Grenzwege - Dietlind Köhncke - E-Book

Grenzwege E-Book

Dietlind Köhncke

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Beschreibung

„Wir sind es gewöhnt, an der Grenze zu leben. Jeden Tag überquere ich sie, wenn ich zur Schule fahre, jeden Tag läuft meine Mutter über die Grenze zu ihrer Arbeit bei der Reichsbahn und fährt mein Vater mit dem Fahrrad nach Westberlin. Grenzen sind unser Alltag, nur Bärbel ist davon verschont, weil sie in unserem Ort zur Schule geht, so wie ich früher auch. Wie einfach damals alles war.“ Dietlind Köhncke erzählt vom Erwachsenwerden einer jungen Frau in den 50er-Jahren, die sich in der DDR ihre persönliche Freiheit und Unabhängigkeit erkämpft.

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Dietlind Köhncke

Grenzwege

Eine Jugend im geteilten Deutschland Roman

Jaron Verlag

DIETLIND KÖHNCKE, geboren in Aachen, aufgewachsen in der DDR. Nach der Flucht in den Westen Studium der Literaturwissenschaft, Soziologie und Philosophie in Frankfurt/Main, Marburg und Gießen. Magisterarbeit über Geselligkeit und Literatur in den Berliner jüdischen Salons Anfang des 19. Jahrhunderts. Tätigkeit als Lehrerin sowie in der Lehrerausbildung. Weiterbildung zur Gruppenanalytikerin und Supervisorin. Veröffentlichungen: wissenschaftliche Essays, u. a. über Spiel und Kreativität, die Erzählung Die Wörtersammlerin. Eine deutsche Kindheit, Gedichte und Grafiken in Zusammenarbeit mit Boris Köhncke. Mitautorin von Brandschatz. Die Erfindung einer wahren Geschichte und Unterholz. Zwei Jahre im Wald.

Originalausgabe

1. Auflage 2023

© 2023 Jaron Verlag GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.

www.jaron-verlag.de

Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin

Umschlagfoto: © Adobe Stock

Satz und Layout: Prill Partners|producing, Barcelona

Lithografie: Bild1Druck GmbH, Berlin

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

ISBN 978-3-95552-062-5

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

1

Ich kann wählen. Wenn ich aus dem Haus gehe, kann ich mich auf unserer sandigen, von Lindenbäumen gesäumten Straße nach Osten oder Westen wenden. Denn der Ort, in dem wir wohnen, liegt am Berliner Stadtrand. Er grenzt auf der einen Seite an Westberlin und auf der anderen Seite an Ostberlin. Gehe ich in die eine Richtung, verlasse ich nach zehn Minuten die DDR, betrete den Westsektor, laufe an den Villen mit Vorgarten vorbei zur S-Bahn, die West- und Ostberlin durchquert, steige an der Station Wollankstraße in Pankow aus und laufe zur Schule. Oder ich wende mich zur anderen Seite, steige in einen Bus, durchquere die brandenburgische Wiesen- und Kiefernlandschaft, verlasse dabei ebenfalls die DDR und steige am Pankower Rathaus aus. Auch dann ist es nicht mehr weit zur Oberschule, in die ich seit Neuestem gehe.

Von welcher Seite ich auch komme, immer dauert es ungefähr eine Stunde.

Früher brauchte ich nur zehn Minuten zur Schule und traf unterwegs meine schöne, dunkellockige Freundin Evelyn und ein paar andere Mädchen aus meiner Klasse. Aber seit wir die Schule im Sommer 1951 hinter uns gelassen haben, begegnen wir uns nicht mehr. Einige fahren mit der S-Bahn nach Oranienburg zur Oberschule, andere haben eine Lehre begonnen. Auch Evelyn treffe ich nicht mehr. Ihr Haus steht leer. Immer wieder habe ich geklingelt, aber niemand öffnete. Sie hat es also wahrgemacht und ist nach einer Reise zu ihrer Tante in Westdeutschland geblieben.

Ob ich sie wohl jemals wiedersehe? Auch ich habe eine Tante in Westdeutschland. Wir holen ihre Päckchen, die sie regelmäßig schickt, bei Bekannten in Westberlin ab, damit sie auf dem Weg zu uns nicht kontrolliert werden und dann nachher weniger Sachen drin sind, als eingepackt wurden. Mein Vater tippt lange Briefe auf der Schreibmaschine, aber meine Mutter und wir Kinder schreiben ihr mit der Hand und bedanken uns für die Lebensmittel und die Kleidung. Eigentlich bedanke ich mich vor allem für die Schokolade. Sie schmeckt so, wie ich mir Schokolade vorstelle. Aber das ist kein Grund, zu ihr nach Frankfurt zu fahren und dort zu bleiben.

Ich gehe allein, aber ich bin nicht allein. Ich bin nicht die Einzige, die frühmorgens das Haus verlässt und nach Berlin rein fährt. Vor mir und hinter mir laufen Männer und Frauen, ganz gleich, ob ich die S-Bahn oder den Bus nehme. Ich versuche mit den Erwachsenen Schritt zu halten, und manchmal schaffe ich es sogar, sie zu überholen. Fahre ich mit dem Bus, laufe ich immer mit ihm um die Wette. Ich gehe auf den letzten Drücker aus dem Haus, und sobald ich den Bus auf dem Weg zur Haltestelle von fern höre, renne ich los. Bin ich vor ihm an der Haltestelle, darf ich mir etwas wünschen.

Die Leute fahren zur Arbeit, und weil ich mit ihnen im Bus oder in der S-Bahn sitze und wie sie aus dem Fenster schaue oder sie heimlich beobachte, fühle ich mich viel erwachsener als vorher. Vielleicht macht es mir deshalb auch nichts aus, dass es jeden Morgen etwas dunkler wird.

Ich bin die Einzige aus meiner Klasse, die nach Berlin zur Schule fährt. Zwar wäre es mir lieber, wenn noch jemand mit mir käme, aber ich bin auch ein bisschen stolz, dass ich ganz allein in die Carl-von-Ossietzky-Schule gehe. Es ist ein altehrwürdiges Gebäude. Wenn man davorsteht, blickt man auf ein großes mehrstöckiges Haus aus dem vorigen Jahrhundert. Innen betritt man nicht einfach eine Treppe, sondern einen geschwungenen Aufgang, an dessen Seiten sich das verzierte Geländer bis in die oberen Stockwerke geradezu hochschraubt. An jedem Treppenabsatz stehen Putten und Tiere, und das sieht ein bisschen so aus wie in Sanssouci, nur nicht so verspielt, aber ich könnte mir schon vorstellen, dass hier ein König oder Kaiser um die Ecke biegt, obwohl es in Deutschland schon lange keine Monarchie mehr gibt. Aber irgendwie scheint das Gebäude darauf zu warten.

Dagegen war die Schule in unserem Ort ein einfaches Gebäude, obwohl, schön habe ich sie auch gefunden, sie schüchterte einen nicht so ein. Aber ich bin froh, dass ich jetzt hier bin. Was hätte ich nur tun sollen, wenn ich nicht weiter zur Schule hätte gehen können? Denn so sah es anfangs aus.

In der Oberschule bin ich wieder in einer reinen Mädchenklasse, die meisten sind 14 Jahre alt. Wie ich. Wie aufgeregt ich war, als ich das erste Mal in die neue Klasse kam! Überall neue Gesichter, auf den Gängen, auf dem Schulhof und auch in meiner Klasse. Aber wie schnell man doch merkt, wer einem sympathisch ist. Steffi und ich haben uns gesehen und gleich gut leiden können. Und weil wir uns unsere Plätze aussuchen durften, haben wir eine Zweierbank in der Mitte der Klasse gewählt, nicht ganz vorn und nicht ganz hinten, sondern mittendrin.

Ich habe mich schnell wohlgefühlt in der Klasse, die meisten waren gleich richtig nett. Sie haben sich anfangs gewundert, dass ich einen so weiten Schulweg habe, und mich ausgefragt, wieso und warum. Da habe ich ihnen erzählt, dass ich für den Besuch der Oberschule abgelehnt worden war.

Ja, aber warum denn?, fragten sie.

Ich bin nicht bei den Jungen Pionieren, antwortete ich.

Und warum nicht?

Ich merkte an der Frage, dass sie das nicht verstanden, und erinnerte mich, dass ich es auch nicht verstanden hatte, als mein Vater nicht wollte, dass ich zu den Zeltlagern mitfahre. Ihn erinnerten die Jungen Pioniere zu sehr an die Hitlerjugend. Wie sollte ich das erklären? Dass Eltern etwas ablehnen, was man selbst vielleicht doch gern gemacht hätte, verstanden sie dann aber schon.

Und wie hast du es dann doch geschafft?, fragten sie weiter. Ich erzählte ihnen, dass die Abschlussprüfung so gut ausgefallen war, dass ich mir eine Schule aussuchen durfte. Sie schauten mich an, als wüssten sie nicht, was sie von mir halten sollten, und ich dachte:

Streberin ist das Letzte, was sie von mir denken sollen.

Dieser Platz war dann auch schnell von Angela besetzt, die in der ersten Reihe sitzt und sich immerfort meldet. Ich hätte ihnen ja auch erzählen können, dass ich glaube, mein Lehrer Herr Gabriel hätte bei meinem guten Zeugnis seine Finger im Spiel gehabt, weil er wollte, dass ich weiter zur Schule gehen kann. Ich mochte aber nicht dastehen, als hätte ich gar nichts dazu getan. Steffi war es, die sagte:

Ich freue mich, dass du hier bist.

Und damit war es gut, ich war da und gehörte dazu.

Seitdem bin ich eine von ihnen.

Steffi ist meine Freundin. Sie hat dickes, mittelblondes Haar, das sie hinten zu einem Pferdeschwanz zusammenbindet. Meine Haare sind dagegen viel dünner und dunkler, ich trage sie kurz, und manchmal streiche ich sie auf einer Seite hinter das Ohr und halte sie mit einer Haarklemme fest. Ich finde dicke Haare schöner, man kann viel mehr damit machen. Steffi schüttelt nur den Kopf, wenn ich sowas sage, ihr gefällt meine Frisur. Sie sagt immer:

Deine Haare glänzen so schön.

Das kommt daher, dass ich sie nach dem Waschen mit Bier spüle.

Steffis Vater ist im Krieg gefallen, und so lebt sie nun allein mit ihrer Mutter. Weil wir weit auseinander wohnen, sehen wir uns nur in der Schule. Aber dafür jeden Tag. Steffi hat immer warme Hände, ein herzliches Lachen und lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Wir könnten immerzu die Köpfe zusammenstecken und schwatzen, aber wir trauen uns das nur bei den schwächeren Lehrern.

Unsere Klassenlehrerin Fräulein Kaul unterrichtet uns in Mathe und Physik. Sie hat ihr blondes Haar hochgesteckt, trägt immer denselben gerade geschnittenen grauen Rock und einen etwas helleren Pullover und hat keinen Mann. Schon weil sie ein »Fräulein« ist. Und ich glaube, dass sie das auch immer bleiben will. Sie sieht so ganz anders aus als die Lehrerin, in die sich unser Klassenlehrer, Herr Gabriel, in meiner früheren Schule verliebt hatte, sie legt keinen Wert auf eine schmale Taille und einen weiten Rock mit Petticoat darunter, auf offen getragenes Haar und geschminkte Lippen. Dafür ist sie auch bestimmt zu alt. Aber sie ist eine prima Klassenlehrerin, sie kann gut erklären, sie ist gerecht und bevorzugt niemanden. Durch sie finde ich Mathe und Physik richtig interessant. Auch der Unterricht von Herrn Graubner, unserem Erdkundelehrer, gefällt mir. Obwohl, bei ihm gibt es etwas, das ich merkwürdig finde. Wenn er uns von Flüssen und Bergen, von Landschaften und Erdteilen erzählt, hängen wir an seinen Lippen und möchten am liebsten mit ihm auf Reisen gehen. Und das werden wir auch tun, wenn er und Fräulein Kaul mit uns eine Klassenfahrt nach Thüringen machen. Aber wenn er die Welt in sozialistische und kapitalistische Länder aufteilt und erklärt, wer wo welche Erdölvorkommen hat, dann fangen wir an zu gähnen. Wir können uns mehr darunter vorstellen, wenn er den Lauf der Steinernen Renne im Harz verfolgt und mit uns zum Brocken aufsteigt, als wenn er von Erdölbohrungen in Sibirien, vom Kalten Krieg und dem Sieg des Sozialismus erzählt. Ich denke dann immer:

Überzeugt ist der nicht vom Sozialismus.

Da hat es Fräulein Kaul leichter. Ihre Fächer haben nichts mit Politik zu tun. Und ich glaube, dass sie das auch gut findet. Denn sie spricht nie darüber, dass wir in der DDR auf der richtigen Seite sind, sie sagt einfach gar nichts dazu. Und das klingt schon fast wie eine Meinung. Bei Herrn Graubner hingegen gibt es zwei Sorten Erdkunde, eine politische und eine unpolitische. Und weil er die politische langweilig und die unpolitische spannend erklärt, kommt mir das auch wie eine Meinung vor. Unsere Geschichtslehrerin Frau Theiss dagegen ist Feuer und Flamme für den Sozialismus. Sie kann hervorragend erklären, dass die Geschichte eine Abfolge von Klassenkämpfen ist, und da wir gerade beim Bauernkrieg sind, zeigt sie uns das an dem Gegensatz von Feudalherren und Bauern. Aber wenn ich ihr so beim Anschreiben dieses quasi Naturgesetzes an die Tafel zuschaue, muss ich immer daran denken, dass erzählt wird, sie habe ihren eigenen Mann denunziert, und der sitze jetzt im Gefängnis. Da mag ich von Klassenkämpfen schon gar nichts mehr hören, weil ich von so jemandem nichts lernen will. Ich mag nicht, wenn sie die Geschichte auf eine Zukunft zulaufen sieht, in der es wunderbar und menschlich sein wird, wenn sie also einen Satz sagt wie den: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen«, und dann den eigenen Mann anzeigt. Wenn Worte und Taten so auseinanderfallen, dann greift das auch die Wörter an, und man mag sie nicht mehr hören.

2

Nach einem halben Jahr haben wir unser erstes Zeugnis bekommen. Es ist ein einfacher Zettel, auf den Fräulein Kaul die Noten in einer spitzen, leicht nach links geneigten Handschrift geschrieben hat. Sie sagt, die Schule habe noch keine Formulare. Draußen in den Straßen liegen Trümmerberge, kein Wunder, dass es auch drinnen an so manchem fehlt. Draußen müssen wir für die Note »gesellschaftliche Tätigkeit« den Putz von den Steinen klopfen, drinnen lernen wir zu unterscheiden, von wem wir gern etwas lernen möchten und von wem nicht. Meine Noten sind schlechter als vorher, aber ich sage mir, dass jetzt lauter gute Schüler aus verschiedenen Schulen zusammenkommen, da werden die Ansprüche höher, das ist klar. Ich habe in Physik und Mathe eine Zwei plus, und das ist das Höchste, was Fräulein Kaul zu vergeben hat. Um eine Eins zu bekommen, muss man schon ein Genie sein. Und das ist Angela, die vorn in der ersten Reihe sitzt, sich immerfort meldet und jetzt schon weiß, dass sie Ärztin werden will. Aber sie ist nicht die Klassensprecherin. Wir haben Hannelore gewählt, die beim Sport am besten Hilfestellung leistet, wenn wir mit Anlauf in der Grätsche über das Pferd springen müssen und Angst haben, dass wir hängen bleiben und vornüber stürzen. Aber Hannelore steht auf der anderen Seite und ist sicher, dass sie uns auffangen kann. Wir haben sie gewählt, weil wir ihr vertrauen. Fräulein Kaul hat auf das Blatt Papier geschrieben, ich sei gewissenhaft in der häuslichen Arbeit, rege im mündlichen Unterricht, und meine Leistungen seien insgesamt fast gut. Fast gut, wie das klingt. Wie ein Absturz. Früher war alles leichter, ich musste zuhause nicht lernen, ich konnte mir alles merken, aber jetzt ist das anders. Wenn man zuhause nichts macht, kommt man nicht mehr mit. Es ist aber nicht so leicht, zuhause zu lernen, denn immer wieder haben wir Stromsperre. Gerade sind es mal wieder sieben Stunden am Tag. Wenn ich morgens um sechs Uhr aufstehe: Stromsperre. Mittags von halb zwölf bis halb zwei: Stromsperre. Na gut, da bin ich in der Schule. Komme ich nachmittags aus der Schule: Stromsperre. Geht das Licht dann endlich wieder an, gehe ich ins Bett. Ich weiß bald nicht mehr, wie elektrisches Licht aussieht.

Wir drei Schwestern sind jetzt auf drei Schulen verteilt. Sonja, meine große Schwester, wohnt in der Woche bei unserer Großmutter in Berlin, weil sie in ihrer Nähe eine Schule bis zur mittleren Reife besuchen kann. Wir waren früher beide im Chor und haben auch zuhause viel zusammen gesungen. Aber auch sonst vermisse ich sie. Bärbel, meine kleine Schwester, ist erst elf und geht nach wie vor auf die Schule in unserem Ort, die nach der achten Klasse endet. Sie ist bestimmt froh, dass ich weg bin. Seit ich nicht mehr nur gute Noten habe, kann ich verstehen, wie ihr zumute sein muss, wenn sich Herr Gabriel, bei dem sie Deutsch hat, vor ihr aufpflanzt und sagt: Du bist also die Schwester von Lily, das merkt man an deinen Leistungen aber gar nicht.

Mir ist es sehr unangenehm, dass Herr Gabriel mich ihr als Beispiel vor die Nase hält. Er weiß nicht, dass sie andere Sachen viel besser als ich kann, sie kann zeichnen und malen und interessiert sich für Pflanzen. Dafür müsste es doch auch eine gute Note geben. Bärbel mag die Schule nicht besonders, sie ist jetzt in einer Jungenclique aus ihrer Klasse und treibt sich meist draußen herum. Und Sonja sehe ich auch seltener. Sie kommt immer übers Wochenende zu uns rausgefahren. Meine Eltern legen großen Wert darauf, dass die Familie wenigstens am Sonntag beisammen ist. Dann backt meine Mutter einen Apfelkuchen, wir gehen im Wald spazieren und spielen Rommé. Früher hatte ich oft keine Lust dazu. Jeden Sonntag dasselbe: um vier Uhr Kaffee und Kuchen, gerade wenn es draußen beim Rollschuhlaufen auf der langen Chaussee viel schöner war.

Großmutter ist froh, dass Sonja so oft bei ihr schläft, denn seit Großvater gestorben ist, wohnt sie mit Tante Dora allein in der großen Wohnung am Prenzlauer Berg. Großvater hatte sich im Krieg die Tuberkulose geholt und sie nie wirklich auskuriert. Er lag im letzten Sommer mehrere Wochen im Krankenhaus, aber konnte sich danach nicht mehr erholen. Es ist das erste Mal, dass jemand aus der Familie plötzlich nicht mehr da ist, und immer wieder denke ich, er biegt jeden Moment um die Ecke oder klingelt an der Tür. Obwohl ich immer mehr mit meiner Großmutter gefühlt habe als mit ihm, weil die Ehe meiner Großeltern überschattet war von Großvaters Trinkanfällen, war es dann doch so schrecklich unerbittlich, als er mit 62 Jahren starb. Ich spürte zum ersten Mal das Unheimliche des Todes. Mein Vater war auch lange weg gewesen, weil er im Gefängnis saß, aber er war wiedergekommen. Großvater aber wird nie zurückkommen. Hier spüre ich eine Grenze, die niemand überschreiten kann. Ich weiß es, und doch lehnt sich alles in mir dagegen auf.

Als wir in der Friedhofskapelle auf dem Georgenfriedhof vor dem Sarg saßen und das Harmonium ertönte, konnte ich nicht mehr aufhören zu weinen. Es war so, als schluchzte jemand anderes, über den ich keine Macht hatte, und ich schämte mich, dass alle hören konnten, wie sehr ich die Fassung verlor. Ich wusste gar nicht, ob ich um meinen Großvater trauerte, ob das Harmonium mich einfach mitschleifte, oder ob der Tod mich im Griff hatte. Bärbel hat viel mehr an ihm gehangen, denn er konnte genau wie sie zeichnen und freute sich immer, wenn sie ihm ein Bild mitbrachte, aber sie weinte nicht so heftig wie ich. Mir war, als würde in unserer Familie nun für immer eine Lücke bleiben. Wenn einer so plötzlich aus dem Leben verschwindet, dann sieht man ihn anders als vorher, wie soll ich sagen, mehr als Ganzes. Großvater hatte zwar dem Alkohol zu viel zugesprochen und Großmutter damit viele Sorgen bereitet, aber er wurde als Stadtbaurat in seiner Arbeit respektiert, und dass manche Straßen in einem Viertel von Berlin nur Blumennamen tragen, weil die politische Veränderungen besser überstehen, ist sein Werk. Vielleicht ist die Ehe meiner Großeltern ja auch deshalb schwierig gewesen, weil Großmutter schon als junge Frau dick war und keine Lust hatte, mit einem Mann ins Bett zu gehen, obwohl, sie haben dann ja doch zwei Kinder bekommen. Meine Mutter sagt das öfter zu meinem Vater und findet, dass es bei ihnen ganz anders ist. Sie hat uns einmal verraten, dass das Datum innen auf ihrem Ehering nicht das Hochzeitsdatum ist, sondern das, wo sie zum ersten Mal – und den Rest konnten wir uns dann denken. Und das stimmt, meine Eltern lieben sich, das merkt man, dafür braucht man keine Fantasie. Vielleicht war Großvater unglücklich und hat darum immer wieder zu tief ins Glas geschaut, wie man so sagt. Sonja hat er früher, als sie noch klein war, jedenfalls immer in die Berge mitgenommen, dort war er am liebsten, und das konnte man auch an dem Stock sehen, der mit lauter Blechschildern beschlagen war, die zeigten, wo er überall gewesen war. Er reiste gern, und Großmutter fand, er sei im Grunde in einem Zigeunerwagen geboren und am liebsten unterwegs gewesen.

Diese Sehnsucht kann ich gut verstehen, ich möchte manchmal auch gern woanders sein.

3

Ich verstehe nicht, warum meine Eltern glauben, dass Krankheiten auf negative Gedanken zurückzuführen sind und dass man für eine Heilung keine Medikamente, sondern nur den Glauben an die Wirkung guter Gedanken braucht. Vielleicht gibt es bei uns im Osten ja keine wirklich guten Medikamente gegen die Atemnot meines Vaters, der beim Spazierengehen immer wieder stehen bleibt, uns etwas zu erklären beginnt und wir dadurch auch stehen bleiben müssen, um zuhören zu können. Ich lasse mir nicht anmerken, dass ich das durchschaue, denn er wäre lieber gesund und stark, aber ich sehe auch, dass die guten Gedanken ihn nicht wirklich weiterbringen und er dadurch nicht schneller gehen kann oder mehr Luft bekommt. Aber was soll ich machen? Das, was ich denke, wollen sie nicht hören, und es hilft ja auch nicht weiter.

Da setze ich mich lieber sonntags auf das Fahrrad meines Vaters und radle an den See im Wald, der von Schilf umstanden und im Sommer von Libellen umschwirrt ist.

Mein Vater muss bei Wind und Wetter hinaus und wird davon immer wieder krank. Damals, als er am Kriegsende aus dem Gefängnis gekommen war und ich ihm die Tür aufgemacht und ihn nicht erkannt hatte, weil er solange weg gewesen war, hatte er sehr mager ausgesehen, aber das war nichts Besonderes, denn wir alle waren dünn, aber als er von den Russen zurückkam, die ihn verhört hatten, weil er früher, bevor er ins Gefängnis kam, mal ein Nazi gewesen war, da war er lange krank. Eigentlich ist mein Vater ein alter Vater, mir kommt es vor, als habe er schon mehrere Leben hinter sich, während ich gerade mitten im ersten bin. Obwohl er oft Atemnot hat, klagt er nie. Eigentlich müsste er kerngesund sein, denn gute Gedanken hat er eigentlich immer, und witzig und klug ist er auch.

Wenn ich mein Fahrrad nehme und an den See im Wald fahre, kann ich eigene Wörter für das suchen, was ich sehe und fühle oder kann auch gar nichts denken und nur schauen, wie das Schilf sich leicht bewegt, wenn der Wind über das Wasser streicht. Das leise Geräusch der einander berührenden Blätter ist dann dicht an der Grenze zur Stille, die ich in mir fühle, wenn ich über den See blicke. Dunkle Kiefern umschließen das Ufer und rahmen den See ein, der im Sommer von Wasserrosen bedeckt ist. Mein Fahrrad liegt am Boden auf den Kiefernnadeln, während ich mich setze, die Füße ins Wasser stecke und anfange zu träumen. Mir ist dann, als sei ich zwei Personen, nämlich Lily und Lilibeth, die miteinander sprechen, und der See mit seinen Geräuschen macht die Musik dazu. Wenn Lilibeth ihre Stimme erhebt, muss ich immer daran denken, dass ich damals bei der Einschulung in Ostpreußen gelogen und behauptet habe, Elsbeth zu heißen, weil ich eine andere Elsbeth so nett gefunden habe. Und als das dann irgendwann rauskam, hat Elsbeth mich einfach Lilibeth genannt, und seitdem ist Lilibeth mein zweites Ich, meine Freundin, die mich begleitet.

Ich liebe das Fahrrad, obwohl es alt und außerdem ein Herrenrad ist, aber damit komme ich überall hin, auch wenn ich immer wieder an die Grenze nach West- oder Ostberlin stoße. Nur wenn ich nach Norden fahre, kann ich stundenlang durch die Wälder in das Gebiet der Deutschen Demokratischen Republik hineinradeln, aber da zieht es mich eigentlich nicht hin. Die Landschaft der Mark Brandenburg, die großen Wiesen, die Kiefernwälder und Sandhügel haben wir auch hier. Und so fahre ich über die von Wurzeln durchzogenen Sandwege am Saum der Kiefernwälder entlang, durchquere die Nachbarorte Schönfließ und Schildow und entdecke immer wieder etwas, das ich noch nicht kenne.

Dass das Fahrrad mir allerdings noch eine andere Art von Entdeckung bescheren würde, habe ich nicht erwartet. Das hat mich fast umgeworfen, und seitdem fühle ich mich anders als vorher.

Es war ein normaler Sommersonntag, ich hatte meine Tage und schlechte Laune. Das geht mir immer so. Wenn sich meine Tage ankündigen, sinkt meine gute Laune auf Null. Und dann dieses Gedöns mit den Binden, es ist schon eine Last.

Um mich abzulenken, holte ich das Fahrrad aus dem Keller und fuhr zu dem kleinen Teich im alten Dorfkern, auf dem wir im Winter, wenn er gefroren ist, herumschlittern. Ich spürte, wie die Binde hin und her rutschte, wenn ich in die Pedale trat. Ich umkreiste den Teich, der jetzt im Sommer mit Entengrütze bedeckt war, fuhr dann weiter Richtung Kirche und wurde mit einem Mal dort, wo ich den Fahrradsattel und die Binde unter mir spürte, von einer noch nie gefühlten Welle erfasst, die auf mich zurollte und mich mit einer intensiven körperlichen Empfindung überraschte, für die ich keine Worte habe. Als dieses unbekannte Gefühl am heftigsten war, erblickte ich einen Mann, den ich nicht kannte, auf dem Bürgersteig, und ich spürte den starken Wunsch, zu ihm hinzulaufen. Das warf mich fast vom Fahrrad. Da aber klang diese Empfindung und mit ihr der dringende Wunsch auch schon wieder ab, der Mann war weitergegangen und ich blieb mit meinem Schrecken zurück. Das Gefühl und ein Mann gehörten also zusammen, das wurde mir in diesem Moment klar. In mir tauchte die Erinnerung an Tante Dora auf, die nachts zu Onkel Horst gegangen und am Morgen vom Großvater als Hure beschimpft worden war, ich hatte das Gefühl, etwas Unaussprechliches und Verbotenes zu betreten. Am meisten aber erschreckte mich, dass da etwas so stark war, dass ich wahllos zu einem Mann, wenn er nur einigermaßen ansprechend aussah, laufen wollte. Die unsichtbare Grenze, über die ich gestoßen worden war, machte mich von einem zum anderen Moment zu einer, die mit einem Unbekannten mitgehen würde. Und das stürzte mich in einen Abgrund von Scham.

4

Ich bin ganz durcheinander. Seit Torsten mich auf den Mund geküsst hat, kann ich ihn nicht mehr ertragen. Sein Kuss war so nass. So hatte ich mir das Küssen nicht vorgestellt. In den Liebesfilmen ist es doch ganz anders, es ist schön und macht glücklich. Die Zuneigung, die ich für Torsten gespürt habe, ist durch dieses Nasse geradezu weggespült worden. Jetzt mag ich ihn gar nicht mehr sehen, und berühren erst recht nicht. Und mit ihm spazierengehen auch nicht.

Im Kinderchor hatte er bis zum Stimmbruch bei den Jungs gestanden und damals mitgekriegt, dass Hannes, der Sohn des einzigen Bauern in unserem Ort, mich immer nachhause brachte. Damals hatte ich mich gar nicht für ihn interessiert, er war zwei Jahre älter als ich, und das fand ich damals uralt. Dann ging er von der Schule ab, und ich sah ihn lange Zeit nicht mehr, bis er mich vor einem halben Jahr auf der Straße ansprach. Groß und dunkelhaarig war er schon immer gewesen, aber jetzt, mit 16 Jahren, passte alles an ihm besser zusammen. Er war mir mit einem Mal sympathisch. Und so gingen wir über die Wiesen spazieren, redeten tausend Sachen, ich fing an, mich in ihn zu verlieben, und er begann, Pläne für unsere Zukunft zu schmieden. Er wollte Anwalt und ich sollte Kinderärztin werden. Vor uns lag eine richtige Zukunft mit zwei eigenen Kindern. Lilibeth erhob ihre warnende Stimme. Das war noch vor dem Kuss.

Sonntags durfte er zum Kaffeetrinken und Apfelkuchenessen zu uns nachhause kommen. Er war gern bei uns, denn bei ihm zuhause gab es keinen Apfelkuchen und keinen Vater, der mit ihm redete und Karten spielte. Und dann kam der Kuss. Es war ein schöner Herbsttag, wir waren hinaus in die Landschaft gelaufen, einen Hügel hinaufgestiegen und hatten uns in einer Sandkuhle niedergelassen. Da beugte er sich über mich und nahm mich in den Arm. Jetzt wurde es richtig ernst, das spürte ich genau. Und dann kam der Kuss, mit dem meine Verliebtheit und mit ihr das ganze Zukunftsgebäude zusammenfiel. Ich wollte diese nasse Zunge nicht in meinem Mund haben. Ich stieß ihn zurück und sprang auf. Auf dem Rückweg schwieg ich. Er legte seinen Arm um meine Schulter und fragte, was ich hätte. Aber ich konnte nicht antworten. Wie sollte ich ihm sagen, dass ich ihn nicht mehr ertrug? Das konnte ich ihm doch nicht antun, ihm mit seinen schönen Zukunftsplänen. Aber hatte ich nicht gerade erst begonnen, mich auf den Weg zu machen? Und schon standen ein neues Zuhause, ein Beruf und zwei Kinder vor mir.

Wollte ich das wirklich? Nein, ich wollte gar nicht Kinderärztin werden, ich wollte auch keine zwei Kinder, ich wollte überhaupt nicht festgelegt werden.

Als Torsten zwei Tage später bei uns klingelt, hole ich meinen Vater zu Hilfe und bitte ihn zu sagen, ich sei nicht da. Mein Vater schaut mich groß an. Er mag Torsten. Er hat sich immer gern mit ihm unterhalten, wenn er sonntags zum Kaffee kam und wir zusammen Karten spielten. Ich sage: Ich kann ihn nicht mehr sehn, ich bin noch zu jung für das, was er will.

Das versteht er, denn seine Rede ist immer: Hebe dich auf für den Einen. Und Torsten ist eben nicht der Eine. Ich merke, wie leid er ihm tut, aber er wimmelt ihn an der Tür ab. Nach dem dritten Mal aber hat er genug von der Lügerei.

Sei nicht feige, Lily, du musst deine Sachen schon selbst regeln.

Und so gehe ich ein letztes Mal mit ihm spazieren. Aber wir kommen nicht weit. Torsten hört zu, versteht nicht, ist traurig und wütend. Als er sich umdreht und geht, spüre ich seine tiefe Enttäuschung und fühle mich schuldig. Hatte Lilibeth mich nicht von Anfang an gewarnt?

Seitdem bin ich froh, dass in meiner Klasse nur Mädchen sind. Steffi versteht mich und bringt mich auf andere Gedanken. Sie besucht einen Tanzkurs für Anfänger, und alles, was sie lernt, bringt sie mir in den Pausen bei. Seit ich von Sonja den Walzer gelernt habe, bin ich ganz vernarrt ins Tanzen. Aber das Geld reicht nur für die Klavierstunden, und darum bringt mir Steffi alles bei, was sie in der Tanzstunde lernt. In den Pausen verziehen wir uns auf das Mädchenklo, das zwischen den Toiletten einen langen gefliesten Gang hat. Sie führt mich und zeigt mir alle Schritte, die sie selbst grad gelernt hat. Wir sind vertraut miteinander. Wenn wir in unbeobachteten Momenten während der Schulstunden die Köpfe zusammenstecken, sind unsere Gesichter ganz nahe, wir spüren unsere Haut, und manchmal streift mich Steffis Pferdeschwanz. In den Pausen laufen wir eingehakt über den Schulhof, erzählen uns das Neueste oder stehen mit den anderen zusammen. Wir bewegen uns gern, wir turnen im Sportunterricht am Barren, wir schwingen an den Ringen, und wenn es warm ist, machen wir draußen Weitsprung oder laufen hundert Meter. Ich bin schnell, ich kann gut laufen und weit springen, deshalb mag ich das Laufen und Springen lieber als das Geräteturnen. Da stößt man sich leicht oder stolpert oder kommt nicht übers Pferd. Nur Schulterstand am Barren mache ich gern. Am schönsten aber finde ich das Tanzen. Wenn die anderen Mädchen die Toiletten aufsuchen, stehen sie um uns herum und schauen zu, wie wir im getragenen Einszweidrei den langsamen Walzer mit seinen Figuren tanzen, bis die Klingel uns in die Klasse zurücktreibt. Da vermisst niemand einen Jungen, der führt. Und zuhause bringe ich Bärbel das bei, was ich bei Steffi gelernt habe. So lerne ich auch führen, und das fühlt sich ein bisschen so an, als wäre ich mein Vater, der, so hat uns meine Mutter erzählt, früher keinen Tanz ausgelassen hat. Die beiden haben sich im »Haus Vaterland« kennengelernt, das es heute nicht mehr gibt, weil es im Krieg zerstört wurde. Aber damals in den Dreißigerjahren spielten auf mehreren Etagen ganz unterschiedliche Kapellen zum Tanz auf. Und meine Mutter hat dort auf dem Tisch getanzt, das muss man sich mal vorstellen. Da hat sich mein Vater in sie verliebt. Sie waren damals älter als ich heute, da kam das Küssen ganz von selbst dazu. Mir gefällt das Tanzen viel besser als das Küssen. Mein Lieblingstanz ist immer noch der Walzer, er bringt mich richtig aus dem Häuschen.

Sonja sagt, sie würde mich gern mal zum Tanzen auf ein Fest in ihrer Schule mitnehmen, aber wir haben nur ein Paar schöne Schuhe zum Tanzen, Ballerinas, die in einem Paket von Tante Else aus dem Westen lagen. Bei uns im Osten gibt es solche Schuhe aus weichem Leder nicht. Die bei uns sind hart, mein Vater sagt, es sei Schweinsleder, und darum freuen wir uns, wenn Großmutter ihre Geldschatulle öffnet und uns im Westen ein Paar richtige Schuhe schenkt. Aber für Tanzschuhe reicht das Geld nicht, die Laufschuhe sind wichtiger, und für das Lernen der Tänze auf der Toilette reichen sie auch aus. Weil Sonja und ich dieselbe Schuhgröße haben, teilen wir uns jetzt die Ballerinas. Aber auf diese Weise können wir nie gemeinsam tanzen gehen. Vielleicht ist es auch besser so. Ich bin zweieinhalb Jahre jünger als sie, da denken die anderen doch: Warum bringt die ihre kleine Schwester mit?

Ich habe auch meinen Stolz.

5

Ich habe die Orgel entdeckt. Und das kam so: Wir gehen ja nicht in die Kirche. Meine Eltern sind schon vor langer Zeit, ich glaube unter den Nazis, aus der Kirche ausgetreten, so bin ich weder getauft noch konfirmiert worden. Ich hatte keinen Konfirmandenunterricht, habe mir zur Konfirmation nicht die Haare kurz schneiden oder eine Dauerwelle machen lassen wie meine Klassenkameradinnen und habe auch nichts geschenkt bekommen. Aber neulich, es war nicht lange nach diesem schrecklichen Kuss von Torsten, fragte mich meine Großmutter, ob ich Lust hätte, mit ihr in die Kirche am Prenzlauer Berg zu gehen, weil ihre Freundin Hilde Granzow im Chor mitsinge. Tante Granzow, wie wir sie nennen, hatte uns am Kriegsende, als die Schulen geschlossen waren, unterrichtet, und weil ich sie gernhabe, ging ich mit. Und da fiel ich fast aus der Bank, als ich die Orgel hörte. Solch einen Klang, der den ganzen Raum erfüllte und auch mich vollkommen einschloss, hatte ich noch nie gehört.