe der äußeren Hülle ins Labor geschickt für eine C14-Analyse. Das hat unser Budget so ziemlich gesprengt, aber Josephine hat darauf bestanden. Das Material wurde auf das zweite Jahrhundert vor Christus datiert.«

»Das ist die Ptolemäische Periode, nicht wahr?«

Er lächelte erfreut. »Sie kennen sich aber aus mit den ägyptischen Dynastien.«

»Ich hatte Anthropologie als zweites Hauptfach, aber ich fürchte, bis auf das und die Kultur der Yanomami habe ich alles wieder vergessen.«

»Ich bin dennoch beeindruckt.«

Sie starrte den eingehüllten Leichnam an und machte sich staunend bewusst, dass das, was da in dieser Holzkiste lag, über zweitausend Jahre alt war. Welch eine Reise diese Mumie hinter sich hatte: über den Ozean, über die Jahrtausende hinweg, und das alles, um nun auf einem CT-Tisch in einem Bostoner Krankenhaus zu liegen, begafft von neugierigen Augen. »Werden Sie sie für das CT in der Kiste lassen?«, fragte sie.

»Wir wollen sie so wenig wie möglich bewegen. Die Kiste wird nicht weiter stören. Wir werden trotzdem genug von dem sehen, was unter dem Leinen verborgen ist.«

»Sie haben also nicht einmal einen klitzekleinen Blick riskiert?«

»Sie meinen, ob ich sie ausgewickelt habe?« Seine sanften Augen weiteten sich vor Entsetzen. »Um Gottes willen, nein. Vor hundert Jahren hätten Archäologen so etwas vielleicht gemacht, und genau dadurch haben sie auch so viele Exemplare beschädigt. Unter diesen Leinenbinden befinden sich wahrscheinlich mehrere Schichten Harz, deshalb kann man sie nicht einfach so abziehen. Möglicherweise muss man die Hülle schichtweise abtragen. Es ist nicht nur zerstörerisch, es ist auch respektlos. Ich würde so etwas nie tun.« Sein Blick ging zu der jungen Frau auf der anderen Seite des Fensters. »Und Josephine würde mich umbringen, wenn ich es täte.«

»Ist das Ihre Kollegin?«

»Ja. Dr. Pulcillo.«

»Sie sieht aus, als wäre sie gerade mal sechzehn.«

»Nicht wahr? Aber sie ist blitzgescheit. Sie war es, die dieses CT arrangiert hat. Die Anwälte des Krankenhauses haben versucht, es zu verhindern, aber Josephine hat es gegen alle Widerstände durchgesetzt.«

»Was hatten die Anwälte denn dagegen einzuwenden?«

»Ob Sie’s glauben oder nicht, es ging darum, dass diese Patientin dem Krankenhaus keine schriftliche Einverständniserklärung geben konnte.«

Maura lachte ungläubig. »Sie wollten eine Einverständniserklärung von einer Mumie?«

»Für einen Anwalt muss immer alles bis aufs i-Tüpfelchen korrekt sein. Auch wenn die Patientin schon ein paar tausend Jahre tot ist.«

Dr. Pulcillo hatte inzwischen das ganze Verpackungsmaterial entfernt. Nun trat sie zu den anderen in den Kontrollraum und schloss die Verbindungstür. Die Mumie lag jetzt ungeschützt in der offenen Kiste und erwartete die erste Ladung Röntgenstrahlen.

»Dr. Robinson?«, sagte der CT-Assistent, die Finger schon eingabebereit über der Computertastatur, »wir müssen noch die vorgeschriebenen Patienteninformationen eintragen, ehe wir das CT starten können. Was soll ich als Geburtsdatum angeben?«

Der Kurator runzelte die Stirn. »Ach du liebe Zeit. Brauchen Sie wirklich ein Geburtsdatum?«

»Ich kann das CT erst starten, wenn ich dieses Formular ausgefüllt habe. Ich habe es schon mit dem Jahr null versucht, aber das hat der Computer nicht angenommen.«

»Warum nehmen wir nicht das Datum von gestern? Machen wir sie einfach einen Tag alt.«

»Okay. Jetzt will das Programm das Geschlecht wissen. Männlich, weiblich oder ›Sonstige‹?«

Robinson blinzelte. »Es gibt eine Kategorie für ›Sonstige‹?«

Der Assistent grinste. »Ich hatte noch nie das Vergnügen, dieses Kästchen anzuklicken.«

»Nun, dann nehmen wir es eben heute Abend. Auf der Maske ist das Gesicht einer Frau zu sehen, aber man kann nie wissen. Ohne CT können wir keine eindeutige Aussage über das Geschlecht machen.«

»Okay«, sagte Dr. Brier, der Radiologe. »Wir wären dann so weit.«

Dr. Robinson nickte. »Fangen wir an.«

Sie scharten sich um den Computerbildschirm und warteten darauf, dass die ersten Bilder auftauchten. Durch das Sichtfenster konnten sie beobachten, wie Madam X’ Kopf langsam in der Röhre verschwand, wo er aus verschiedenen Richtungen mit Röntgenstrahlen bombardiert wurde. Die Computertomographie war zwar keine neue medizintechnische Methode, aber ihre Verwendung bei archäologischen Untersuchungen war noch eine recht junge Entwicklung. Keiner der Anwesenden hatte je mit eigenen Augen das Computertomogramm einer Mumie beobachtet, und als sie sich nun alle um den Monitor drängten, war Maura sich bewusst, dass die Fernsehkamera auf ihre Gesichter gerichtet war und jede ihrer Reaktionen festhalten würde. Nicholas Robinson stand direkt neben ihr; er wippte auf den Fußballen vor und zurück und strahlte eine nervöse Energie aus, die alle im Raum ansteckte. Maura selbst spürte, wie ihr Puls sich beschleunigte, als sie den Hals reckte, um besser sehen zu können. Das erste Bild, das auf dem Monitor erschien, wurde mit ungeduldigen Seufzern kommentiert.

»Das ist nur der Rand der Kiste«, sagte Dr. Brier.

Maura musterte Robinson von der Seite und sah, dass er die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst hatte. Würde sich Madam X nur als bloßes Bündel von Lumpen entpuppen, als leere Hülle? Dr. Pulcillo stand neben ihm; sie wirkte nicht minder angespannt und umklammerte die Rückenlehne des Stuhls, auf dem der Radiologe saß, während sie ihm über die Schulter starrte und gebannt darauf wartete, dass etwas eindeutig Menschenähnliches erschien – irgendeine Bestätigung, dass sich unter diesen Leinenbinden ein Leichnam verbarg.

Das nächste Bild änderte alles. Es war eine verblüffend helle Scheibe, und als sie auf dem Monitor auftauchte, hielten alle im Raum simultan die Luft an.

Knochen.

»Das ist das Schädeldach«, sagte Dr. Brier. »Glückwunsch – es ist definitiv jemand zu Hause.«

Robinson und Pulcillo klopften einander begeistert auf die Schultern. »Genau darauf haben wir gewartet«, sagte er.

Pulcillo strahlte. »Jetzt können wir sie endlich ausstellen.«

»Mumien!« Robinson warf den Kopf in den Nacken und lachte. »Alle lieben Mumien!«

Auf dem Monitor erschienen bereits die nächsten Querschnitte, und sofort starrte alles wieder gebannt auf die Bilder des Schädels. Jetzt war zu erkennen, dass er nicht mit Gehirnmasse angefüllt war, sondern mit einem verschlungenen Gewirr, das an ein Knäuel Würmer erinnerte.

»Das sind Leinenstreifen«, murmelte Dr. Pulcillo mit ehrfürchtigem Staunen, als sei dieser Anblick das Schönste, was sie je gesehen hatte.

»Da ist keine Gehirnmasse zu erkennen«, bemerkte der CT-Assistent.

»Richtig, das Gehirn wurde gewöhnlich entfernt.«

»Stimmt es, dass die alten Ägypter der Mumie einen Haken durch die Nase geschoben und das Gehirn auf diese Weise herausgerissen haben?«, fragte der Assistent.

»Fast. Herausreißen kann man das Gehirn eigentlich nicht, dafür ist es zu weich. Sie haben vermutlich ein Instrument benutzt, mit dem das Gehirn so lange verquirlt wurde, bis es flüssig war. Dann wurde der Leichnam mit dem Kopf nach unten gekippt, sodass das Gehirn durch die Nase herauslaufen konnte.«

»O Mann, das ist ja abartig«, sagte der Assistent. Doch er hing gebannt an Pulcillos Lippen.

»Der Schädel blieb dann entweder leer, oder er wurde mit Leinenstreifen ausgestopft, wie Sie es hier sehen. Und mit Weihrauch.«

»Was ist eigentlich Weihrauch genau? Das hab ich mich schon immer gefragt.«

»Ein aromatisches Harz. Es stammt von einem ganz bestimmten Baum, der in Afrika wächst. In der Antike wurde es hoch geschätzt.«

»Deswegen hat also einer der drei Weisen Weihrauch nach Bethlehem mitgebracht.«

Dr. Pulcillo nickte. »Das war damals sicherlich ein kostbares Geschenk.«

»Okay«, sagte Dr. Brier, »wir sehen jetzt die Region unterhalb der Augenhöhlen. Da können Sie den Oberkiefer erkennen, und …« Er hielt inne und betrachtete stirnrunzelnd eine Verdichtung, die unerwartet aufgetaucht war.

»Du lieber Himmel!«, murmelte Robinson.

»Es ist etwas Metallisches«, erklärte Dr. Brier. »Und es befindet sich in der Mundhöhle.«

»Es könnte sich um Blattgold handeln«, sagte Pulcillo. »In der griechisch-römischen Epoche wurden bisweilen Zungen aus Blattgold in den Mund der Mumie gelegt.«

Robinson wandte sich der Fernsehkamera zu, die jede ihrer Bemerkungen aufzeichnete. »Wie es aussieht, befindet sich in der Mundhöhle ein metallischer Gegenstand. Das würde zu der vermuteten Datierung auf die griechisch-römische Periode passen …«

»Was ist das denn nun wieder?«, rief Dr. Brier.

Mauras Blick schnellte zum Monitor zurück. Im Unterkiefer der Mumie war ein helles, sternförmiges Objekt aufgetaucht – ein Anblick, der Maura die Sprache verschlug, weil so etwas in einer zweitausend Jahre alten Mumie mit Sicherheit nichts verloren hatte. Sie beugte sich weiter vor und fixierte jenes Detail, das bei einer frischen Leiche auf dem Seziertisch wohl kaum einen Kommentar wert gewesen wäre. »Ich weiß, dass das unmöglich ist«, sagte Maura leise, »aber wissen Sie, wonach das aussieht?«

Der Radiologe nickte. »Es scheint sich um eine Zahnfüllung zu handeln.«

Maura wandte sich an Dr. Robinson, der ebenso bestürzt schien wie alle anderen im Raum. »Ist so etwas irgendwann schon einmal bei einer ägyptischen Mumie beschrieben worden?«, fragte sie. »Zahnreparaturen aus antiker Zeit, die mit modernen Füllungen verwechselt werden könnten?«

Er schüttelte den Kopf, die Augen vor Staunen weit aufgerissen. »Nein, aber das heißt nicht, dass die Ägypter zu so etwas nicht in der Lage gewesen wären. Ihre Medizin war die fortschrittlichste der antiken Welt.« Er sah seine Kollegin an. »Josephine, was kannst du uns darüber sagen? Das ist doch dein Gebiet.«

Dr. Pulcillo tat sich sichtlich schwer, die Frage zu beantworten. »Es … es gibt medizinische Papyri aus dem Alten Reich«, sagte sie. »Darin wird beschrieben, wie man lose Zähne fixiert und Brücken anfertigt. Und es gab einen Heilkundigen, der berühmt war für die künstlichen Zähne, die er anfertigte. Wir wissen also, dass sie auf dem Gebiet der Zahnheilkunde sehr erfinderisch waren. Sie waren ihrer Zeit weit voraus.«

»Aber haben sie jemals solche Reparaturen durchgeführt?«, fragte Maura und deutete auf den Bildschirm.

Dr. Pulcillo richtete ihren verstörten Blick wieder auf das Röntgenbild. »Wenn ja«, antwortete sie leise, »dann ist es mir noch nicht untergekommen.«

Auf dem Monitor erschienen neue Bilder, alles Grau in Grau, der Körper in Scheiben zerlegt wie mit einem Brotmesser. Aus allen Richtungen mit Röntgenstrahlen beschossen und einer massiven Strahlungsdosis ausgesetzt, plagten diese Patientin weder Angst vor Krebs noch Sorgen wegen Nebenwirkungen. Wohl kaum eine lebende Patientin hätte das Röntgenbombardement so geduldig über sich ergehen lassen.

Robinson war sichtlich erschüttert von den Bildern, die sie gesehen hatten – er beugte sich angespannt vor und hielt konzentriert Ausschau nach der nächsten Überraschung. Die ersten Thorax-Querschnitte erschienen und ließen die schwarze, leere Brusthöhle erkennen.

»Offenbar wurde die Lunge entfernt«, bemerkte der Radiologe. »Alles, was ich sehen kann, ist ein verschrumpelter Fetzen vom Mittelfell im Brustraum.«

»Das ist das Herz«, korrigierte Pulcillo, deren Stimme wieder fester klang. Das hier war nun wieder etwas, womit sie gerechnet hatte. »Man hat immer versucht, es an Ort und Stelle zu belassen.«

»Nur das Herz?«

Sie nickte. »Es galt als Sitz des Verstandes, weshalb man es nie vom restlichen Körper trennte. Im Ägyptischen Totenbuch gibt es allein drei verschiedene Zaubersprüche, die dafür sorgen sollen, dass das Herz an seinem Platz bleibt.«

»Und die anderen Organe?«, fragte der CT-Assistent. »Ich habe gehört, dass die in spezielle Krüge gelegt wurden.«

»Das war vor der 21. Dynastie. Etwa von tausend vor Christus an wurden die Organe in vier Bündel gepackt und wieder in den Leichnam gelegt.«

»Das müssten wir also hier sehen können.«

»Wenn es sich um eine Mumie aus der Ptolemäerzeit handelt, ja.«

»Ich glaube, ich kann eine begründete Vermutung wagen, was ihr Alter zum Zeitpunkt des Todes betrifft«, sagte der Radiologe. »Die Weisheitszähne sind vollständig durchgebrochen, und die Schädelnähte sind geschlossen. Aber ich sehe keine degenerativen Veränderungen an der Wirbelsäule.«

»Eine junge Erwachsene«, sagte Maura.

»Wahrscheinlich unter fünfunddreißig.«

»In der Zeit, in der sie lebte, war fünfunddreißig schon ein sehr reifes Alter«, meinte Robinson.

Das CT war jetzt unterhalb des Brustkorbs angelangt, und die Röntgenstrahlen, die durch die Leinenbinden, durch die ausgetrocknete Hülle von Haut und Knochen drangen, machten die Bauchhöhle sichtbar. Was Maura darin erblickte, war ihr auf unheimliche Weise fremd; es kam ihr vor, als wohnte sie der Obduktion eines Aliens bei. Wo sie Leber und Milz, Magen und Bauchspeicheldrüse erwartet hätte, sah sie stattdessen ineinander verschlungene Leinenstreifen; eine innere Landschaft, der alle normalen Orientierungspunkte fehlten. Nur die hellen Wülste der Wirbelknochen verrieten ihr, dass es sich um einen menschlichen Körper handelte, einen Körper, den man bis auf die äußere Hülle ausgeweidet und anschließend wie eine Stoffpuppe ausgestopft hatte.

Die Anatomie einer Mumie mochte für Maura Neuland sein, doch sowohl Robinson als auch Pulcillo waren hier in ihrem Element. Während immer neue Bilder auftauchten, beugten sie sich vor und wiesen die anderen auf die Details hin, die sie erkannten.

»Da«, sagte Robinson. »Das sind die vier Leinenpäckchen mit den Organen«

»Okay, wir haben jetzt das Becken erreicht«, sagte Dr. Brier. Er deutete auf zwei bleiche Bögen – die oberen Ränder des Beckenkamms.

Scheibe für Scheibe nahm das Becken Gestalt an, während der Computer die zahllosen Röntgenaufnahmen zusammentrug und wiedergab. Es war wie ein digitaler Striptease, und jedes neue Bild bot aufregende neue Einblicke.

»Sehen Sie sich die Form des Beckeneingangs an«, sagte Dr. Brier.

»Es ist eine Frau«, stellte Maura fest.

Der Radiologe nickte. »Ich würde sagen, der Befund ist ziemlich eindeutig.« Er sah die beiden Archäologen an und grinste. »Sie können sie jetzt offiziell ›Madam X‹ nennen.«

»Und sehen Sie sich die Schambeinfuge an«, fuhr Maura fort, die immer noch den Monitor fixierte. »Sie ist nicht geöffnet.«

Brier nickte. »Das sehe ich auch so.«

»Was bedeutet das?«, fragte Robinson.

Maura erklärte es ihm. »Wenn bei der Entbindung das Kind den Beckeneingang passiert, können die Knochen an der Symphyse, also dort, wo sie aufeinandertreffen, regelrecht auseinandergedrückt werden. Diese Frau hat anscheinend nie ein Kind geboren.«

Der CT-Assistent lachte. »Höchstens ein Leinenbündel, wie?«

Der Detektor war jetzt über das Becken hinaus weitergerückt, und sie sahen Querschnitte der beiden Oberschenkelknochen, umhüllt von den eingeschrumpften Beinmuskeln.

»Nick, wir müssen Simon anrufen«, sagte Pulcillo. »Er wartet wahrscheinlich direkt neben dem Telefon.«

»Oje, das hatte ich völlig vergessen.« Robinson zog sein Handy aus der Tasche und rief seinen Chef an. »Simon, raten Sie mal, was ich mir gerade anschaue? – Ja, sie ist einfach hinreißend. Und außerdem sind wir noch auf ein paar Überraschungen gestoßen; die Pressekonferenz dürfte also …« Plötzlich verstummte er, den Blick starr auf den Monitor gerichtet.

»Was zum Teufel ist das?«, platzte der Assistent heraus.

Das Bild, das da gerade über den Monitor flimmerte, war so unerwartet, dass es schlagartig totenstill im Raum wurde. Hätte eine lebende Patientin auf dem CT-Tisch gelegen, Maura hätte keine Mühe gehabt, den kleinen metallischen Gegenstand zu identifizieren, der in die Wade eingebettet war – ein Objekt, das den schlanken Schaft des Wadenbeins zerschmettert hatte. Aber dieses Stück Metall hatte in Madam X’ Bein nichts verloren.

Ein Projektil gehörte nicht in Madam X’ Jahrtausend.

»Ist das wirklich das, wofür ich es halte?«, fragte der Assistent.

Robinson schüttelte den Kopf. »Es muss eine postmortale Verletzung sein. Was könnte es sonst sein?«

»Zweitausend Jahre nach dem Tod?«

»Ich … ich rufe Sie später noch einmal an, Simon.« Robinson beendete das Gespräch, wandte sich an den Kameramann und forderte ihn auf: »Schalten Sie sie aus. Bitte, schalten Sie sie auf der Stelle aus.« Er atmete tief durch. »Okay. Also gut, lassen … lassen Sie uns logisch an die Sache herangehen.« Er richtete sich auf und schien seine Selbstsicherheit zurückzugewinnen, als ihm eine einleuchtende Erklärung einfiel. »Mumien wurden häufig von Souvenirjägern missbraucht oder beschädigt. Offensichtlich hat irgendjemand eine Kugel auf diese Mumie abgefeuert. Und später hat ein Konservator diesen Schaden zu beheben versucht, indem er sie neu einwickelte. Deshalb haben wir in den Binden kein Einschussloch gesehen.«

»So hat es sich nicht zugetragen«, ließ sich Maura vernehmen.

Robinson blinzelte. »Wie meinen Sie das? Das muss doch die Erklärung sein.«

»Diese Beinverletzung ist nicht postmortal. Sie wurde der Frau zugefügt, als sie noch lebte.«

»Das ist unmöglich.«

»Ich fürchte, Dr. Isles hat recht«, sagte der Radiologe. Er sah Maura an. »Sie sprechen von dem Ansatz einer Kallusbildung um die Bruchstelle herum?«

»Was bedeutet das?«, fragte Robinson. »Kallusbildung?«

»Es bedeutet, dass der gebrochene Knochen schon zu verheilen begonnen hatte, als diese Frau starb. Sie hat nach der Verletzung noch mindestens einige Wochen gelebt.«

Maura wandte sich an den Kurator. »Woher stammt diese Mumie?«

Robinsons Brille war ihm wieder heruntergerutscht, und er starrte über die Gläser hinweg, als sei er von dem, was er da im Bein der Mumie schimmern sah, hypnotisiert.

Es war Dr. Pulcillo, die die Frage beantwortete, mit einer Stimme, die kaum mehr als ein Flüstern war. »Sie lag im Museumskeller. Nick – Dr. Robinson hat sie im Januar entdeckt.«

»Und wie hat das Museum sie erworben?«

Pulcillo schüttelte den Kopf. »Das wissen wir nicht.«

»Es muss doch Unterlagen geben. Irgendetwas in Ihren Akten, woraus hervorgeht, woher sie stammte.«

»Über sie gibt es rein gar nichts«, sagte Robinson, der endlich seine Stimme wiedergefunden hatte. »Das Crispin Museum ist hundertdreißig Jahre alt, und viele Unterlagen fehlen. Wir haben keine Ahnung, wie lange sie im Keller gelagert war.«

»Wie haben Sie sie gefunden?«

Obwohl der Raum klimatisiert war, standen Schweißperlen auf Dr. Robinsons blassem Gesicht. »Nachdem ich vor drei Jahren meine Stelle angetreten hatte, begann ich, den Bestand zu inventarisieren. So bin ich schließlich auf sie gestoßen. Sie lag in einer nicht beschrifteten Kiste.«

»Und das hat Sie gar nicht gewundert? So etwas Seltenes wie eine ägyptische Mumie in einer unbeschrifteten Kiste zu finden?«

»Aber Mumien sind gar nicht so selten. Im 19. Jahrhundert konnte man sie in Ägypten für fünf Dollar das Stück kaufen, und so brachten amerikanische Touristen sie zu Hunderten als Souvenirs nach Hause. Sie tauchen immer wieder auf Dachböden oder in Antiquitätenläden auf. Ein Monstrositätenkabinett in Niagara Falls behauptet sogar, Pharao Ramses I. in seiner Sammlung gehabt zu haben. Es ist also gar nicht so überraschend, dass wir in unserem Museum auf eine Mumie gestoßen sind.«

»Dr. Isles?«, sagte der Radiologe. »Wir haben jetzt die Übersichtsaufnahme. Wenn Sie einmal einen Blick darauf werfen möchten.«

Maura sah auf den Monitor und erblickte eine konventionelle Röntgenaufnahme, ähnlich denen, die sie in ihrem eigenen Sektionssaal an den Leuchtkasten hängte. Sie brauchte keinen Radiologen, um zu deuten, was sie da sah.

»Jetzt besteht kaum noch ein Zweifel«, meinte Dr. Brier.

Nein. Es besteht nicht der geringste Zweifel. Das ist eine Kugel, die da in dem Bein steckt.

Maura zog ihr Handy aus der Tasche.

»Dr. Isles?«, fragte Robinson. »Wen wollen Sie anrufen?«

»Ich organisiere einen Transport ins Leichenschauhaus«, antwortete sie. »Madam X ist jetzt ein Fall für die Rechtsmedizin.«

3

»Bilde ich mir das nur ein«, meinte Detective Barry Frost, »oder kriegen wir beide immer die besonders bizarren Fälle ab?«

Madam X gehörte eindeutig zu den eher bizarren Fällen, dachte Detective Jane Rizzoli, als sie an den TV-Übertragungswagen vorbeifuhr und auf den Parkplatz des Rechtsmedizinischen Instituts einbog. Es war erst acht Uhr morgens, und schon kläffte die Meute der Hyänen, begierig nach Einzelheiten dieses höchst mysteriösen »Uralt-Falles« – eines Falles, den Jane mit ungläubigem Lachen quittiert hatte, als Maura sie am Abend zuvor angerufen hatte. Der Anblick der Übertragungswagen machte Jane allerdings klar, dass es Zeit wurde, die Sache ernst zu nehmen. Sie musste allmählich die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass das Ganze doch kein raffinierter Streich war, den ihr die sonst so auffallend humorlose Rechtsmedizinerin spielte.

Sie parkte den Wagen und beäugte skeptisch die Ü-Wagen. Wie viele zusätzliche Kameras würden wohl auf sie und Frost warten, wenn sie das Gebäude wieder verließen?

»Diese Leiche dürfte wenigstens nicht allzu unangenehm riechen«, meinte Jane.

»Aber Mumien können Krankheiten übertragen.«

Jane sah ihren Partner an, dessen blasses, jungenhaftes Gesicht ernsthaft beunruhigt aussah. »Welche Krankheiten?«, fragte sie.

»Seit Alice weg ist, sehe ich ziemlich viel fern. Gestern Abend war da so eine Sendung auf dem Discovery Channel, und da ging es um Mumien, die mit solchen Sporen verseucht sind.«

»Ui, Sporen – da krieg ich ja richtig Angst!«

»Das ist kein Witz«, beharrte er. »Die können einen krank machen.«

»Mann, ich hoffe nur, dass Alice bald zurückkommt. Du leidest ja schon unter einer Überdosis Discovery Channel.«

Sie kletterten hinaus in die drückend feuchte Luft, die Janes ohnehin schon widerspenstiges dunkles Haar in einen Wust krauser Wellen verwandelte. In den vier Jahren, die sie nun beim Morddezernat arbeitete, hatte sie diesen Weg vom Parkplatz in das Gebäude der Rechtsmedizin viele Male zurückgelegt, war im Januar über das Eis geschlittert, im März durch den Regen gehastet und im August über den glühend heißen Asphalt geschlurft. Diese paar Dutzend Schritte waren ihr bestens vertraut, wie auch das makabre Ziel ihres Weges. Sie hatte geglaubt, dass dieser Gang mit der Zeit leichter werden, dass sie irgendwann immun sein würde gegen die Schrecken des Seziertischs. Doch seit der Geburt ihrer Tochter Regina vor einem Jahr jagte ihr der Gedanke an den Tod mehr Angst ein als je zuvor. Die Mutterschaft machte eine Frau nicht stärker; sie machte sie lediglich verwundbarer und erfüllte sie mit Angst um das, was der Tod ihr rauben konnte.

Doch die Leiche, die heute obduziert werden sollte, löste eher Faszination als Gruseln aus. Als Jane den Vorraum des Sektionssaals betrat, ging sie gleich nach vorn ans Sichtfenster. Sie konnte es kaum erwarten, einen Blick auf den Körper zu erhaschen, der bereits auf dem Edelstahltisch lag.

Madam X, so hatte der Boston Globe die Mumie getauft – ein einprägsamer Name, der Bilder einer heißblütigen Schönheit heraufbeschwor, einer dunkeläugigen Kleopatra. Doch Jane sah nur eine ausgetrocknete, in Lumpen gewickelte Hülle.

»Sie sieht aus wie eine Frühlingsrolle mit zwei Beinen«, meinte Jane.

»Wer ist denn das Mädchen?«, fragte Frost und starrte durch die Scheibe.

Im Sektionssaal waren zwei Personen, die Jane nicht kannte. Der Mann war groß und schlaksig, mit einer Brille auf der Nase, die ihn wie einen zerstreuten Professor wirken ließ. Die junge Frau war eine zierliche Brünette, die unter ihrem Autopsiekittel Bluejeans trug. »Das müssen die Archäologen vom Museum sein. Sie sollten beide dabei sein.«

»Die ist Archäologin? Wow!«

Jane stieß ihm verärgert den Ellbogen in die Seite. »Da ist Alice mal ein paar Wochen verreist, und schon vergisst du, dass du verheiratet bist.«

»Es ist ja nur, weil ich nie gedacht hätte, dass eine Archäologin so scharf aussehen kann.«

Sie zogen ihre Plastiküberschuhe und Kittel an und stießen die Tür zum Obduktionssaal auf.

»Hallo, Doc«, sagte Jane. »Ist die da wirklich ein Fall für uns?«

Maura, die am Leuchtkasten stand, drehte sich zu ihnen um, und ihr Blick war wie gewöhnlich todernst. Andere Rechtsmediziner mochten am Seziertisch Witze reißen oder ironische Kommentare zum Besten geben, aber von Maura hörte man in Gegenwart der Toten selten auch nur ein Lachen. »Das werden wir gleich herausfinden.« Sie stellte ihnen die beiden Gäste vor, die Jane schon durch das Sichtfenster gesehen hatte. »Das ist Dr. Nicholas Robinson, der Kurator. Und das ist seine Kollegin Dr. Josephine Pulcillo.«

»Sie sind beide vom Cripsin Museum?«, fragte Jane.

»Und sie sind beide nicht gerade glücklich über das, was ich hier vorhabe«, sagte Maura.

»Es ist ein zerstörender Eingriff«, bestätigte Robinson. »Es muss doch möglich sein, an diese Informationen heranzukommen, ohne sie aufzuschneiden.«

»Genau deshalb wollte ich Sie ja dabeihaben, Dr. Robinson«, entgegnete Maura. »Damit Sie mir helfen, den Schaden auf ein Minimum zu begrenzen. Ich will auf keinen Fall eine kostbare Antiquität zerstören.«

»Ich dachte, das CT gestern Abend hätte eindeutig ein Projektil gezeigt«, bemerkte Jane.

»Das hier sind die Röntgenaufnahmen, die wir heute Morgen gemacht haben«, sagte Maura. »Was denkst du?«

Jane trat an den Schaukasten und studierte die aufgehängten Filme. In der rechten Wade schimmerte etwas, das eindeutig nach einem Geschoss aussah. »Tja, ich kann mir gut vorstellen, wieso du da gestern Abend ausgeflippt bist.«

»Ich bin nicht ausgeflippt.«

Jane lachte. »Aber so dicht dran, wie ich dich noch nie erlebt hatte.«

»Ich gebe zu, ich war verdammt schockiert, als ich es gesehen habe. Das waren wir alle.« Maura deutete auf die Knochen im rechten Unterschenkel. »Siehst du hier den Bruch im Wadenbein – er wurde vermutlich von diesem Projektil verursacht.«

»Du sagtest, es sei passiert, als sie noch am Leben war?«

»Man kann den Ansatz einer Kallusbildung erkennen. Dieser Knochen war schon im Heilungsprozess begriffen, als sie starb.«

»Aber die Leinenhüllen sind zweitausend Jahre alt«, wandte Dr. Robinson ein. »Das haben wir nachgewiesen.«

Jane betrachtete eingehend die Röntgenbilder und suchte angestrengt nach einer logischen Erklärung für das, was sie da sahen. »Vielleicht ist es ja gar kein Geschoss. Vielleicht ist es irgend so ein uraltes Metallteil. Eine Speerspitze oder so was in der Art.«

»Das ist keine Speerspitze, Jane«, sagte Maura. »Es ist ein Geschoss.«

»Dann hol es raus. Beweise es mir.«

»Und wenn ich es beweise?«

»Dann stehen wir vor einem verdammt kniffligen Rätsel, nicht wahr? Ich meine, welche denkbaren Erklärungen bieten sich denn überhaupt an?«

»Wisst ihr, was Alice gesagt hat, als ich es ihr gestern Abend am Telefon erzählt habe?«, warf Frost ein. »›Zeitreisen.‹ Das war das Erste, was ihr dazu einfiel.«

Jane lachte. »Seit wann fährt deine Alice denn auf solchen Hokuspokus ab?«

»Aber es ist theoretisch möglich, in die Vergangenheit zu reisen«, beharrte er. »Und zum Beispiel eine Pistole ins alte Ägypten zu schmuggeln.«

Maura fuhr ungeduldig dazwischen: »Könnten wir uns bitte auf realistische Erklärungen beschränken?«

Jane musterte stirnrunzelnd den hellen Metallklumpen, der nicht anders aussah als die vielen anderen, die sie schon auf zahllosen Röntgenbildern lebloser Gliedmaßen und zerschmetterter Schädel hatte leuchten sehen. »So eine Erklärung will mir beim besten Willen nicht einfallen«, sagte sie. »Also, warum schneidest du sie nicht einfach auf und siehst nach, was dieses Metallding eigentlich ist? Vielleicht haben die Archäologen ja doch recht. Vielleicht ziehst du einfach nur voreilige Schlüsse, Maura.«

»Als Kurator«, sagte Robinson, »habe ich die Pflicht, sie zu schützen und zu verhindern, dass sie sinnlos in Stücke gerissen wird. Können Sie den Schaden wenigstens auf die relevante Körperregion begrenzen?«

Maura nickte. »Das ist eine vernünftige Vorgehensweise.« Sie trat an den Tisch. »Drehen wir sie um. Wenn es eine Eintrittswunde gibt, muss sie sich in der rechten Wade befinden.«

»Das machen wir am besten zusammen«, sagte Robinson. Er ging zum Kopfende, während Pulcillo sich am Fußende postierte. »Wir müssen den ganzen Körper stützen und darauf achten, dass er an keiner Stelle zu stark belastet wird. Also, wenn wir vielleicht alle vier mit anpacken könnten?«

Maura schob ihre behandschuhten Hände unter die Schultern der Mumie und sagte: »Detective Frost, könnten Sie das Becken stützen?«

Frost zögerte und beäugte skeptisch die fleckigen Leinenbinden. »Sollten wir nicht lieber Masken aufsetzen?«

»Wir drehen sie doch nur um«, erwiderte Maura.

»Ich habe gehört, dass Mumien Krankheiten übertragen. Man atmet diese Sporen ein, und davon bekommt man eine Lungenentzündung.«

»Herrgott noch mal!«, rief Jane. Sie streifte sich Handschuhe über und trat an den Tisch, um die Hände unter das Becken der Mumie zu schieben. »Ich bin so weit«, sagte sie.

»Okay, anheben bitte«, sagte Robinson. »Jetzt umdrehen. So, das war’s schon …«

»Wow, die wiegt ja praktisch gar nichts«, meinte Jane.

»Ein lebender Körper besteht hauptsächlich aus Wasser. Wenn man die Organe entfernt und den Leichnam austrocknet, reduziert man damit das ursprüngliche Gewicht auf einen Bruchteil. Sie bringt wahrscheinlich gerade einmal zwanzig bis fünfundzwanzig Kilo auf die Waage, mit Binden und allem Drum und Dran.«

»So was Ähnliches wie Dörrfleisch, hm?«

»Ja, das trifft es ziemlich genau. Gedörrtes Menschenfleisch. Und jetzt wollen wir sie ablegen. Ganz vorsichtig!«

»Das mit den Sporen war absolut ernst gemeint«, sagte Frost. »Ich habe da eine Sendung gesehen …«

»Sprechen Sie etwa vom ›Fluch des Pharao‹?«, fragte Maura.

»Genau!«, rief Frost. »Genau den meine ich. Die ganzen Leute, die gestorben sind, nachdem sie in Tutanchamuns Grab gewesen waren. Sie haben irgendwelche Sporen eingeatmet und sind davon krank geworden.«

»Aspergillus«, warf Robinson ein. »Als Howard Carter mit seinen Leuten die Grabkammer aufbrach, atmeten sie wahrscheinlich Sporen ein, die sich im Lauf der Jahrhunderte darin angesammelt hatten. Manche von ihnen starben angeblich an einer Lungenentzündung, die durch Aspergillus-Sporen ausgelöst wurde.«

»Dann ist also doch was dran an dem, was Frost sagt?«, fragte Jane. »Es gab diesen Fluch der Mumie tatsächlich?«

Robinsons Augen blitzten verärgert auf. »Selbstverständlich gab es keinen Fluch. Sicher, ein paar Leute sind gestorben, aber nach allem, was Carter und seine Leute Tutanchamun angetan hatten, hätte es vielleicht einen Fluch geben sollen.«

»Was haben sie ihm denn angetan?«, fragte Jane.

»Sie haben ihn brutal misshandelt. Sie haben ihn aufgeschnitten, seine Knochen gebrochen und ihn praktisch auseinandergerissen, als sie nach Juwelen und Amuletten suchten. Sie haben ihn in Stücke geschnitten, um ihn aus dem Sarg herauszubekommen, und ihm Arme und Beine abgerissen. Sie haben seinen Kopf abgetrennt. Das war keine Wissenschaft. Das war Leichenschändung.« Er blickte auf Madam X hinab, und Jane sah Bewunderung, ja Zärtlichkeit in seinen Augen. »Wir wollen nicht, dass das Gleiche mit ihr passiert.«

»Ich habe ganz bestimmt nicht die Absicht, sie zu verstümmeln«, sagte Maura. »Ich würde sagen, wir wickeln sie jetzt einfach so weit aus, dass wir sehen können, womit wir es hier zu tun haben.«

»Sie werden sie wahrscheinlich nicht einfach so auswickeln können«, bemerkte Robinson. »Wenn die inneren Leinenschichten der Tradition entsprechend in Harz getränkt wurden, werden sie so fest zusammenkleben, als wären sie geleimt.«

Maura warf noch einmal einen Blick auf das Röntgenbild und griff dann nach einem Skalpell und einer Pinzette. Jane hatte Maura schon viele Leichen aufschneiden sehen, aber noch nie hatte sie es erlebt, dass ihre Freundin so lange gezögert hatte. Mit der Klinge dicht über der Wade der Mumie hielt sie inne, als scheute sie vor dem ersten Schnitt zurück. Was sie zu tun im Begriff war, würde Madam X irreparabel beschädigen, und Robinson und Pulcillo beobachteten sie mit unverhohlener Missbilligung.

Maura führte den ersten Schnitt. Aber anders als sonst schlitzte sie die Haut nicht mit einer einzigen souveränen Bewegung auf. Stattdessen benutzte sie die Pinzette, um die Leinenbinden vorsichtig anzuheben, sodass sie die einzelnen Stoffschichten eine nach der anderen auftrennen konnte. »Sie lässt sich relativ mühelos auswickeln«, kommentierte sie.

Dr. Pulcillo runzelte die Stirn. »Das entspricht aber nicht der Tradition. Normalerweise wurden die Binden in geschmolzenes Harz eingetaucht. Als man in den Dreißigerjahren des 19. Jahrhunderts die ersten Mumien auswickelte, musste man die Bandagen teilweise abhebeln.«

»Wozu diente das Harz eigentlich?«, fragte Frost.

»Damit hat man die Bandagen verklebt, sodass sie steif wurden und eine Art Pappmaschee-Hülle bildeten, die den Inhalt schützte.«

»Ich bin schon durch die innerste Schicht durch«, sagte Maura. »Da klebt nirgendwo Harz dran.«

Jane reckte den Hals, um sehen zu können, was sich unter den Leinenbinden verbarg. »Das ist ihre Haut? Sie sieht aus wie altes Leder.«

»Leder ist ja auch nichts anderes als getrocknete Haut, Detective Rizzoli«, bemerkte Robinson. »Mehr oder weniger.«

Maura griff nach der Schere und schnitt die einzelnen Streifen vorsichtig ab, um ein größeres Stück Haut freizulegen. Sie sah aus wie braunes Pergament, das um die Knochen gewickelt war. Noch einmal drehte Maura sich zu den Röntgenbildern um und schwenkte dann ein Vergrößerungsglas über die Wade. »Ich kann keine Eintrittsöffnung in der Haut entdecken.«

»Es ist also keine postmortale Verletzung«, sagte Jane.

»Das passt zu dem, was wir auf dem Röntgenfilm gesehen haben. Dieser Fremdkörper ist wahrscheinlich eingedrungen, als sie noch am Leben war. Sie hat danach noch so lange gelebt, dass der gebrochene Knochen Gelegenheit zum Verheilen hatte und die Fleischwunde sich schließen konnte.«

»Wie lange wird das gedauert haben?«

»Ein paar Wochen. Vielleicht einen Monat.«

»In der Zeit musste sich doch irgendjemand um sie kümmern, nicht wahr? Sie musste irgendwo untergebracht und mit Nahrung versorgt werden.«

Maura nickte. »Das erschwert die Bestimmung der Todesart noch zusätzlich.«

»Der Todesart?«, fragte Robinson. »Was meinen Sie damit?«

»Mit anderen Worten«, erklärte Jane, »wir fragen uns, ob sie ermordet wurde.«

»Wir wollen zunächst einmal die drängendste Frage klären«, sagte Maura und griff nach dem Skalpell. Durch die Mumifizierung war das Gewebe zäh wie Leder, und die Klinge drang nur mit Mühe durch das eingetrocknete Fleisch.

Jane schielte über den Tisch hinweg nach Dr. Pulcillo und sah, wie sie die Lippen zusammenpresste, als müsse sie sich beherrschen, um nicht zu protestieren. Aber so ablehnend sie der Prozedur auch gegenüberstehen mochte, so wenig brachte sie es fertig, den Blick abzuwenden. Alle beugten sich neugierig vor, sogar Frost mit seiner Sporenphobie, und starrten gebannt auf das freigelegte Stück Bein, als Maura nun nach der Zange griff und sie in den Einschnitt senkte. Nur wenige Sekunden musste sie in dem eingeschrumpften Fleisch herumstochern, dann schloss sich die Zange um das gesuchte Objekt. Maura ließ es in eine Schale aus Edelstahl fallen, und es landete mit metallischem Scheppern.

Dr. Pulcillo sog hörbar die Luft ein. Das war keine Speerspitze und auch keine abgebrochene Messerklinge.

Maura sprach das Offensichtliche schließlich aus. »Ich glaube, jetzt können wir mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass Madam X keine zweitausend Jahre alt ist.«

4

»Ich verstehe das nicht«, murmelte Dr. Pulcillo. »Das Leinen ist doch analysiert worden. Die Radiokarbondatierung hat das Alter bestätigt.«

»Aber das ist eine Pistolenkugel«, sagte Jane und deutete auf die Schale. »Eine Zweiundzwanziger. Da kann etwas mit Ihrer Analyse nicht gestimmt haben.«

»Das ist ein angesehenes Labor! Sie waren sich ganz sicher, was die Datierung betrifft.«

»Sie könnten beide recht haben«, bemerkte Robinson leise.

»Ach ja?« Jane sah ihn an. »Wie soll das denn gehen?«

Er holte tief Luft und trat vom Seziertisch zurück, als brauchte er Platz zum Nachdenken. »Ab und zu sehe ich welche zum Verkauf angeboten. Ich weiß nicht, wie viel davon echt ist, aber ich bin sicher, dass es auf dem Antiquitätenmarkt ganze Geheimlager mit genuiner Ware gibt.«

»Wovon sprechen Sie?«

»Von Mumienbinden. Die sind leichter aufzutreiben als die Körper selbst. Ich habe sie schon auf eBay gesehen.«

Jane lachte verblüfft auf. »Sie können ins Internet gehen und Mumienbinden kaufen?«

»Früher gab es einen schwunghaften internationalen Handel mit Mumien. Sie wurden zermahlen und als Medizin verkauft. Oder als Dünger nach England verschifft. Reiche Touristen haben sie mit nach Hause genommen und regelrechte Enthüllungspartys gefeiert. Man lud seine Freunde ein und ließ sie zusehen, wie man die Bandagen abwickelte. Da in den Binden häufig Amulette und Juwelen gefunden wurden, war es so etwas wie eine Schatzsuche, bei der man kleine Geschenke für die Gäste auspackte.«

»Das war für diese Leute ein Gesellschaftsspiel?«, fragte Frost. »Eine Leiche auswickeln?«

»Es wurde in einigen der nobelsten viktorianischen Häuser gemacht«, erklärte Robinson. »Man sieht daran, wie wenig Respekt diese Menschen vor den Toten des alten Ägypten hatten. Und wenn sie mit dem Auswickeln der Mumie fertig waren, wurde sie weggeworfen oder verbrannt. Aber die Bandagen behielt man häufig als Souvenirs. Deshalb tauchen immer noch welche aus der Versenkung auf und werden zum Verkauf angeboten.«

»Diese Binden könnten also alt sein«, meinte Frost, »auch wenn die Leiche es nicht ist.«

»Das würde die Radiokarbondatierung erklären. Aber was Madam X selbst betrifft …« Robinson schüttelte ratlos den Kopf.

»Wir können immer noch nicht nachweisen, dass das hier ein Mord war«, sagte Frost. »Sie können niemanden auf der Grundlage einer Schussverletzung verurteilen, die schon halb verheilt war.«

»Ich kann mir nicht recht vorstellen, dass sie sich freiwillig hat mumifizieren lassen«, meinte Jane.

»So unwahrscheinlich ist das gar nicht«, entgegnete Robinson.

Alles starrte den Kurator an, dessen Miene vollkommen ernst war.

»Sich freiwillig das Gehirn und die Organe rausholen lassen?«, rief Jane. »Nein danke.«

»Es hat tatsächlich Menschen gegeben, die ihren Körper zu genau diesem Zweck der Wissenschaft vermachten.«

»Hey, die Sendung habe ich auch gesehen«, warf Frost ein. »Das war auch auf dem Discovery Channel. Da hat irgendein Archäologe tatsächlich einen Typen mumifiziert.«

Jane starrte auf den eingehüllten Leichnam. Sie malte sich aus, wie es wäre, in Schichten um Schichten von Bandagen gewickelt zu werden, die ihr die Luft zum Atmen raubten. Tausend, ja zweitausend Jahre in einer Zwangsjacke aus Leinen gefesselt zu sein, bis zu dem Tag, da es irgendeinem neugierigen Archäologen in den Sinn kam, sie von den Stoffbahnen zu befreien und ihre vertrockneten Überreste bloßzulegen. Nicht Staub zu Staub, sondern Haut zu Leder. Sie schluckte. »Wieso sollte irgendjemand sich freiwillig dafür zur Verfügung stellen?«