Gracia ist doch noch ein Kind! - Britta Frey - E-Book

Gracia ist doch noch ein Kind! E-Book

Britta Frey

0,0

Beschreibung

Die Kinderärztin Dr. Martens ist eine großartige Ärztin aus Berufung, sie hat ein Herz für ihre kleinen Patienten, und mit ihrem besonderen psychologischen Feingefühl geht sie auf deren Sorgen und Wünsche ein. Die Kinderklinik, die sie leitet, hat sie zu einem ausgezeichneten Ansehen verholfen. Kinderärztin Dr. Martens ist eine weibliche Identifikationsfigur von Format. Sie ist ein einzigartiger, ein unbestechlicher Charakter – und sie verfügt über einen liebenswerten Charme. Alle Leserinnen von Arztromanen und Familienromanen sind begeistert! Dr. Kay Martens' Blick fiel auf die Uhr. Es war höchste Zeit. Er stemmte die Hände auf der Schreibtischplatte ab und lächelte Dr. Olegra entschuldigend an. »Ich würde vorschlagen, Sie gehen so vor, wie wir gerade besprochen haben. Wenn bis in drei Tagen keine Besserung eintritt, sollten wir uns noch einmal darüber unterhalten.« »Haben Sie es eilig?« fragte Dr. Olegra – er hatte italienische Eltern, war aber in Deutschland aufgewachsen – geradeheraus. Daß der Chef nach der Uhr sah, war er nicht gewohnt. Über verzwickte Fälle konnte er sich stundenlang unterhalten. »Stimmt!« Der Kinderchirurg schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Wie ich meine Schwester kenne, hat sie vergessen, daß wir heute abend Karten für eine Eisrevue haben. Ich werde mich wohl auf die Suche nach ihr machen müssen.« Er sah noch einmal auf die Uhr. Dr. Olegra erhob sich nun ebenfalls. Lächelnd schüttelte er den Kopf.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 145

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Kinderärztin Dr. Martens Classic – 23 –

Gracia ist doch noch ein Kind!

Wenn Eltern allzu ehrgeizige Pläne haben

Britta Frey

Dr. Kay Martens’ Blick fiel auf die Uhr. Es war höchste Zeit. Er stemmte die Hände auf der Schreibtischplatte ab und lächelte Dr. Olegra entschuldigend an. »Ich würde vorschlagen, Sie gehen so vor, wie wir gerade besprochen haben. Wenn bis in drei Tagen keine Besserung eintritt, sollten wir uns noch einmal darüber unterhalten.«

»Haben Sie es eilig?« fragte Dr. Olegra – er hatte italienische Eltern, war aber in Deutschland aufgewachsen – geradeheraus. Daß der Chef nach der Uhr sah, war er nicht gewohnt. Über verzwickte Fälle konnte er sich stundenlang unterhalten.

»Stimmt!« Der Kinderchirurg schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Wie ich meine Schwester kenne, hat sie vergessen, daß wir heute abend Karten für eine Eisrevue haben. Ich werde mich wohl auf die Suche nach ihr machen müssen.« Er sah noch einmal auf die Uhr.

Dr. Olegra erhob sich nun ebenfalls. Lächelnd schüttelte er den Kopf. »Kaum zu glauben, daß Sie beide einmal gleichzeitig die Kinderklinik verlassen wollen«, spottete er. Er meinte es jedoch nicht böse. Die Geschwister Martens waren gleichberechtigte Leiter der Kinderklinik Birkenhain. Sie hatten das Birkenschlößchen, das in der Nähe des Ortes Ögela in der Lüneburger Heide lag, zu einer Kinderklinik umgebaut. Da sie beide unverheiratet waren, gehörte ihre ganze Energie der Klinik.

»Stimmt!« Dr. Kay Martens fuhr sich mit beiden Händen durch sein schwarzes welliges Haar. »Ich wollte mit den Karten meiner Schwester auch eine besondere Freude machen. Schon als wir noch Kinder waren, war es für uns ein sehr schönes Geschenk, Karten für eine Eisrevue zu bekommen. Voriges Jahr mußte Hanna allein gehen, doch dieses Mal scheint es zu klappen.« Kay rieb sich in Vorfreude die Hände. »Zur Zeit haben wir nur zwei Problemfälle, doch Dr. Mettner hat Nachtdienst.«

»Sie können wirklich unbesorgt gehen«, meinte nun auch Dr. Olegra, dessen Fachgebiet die Urologie war.

»Das werde ich auch tun. Nur, wie gesagt, Hanna wollte bereits vor zehn Minuten hier sein. Ich kann mir denken, daß sie über einem kleinen Patienten die Zeit vergessen hat.«

»Sie wird bei dem kleinen Elmar sein«, meinte Dr. Olegra. »Der Junge ist sehr sensibel. Da noch immer nicht geklärt ist, warum es bei Elmar zu dieser krankhaften Gewichtsabnahme gekommen ist, bemüht sich Ihre Schwester persönlich um das Kind.«

Dr. Martens nickte. Elmar Pietsch war einer der Problemfälle. Seit einer Woche war er bei ihnen, und sie wußten noch immer nicht, ob es sich bei der Appetitlosigkeit des Kleinen um eine seelisch-nervlich bedingte oder um eine hormonale Störung handelte. »Es wird höchste Zeit, daß ich nach Hanna sehe.« Er ging zur Tür, und Dr. Olegra folgte ihm.

»Viel Vergnügen«, wünschte er dem Chef auf dem Gang. »Ich habe noch im Labor zu tun.«

»Danke!« Kay reichte dem Kollegen die Hand. Dann eilte er den Gang entlang, die Hände in den Taschen des weißen Mantels vergrabend. Am Ende des Ganges befand sich das sogenannte Schwesternzimmer. Er steckte den Kopf hinein und sah die Oberschwester, die die letzten Eintragungen vornahm.

Elli Gaus hob den Kopf. Sie war im Begriff, Feierabend zu machen, und daher fragte sie auch: »Gibt es noch etwas, Herr Doktor?«

»Eigentlich nicht! Ich suche nur meine Schwester. Sie scheint vergessen zu haben, daß wir fort wollten.« Unwillkürlich sah Kay auf die Armbanduhr. Die Zeit war inzwischen weiter fortgeschritten.

»Oh!« Die Oberschwester richtete sich auf. »Das hat Dr. Martens wirklich vergessen. Elmar Pietsch bekam plötzlich hohes Fieber. Ihre Schwester bemüht sich um ihn. Jetzt sieht es so aus, als handele es sich bei dem Kleinen um eine Infektionskrankheit. Ich werde aber sofort Schwester Trude auf Zimmer 35 schicken. Dr. Andergast ist auch im Haus. Ihre Schwester kann also unbesorgt fortgehen.«

»Danke!« sagte Kay, er unterdrückte jedoch einen Seufzer. Hoffentlich war Hanna auch dazu bereit. Wie er sie kannte, würde sie lieber bei Elmar bleiben. Er zog sich aus dem Schwesternzimmer zurück und machte sich auf den Weg zu Zimmer 35. Wie erwartet saß Dr. Hanna Martens am Bett des kleinen Elmar. Sie erhob sich aber sofort, als ihr Bruder eintrat.

»Das Fieber sinkt bereits wieder«, sagte sie. »Ich glaube, wir haben den Infektionsherd gefunden. Somit steht jetzt fest, daß der Gewichtsverlust des Kleinen durch diese Infektionskrankheit hervorgerufen worden ist.«

»Wir unterhalten uns später darüber. Du wirst hier doch nicht mehr gebraucht.« Kay warf einen Blick auf das Bett. Der Kleine schien ruhig, er lächelte ihm sogar zu. Kay erwiderte das Lächeln.

Hanna zögerte. »Ich weiß nicht! Es könnte sein, daß das Fieber erneut in die Höhe geht.«

Kay legte seiner Schwester die Hand auf die Schulter. »Dann kann sich Kollegin Andergast darum kümmern.«

Irritiert zog Hanna die Augenbrauen in die Höhe und sah ihrem Bruder ins Gesicht. »Ich wollte eigentlich noch etwas hierbleiben.«

»Bildest du dir wieder einmal ein, unentbehrlich zu sein?« fragte Kay. »Diesmal werde ich dir jedoch heftig widersprechen. Es wäre wirklich schade um die Eisrevuekarten.« Er sah, wie die Augen seiner Schwester groß wurden, und mußte lächeln.

»Darauf freue ich mich schon seit zwei Wochen«, gestand Hanna. Dann sah sie jedoch zu Elmar hin. »Du meinst, ich kann gehen?« fragte sie leise.

»Du gehst fort?« fragte Elmar. Er wollte sich aufrichten, aber Hanna drückte ihn sofort wieder ins Kissen zurück und deckte ihn sorgsam zu.

»Du mußt liegen bleiben. Vorhin hast du doch gesagt, daß du müde bist.«

»Habe ich«, bestätigte der Sechsjährige auch sofort. Dann schob er jedoch seine Unterlippe nach vorn. »Du hast mir versprochen, ein Märchen zu erzählen, dann werde ich auch gleich schlafen.«

Kay trat an die Seite seiner Schwester. Er mußte verhindern, daß diese sich umstimmen ließ, denn dazu hatte sie wirklich keine Zeit mehr. »Hat die Tante Doktor dir das wirklich versprochen?« fragte er.

»Sie tut es, wenn ich brav schlafe«, behauptete Elmar.

»Da hat er nicht unrecht. Die letzten zwei Tage habe ich es getan.« Hanna lächelte.

»Dann ist die Tante Doktor aber wirklich sehr lieb gewesen.« Während Kay noch nach weiteren Worten suchte, trat Schwester Trude ein. Er wandte kurz den Kopf, nickte ihr zu, dann fuhr er fort: »Was hältst du davon, wenn Schwester Trude dir heute eine Geschichte erzählt? Eine kurze, aber nur unter der Bedingung, daß du nachher brav die Augen zumachst und schläfst.«

»Mh!« Elmar schien zu überlegen. »Schlafen tue ich sowieso, ich bin müde. Bei der Tante Doktor schlafe ich aber viel schneller ein. Ihre Geschichten sind so schön.«

Schwester Trude hatte zugehört und begriffen, worum es ging. Rasch sagte sie: »Ich werde dir eine schöne Geschichte erzählen.«

»Besser deine Geschichte als gar keine«, entschied Elmar. Mit seinen sechs Jahren war er ein sehr aufgewecktes, lebhaftes Kind und hatte die Ärzte sowie die Schwestern schon öfter zum Schmunzeln gebracht.

Lächelnd beugte Hanna sich über das Kind, küßte es auf die Stirn. Zufrieden registrierte sie, daß die Stirn nicht mehr so heiß war. »Gute Nacht!«

*

Dr. Kay Martens öffnete für seine Schwester die Autotür. »Nach der Vorstellung trinken wir noch irgendwo gemütlich ein Glas Wein«, meinte er.

»Gern!« Während Hanna sich auf den Beifahrersitz fallen ließ, lächelte sie zu ihrem Bruder hinauf. »Wir sind schon lange nicht mehr zusammen fort gewesen.«

»Wir gehen überhaupt zu wenig aus. Mich wundert, daß dir die Decke noch nicht auf den Kopf gefallen ist.« Auch Kay lächelte bei seinen Worten. Er ging um das Auto herum und setzte sich ans Steuer.

Hanna war ihm mit den Blicken gefolgt. Er sah sehr gut aus. Seine Gesichtszüge waren scharf geschnitten, sie verrieten Energie. Das leicht gewellte Haar stand nicht im Kontrast zu den markanten Gesichtszügen. Im Geiste verglich Hanna ihren Bruder gern mit einer griechischen Statue. Sie wußte, daß bei seinem Anblick manches Frauenherz höherschlug.

»Was ist mit dir?« fragte sie daher. »Soweit ich mich erinnern kann, hast du schon lange kein freies Wochenende mehr gehabt, und wenn, dann bist du allein durch die Heide gewandert.«

Nun war es Kay, der seine Schwester musterte. Im Gegensatz zu ihrem Bruder war ihr Haar blond, ihre Augen blau. In ihrem eleganten Kleid hätte man sie für ein Mannequin halten können. Nichts erinnerte mehr an die Ärztin, die tagsüber einen weißen Mantel trug.

»Sieh mich nicht so an«, wehrte Hanna ab.

»Ich frage mich gerade, ob alle Männer blind sind. Du bist eine sehr attraktive Frau.«

»Danke. Aber wenn wir nun anfangen, uns mit Komplimenten zu überhäufen, dann kommen wir nie in die Stadt.«

»Es ist mir ernst!« Bevor Kay den Zündschlüssel umdrehte, berührte er flüchtig Hannas Hand.

»Du weißt doch, woran es liegt.« Hanna beseitigte ein unsichtbares Stäubchen von ihrem Kleid. »Wir lieben unseren Beruf zu sehr, um uns einem Partner widmen zu können. Bisher war eben keiner so wichtig.«

»Wahrscheinlich hast du recht. Wir sind zu angefüllt von unserer Arbeit und haben nicht das Bedürfnis nach Zweisamkeit.«

»Ganz stimmt das nicht. Hin und wieder ein Flirt – dagegen ist nichts einzuwenden. Nur dauert das bei mir nicht lange.«

»Du bist eben noch nicht dem Richtigen begegnet.« Bei seinen letzten Worten trat Kay aufs Gaspedal, der Motor heulte auf.

»Du etwa?« fragte Hanna laut, um das Motorengeräusch zu übertönen. Dann wandte sie den Kopf und sah zurück. Da die Dämmerung nun schon früh hereinbrach, erstrahlte das ehemalige Birkenschlößchen bereits in hellem Licht. Es wurden Vorbereitungen für die Nacht getroffen.

»Wir haben hier etwas sehr Schönes geschaffen«, sagte sie. »Schon vielen kleinen Patienten haben wir helfen können, und vor allem fühlen sich die meisten bei uns wohl. Ich bin sehr zufrieden.«

»Ich auch!« Kurz wandte Kay den Kopf. »Wir haben erreicht, was wir uns vorgenommen hatten. Die Kinderklinik Birkenhain ist unser Werk, und hier werden wir noch vielen Kindern helfen können. Gibt es eine schönere Aufgabe?« Ein warmer Glanz war in Kays Augen getreten.

Das Birkenschlößchen – an der Außenfront hatte das Geschwisterpaar keine Änderung vorgenommen – entschwand Hannas Blick, denn Kay war in die Straße eingebogen, die durch die Lüneburger Heide führte und die schnellste Verbindung zur nächsten Stadt darstellte. »Morgen früh werde ich mich gleich um Elmar kümmern.«

Kay nahm seine Hand vom Lenkrad und berührte seine Schwester. »Wir wollen jetzt nicht über irgendeinen Krankheitsfall diskutieren.«

»Nicht über irgendeinen«, berichtigte Hanna ihn, »über die Magersucht des kleinen Elmar. Endlich glaube ich den Grund zu kennen.«

»Auch darüber nicht! Heute ist unser freier Abend, wie wir vorhin festgestellt haben, der erste wieder seit langer Zeit. Ich freue mich auf die Eisrevue. Eine Eisrevue war für uns stets ein besonderes Fest. Erinnerst du dich nicht?«

Und ob Hanna sich erinnerte. Sie wußte noch ganz genau, wann der große Bruder sie zum ersten Mal mitgenommen hatte. Gerade sechzehn Jahre war sie alt geworden. Kay hatte Semesterferien gehabt. Ihretwegen hatte er seine damalige Freundin versetzt. Als sie dies erfahren hatte, hatte sie eine Stunde vor dem Spiegel verbracht. Wenn ihr Bruder sie schon ausführte, dann sollte er sich ihrer auch nicht schämen müssen. Lächelnd begann Hanna davon zu erzählen. Auch über andere Eisrevuebesuche sprachen sie nun. Kay hatte erreicht, was er wollte, der Alltag geriet in Vergessenheit. In bester Stimmung erreichten die Geschwister die Stadt. Es störte sie auch nicht, daß die Parkplätze in der Nähe der Halle bereits alle besetzt waren und sie einen Fußmarsch auf sich nehmen mußten. Sie schafften es gerade noch rechtzeitig, ihre Plätze zu erreichen, dann erlosch das Licht und die Eisfläche wurde zum beleuchteten Mittelpunkt.

Hanna genoß das bunte Treiben auf der Eisfläche. »Phantastisch, wunderschön«, murmelte sie immer wieder. Es war nicht nur das Können der Eisläufer, sondern auch die glitzernden Kostüme, die es ihr angetan hatten. Kay ging es gleich. Nur zu gern ließ er sich von dieser Phantasiewelt auf der Eisfläche einfangen. Als dann ein Mann und eine Frau zusammen mit einem kleinen Mädchen auftraten, ergriff Hanna im Dunkeln seine Hand. Er wußte genau, was sie meinte. Die Kleine war bezaubernd! Sicher stand sie auf ihren Schlittschuhen. Unwillkürlich beugte er sich weiter nach vorn. Was die drei Menschen da auf dem Eis boten, war atemberaubend.

Hanna und Kay hatte Logenplätze, so konnten sie die Geschehnisse genau verfolgen. Doch plötzlich knickte das Kind ein. Mitten in einer Pirouette versagten ihm die Füße den Dienst. Wie ein gefällter Baum lag das Kind auf dem Eis. Unwillkürlich sprang Hanna auf, doch die Eiskünstler reagierten sofort. Zwei Clowns erschienen und trieben ihre Späße. Zuletzt wurde das Mädchen vom Eis getragen. Einer der Clowns hatte es Huckepack genommen. Fast konnte man meinen, diese Szene gehöre zur Nummer. Hanna jedoch hatte die Kleine genau beobachtet und so deutlich gesehen, daß der Zusammenbruch kein Spiel gewesen war. Irgend etwas war mit dem Kind nicht in Ordnung.

Bis zur Pause folgten noch einige Nummern, Hanna konnte sich jedoch nicht mehr darauf konzentrieren, ihre Gedanken waren bei der Kleinen. Sobald die Eisfläche leer war und die Lichter aufflammten, wandte Hanna sich an ihren Bruder. »Wer war dieses Kind?« fragte sie.

»Keine Ahnung, ich habe so eine Nummer noch nie gesehen. Jedenfalls ist sie sehr begabt und macht ihre Sache ausgezeichnet.«

»Sie ist krank«, stellte Hanna fest. »Mitten im Tanz ist sie zusammengebrochen.«

Kay konnte dem nicht widersprechen, er hatte es auch gesehen. »Wir können von hier aus keine Diagnose stellen.« Aufmunternd lächelte er seiner Schwester zu. »Laß uns die Pause dazu nutzen, etwas zu trinken.«

Hanna hatte dazu wenig Lust. Sie erhob sich jedoch und sah sich suchend um. »Ich möchte ein Programm. Da wir im letzten Augenblick gekommen sind, konnten wir keines mehr kaufen.«

»Kein Problem, im Vorraum gibt es sicher noch welche. Komm, laß uns hinausgehen«, forderte Kay seine Schwester noch einmal auf. Diesmal folgte Hanna ihm. Sie packte dann auch gleich seinen Arm und wies in eine Richtung.

»Dort! Sieh nur, dort werden Programme verkauft.«

»Ich hole dir eines«, meinte Kay bereitwillig. Als er es Hanna brachte, begann diese gleich eifrig darin zu blättern.

»Das ist die Nummer!« Sie hielt Kay das aufgeschlagene Programm hin. Dieser nickte, denn das kleine Mädchen lachte ihm daraus entgegen.

»Es handelt sich um Vater, Mutter und Tochter«, meinte sie, nachdem sie diese Seite überflogen hatte. »Die Kleine heißt Gracia Reger. Hier steht auch, daß sie erst sechs Jahre alt ist, also ein Wunderkind.«

Kay nahm nun seiner Schwester das Programm aus der Hand und las, was hier über Gracia Reger alles stand. Auch er hatte bemerkt, daß die Kleine bereits auf den Schlittschuhen zu Hause war. Die Gewandtheit, mit der sie sich auf der glitzernden Eisfläche bewegte, hatte ihn verblüfft.

»Sie ist sicher sehr talentiert« ,meinte er. Er wandte den Kopf und stellte fest, daß Hanna sich von ihm entfernte. Rasch drängte auch er sich durch die Menschenmenge. »Wohin willst du?« fragte er, als er sie eingeholt hatte.

»Entschuldige! Ich möchte mich nach dem Kind erkundigen. Schließlich und endlich bin ich Ärztin.« Rasch ging sie weiter, denn sie wollte sich nicht von ihrem Bruder zurückhalten lassen.

*

»Frau Reger?« Hanna hatte sich mühsam durch die Leute gekämpft. Es war ein bunt gemischtes Völkchen, das sich hier versammelt hatte. Die meisten trugen irgendwelche Kostüme. Sie hatte die Frau, die man ihr gezeigt hatte, am Arm gefaßt. »Ich bin Kinderärztin. Wie geht es Ihrer Tochter?«

»Sie sind Ärztin? Wie kommen Sie hierher?« Verwirrt sah Frauke Reger Hanna an. Auch sie war noch nicht umgezogen, hatte nur einen Bademantel über ihr Kostüm geworfen.

»Ich sitze ganz vorn«, erklärte Hanna. »Ich habe gesehen, wie Ihr Kind zusammengebrochen ist.«

»Unsinn!« sagte da ein Mann, er schob sich zwischen Hanna und Frau Reger. »Gracia ist umgeknickt, das kann schon einmal passieren. Was geht Sie das überhaupt an?«

»Dr. Martens! Ich bin Kinderärztin und habe gesehen, wie Ihre Tochter den Halt verloren hat.«

»Das haben wir leider alle gesehen. Gracia ist gestürzt, sie hat in letzter Zeit zu wenig trainiert. Das wird nicht mehr vorkommen, dafür werde ich sorgen.« Vitus Regers Miene war grimmig. Seine Frau mischte sich ein.

»Gracia konnte nichts dafür.« Sie legte ihrem Mann die Hand auf den Arm. »Ich habe es genau gesehen. Sie hat keinen Fehler gemacht. Ihre Füße haben einfach nachgegeben.«

»Sie ist gestolpert, sie übt zu wenig.« Heftig entzog Vitus Reger seiner Frau den Arm, dann wurde ihm bewußt, daß er von Mitgliedern der Eisrevue umgeben war. »Sie ist noch so klein. Vielleicht hat sie im Moment keine Freude mehr am üben, aber das wird wiederkommen. Sie ist sehr begabt.« Unsicher glitt sein Blick in die Runde, er blieb an Hanna hängen. »Was wollen Sie hier? Wer hat Sie gerufen? Wir brauchen keine Ärztin.«

»Es hat mich niemand gerufen.« Hanna lächelte, obwohl ihr nicht danach zumute war. Sie mußte jedoch das Vertrauen dieses Ehepaares gewinnen. »Ich sah, wie Ihr Kind stürzte, sah, wie es vom Eis getragen wurde, und wollte nur sehen, wie es Ihrem Kind geht.«

»Gracia schläft«, meinte Frauke Reger. »Wir haben sie auf die Liege gelegt. In letzter Zeit ist sie öfter sehr müde.«

Hanna wandte sich nun wieder direkt an die Frau: »Ich möchte Ihre Tochter untersuchen.«

Frauke nickte. Sie machte sich Sorgen um Gracia, hatte es jedoch noch nicht gewagt, diese laut auszusprechen.

»Nein!« sagte da ihr Mann. Er verbesserte sich und fuhr fort: »Es ist nicht nötig. Morgen fühlt Gracia sich wieder wohl.« Er atmete tief durch, dann fuhr er seine Kollegen an: »Was steht ihr hier herum? Habt ihr nichts zu tun? Die Pause ist gleich zu Ende.«

Die Leute zerstreuten sich, plötzlich stand Hanna allein dem Ehepaar gegenüber.

»Sie sollten auch Ihren Platz wieder einnehmen«, sagte Vitus Reger zu ihr.

Hanna überhörte es. »Ihre Tochter, wo haben Sie sie hingelegt?«

Frauke Reger kam diesmal ihrem Mann mit einer Antwort zuvor. »Sie liegt in der kleinen Garderobe. Ich glaube, sie hat Fieber.«