Grenzen in Natur und Kultur -  - E-Book

Grenzen in Natur und Kultur E-Book

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Beschreibung

Grenzen haben verschiedene Funktionen und Eigenschaften, sie trennen Nachbarn und bilden Begegnungszonen für Fremde; sie sind scharf oder unscharf, ortsfest oder variabel, durchlässig oder undurchlässig, materiell oder (nur) sozial konstruiert. Der Umgang mit ihnen bietet viele lohnende Themen: so die Herstellung, Markierung, Anerkennung, Kontrolle und Überwachung, Überschreitung, Überwindung, Beseitigung von Grenzen. Insgesamt 16 Beiträge mit grundlegenden naturwissenschaftlichen, öko-ethologischen, kulturellen, historischen sowie geographischen und soziologischen Bezügen werden unter dem Aspekt der Kulturethologie zusammenführt und diskutiert. Ein großer Schwerpunkt unter mehreren liegt auf der aktuellen Flüchtlingsbewegung, die Europa an seinen Grenzen deutlich herausfordert.

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Inhalt

Vorwort

Heinrich Neisser

Begrenztes Europa – Grenzenloses Europa

Dagmar Schmauks

Von der Duftmarke zur Firewall. Kulturethologische und semiotische Aspekte von Grenzen und Übergängen

Klaus Nagel

Grenzen in mathematischer Sicht

Walter Klinger

Physikalische Theorien – ihre Grenzen und Möglichkeiten, sie zu überwinden

Christa Sütterlin

Grenzmarkierung und Pfortenschutz: Kulturelle Möglichkeiten der Deklaration von Grenzen und Identität

Martin R. Kiesewetter

Europäische Grenzen – Migrationsbewegungen in einer evolutionären Analyse.

Mare nostrum

– Zwischen Begegnung, Trennung und Zerfall?

Philipp Lehar

Kosaken in Osttirol

Gustav Reingrabner

Annotationen über Niederösterreichs Grenzen

Andreas Mehl

Das Römische Reich und seine Grenzen

Max Liedtke

Wie weit ist der Mensch erziehbar? Über Bildungsgrenzen und ihre Verschiebbarkeit unter Einbezug evolutionstheoretischer und kulturethologischer Aspekte

Helmwart Hierdeis

Nähe und Distanz in pädagogischen Beziehungen unter besonderer Berücksichtigung von Gewalt und Missbrauch in deutschen Internaten

Bernhart Ruso

Distanz oder Tuchfühlung? – Über die physiologische und soziokulturelle Abgrenzung des Individuums

Daniel Zerbin

Sicherheit durch Grenzen?!

Kim Philip Schumacher

Die (Un-)Durchlässigkeit von Grenzen – sozialgeographische Perspektiven

Roland Girtler

Die Faszination der Grenzen – die Tricks der Schmuggler

Oliver Bender

Geopolitik und Bevölkerungsdynamik – Die Instrumentalisierung der Flüchtlingswelle nach Europa im Jahr 2015

Verzeichnis der Autoren und Herausgeber

Vorwort

Grenze, ein Lehnwort aus dem Slawischen, bezeichnet meist eine Trennlinie oder einen Trennpunkt beziehungsweise eine Trennfläche. In den Formal- und Naturwissenschaften sind Grenzen häufig Zustands- und Phasenübergänge: beginnend mit eindimensionalen Räumen etwa in der Mathematik oder Statistik (Infimum versus Supremum; Grenz- oder Schwellenwert) über Flächen (z. B. Grundstücke, Areale), Volumina (z. B. Lufträume, Atmosphärenschichten) bis hin zu Temperaturgrenzen der Aggregatzustände und Farbumschlägen bei Titrationen. Zeitliche Grenzen helfen in der Erd- und Menschheitsgeschichte Prozesse sinnvoll zu unterteilen. Artgrenzen und die Definition von Lebensräumen, Kultur- und Sprachräumen kategorisieren die Vielfalt in Natur und Kultur.

Vermutlich am häufigsten wird der Begriff der Grenze verwendet, um geographische Räume zu definieren, vor allem als administrative Grenzen (vom Grundstück bis zum Staat) oder Areal- und Verbreitungsgrenzen. Festzuhalten bleibt, dass politische und administrative Grenzen ein Ergebnis sozialer Aushandlungsprozesse darstellen. Daneben gibt es auch Grenzen, die nicht materiell ausgeprägt sind, sondern nur als soziale Konstrukte bestehen, wie Regel- oder Rechtsgrenzen zur Definition von Verhaltensoder Handlungs(spiel)räumen.

Grenzen unterscheiden sich hinsichtlich einer Vielzahl von Eigenschaften:

absolute und relative Grenzen wie Anbaugrenzen bestimmter Produkte, die durch natürliche Faktoren oder Wirtschaftlichkeit bestimmt sind;

scharfe und unscharfe Grenzen, (z. B. Baumgrenzen oder Ökotone);

ortsfeste und variable Grenzen.

Bei allen ‚menschgemachten‘ Grenzen bietet der soziale Umgang mit diesen lohnenswerte Themen: so die Herstellung, Markierung, Anerkennung, Kontrolle und Überwachung, Überschreitung, Überwindung, Beseitigung von Grenzen.

Im Gegensatz zur Themenauswahl für die 41. Matreier Gespräche (‚Kolonisierung‘) waren wir uns diesmal vorab der Aktualität im europapolitischen Zusammenhang bewusst: Die Abgrenzung des ‚Westens‘ gegen Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge beherrschte den öffentlichen Diskurs seit Monaten; sie war und ist Gegenstand erbitterter politischer Debatten in den Parlamenten und auf der Straße, wird aber kaum wissenschaftlich hinterfragt, wie sie etwa im Sinne von Plessners ‚Grenzen der Gemeinschaft‘ diskutiert werden könnte. Den Grenzverletzungen durch ‚illegal‘ Einreisende gehen allerdings politische und ökonomische Grenzüberschreitungen durch den ‚Westen‘ voraus, welche für die Fluchtbewegungen zumindest mitursächlich waren und sind. All dies ist Teil des Prozesses der Globalisierung, der an politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sprachlichen Grenzen rüttelt und sie am Ende möglicherweise beseitigt.

Durchlässige und undurchlässige Grenzen sind Eigenschaften in (unter anderem) diesem Zusammenhang.

Während der 42. Matreier Gespräche vom 3. bis 7. Dezember 2016 ist es gelungen, das Thema ‚Grenzen‘ aus einer Vielzahl von Perspektiven zu beleuchten. Im Zusammenhang einer kulturethologischen Betrachtungsweise konnten Ähnlichkeiten des Phänomens in Natur und Kultur herauszuarbeitet werden. So gab es verschiedene Themenblöcke mit kulturellen, sozialen und historischen, öko-ethologischen sowie geographischen und soziologischen Schwerpunkten, in denen viele Facetten des Begriffs ‚Grenze‘ aufgegriffen und in einem übergeordneten Zusammenhang diskutiert wurden. Hervorzuheben ist der Eröffnungsvortrag zum Thema ‚Begrenztes Europa – Grenzenloses Europa‘, den Professor Neisser im Kesslerstadl vor dem Matreier Kreis und vielen Vertretern der Matreier Ortsbevölkerung gehalten hat. Ein weiterer öffentlicher Vortragsabend, gestaltet von Dipl. Päd. Martin Kiesewetter, befasste sich mit Migrationsbewegungen im Mittelmeer in einer evolutionären Analyse.

Ergänzend zum ‚regulären‘ Tagungsprogramm fand eine Exkursion zum Lienzer Kosakenfriedhof statt – zur Erinnerung an eine Gruppe des Kosakenvolks, Soldaten mit ihren Angehörigen, die, nach einer vielfach grenzüberschreitenden Odyssee im Verlauf des Zweiten Weltkriegs, schließlich auf der Flucht vor der Roten Armee beziehungsweise der Titoarmee die Grenze zu Österreich überschritten hatte und noch nach dem Kriegsende dort vernichtet worden ist. Die 42. Matreier Gespräche endeten mit einem kontroversen Vortrag, der aufzeigte, wie die Flüchtlingswelle 2015 für politische und insbesondere geopolitische Zwecke instrumentalisiert wird. Diese Beispiele konnten verdeutlichen, dass das Überschreiten von Grenzen, mit Hoffnung angegangen, zur menschlichen Tragödie ebenso wie ins persönliche Glück führen kann.

Oliver Bender

Zum Schluss bleibt wieder herzlich zu danken: der Gemeinde Matrei in Osttirol und der Familie Hradecky im Gasthof Hinteregger für die Gastfreundschaft, der Otto-Koenig-Gesellschaft und ihren Unterstützerinnen und Unterstützern für die Ausrichtung der Tagung, dem Institut für Interdisziplinäre Gebirgsforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften sowie den freien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für das Lektorat des Bandes und vor allem den bei der Tagung referierenden Kolleginnen und Kollegen, die wiederum (fast alle fast) pünktlich ihre Manuskripte zur Verfügung gestellt haben.

Innsbruck, im Oktober 2017

Für das Herausgeberteam Oliver Bender, Sigrun Kanitscheider und Bernhart Ruso

Heinrich Neisser

Begrenztes Europa – Grenzenloses Europa

Zusammenfassung

Das Projekt der europäischen Einigung war von Anfang an auf die Beseitigung von Grenzen ausgerichtet. Der Raum des Binnenmarktes wurde durch vier Grundfreiheiten konstituiert: die Freiheit des Personenverkehrs, des Warenverkehrs, des Kapitalverkehrs und des Dienstleistungsverkehrs. Auf dem Weg von den sektoralen Wirtschaftsgemeinschaften zur Politischen Union brachte der sogenannte Schengenprozess die Aufhebung der Binnengrenzen der Europäischen Union. Damit war ein Raum persönlicher Bewegungsfreiheit entstanden, der in der Geschichte des europäischen Kontinents einmalig ist. Die zunehmenden Probleme im Umgang mit Migration haben diese Bewegungsfreiheit wieder relativiert. Die Mängel einer einheitlichen europäischen Migrationspolitik machen dies besonders deutlich. Das zentrale Anliegen besteht darin, die Außengrenzen wirksam zu schützen und die Abwesenheit der Binnengrenzen aufrecht zu erhalten.

Im Globalisierungsprozess sind neue Grenzziehungen eine Notwendigkeit. Die Europäische Union wird durch ihre Nachbarschaftspolitik ihren Aktionsradius vergrößern und dadurch die Bedeutung des Globalisierungsprozesses verstärken.

1 Grenzen im Leben und in der Gesellschaft

Das Wissen um Grenzen ist im menschlichen und gesellschaftlichen Leben ein bedeutender Faktor bei der Orientierung und Gestaltung der zwischenmenschlichen Beziehungen. Grenzen bestimmen Dimensionen und Räume. Sie sind Erfahrungen des Individuums und auch des Kollektivs, das heißt gesellschaftsbezogen. Jeder Mensch erfährt als Einzelpersönlichkeit in mehrfacher Weise die Grenzen seiner körperlichen und geistigseelischen Leistungsfähigkeit. Diese sind Indikatoren seiner Möglichkeiten der Gestaltung des individuellen und des sozialen Lebens.

Grenzen haben für die menschlichen Individuen eine durchaus unterschiedliche Bedeutung. Sie schützen sie vor Eingriffen und Einwirkungen von außen, haben also eine Schutzfunktion. Andererseits ermöglichen sie Grenzüberschreitungen. Für diese sind bestimmte Regeln festgelegt, die unter Umständen die persönliche Bewegungsfreiheit erheblich einschränken können. Grenzüberschreitungen verlangen eine besondere Motivation, auf andere zuzugehen und gewohnte Lebensbedingungen aufzugeben.

In den folgenden Ausführungen des Beitrages wird der Begriff der Grenze in seinem territorialen Bezug verstanden. Grenzen bestimmen die Raumkategorien, die zueinander in Beziehungen stehen. Grenzen des Kontinents, der Staaten, der Staatengemeinschaft, der Regionen und Gemeinden bestimmen eine territoriale Struktur. Sie sind auf unterschiedliche Weise entstanden und sind veränderbar. Die heutigen Grenzen der Länder Europas sind das Ergebnis eines jahrhundertelangen Prozesses der Auseinandersetzungen und von Arrangements zwischen den Staaten und Völkern.

2 Grenzen und Politik

Grenzen und ihre Veränderungen sind meist das Ergebnis politischer Entwicklungen und Entscheidungen. Diese beruhen auf kriegerischen Ereignissen oder auf Arrangements, die ohne Gewaltanwendung abgeschlossen werden. Kriege führen im Regelfall dazu, dass die Grenzen durch ein Diktat des Siegers bestimmt werden. Das schließt nicht aus, dass Entscheidungen über Grenzziehungen das Ergebnis von Kompromissen sind. Grenzen können auch das Ergebnis gewaltloser Strategien sein. Das Habsburgerreich und seine Grenzen gründeten auf einer gebietserweiterten Strategie der Heiratspolitik: Alii bella gerant, tu felix Austria nube.

Grenzen sind stets Ausdruck einer politischen Ordnung. Der Wiener Kongress des Jahres 1814/15 bestätigte eine politische Ordnung und die Grenzen der monarchischen Systeme in Europa. Die sogenannten Pariser Vororteverträge begründeten eine Staatenordnung nach dem Ersten Weltkrieg, die allerdings in vielfacher Weise den Keim für weitere Auseinandersetzungen in sich trug.1 Sie brachten für die unterlegenen Mächte zum Teil erhebliche Gebietsverluste (wie zum Beispiel der Vertrag von Trianon für Ungarn). Der Gedanke des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson auf Selbstbestimmung der Völker wurde nicht respektiert und konnte sich nicht durchsetzen.

Auch im Gefolge des Zweiten Weltkrieges wurde eine Nachkriegsordnung geschaffen, die das Bild Europas erheblich beeinflusste. Ein zentrales Ereignis war die im Juli 1945 stattgefundene Konferenz in Potsdam zwischen Truman, Churchill und Stalin. Die Siegermächte diskutierten in diesem Zusammenhang die Einteilung von Besatzungszonen in Deutschland, Gebietsabtretungen, Umsiedlungen im Besonderen aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei sowie die Leistung von Reparationszahlungen. Allerdings gelang es in Potsdam den verhandelnden Großmächten nicht, sich über eine gemeinsame Deutschlandpolitik und die Grundzüge der Weltpolitik zu einigen. Dadurch war auch schon der Keim für eine weitere Konfrontation zwischen Ost und West gelegt, die ziemlich bald wirksam wurde und zum Kalten Krieg führte. Der europäische Kontinent wurde zum ständigen Streitraum zwischen den Militärallianzen der NATO und des Warschauer Paktes. Der Eiserne Vorhang sowie die berüchtigte Berliner Mauer, die zur Trennung von Ost- und Westberlin führte, wurden zur Todesfalle für Menschen, die in diesen Regionen der kommunistischen Diktatur entfliehen wollten, und zu einem bedrückenden Symbol einer unmenschlichen europäischen Trennung.

Politische Grenzen sind im Regelfall Staatsgrenzen. Sie bestimmen die Größe des Staatsgebietes und damit den territorialen Bereich staatlicher Souveränität. Sie sind die äußere Grenze von politischen Systemen, deren Binnenstrukturen durch Binnengrenzen der regionalen Räume gestaltet werden. In bundesstaatlichen Systemen wie in Deutschland oder Österreich, sind die Landesgrenzen auch die territoriale Begrenzung ihrer Autonomie. Sie werden daher in der Verfassung des Zentralstaates festgeschrieben.

3 Europa, ein Kontinent der Grenzen. Die Bedeutung der Nationalstaaten

Die Geschichte des europäischen Kontinentes ist von Veränderungen geprägt, die im Vergleich zu anderen Erdteilen von einer tief greifenden Dramatik beherrscht waren. Europa war ein Kontinent der Gegensätze und Widersprüchlichkeiten, die permanent zu Konfrontationen zwischen Staaten und Völkern führten. Die Entstehung von Grenzen beziehungsweise deren Änderungen teilten den Kontinent und prägten dessen Bild.

Schon in der Zeit des Imperium Romanum war der Limes die Grenzziehung zwischen Zivilisation und Barbarei. Mit dem Ende des Römischen Reiches wurde die römische Kultur ein bedeutender Faktor in der Entwicklung der vormals germanischen Stämme und der Entstehung neuer Staaten. Die Daten von Teilungen waren das Signal für Weichenstellungen in den zukünftigen politischen und gesellschaftlichen Abläufen. Dies gilt etwa für die Trennung der Ost- und Westkirche im Jahr 1054 und für die im Jahr 1453 erfolgte Eroberung von Konstantinopel durch die Osmanen sowie den Zerfall des byzantinischen und oströmischen Reiches, die einen „anscheinend unabänderlichen, schicksalshaften Prozess“ darstellten (Salewski 2000, 528). Religiöse Konflikte wurden in Europa mit besonderer Härte und Intoleranz ausgetragen. Der Augsburger Religionsfriede des Jahres 1555 gab dem jeweiligen Landesherrn das Recht, die religiöse Konfession seiner Untertanen zu bestimmen (Cuius regio, eius religio), trug aber kaum dazu bei, das Konfliktpotenzial der Religionen zu entschärfen.

Im Vergleich zu den Spaltungstendenzen auf dem europäischen Kontinent waren die Versuche, große Reiche, die weite Teile des Kontinents umfassen sollten, zu gründen, eine Seltenheit. Das karolingische Reich bildete zwar einen großen Schub für die westliche Hälfte des Kontinents, doch hatte auch die Einigungskraft Karl des Großen nur temporäre Wirkungen. Der im Mittelalter erfolgte Versuch, ein litauisch-polnisches Großreich zu gründen, scheiterte vor allem daran, dass die Jagellonen nicht in der Lage waren, riesige Länder zu strukturieren und zu verwalten. Auch Napoleon als Usurpator des Kontinents fand vor Moskau eine Grenze seiner Ambitionen und endete im politischen Nirvana. Sein Ende führte dazu, dass am Wiener Kongress im Jahr 1815 eine politische Neuordnung Europas beschlossen wurde, die der Erhaltung der Kontinuität monarchischer Staatsordnungen diente. Allerdings erhielten dadurch das Russische Zarenreich und die Habsburger Monarchie die Chance, ein weiteres Jahrhundert eine wesentliche Rolle auf dem Kontinent zu spielen.

Gleichzeitig erfolgten im 19. Jahrhundert ein auflebender Nationalismus und die Entstehung von Nationalstaaten, die eine radikale Veränderung auf dem europäischen Kontinent zur Folge hatten und deren Wirkungen bis in das 20. Jahrhundert hinaus spürbar waren. Der Nationalismus entwickelte sich als politisches und soziokulturelles Phänomen, das zur Schaffung von Solidarverbänden der Nation führte. Die Nation wurde zur genuinen natürlichen Einheit, deren Werte- und Ideensystem zu einem ausgeprägten Nationalbewusstsein führt. Dies hat einen gesteigerten Patriotismus zur Folge. Nationalismus ist ein konfessionelles Weltbild, das nationale Ordnungen legitimiert. Er wird gleichsam zur Heilslehre und zur Politischen Religion und beeinflusst den neuzeitlichen Staatenbildungsprozess. Er erzeugt ein Weltmachtstreben und trägt wesentlich zur Entstehung von Staaten durch Vereinigungsprozesse bei. Die Entstehung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 und die italienische Risorgimento-Bewegung sind Beispiele dafür. Der imperiale Nationalstaat (1871–1914) ist unbestrittenermaßen eine wesentliche Ursache des Ersten Weltkrieges. Der totale Nationalstaat (1914–1945) führte zur Selbstzerstörung Europas (Schulze 1994, 209ff.). Sein Aufgehen in Diktaturen zum Beispiel durch die Russische Oktoberrevolution 1917 oder durch die Machtergreifung Hitlers in Deutschland führte zum ‚totalen Krieg‘ und machte aus Europa einen Trümmerhaufen.

Beide Weltkriege hatten gravierende Auswirkungen auf die europäische Staatenwelt. 1918 verschwanden die multi-ethnischen Staaten von der Landkarte. Der Vielvölkerstaat der Österreichisch-Ungarischen Monarchie verwandelte sich in viele Einzelstaaten. In beiden Weltkriegen war die Nachkriegsordnung ein Oktroi der alliierten Siegermächte. Die im Jahr 1945 festgelegten Grenzen waren gleichsam ein Tabu, das letztlich auch aus der Debatte über die europäische Integration herausgehalten wurde. Eine Ausnahme bildete bis zu einem gewissen Grad die Entscheidung über die Zugehörigkeit des Saarlandes, das Frankreich für sich in Anspruch nahm. In einem im Oktober 1956 durchgeführten Referendum lehnte eine Mehrheit das von Frankreich und Deutschland entworfene Saar-Statut ab (67,7 Prozent dagegen, 32,3 Prozent dafür). In den anschließenden Verhandlungen zwischen den beiden Ländern akzeptierte Frankreich die Ausgliederung des Saarlandes an die Bundesrepublik Deutschland, wobei als Gegenleistung gewisse wirtschaftliche Kompensationen vereinbart wurden.

4 Die europäische Einigung. Einigung und Grenzen

Es verdient nicht nur die Aufmerksamkeit der professionellen Historiker, dass die Ziele einer europäischen Einigung weit zurückreichen. Seit Jahrhunderten wurde immer wieder das Zusammenrücken europäischer Staaten thematisiert. Die Ansätze der Konzepte waren durchaus unterschiedlich und reflektierten die bestehenden politischen Verhältnisse. Sie gründeten meist auf idealistischen Vorstellungen, die die Antwort auf eine Bedrohung von außen, wie etwa durch die Türkengefahr, sein sollten. Der britische Historiker Geoffrey Barraclough bemerkte dazu: „Die auffälligste Schwäche der europäischen Idee ist, dass sie nur so lange stark bleibt, wie die Bedrohung Europas stark bleibt“ (Barraclough 1964, 51).

Bereits Dante Alighieri, der vom mittelalterlichen Universaldenken beeinflusst war, sah im Staat eine weltliche Institution, die die Trennung von päpstlicher und geistlicher Gewalt sicherstellen sollte. Sein Konzept war ein monarchisches: Die Weltregierung wurde durch die Person des Kaisers identifiziert, der in einer Art Fürstentum die Oberherrschaft über andere Fürsten und Herrscher haben sollte.

Einen europäischen Völkerverbund schlug der böhmische König Georg von Podiebrad zur Abwehr der Türken im Jahr 1464 vor. Abbé Saint-Pierre schlug im Zusammenhang mit dem Frieden von Utrecht, der im Jahr 1713 den Spanischen Erbfolgekrieg beendete, ein Projekt einer allgemeinen Friedenssicherung vor, dessen Gedanke Rousseau weiterentwickelte. In der Folge gab es mehrere Ideen für ein gemeinsames Europa, die zwar diskutiert wurden, aber keine praktischen Auswirkunten hatten.2 Eine breitere Diskussion über europäische Einigungskonzepte begann erst nach dem furchtbaren Ereignis des Ersten Weltkrieges. Das bekannteste Programm unter ihnen war das pan-europäische Manifest, das Coudenhove-Kalergi 1924 veröffentlichte und in dem er die Idee der Schaffung einer europäischen Föderation nach dem Muster der Vereinigten Staaten von Amerika vorschlug.3 Der Versuch, ein europäisches Einigungsprogramm im Rahmend des Völkerbundes zu diskutieren, scheiterte. Europa bewegte sich unaufhaltsam in die zweite große Katastrophe des 20. Jahrhunderts, in den Zweiten Weltkrieg.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann man intensiv darüber nachzudenken, wie man eine europäische Friedensordnung schaffen könne. Zwei große französische Persönlichkeiten, Jean Monnet und Robert Schuman, begannen in der Erkenntnis, dass die Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich eine Grundvoraussetzung für einen dauerhaften Frieden in Europa sei, ein Konzept einer europäischen Einigung auszuarbeiten. Monnet war in diesem Prozess vor allem der ‚Inspirateur‘, der das Konzept einer wirtschaftlichen Einigung forcierte. Der Erfolg war durchschlagend. Durch die Kreation von drei supranationalen, auf eine Vergemeinschaftung von Wirtschaftsbereichen gerichteten Gemeinschaften wurde das Fundament der europäischen Einigung geschaffen: 1951 entstand die Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKF), und 1957 schufen die Römischen Verträge eine Wirtschaftsgemeinschaft (Gemeinsamer Markt – EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG).

5 Europa ohne Grenzen

Bereits in den drei wirtschaftlichen Gründungsgemeinschaften spielte die Freiheit der Bewegung eine zentrale Rolle. Als Fundament des Gemeinsamen Marktes (Binnenmarktes) bestand diese Freiheit in der Freiheit des Warenverkehrs, der des Personenverkehrs, der des Kapitalverkehrs sowie als viertes Prinzip der Grundsatz der Dienstleistungsfreiheit. Sie bildeten das Fundament eines Wirtschaftsraumes.

Mit der Einführung einer Unionsbürgerschaft durch den Vertrag von Maastricht wurde die Freizügigkeit für das gesamte Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten als Recht jedes Unionsbürgers verankert. Diese Tatsache geht über die Arbeitnehmerfreizügigkeit hinaus, die Kernanliegen jeder Wirtschaftsgemeinschaft ist. Eine Unionsbürgerschaft, die persönliche Bewegungsfreiheit gewährleistet, setzt voraus, dass die Binnengrenzen geöffnet werden. Das bedeutet das Ende der Grenzkontrollen für den innergemeinschaftlichen Personenverkehr.

Der Weg zum grenzenlosen Europa war nicht einfach. Er fand in mehreren Stufen statt. Schon Artikel 14 EG-Vertrag hatte die Beseitigung der Grenzkontrollen vorgesehen, doch waren keine Fortschritte zu erzielen. Erst der sogenannte Schengen-Prozess brachte Bewegung in die Angelegenheit.

Das Ereignis der Grenzöffnung fand bereits vor Vollendung des Binnenmarktes statt und war ein Beispiel einer differenzierten Integration. Im Juli 1985 unterzeichneten sieben Mitgliedstaaten der Europäischen Union das sogenannte Schengener Abkommen. Es sah einen Abbau der Kontrollen für den Personenverkehr an den Grenzen der Mitgliedstaaten vor. Das Abkommen war die Vorstufe einer strukturierten polizeilichen und strafrechtlichen Zusammenarbeit. Der ursprünglich vorgesehene Termin für die Grenzöffnung von Juli 1990 musste mehrfach verschoben werden. Erst im März 1995 trat das fünf Jahre zuvor vereinbarte Durchführungsübereinkommen zum Schengenvertrag (Schengen II) in Wirksamkeit. Dabei wurde das Schengener Informationssystem (SIS) eingerichtet. Das Durchführungsabkommen sah die Zusammenarbeit der Polizei, Rechtshilfe in Strafsachen, Regeln über die Auslieferung sowie die Vollstreckung von Strafurteilen vor. Das Schengener Abkommen war zunächst nur ein Projekt, an dem sich Belgien, Deutschland, Frankreich, Luxemburg, die Niederlande, Spanien und Portugal beteiligten. Österreich und Italien kamen 1998 dazu, Griechenland 2000. 2001 wurden die Grenzen zu Dänemark, Finnland und Schweden sowie gegenüber Irland und Norwegen geöffnet. Die Beitrittskandidaten der Erweiterungen 2004 und 2007 traten mit Ausnahme Zyperns bei.

Die Tatsache, dass das Schengener Abkommen zunächst als völkerrechtlicher Vertrag außerhalb der EU/EG-Verträge abgeschlossen wurde, zeigt die Sensibilität der Öffnung der Grenzen, die insbesondere die nationale Souveränität berührte. Erst durch den Vertrag von Amsterdam, der am 1. Mai 1999 in Kraft trat, wurde der sogenannte Schengen-Besitzstand (Schengen-Acquis) in das Vertragsgefüge der EU (Primärrecht) integriert. Damit wurden die Freiheit des Binnenverkehrs verwirklicht und die Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedstaaten abgebaut. Eine Kontrolle findet nur mehr an den Außengrenzen der Union statt. Die Eintrittsvoraussetzungen für Drittländer sind festzusetzen. Temporäre Grenzkontrollen sind möglich, wenn eine „ernsthafte Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit für ein Land besteht“.

Die krisenhafte Entwicklung der Migrationspolitik hat in den vergangenen Jahren der Auseinandersetzung über die Grenzöffnung eine besondere Aktualität verliehen. Die Unterlassungen der Europäischen Union bei der Festlegung einer gemeinsamen Einwanderungspolitik haben einzelne Staaten veranlasst, Grenzkontrollen wieder einzuführen. Da im gegenwärtigen Zeitpunkt keine Chancen bestehen, für eine einheitliche europäische Migrationspolitik einen Konsens zu finden, wird ein Europa ohne Binnengrenzen in weiten Teilen wieder in Frage gestellt werden.

6 Migrationspolitik in einem begrenzten Europa

Der Vertrag von Amsterdam, der am 1. Mai 1999 in Kraft trat, hat die Einwanderungspolitik der Union zur Gemeinschaftsaufgabe gemacht. Visa-, Asyl- und Einwanderungspolitik wurden ein wesentliches Segment des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Der Übergang sollte schrittweise erfolgen. In einem Zeitraum von fünf Jahren sollte der Rat durch einstimmige Entscheidungen asylpolitische und einwanderungspolitische Maßnahmen sowie Maßnahmen zur Behandlung von Flüchtlingen treffen, die im Wesentlichen die Festlegung von Mindestnormen zum Gegenstand haben.

In Fortführung dieser Regelungsbereiche sah der Vertrag von Lissabon im Teil des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) politische Maßnahmen im Bereiche der Grenzkontrollen, des Asyls und der Einwanderung vor (Artikel 77 bis Artikel 80 AEUV). Dadurch sollen Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit beim Überschreiten der Binnengrenzen nicht kontrolliert werden, jedoch die Personenkontrolle und wirksame Überwachung der Grenzübertritte an den Außengrenzen sichergestellt werden und schrittweise in ein integriertes Grenzschutzsystem an den Außengrenzen eingeführt werden (Artikel 77 Abs. 1 AEUV). Die Union verpflichtet sich zu einer gemeinsamen Politik im Bereich Asyl und subsidiärer Schutz und vorübergehender Schutz, die mit der Genfer Flüchtlingskommission 1951 und dem Protokoll von 1967 in Einklang steht (Artikel 78 Abs. 2). Dazu gehören unter anderem ein einheitlicher Asylstatus und ein einheitlicher subsidiärer Schutzstatus für Drittstaatsangehörige, Verfahren zur Gewährung oder zum Entzug des einheitlichen Asylstatus. Wenn sich ein oder mehrere Mitgliedstaaten „aufgrund eines plötzlichen Zustroms von Drittstaatsangehörigen in einer Notlage“ befinden, kann der Rat – auf Vorschlag der Kommission – vorläufige Maßnahmen zugunsten der betreffenden Mitgliedstaaten erlassen (Artikel 78 Abs. 3 AEUV).

Im Rahmen einer gemeinsamen Einwanderungspolitik sind Maßnahmen in den Bereichen Einreise- und Aufenthaltsvoraussetzungen, die Festlegung der Rechte von Drittstaatsangehörigen sowie Maßnahmen gegen illegale Einwanderung und illegale Aufenthalte vorgesehen. Weiters können mit Drittländern Rücknahmeübereinkommen abgeschlossen werden (Artikel 79 Abs. 3 AEUV).

Für alle diese Politikbereiche enthält Artikel 80 AEUV eine prinzipielle Feststellung: „Für die unter dieses Kapitel fallende Politik der Union und ihre Umsetzung gilt der Grundsatz der Solidarität und der gerechten Aufteilung der Verantwortlichkeiten unter den Mitgliedstaaten einschließlich in finanzieller Hinsicht.“ Die bisherigen Erfahrungen in der Migrationspolitik haben deutlich gemacht, dass die Mitgliedstaaten von der Erfüllung dieses Grundsatzes weit entfernt sind.

Hervorzuheben ist noch, dass die Grundrechtecharta der Europäischen Union das Asylrecht als Grundrecht unter Hinweis auf die Genfer Flüchtlingskonvention gewährleistet. Artikel 18 der Charta bestimmt nämlich: „Das Recht auf Asyl wird nach Maßgabe des Genfer Abkommens vom 28. Juli 1951 und des Protokolls vom 31. Jänner 1967 über der Rechtsstellung der Flüchtlinge sowie gemäß dem Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft gewährleistet.“ Der nachfolgende Artikel 19 enthält den Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung: Kollektivausweisungen sind unzulässig; niemand darf in einen Staat abgeschoben oder ausgewiesen oder an einen Staat ausgeliefert werden, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung besteht.

Diese Übersicht über die primärrechtlichen Normen zeigt, dass die rechtlichen Grundlagen für die Migrationspolitik der Europäischen Union vorausschauend geschaffen worden sind. Ihre konsequente Umsetzung und Anwendung hätte Entscheidendes zur Bewältigung der Migrationskrise beigetragen. Dass die Migrationskrise zu einer existenziellen Herausforderung für die Europäische Union geworden ist, liegt vor allem darin, dass wesentliche Bereiche des Primärrechtes nicht umgesetzt wurden. Die vorgesehene Vereinheitlichung von Verfahren fand bis heute nicht statt; Maßnahmen der Union zur Verhinderung der illegalen Einwanderung bestehen in unterschiedlicher Weise in den einzelnen Mitgliedstaaten.

Die torsohafte Situation in der Migrationspolitik der Union gibt den einzelnen Staaten die Möglichkeit zu einem doppelbödigen Verhalten. Unter Hinweis darauf, dass eine gemeinsame Migrationspolitik bis jetzt fehlt, erlassen sie Regelungen – meist Abschottungsmaßnahmen –, obwohl gerade die Mitgliedstaaten es sind, die das Zustandekommen einer gemeinsamen Migrationspolitik verhindert haben. Das Verhalten der Mitgliedstaaten widerspricht eklatant dem Solidaritätsprinzip, das gerade in der Einwanderungspolitik, wie oben ausgeführt wurde, besonders hervorgehoben wird. Die Weigerung von Staaten am Konzept einer Aufteilung der Flüchtlinge teilzunehmen, ist ein offener Affront gegen das Prinzip der Unionspolitik.

Das Bemühen um eine gemeinsame Migrationspolitik und das Verhalten der Mitgliedstaaten wird in Zukunft ein Gradmesser dafür sein, ob der europäische Integrationsprozess überhaupt weitergeführt werden kann. Zukünftige Entwicklungen lassen erwarten, dass Migrationsbewegungen auch in Zukunft stattfinden werden, wobei Handlungsfähigkeit und solidarische Bemühungen zur Lösung der Frage absolut notwendig sein werden.

7 Erweiterung der Grenzen – die Außenbeziehungen der Europäischen Union

Der europäische Einigungsprozess war von Anfang an auf zwei Dimensionen ausgerichtet: Vertiefung und Erweiterung. Vertiefung meinte vor allem eine ständige institutionelle Verdichtung. Erweiterung bedeutete Offenheit der Gründungsverträge für neue Mitglieder.

Die Gründungsverträge der sektorialen Wirtschaftsgemeinschaften waren von Anfang an auf Erweiterung ausgelegt. In der Präambel des EWG-Vertrages wurden die Völker aufgefordert, sich der EWG anzuschließen. Durch eine Reihe von Assoziierungsverträgen wurden die ersten Schritte für spätere Beitritte getan.

Die geopolitische Situation Europas führte allerdings dazu, dass die europäische Integration zunächst ein westeuropäisches Projekt blieb. In den ersten 20 Jahren des Einigungsverlaufs war die Integration mit einem zunehmend stärker werdenden Prozess des Kalten Krieges konfrontiert, durch den vor allem die mittel- und osteuropäischen Satellitenstaaten Moskaus als potenzielle EG-Mitglieder ausgeschlossen waren.

Die sechs Gründerstaaten der wirtschaftlichen Integration waren drei große westeuropäische Staaten, nämlich Deutschland, Frankreich und Italien, sowie die Beneluxstaaten, die bereits durch frühere Versuche eines wirtschaftlichen Näherrückens (Zollunion) integrative Erfahrungen sammeln konnten. Dieser Kern der Gründerstaaten wurde durch Erweiterungsschritte systematisch vergrößert, wodurch sich auch die Außengrenzen der europäischen Gemeinschaften änderten. Die Erweiterungsrunden wurden nach ihrem territorialen Schwerpunkt bezeichnet. Die erste Erweiterung, die sogenannte Norderweiterung im Jahr 1973, umfasste mit dem Vereinigten Königreich, Irland und Dänemark drei Länder aus dem nordeuropäischen Bereich. Die ‚Süderweiterung‘, die im Jahre 1986 stattfand, brachte Spanien und Portugal in die Union. Diese Aufnahme sollte im Besonderen die demokratischen Strukturen stärken, die nach dem Sturz der Diktaturen in beiden Ländern entstanden. Noch mehr spielte die Überlegung, die Demokratie zu stärken und zu stabilisieren, bei der Aufnahme Griechenlands eine Rolle. Griechenland wurde 1981 als zehntes Mitglied aufgenommen, wobei die Bewertung durch die Kommission negativ war, die Tatsache jedoch, dass Griechenland noch wenige Jahre vorher eine Militärdiktatur war und nun eine Demokratie repräsentierte, die man stärken wollte, eine maßgebliche Rolle spielte.

Am 1. Jänner 1995 wurden Österreich, Schweden und Finnland zeitgleich in die nunmehr so genannte ‚Europäischen Union‘ aufgenommen. Dieser Erweiterungsschritt wurde als sogenannte ‚EFTA-Erweiterung‘ bezeichnet, da mit dem Wechsel der drei genannten Staaten in die EU die EFTA in Europa zur Restgröße wurde.

Die fundamentale Änderung der politischen Landschaft in Europa im Jahr 1989 und der beginnende Transformationsprozess in den mittel- und osteuropäischen Ländern brachten eine völlig neue Perspektive für die Erweiterungspolitik. Erstmals bestand die Chance, den östlichen Raum des europäischen Kontinents in den europäischen Integrationsprozess mit einzubeziehen. In einem komplexen System der Beitrittsvorbereitung wurden die Beitrittskandidaten auf einen Eintritt in die Europäische Union vorbereitet. 15 Jahre nach dem ereignisreichen annus mirabilis 1989 erfolgte ein big bang von Neubeitritten. 2004 kamen zehn neue Mitglieder in die Union. Dieser nicht ganz korrekt bezeichnete Schritt einer ‚Osterweiterung‘ – es waren nämlich unter den neuen Mitgliedern auch Malta und Zypern, das erstmals als geteiltes Land in die Europäische Union aufgenommen wurde –, brachte die drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, Gebiete, die früher zum Staatsterritorium der Sowjetunion gehörten, in den Kreis der Mitgliedstaaten, und ebenso auch Ungarn, Polen, Slowenien sowie die Tschechoslowakei, die sich bald in die neuen Staaten Tschechien und Slowakei trennte. Gleichsam als ein Nachziehverfahren wurden Rumänien und Bulgarien im Jahr 2007 Mitglieder der Union.

Nach dem größten Erweiterungsschritt durch die Einbeziehung der mittel- und osteuropäischen Staaten hatte die Europäische Union 27 Mitglieder, die praktisch den größten Teil des europäischen Kontinentes erfassten. Es war eine Integration zwischen Ost und West, bei der nicht nur die Beitrittsqualität der Beitrittsländer eine Herausforderung war, sondern vor allem auch die Aufnahmekapazität der Europäischen Union. Obwohl die wirtschaftlichen Erfolge der sogenannten MOEL-Staaten (Mittel- und Osteuropäische Staaten) beachtlich sind, gehen heute einige dieser Länder einen Weg, der demokratiepolitisch bedenklich ist und Tendenzen zu einem Autoritarismus offenbart. Das gilt im Besonderen für Ungarn und Polen.

In Zukunft wird aller Wahrscheinlichkeit nach die Zahl von 27 Mitgliedstaaten längeren Bestand haben. Die derzeitige Zahl von 28 Mitgliedstaaten – Kroatien wurde im Jahr 2013 das 28. Mitglied der Europäischen Union – wird sich durch den im Augenblick verhandelten Austritt des Vereinigten Königreichs (Brexit) wieder auf 27 Mitgliedstaaten reduzieren.

Die dadurch entstandene kritische Situation in der Europäischen Union lässt erwarten, dass in der unmittelbaren nächsten Zeit keine weiteren Beitritte zur Europäischen Union erfolgen werden. Dies gilt auch für den südosteuropäischen Raum, in dem eine Reihe von Staaten ihr Beitrittsinteresse durch Beitrittsanträge oder Beitrittserwartungen offenbart haben. Dies betrifft vor allem die Balkanstaaten Serbien, Montenegro, Mazedonien, Albanien sowie Bosnien und Herzegowina. Der im Lauf befindliche Beitrittsprozess der Türkei dürfte aufgrund der permanenten Spannungen und Konflikte zwischen der Europäischen Union und der Türkei beendet werden.

8 Die Europäische Union und ihre Räume

Die europäische Integrationspolitik hat die Gestaltung von transnationalen Räumen zum Gegenstand. Der Raumbegriff wird mit konkreten Zielvorstellungen verbunden. Die Errichtung eines Binnenmarktes hat die Gestaltung eines Wirtschaftsraumes zum Gegenstand, in dem eine nachhaltige Entwicklung Europas auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschaftswachstums und von Preisstabilität, eine in hohem Maße wettbewerbsfähige, soziale Marktwirtschaft, die auf Vollbeschäftigung und sozialen Fortschritt abzielt, sowie ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität stattfinden sollen (Artikel 3 Abs. 3 EUV). Die Union fördert daher den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten.

Ein weiteres wesentliches Ziel ist die Gestaltung eines Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen im Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität, der freie Personenverkehr gewährleistet ist (Artikel 3 Abs. 2 EUV). Bei der Gestaltung dieses Raumes ist sicherzustellen, dass Personen an den Binnengrenzen nicht kontrolliert werden; weiters ist eine gemeinsame Politik in den Bereichen Asyl, Einwanderung und Kontrollen an den Außengrenzen, die sich auf die Solidarität der Mitgliedstaaten gründet und gegenüber Drittstaatsangehörigen angemessen ist, eine Verpflichtung (Artikel 67 Abs. 2 AEUV).

Dieser Raum umfasst auch die Erlassung von Maßnahmen zur Verhütung und Bekämpfung von Kriminalität sowie von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, zur Koordinierung der Zusammenarbeit zwischen Polizeibehörden und Organen der Strafrechtspflege und anderen zuständigen Behörden. Der Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bedeutet auch die Verpflichtung zur gegenseitigen Anerkennung strafrechtlicher Entscheidungen und erforderlichenfalls die Angleichung von strafrechtlichen Rechtsvorschriften. Schließlich ist auch der erleichterte Zugang zum Recht zu gewährleisten, im Besonderen durch den Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher und außergerichtlicher Entscheidungen in Zivilsachen. Die konkrete primärrechtliche Regelung in diesen Bereichen ist im AEUV (Artikel 67 bis 89) enthalten.

Das Ziel der Errichtung von Räumen beschränkt sich nicht nur auf das Territorium der EU-Mitgliedstaaten. Durch den Vertrag von Lissabon wurde die Nachbarschaftspolitik der Europäischen Union als eigene Kategorie eingeführt (Artikel 8 EUV). Sie verpflichtet die Union, „besondere Beziehungen zu den Ländern in ihrer Nachbarschaft“ zu gestalten. Ziel ist daher, einen „Raum des Wohlstandes und der guten Nachbarschaft zu schaffen, der auf den Werten der Union aufbaut und sich durch enge, friedliche Beziehungen auf der Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet“ (Artikel 8 Abs. 1 EUV).

Die Dimension dieses Konzeptes der Nachbarschaftspolitik geht über die Grenzen der Union hinaus und ist eine spezifische Aktionsform einer Außenpolitik. Sie bietet konkrete Möglichkeiten von vertraglich gestalteten Beziehungen über die Grenzen der Europäischen Union hinaus, wobei der Begriff der Nachbarschaft großräumig auszulegen sein wird. Potenzielle Räume für diesen Bereich sind vor allem das Mittelmeer, aber auch die Ukraine. Als potenzielle Nachbarn können aber auch Staaten aus dem Kaukasus angesehen werden (Georgien, Armenien, Aserbeidschan), für eine die eine starke Beziehung zur Europäischen Union durchaus interessant erscheint. Mit der Nachbarschaftspolitik verwirklicht die Europäische Union eine Strategie der konzentrischen Kreise, in dem sie über ihre Grenzen hinaus eine Nachbarschaft gestaltet, die durch die territoriale Verbundenheit bestimmt ist.

Die genannten Beispiele zeigen, dass der Raumbegriff durch eine territoriale Begrenzung bestimmt wird. Diese kann unterschiedlich sein. Es sind die Grenzen der Union nach außen, einschließlich der Binnengrenzen, es geht aber auch um die Festlegung von Grenzen über die Europäische Union hinaus. Die letztgenannte Perspektive hat im Hinblick auf die Globalisierung und ihre Wirkungen eine besondere Relevanz. Globalisierung bedeutet nicht Grenzenlosigkeit, sie führt aber zu einer Ausweitung von Handlungsspielräumen und verlangt demgemäß ein neues Grenzverständnis.

9 Literatur

Barraclough, G. 1964: European unity in thought and action. Blackwell. Oxford, UK. – Zitiert nach der deutschen Übersetzung: Die Einheit Europas als Gedanke und Tat. Übersetzt aus dem Englischen von K. Dockhorn (= Kleine Vandenhoeck-Reihe 184). Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen 1964.

Neisser, H. 2008: Die europäische Integration – eine Idee wird Wirklichkeit. (= Europawissenschaftliche Reihe 1). Innsbruck University Press. Innsbruck.

Salewski, M. 2000: Geschichte Europas. Staaten und Nationen von der Antike bis zur Gegenwart. Beck. München.

Schulze, H. 1994: Staat und Nation in der europäischen Geschichte. Beck. München.

Ziegerhofer-Prettenthaler, A. 2004: Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren. Böhlau. Wien.

1 Es waren dies die Friedensverträge von Versailles mit Deutschland (18.06. 1919), von St. Germain mit Österreich (10.09.1919), von Neuilly mit Bulgarien (27.11.1919), von Trianon mit Ungarn (04.06.1920) und von Sèvres mit der Türkei (10.08.1920).

2 Zu den Vorschlägen siehe Neisser (2008, 27ff.).

3 Zur Person Coudenhove-Kalergis und dessen Programm siehe im Besonderen Ziegerhofer-Prettenthaler (2004).

Dagmar Schmauks

Von der Duftmarke zur Firewall. Kulturethologische und semiotische Aspekte von Grenzen und Übergängen

Zusammenfassung

Dieser Beitrag klassifiziert anhand kulturethologischer und semiotischer Aspekte, wie die Grenzen menschlicher Territorien hergestellt werden und wie andere Personen im Gegenzug versuchen, sie zu überwinden. Territorien vom Privatgrundstück bis zur Nation werden in der Regel nicht nur durch Zeichen markiert, da dies oft ignoriert würde, sondern auch durch materielle Barrieren gesichert. Jeder Barrierentyp ist mehr oder weniger leicht überwindbar und verhindert lediglich bestimmte Handlungen; so schützen Mauern vor unbefugtem Betreten, Hecken hingegen nur vor indiskreten Blicken. Alle Zutrittsbarrieren haben definierte Übergänge, deren legale Benutzung den Besitz bestimmter Artefakte (Schlüssel) oder Kenntnisse (Code-Nummer) erfordert. Unbefugter Zutritt durch Gewalt oder List wird in der Regel sanktioniert. Wahrnehmungsbarrieren sollen verhindern, dass Unbefugte ein Territorium ausspähen oder belauschen. Auch sie werden häufig zu durchbrechen versucht, wobei man modernste Technologie wie Drohnen oder Abhörgeräte einsetzt.

1 Themenabgrenzung und Gliederung

Dieser Beitrag untersucht nur solche Grenzen, die Territorien umschließen und von Menschen geschaffen wurden. Ausgeklammert bleiben daher

die Grenzen von Objekten, wobei reine Grenzflächen von Grenzschichten und Hüllen zu unterscheiden sind (Schmauks 2007),

organische Grenzen wie die menschliche Haut, die als hochkomplexe Organe ein Lebewesen von der Außenwelt abgrenzen (Schmauks 2015, 29ff.),

physische Grenzen wie die (individuellen oder artspezifischen) Leistungsgrenzen etwa beim Hochsprung oder Tauchen,

der mobile, unsichtbare und unscharf begrenzte ‚persönliche Raum‘, den man etwa im Aufzug für sich beansprucht,

natürliche Gebietsgrenzen wie Flüsse, Gebirge und Wüsten,

Barrieren wie Feuerschneisen und Wellenbrecher, die ein Gebiet vor Gefahren schützen,

kurzfristige Barrieren wie Absperrgitter oder Flatterbänder um eine Gefahrenstelle,

Artefakte, die unseren Körper vor Hitze, Kälte, Nässe, Strahlung oder Verletzung schützen,

Objekte, die nur ad hoc als Barriere dienen, wie ein umgedrehtes Weinglas als Wespenfalle,

spielerische Barrieren wie die beim Hindernislauf und schließlich

Grenzen in metaphorischem Sinn wie ‚die Grenzen in den Köpfen‘ oder ‚soziale Barrieren‘ (siehe

Abschnitt 6

).

Die Beispiele machen bereits deutlich, dass Grenzen fast nie hermetisch dicht, sondern immer durchlässig sind. So sind Gebietsgrenzen meist auch Zonen des Austauschs, und künstliche Grenzen besitzen definierte Übergänge, die nur Befugten den Zutritt erlauben.

In der Natur ist völlige Abgeschlossenheit immer tödlich; dies gilt für Zellen ebenso wie für Lawinenopfer und eingemauerte Eremiten. Ein einprägsames Beispiel für nur vermeintlich hermetische Grenzen sind die Einweckgläser, von denen Hans Castorp in Thomas Manns Roman ‚Der Zauberberg‘ schwärmerisch berichtet: „Das Zauberhafte daran ist, daß das Eingeweckte der Zeit entzogen war“ (Mann 1971, 538). Leider vermögen solche Barrieren die Vergänglichkeit nur zeitlich befristet aufzuhalten, was bei eingeweckten Birnen weniger fatal ist als bei den sogenannten ‚Endlagern‘ unseres Atommülls.

Weil menschliches Raumverhalten auf phylogenetisch alten Verhaltensweisen aufbaut, skizziert Abschnitt 2 zunächst, wie Tiere ihre Territorien markieren und sichern. Nach einer Klassifizierung von Territorien (Abschnitt 3) werden Methoden vorgestellt, wie Menschen unbefugten Zutritt verhindern und im Gegenzug bewerkstelligen wollen (Abschnitt 4). Parallel widmet sich Abschnitt 5 den Strategien, wie man indiskrete Wahrnehmungen vereiteln oder gewinnen kann. Abschließend wagt Abschnitt 6 einen kurzen Ausblick in das weite Feld der metaphorischen Grenzen.

2 Territorialverhalten im Tierreich

In der Zoologie bezeichnet der Ausdruck ‚Territorium‘ oder ‚Revier‘ den Teil des geographischen Raumes, den ein dominantes (meist männliches) Tier dauerhaft oder zeitweise bewohnt, markiert und verteidigt. Da Revierinhaber exklusiven Zugang zu Ressourcen haben, sind nur hier ortsgebundene Verhaltensweisen wie Nestbau und Aufzucht von Jungen möglich. Territoriales Verhalten stellt sicher, dass sich die stärksten Individuen auf hinreichend große Reviere verteilen, während schwächere vom Nestbau ausgeschlossen werden (Eibl-Eibesfeldt 1970, 77ff.). Es findet sich bei vielen Wirbeltieren sowie bei Insekten, Spinnen und Krebsen.

Tiere kennzeichnen Reviergrenzen durch Zeichen in geeigneten Sinnesmodalitäten. Da hörbare Zeichen wie Vogelgesänge und Froschrufe rasch verklingen, werden sie oft wiederholt. Duftmarken aus Harn, Kot oder dem Sekret spezieller Drüsen sind zwar länger wahrnehmbar, aber auch solche ‚olfaktorischen Türschilder‘ müssen immer wieder erneuert werden. Beim optischen Markierverhalten reicht die Bandbreite vom häufigen Abschreiten der Grenze (das auch Duftmarken hinterlässt) bis zu dauerhaften Kratzspuren an Bäumen.

Der Ausdruck ‚Aktionsraum‘ bezeichnet einen größeren Raum, in dem ein einzelnes Tier alltäglichen Handlungen wie Trinken, Fressen und Komfortverhalten nachgeht. Entsprechende Plätze wie Tränken, Weideplätze und Suhlen können weit verstreut sein und werden nacheinander von vielen Artgenossen sowie Tieren anderer Arten genutzt. Noch ausgedehnter ist der Raum, den ein Tier zeitweilig durchstreift, um neue Nahrungsquellen oder Partner zu suchen.

3 Die Arten menschlicher Territorien

Menschen sind höchst territoriale Lebewesen, die beanspruchte Gebiete erkennbar markieren, sorgfältig sichern und bei Bedarf energisch verteidigen.

Künstliche Grenzbefestigungen sind kulturethologisch und semiotisch besonders interessant, weil hier gegenläufige Interessen dazu motivieren, sie zu errichten oder zu überwinden. Bereits die Sicherung von Höhleneingängen durch Felsbrocken oder Dornenzweige ist als Beginn von Architektur anzusehen und ein Paradebeispiel dafür, wie sich der Mensch erfinderisch zu schützen versucht und dabei immer eine Rüstungsspirale in Gang setzt. Neolithische Bauern wurden dann die ersten Grundbesitzer im heutigen Sinn, sobald sie Flächen einzäunten, um ihre Nutztiere und Feldfrüchte zu schützen (Schellnhuber 2016, 213ff.).

Altman (1975, 103ff.) unterscheidet drei Arten von Territorien. Primäre Territorien oder Heimatterritorien sind häufig besetzt und gelten als relativ dauerhaftes Eigentum ihres Besetzers, der weitgehende Verfügungsgewalt hat. Diese feste Bindung und Kontrolle besteht vor allem bei Wohnung, Arbeitsplatz, Auto und Parkplatz. Persönliche Fotos und Topfpflanzen im Büro belegen unsere enge emotionale Bindung an primäre Territorien.

Vor allem bei Staatsgrenzen ist zu beachten, dass Territorien immer dreidimensional sind. Ihre Grenzflächen reichen sowohl in den Luftraum, was Überfliegungsverbote möglich macht, als auch in den Untergrund, was bei Ansprüchen auf Bodenschätze entscheidend ist. Ferner sind Territorien unterschiedlich scharf begrenzt, oft liegt zwischen zwei Ländern ein Niemandsland als Pufferzone.

Die durchschnittliche Größe primärer Territorien spiegelt den materiellen Reichtum einer Kultur. Während in wohlhabenden Ländern auch Einzelpersonen oft ganze Wohnungen besitzen, schrumpft diese Fläche in ärmeren Ländern auf eine Zimmerecke. Der Anspruch auf ein Territorium muss durch dessen ständige Pflege aufrechterhalten werden. Der brokenwindows-Theorie zufolge eskaliert Verwahrlosung schnell, weil zerbrochene Fenster und andere harmlos scheinende Schäden bald Vandalismus und Einbrüche nach sich ziehen. Der deutsche Spruch dazu lautet: ‚Müll zieht Müll an.‘

Namensschilder an Türen machen Besitzverhältnisse öffentlich bekannt. In Wohnhäusern deutet man das Schild ‚N. N.‘ als ‚Hier wohnt N. N.‘, in Bürogebäuden als ‚Hier arbeitet N. N.‘. Viele Grabsteine teilen sogar explizit mit: ‚Hier ruht N. N.‘.

Innerhalb von Wohnungen gibt es oft komplexe hierarchische Aufteilungen, da jede Person neben einem eigenen Zimmer noch andere Teilräume besetzt, etwa einen bestimmten Stuhl am Esstisch und ein bestimmtes Bett im Schlafzimmer. Handtuchhalter im Bad illustrieren den gleitenden Übergang von der Raum- zur Objektmarkierung. Bei der Wahl der Bettseite geht es oft um die Qualität des Teilraumes: fenster- versus türseitig oder wand- versus zimmerseitig.

In metaphorischen Übertragungen (siehe Abschnitt 6) spricht man auch von ‚geistigen Revieren‘, die durch Urheberrechte und Patente juristisch geschützt und ebenso nachdrücklich verteidigt werden. Den Übergang von physischen zu abstrakten Lesarten spiegelt eindrücklich das Verb ‚mauern‘, denn es bezeichnet neben dem Errichten materieller Mauern auch eine besonders defensive Haltung beim Karten- oder Fußballspiel sowie hartnäckiges Schweigen beim Verhör. Die digitale Firewall schließlich schützt private Dateien vor unbefugtem Zugriff.

Ein besonderer Raumtyp sind Übergangszonen zwischen öffentlichen und privaten Räumen. In modernen Städten findet das Alltagsleben nicht mehr ‚einsehbar‘ vor der Haustür beziehungsweise in Garten oder Hinterhof statt. Häufig kontrollieren Pförtner in Eingangshallen den Zutritt, und in Wohnungen schirmt die Diele persönlichere Räume noch einmal visuell und akustisch ab.

Sekundäre Territorien wie etwa Klassenzimmer gehören zwar nicht einzelnen Personen, die jeweils legitimen Besetzer können jedoch Unbefugten den Zutritt verwehren. Meist existiert ein Belegungsplan, der die Gruppen und Zeiträume einander zuordnet. Der Ausdruck ‚Stammtisch‘ macht deutlich, dass solche Räume zum Wir-Gefühl beitragen, denn er bezeichnet sowohl eine Gruppe als auch deren angestammten Versammlungsort.

Öffentliche Territorien wie ein Liegeplatz im Park sind umso schwieriger zu kontrollieren, je begehrter die betreffende Fläche ist. Nur kooperative Personen verteilen sich so, dass sie einander möglichst wenig stören, und respektieren temporäre Markierungen wie ausgelegte Handtücher.

4 Zutrittsbarrieren und deren Überwindung

Altman (1975, 111ff.) definiert drei Hauptformen von Territorialverletzungen.

Bei Invasionen möchte ein Außenstehender das Territorium eines anderen in Besitz nehmen. Die Bandbreite reicht von Kinderspielplätzen, die durch Jugendliche ‚in Beschlag genommen‘ werden, bis zu kriegerischen Invasionen ins Nachbarland.

Grenzverletzungen (‚Violation‘) dauern kürzer und sollen den Revierinhaber schädigen oder verärgern (Vandalismus, Diebstähle, Bedrohungen).