Griewatsch! - Uwe Siemon-Netto - E-Book

Griewatsch! E-Book

Uwe Siemon-Netto

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Beschreibung

Leipzig. 1015 bis 2015. Die tausendjährige Stadt. Uwe Siemon-Netto, weitgereister Leipziger Bub und journalistische Edelfeder, erinnert an die großartigen bürgerlichen Wurzeln und Werte dieser malträtierten, aber wiedererstandenen Metropole. "Siemon-Netto zeigt, dass Humor, Musik, Gottvertrauen, Integrität und die Weisheit liebender Großeltern dabei helfen, die fürchterlichsten Lebenssituationen zu überleben." Dominik Klenk Tausend Jahre Leipzig: Dies sind die wehmütig-humorvollen Reminiszenzen eines patriotischen Leipzigers über seine Kindheit im Bombenkrieg, seine Flucht aus der Sowjetzone, seine jahrelange Verbannung aus der Heimatstadt, sein nie gestilltes Heimweh, seinen Glauben und schließlich seine Rückkehr nach Leipzig. In den Worten des Historikers Michael Stürmer: "Siemon-Netto erlebte Weltgeschichte aus der Sicht eines 'Griewatschs', eines Lausejungen, und hat sie unbefangen aufgeschrieben. Ein 'document humain', eine kleine Seelenchronik, mehr oder weniger einer ganzen Generation."

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Uwe Siemon-Netto Griewatsch!

www.fontis-verlag.com

Für Gillian ***In Memoriam Clara Netto (1888–1976)

Uwe Siemon-Netto

Griewatsch!

Der Lümmel aus dem Leipziger Luftschutzkeller. Eine Vita

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

© 2015 by Fontis – Brunnen Basel

Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgöns Umschlagfotos: Alexander Schumann sowie Uwe Siemon-Netto Fotos im Innenteil: Familienbesitz Uwe Siemon-Netto / Heico Halwas, BILD / Alexander Schumann Fotografie E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg

ISBN (EPUB) 978-3-03848-722-7 ISBN (MOBI) 978-3-03848-723-4

Inhalt

Vorwort von Michael Stürmer

Einführung – Eine Kette von Konsonanten

Kapitel eins – Griewatsch geistert

Kapitel zwei – Krieg und Quarkkuchen

Kapitel drei – Grüne Feuerpfützen

Kapitel vier – Marzipan im Limbus

Kapitel fünf – Griewatsch und die Goldfasane

Kapitel sechs – Der Schrei

Kapitel sieben – Ein Griewatsch, zwei Welten

Kapitel acht – Griewatsch unter Verlierern

Kapitel neun – Weiße Fahnen, schwarze Freunde

Kapitel zehn – Der Abschied

Kapitel elf – Der Gäsemann

Kapitel zwölf – Schnurren von Ulm bis Hamborn

Kapitel dreizehn – Exot unter Esoterikern

Kapitel vierzehn – Weg, weg, weg!

Kapitel fünfzehn – Verbannter Griewatsch

Kapitel sechzehn – Verkürzte Ewigkeit

Epilog: Liebe zu Leipzig – Ist der Lack ab?

Die Hauptpersonen

Anmerkungen

Bildteil

Bild 2 Großmutter («Omi») Netto: Sie prägte mich

Bild 3 Meine Frau behauptet, ich sähe heute noch so aus!

Vorwortvon Michael Stürmer

Leben und Überleben in Zeiten des Krieges: Uwe Siemon-Netto erzählt von dem Leipziger «Griewatsch», der er einmal war; ein Lausbub voller Streiche und Neugier auf das Leben. Allerdings – er war kaum aus den Windeln, da begann der Krieg, der am Ende vom bildungsbürgerlichen Zuhause, von der kunstsinnigen Stadt Leipzig und von Deutschland nicht mehr viel Erhebendes übrig ließ. Wer konnte, machte sich in den Westen davon. Es war eine Völkerwanderung mit kleinem Gepäck aus dem verlorenen Osten in den Westen.

Uwe Siemon-Netto teilte das Schicksal einer ganzen Generation. Heute erinnert er sich. Das Ergebnis ist dieses Buch.

Die deutsche Einheit 1990 kam gerade noch rechtzeitig, um die Reste zu retten, die der Krieg und die Zerstörungswut der deutschen Kommunisten übrig gelassen hatten. Seitdem gilt es auch, dem historischen Gedächtnis in Deutschland und Europa die Städte und Landschaften zurückzugewinnen, die vier Jahrzehnte lang nur wie durch einen blinden Spiegel wahrzunehmen waren. Der östliche Teil und die Mitte der Stadt Berlin gehören dazu, Dresden, die Hansestädte an der Ostsee, die thüringischen Residenzen Weimar und Wörlitz. Keine Stadt aber enthielt nach 1945 so viel Hoffnung und Enttäuschung wie Leipzig.

Wenig war von der weltoffenen Handelsstadt geblieben. Als transzendentalen Trost gab es immer noch und trotz allem die Thomaner, die auch gelegentlich ausreisen durften in den Westen; es gab zweimal im Jahr die große Messe, zu der jeweils die Ruinen abgedeckt wurden und die staatlichen HO-Läden immerhin eine Sonderzuteilung Zitrusfrüchte erhielten. Die Großstadt in der alten Mitte Deutschlands und Europas hatte ein Drittel ihrer Bewohner verloren und hatte doch, außer ihren schmerzhaften Erinnerungen, immer noch viel zu bieten: musikalisch, poetisch und zugleich doch auch geschäftstüchtig und «vigilant», wie es im örtlichen Idiom heißt. Trotz aller Brüche und Zusammenbrüche ist die Stadt ihren Söhnen und Töchtern seelischer Ankerpunkt geblieben. Goethe, dem die Metropolen meist zuwider waren, hatte doch ausgangs des 18. Jahrhunderts von Leipzig gesprochen als dem Klein-Paris.

Uwe Siemon-Netto hat sich längst im Westen einen Namen gemacht, ein Weltbürger schlechthin und ein Leipziger Patriot, war Kriegsreporter in Vietnam und Korrespondent für Axel-Springer-Zeitungen an der amerikanischen Ostküste. Jetzt hat ihn der Chefredakteur der Ostausgaben der BILD-Zeitung gebeten, anlässlich des 25. Jahrestags der Friedlichen Revolution über Leipzig zu schreiben. Dabei sind scheinbar einfache, in Wahrheit aber kunstvoll andeutende und zugleich höchst lebendige Erinnerungen an Leipzig zu Papier gebracht worden.

Es klingt mitunter, als begegne der Autor in den Straßen zwischen Hauptbahnhof und Gewandhaus sich selbst und den Geistern der Vergangenheit. Er trauert mit den Leipzigern der bleiernen Jahre und freut sich über jeden Stein, der wieder an seinem Platz steht. Alles das beschreibt der 78-Jährige, als ob er dem Siebenjährigen von damals über die Schulter blicke. In ironischer Halbdistanz, der Schrecken der Diktatur erträglich gemacht im Zusammenhalt der Familie und ihrer Freunde.

Zentralfigur ist die Großmutter, die beherzt und glaubensstark alles zusammenhält, auch im Angesicht der Gestapo – wie überhaupt die Generation der heute Siebzigjährigen, deren Väter verloren gingen, gefallen oder gebrochen, und deren Mütter überfordert waren, den Großmüttern viel verdankt, und zumeist Gutes. Bewegend die Geschichte, wie ein Lehrer den Schülern Beethovens Fünfte Symphonie vorspielt und dann fragt, wer das charakteristische «Ba-ba-ba-baa» kennt. Alle melden sich. Darauf der Lehrer: Es würden demnächst Aufpasser kommen und dieselbe Frage stellen, und es würde dann besser sein, sich ahnungslos zu stellen: Es handelte sich um das Sendezeichen der BBC! Den Briten-Sender abzuhören, konnte das Leben kosten. Schon die Siebenjährigen mussten lernen, doppelt zu denken.

Hitler hat den Menschen die Jugend gestohlen, und mehr.

Wir sind noch einmal davongekommen, so hoffte man anno 45, und Siemon-Netto hat das nicht vergessen. Er erlebte, nolens volens, Weltgeschichte aus der Sicht eines «Griewatschs» und hat sie unbefangen aufgeschrieben, ein «document humain» – eine kleine Seelenchronik, mehr oder weniger einer ganzen Generation.

Michael Stürmer ist Professor emeritus für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Erlangen und Gastprofessor an der School for Advanced International Studies an der Universität Bologna. Er war politischer Berater von Bundeskanzler Helmut Kohl und ist Chefkorrespondent der WELT und der WELT am Sonntag.

Bild 4 Frech, schnoddrig, schlagfertig

EinführungEine Kette von Konsonanten

Seit über siebzig Jahren lässt sich mein Charakter hauptsächlich mit einer Kette von Konsonanten definieren. Ich bin «ä Griewatsch», wie ich in meiner frühen Kindheit in Leipzig erfuhr. Gillian, meine englische Frau, behauptet, dass sich daran auch im fortgeschrittenen Alter nichts geändert habe. Ein Griewatsch ist ein Leipziger Lausejunge, der Berliner Rotznase artverwandt. Griewatsche und Rotznasen sind gleichermaßen frech, schnoddrig und schlagfertig. Wir haben auch einen ähnlichen Mutterwitz, nur dass unserer nicht so zackig ist wie der Humor der Berliner, sondern schwiemelig fabulierend daherkommt.

Um sich als ein Griewatsch zu qualifizieren, muss man dieses Wort erst einmal ordentlich aussprechen können. Dazu sind ausschließlich echte Leipziger fähig, denn nur sie verstehen sich auf eine Kunst, die sich mit der klassischen Definition ihres nordwestsächsischen Dialektes beschreiben lässt: «Hände in dä Hos'ndasch'n schdeggn, een Been vor's andere schiem, Ginnlade ausfahr'n und einfach 'nauslaufen lassen.»

Ohne ausgefahrene Kinnlade könnte unsere sprichwörtliche Schwubbelgusche die aneinandergereihten Selbstlaute in Vorortsnamen wie Großzschocher, in Familiennamen wie Kretzschmar oder Exklamationen wie Dunnergnitsch (Donnerwetter) nur unzureichend von sich geben.

Das an Zischgeräuschen reiche Vokabular der Leipziger zeugt von unseren westslawischen Wurzeln; daran werden wir gerade jetzt erinnert, wenn wir unser tausendstes Stadtjubiläum feiern. Als Bischof Thietmar von Merseburg Leipzig 1015 zum ersten Mal schriftlich erwähnte, nannte er es «urbs Lipzi». Das war die latinisierte Form von «Lipsk», dem sorbischen Wort für Lindenstadt. Sorben siedelten damals an der Pleiße, der Luppe, der Parthe und der Rietzschke (sechs Konsonanten in einer Reihe); noch im 13. Jahrhundert wurde in Leipzig auf Sorbisch Gericht gehalten.

Ein Griewatsch ist demnach linguistisch eine slawische Kreatur, ethnisch jedoch nicht unbedingt. Denn warum sind unsere Frauen so rassig, warum hasste Hitler unsere Stadt so sehr, dass er sie nur ein einziges Mal besuchte? Weil die meisten von uns Promenadenmischungen sind, was wohl der Grund dafür ist, dass Leipziger sich rechtens rühmen, überdurchschnittlich «fischiland» zu sein. Dieser Begriff leitet sich von «vigilans» ab, der lateinischen Vokabel für scharfsinnig. Anders gesagt: Wir sind helle.

Ob dieses Attribut nun auch auf mich zutrifft, sei dem Urteil anderer überlassen. Aber ich bin insofern ein typischer Leipziger als gegen meinen Stammbaum Hunde aus allen erdenklichen Dörfern des Abendlandes ihre Hinterläufe gehoben haben, allen voran solche aus Lage im Fürstentum Lippe-Detmold, aus Annaberg im Erzgebirge, aus Holzminden im Hannöverschen, aus der südfranzösischen Hugenottenstadt Nîmes und insbesondere aus Venedig, wie mein Großonkel Hadrian Maria Netto ermittelt haben will, wenngleich er uns den letzten genealogischen Beweis dafür schuldig blieb.

Onkel Hadrian war im Ersten Weltkrieg ein königlich-sächsischer Rittmeister, der in der Weimarer Zeit nicht nur als Autor flotter Groschenromane, sondern auch als Filmschauspieler einen bescheidenen Ruhm erlangte, zum Beispiel in der Rolle eines Polizeihauptmanns neben Peter Lorre, Inge Landgut und Gustaf Gründgens in Fritz Langs Krimi «M». Daneben betätigte er sich als Ahnenforscher. Wenn seine Erkenntnisse stimmen, gehörten die Nettos wahrscheinlich zu den Anhängern des franziskanischen Ordensprovinzials Baldo Lupitano, eines heimlichen Gefolgsmanns Martin Luthers in Venedig.

Als Lupitano 1556 ertränkt wurde, retteten sich venezianische Lutheraner scharenweise ins Kurfürstentum Sachsen, wo sein kroatischer Neffe Matthias Flacius Illyricus, auch Matthias Flach genannt, bereits seit 1544 Hebräisch-Professor in Wittenberg war. Für diese These spricht, dass es unter den kursächsischen Nettos neben Bergakademikern viele Pfarrer gab. Die Theologie steckt uns, auch mir, im Blute, und dies mutmaßlich seit venezianischen Zeiten.

Dies hieße, dass dieser Zweig meiner Vorfahren aus Glaubensgründen in Leipzig landete. Andere Ahnen kamen aus ökonomischen Motiven. Sie besaßen beispielsweise in Lippe eine Steinhäger-Destille, die aber abbrannte, weil sich ihr wacholderseliger Fuhrmann mit angezündeter Pfeife im Heu zur Ruhe bettete. Was aus ihm in jener Nacht wurde, ist nicht überliefert. Aber der Schnapsbrenner und seine Familie mussten auf der Suche nach einer neuen Einkunftsquelle auswandern. Da bot sich entweder das weit entfernte Amerika an oder, wesentlich näher, die pulsierende Wirtschaftsmetropole Leipzig, die ihren Wohlstand der Tatsache verdankte, dass sich dort schon seit der Antike die beiden wichtigsten Handelsstraßen des Abendlandes kreuzten: die Via Regia (Königsstraße), die von Spanien über Paris nach Breslau führte, und die Via Imperii (Reichsstraße), die von Venedig nach Berlin verlief.

An der Schnittstelle dieser beiden Verkehrsachsen entstanden vor über 850 Jahren die ersten internationalen Handelsmessen der Welt – die Frühjahrsmessen und die Herbstmessen. Als ich während des Zweiten Weltkrieges ein ABC-Schütze in der 4. Volksschule in der Elisenstraße war, hörte ich schon in der ersten Klasse von den gewaltigen, schwer beladenen Pferdefuhrwerken, die damals vom Westen nach Osten und vom Süden nach dem Norden durch Deutschlands Mitte rumpelten. Am tiefsten grub sich die Mitteilung meines Klassenlehrers in mein Gedächtnis ein, dass es damals ja noch kein Mineralöl gab und die Achsen dieser Fahrzeuge deshalb mit roten Nacktschnecken geschmiert worden seien, welche es gerade im Frühjahr und Herbst in üppiger Zahl am Wegrain gegeben habe.

Wichtiger für das Entstehen von Leipzigs kosmopolitischem Flair war freilich, dass über diese Handelswege und ihre bis ins fernste Asien führenden Anschlussstraßen Exoten aus allen Himmelsrichtungen zu uns kamen, sich bei uns ansiedelten und mit den Einheimischen vermischten, darunter Chinesen und Perser, Griechen und Juden, die Leipzig zum internationalen Umschlagsplatz für Rauchwaren (Pelze) machten, auch Russen, Polen, Franzosen, Italiener, Niederländer, Skandinavier und Deutsche von überall.

Dieses Gemisch hat uns geprägt. Deswegen sind wir so, wie wir sind: pfiffig, umtriebig und gut informiert, wozu die Tatsache beiträgt, dass bei uns 1650 die erste Tageszeitung der Welt entstand; sie hieß «Einkommende Zeitungen».

Bedenken wir, dass Leipzig bis zur DDR-Epoche die Welt mit vielen prominenten Journalisten versorgte. Bedenken wir weiter, dass es eine der ältesten und berühmtesten Universitäten in Deutschland hat – sie wurde 1409 gegründet – und Leipzig vor den Nazi- und SED-Diktaturen die wichtigste Buchverlagsstadt im deutschen Sprachraum war. Bedenken wir obendrein, dass Leipzig eines der ältesten und berühmtesten Sinfonieorchester der Welt besitzt und Johann Sebastian Bach hier in seinen 27 Jahren als Kantor an der Thomaskirche die meisten seiner Werke schrieb, dann dürfte mein ständiges Heimweh nicht zu abwegig gewesen sein. Dies war das Heimweh nach einer Stadt, über die Goethe im «Faust I» den Frosch in einer Szene in Auerbachs Keller sagen lässt: «Mein Leipzig lob ich mir. Es ist ein klein Paris und bildet seine Leute.»

Heimweh plagte mich, seit ich Leipzig mit zehn Jahren verlassen musste. Es brachte mich, sehr zur Betretenheit meiner Frau, zum lauten Schluchzen, als ich an meinem 45. Geburtstag in Burlington in Vermont nach jahrzehntelanger Abstinenz zum ersten Mal wieder den satt-warmen Klang des Gewandhausorchesters vernahm. Aus Heimweh geriet ich in Rage, als ich zu DDR-Zeiten bei Recherchen für eine GEO-Reportage den Verfall meiner Heimatstadt zur Kenntnis nahm, eine Folge sozialistischer Misswirtschaft. So wütend wurde ich, dass ich die Contenance verlor und meinen erlesen unangenehmen Stasi-Aufpasser Walter Huste beim Abschiedsfrühstück anbrüllte: «Was habt ihr Kerle nur aus meinem Leipzig gemacht?» Er behauptete frech, dieser Zustand sei die Schuld meiner «Glasse». Welcher Klasse? «Nu, där Burschwassie» (gemeint ist die Bourgeoisie). Dann verwies er mich «auf alle Zeiten» aus meiner Heimat.

Ich habe andere, größere Metropolen lieben gelernt: Berlin, Hamburg, Paris, London, New York, Hongkong und Saigon. Aber im Herzen war und bin ich immer ein Leipziger geblieben. Wie diese Liebe wuchs, wie sie verschmäht wurde, wie sie Bombennächte und Exil überdauerte, und wie meine Flucht, wie sie mich immer wieder nach langen Intervallen heimlockte und was ich dabei erlebte, davon handelt dieses Buch.

Dass ich es jetzt in meinem 78. Lebensjahr schreibe, verdanke ich Thomas Liebenberg, dem Leiter der Regionalausgaben Ost der BILD-Zeitung. Wir saßen beim Mittagessen im Restaurant «Maître» nur wenige Schritte von meiner Geburtsstätte am früheren Sophienplatz entfernt, der jetzt Shakespeareplatz heißt. Ich erzählte ihm aus meiner Kindheit, und zwar nicht nur vom Bombenkrieg und von der Hungersnot, sondern vor allem mit einer gewissen Wehmut von der Glorie des Leipziger Bürgertums, das im Gegensatz zu Hustes geschichtswidrigem Geschwafel dieses Klein-Paris geprägt, aber doch nicht zerstört hatte.

Da sagte er: «Diese bürgerlichen Werte sollten wiederbelebt werden. Schreiben Sie doch in BILD eine Serie über Ihre Rückkehr nach Leipzig und Ihre Spurensuche nach Restbeständen dieser bourgeoisen Qualitäten.»

Und so entstand die BILD-Serie «Mein Leipzig», die ich nun zu diesen Memoiren ausweitete. Ich bin Thomas Liebenberg für diesen Anstoß zutiefst dankbar, so wie ich auch seiner kompetenten und kultivierten Reporterin Doreen Beilke, dem Fotografen Alex Schumann und Foto-Ressortleiter Heico Halwas danke, mit denen ich bei der Produktion dieser Serie viele heitere Erlebnisse hatte. Ich danke meinen Freunden Karin Jansky-Barron und Generalkonsul a.D. Wolfgang Drautz, die nun ein zweites Mal bei einem meiner Buch-Projekte Korrektur lasen und mir wertvolle Anregungen gaben.

Vor allem danke ich aber meiner Frau Gillian, die wieder einmal, während ich schrieb, Tag für Tag geduldig die Momente abwarten musste, in denen ich ansprechbar war.

Bild 5 Mit Gillian, meiner Liebe

Bild 6 Meine Taufe in unserem Salon an Silvester 1936

Bild 7 Meine Taufurkunde

Kapitel einsGriewatsch geistert

Nun bin ich also wieder d'rheeme, und zwar an der Stelle, an der vor über 77 Jahren mein Leben begann.

Gleich am ersten Morgen bestätigt mir meine Nase, dass ich in Leipzig bin. Durchs offene Fenster meines Zimmers im Hotel Michaelis an der Paul-Gruner-Straße erreicht mich ein betörender Duftcocktail, wie ihn nur das Leipziger Frühjahr zu mixen vermag. Seine Zutaten sind der Bärlauch, der auf den humusreichen Böden der nahen Auenwälder gedeiht und dem Mut fördernde Kräfte nachgesagt werden, und die Blüten der Lindenbäume, denen meine Heimatstadt ihren sorbischen Namen Lipsk verdankt.

Von Nostalgie getrieben, verlasse ich die christliche Geborgenheit des anmutigen Hotels, das der Landeskirchlichen Gemeinschaft gehört, um mich vorübergehend als ein Gespenst zu betätigen. Mit präzise 150 Schritten erreiche ich den Sophienplatz 6, wo ich am 25. Oktober 1936 um 14.41 Uhr geboren wurde, was ein dergestalt strapaziöser Vorgang gewesen sein muss, dass meine Mutter unmittelbar nach der Niederkunft einen Hasenbraten verzehrte, wie sie mir oft erzählte.

Bald darauf, am Silvesterabend, wurde ich zu Hause getauft. Warum dies nicht in einer Kirche geschah, hatte wohl einen konfessionellen Grund. Die Familie meines Vaters war evangelisch-reformiert, die meiner Mutter evangelisch-lutherisch. Beide Clans wollten anscheinend nicht, dass mir dieses Sakrament im Gotteshaus der jeweils anderen Seite gespendet wurde. Den Lutheranern war der reformierte Ritus zu kalt, den Reformierten der lutherische zu «katholisch».

So vollzog sich denn meine Aufnahme in die Christenheit unter Weihnachtsbaum und Ahnengalerie im elterlichen Musikzimmer. Dieses Ereignis wurde in einem Familienfoto von großbürgerlicher Exklusivität festgehalten. Vor der ausschließlich mit Silberlametta geschmückten Tanne, auf der echte Kerzen brannten, hatte sich eine Gesellschaft in Abendkleidern, Offiziersuniformen und Fräcken eingefunden.

Unterhalb der weißen Fliege meines kriegsblinden Vaters ließ sich das rot-weiß-schwarze Couleurband seiner schlagenden Verbindung ausmachen, der Thuringia Leipzig, die dem Schwarzen Kreis des Kösener Convents-Verbandes angehört. Der Schwarze Kreis pflegt bis heute bürgerliche Werte, namentlich die Sparsamkeit. Dies entsprach ganz dem Temperament meines Vaters, der unter Freunden und Verwandten als außerordentlich «gniebsch» galt, also geizig. So knauserig war er, dass er mir einmal in den Sommerferien bei der Mittagsrast nach einem Zwanzig-Kilometer-Marsch am Bodensee nur ein Salzstangerl gönnte und den Groschen für das von mir erbetene zweite eisern in seinem Portemonnaie behielt.

«Deinen Hunger stillst du gefälligst beim Abendessen», sagte Vati. Bis dahin hatten wir freilich noch weitere zwanzig Kilometer Fußweg vor uns.

Die Taufszene im Musikzimmer hat eigentümliche Aspekte, die heute meinem Faible für Ironie sehr entgegenkommen. Dazu gehört das Beffchen des Pfarrers Bachmann. Er war ein Reformierter. Folglich hätten die beiden weißen Leinenstreifen oben an seinem Talar zusammengenäht sein müssen. Bei ihm waren sie aber abgewinkelt, also lutherisch. War dies ein Kompromiss, um die streng lutherischen Nettos zu beschwichtigen, namentlich meine Großmutter Clara, die zur Hauptperson meiner Kindheit werden sollte? Unsere Familienbibel auf dem Hausaltar war übrigens auch lutherisch, und so gab's wenigstens an jenem kompromissreichen Tag keine vermeldenswerte Spannung in der Familie.

Aber meine Gedanken wandern vorzeitig in die Vergangenheit ab. Dabei bin ich doch ausgezogen, durch die real existierende Gegenwart am Sophienplatz zu spuken, der jetzt Shakespeareplatz heißt. Ich sage spuken, weil ich mich wie ein Poltergeist fühle, der durch ein verwunschenes, leeres Haus irrlichtert, in dem aus seinen Lebzeiten auf Erden niemand mehr existiert und nur noch wenig so ist, wie es einmal war. Es gibt da zwar ein Gebäude mit der Nummer 6. Aber das ist jetzt ein modernes rosarotes Reihenhaus. Mein Geburtshaus, ein schlossartiger Jugendstilbau, brannte durch einen Volltreffer beim ersten großen Luftangriff auf Leipzig aus; davon wird später noch die Rede sein. Die Ruine wurde abgerissen. Zu DDR-Zeiten lagerte dort jahrzehntelang nur Koks.

So geistere ich nun über den Sophienplatz. Er ist leer. Früher war er immer voller Kinder jeglichen Standes, mit denen ich Himmelhuppen spielte, auch Räuber und Gendarm, Beduinen- oder Mohikanerkrieger, wahlweise Apache oder Sioux. Oder sie wuselten auf Rollern, Rollschuhen, Dreirädern und mit Bollerwagen herum. Großstadtstraßen ohne spielende Kinder sind ein tristes Merkmal unserer Zeit.

Hier spüre ich, wie traurig es ist, dass sich die nächste Generation daheim solitär mit Computerspielen die Zeit vertreibt, statt sich im Freien auszutoben. Und wo ist eigentlich der Eckladen, in dem es Brausepulver gab, das ich mit anderen gegen Salmiakpastillen kungelte? Wir ordneten die Salmis sternförmig auf unseren Handrücken an und formierten uns zum Gänsemarsch, ein Bein auf der Bordsteinkante, das andere unten.

Dann latschten wir lutschend los und bläkten: «Hautse, hautse, immer auf die Schnauze.» Verhauen wurde aber niemand. Bevor 1943 die Phosphorbomben fielen, kannte ich, von harmloser Balgerei abgesehen, keine Gewalt. Ein Leipziger Griewatsch hatte damals nichts Böses im Sinn, aber auch «nichts als Flusen im Kopf», wie mein norddeutscher Vater kopfschüttelnd bemerkte. Kaum hatten wir unsere Hausaufgaben erledigt, widmeten wir uns vorrangig der Aufgabe, Faxen zu machen. Faxen scheint es hier zurzeit nicht zu geben. Der geballte Ernst der spindeldürren, vorwiegend aus Westdeutschland eingefallenen Velo-Vegetarier lastet wie ein Elefantenhintern auf der einst lustigen Leipziger Südvorstadt, zu welcher der heutige Shakespeareplatz jetzt gezählt wird. Früher gehörte er zum Zentrum, wie die damalige Postleitzahl C-1 kundtat.

Auf meiner Suche nach Relikten aus der Zeit meiner Kindheit gelange ich an einen rostigen Eisenzaun, der das herrschaftliche Gelände meiner Geburtsstätte von den Gründerzeithäusern trennte, in denen unsere kleinbürgerlichen Nachbarn lebten: Handwerksmeister, Krämer, mittlere Beamte und Angestellte. Der Gedanke daran, was vor über siebzig Jahren hinter diesem Zaun geschah, bringt mich zum Grinsen, denn dies war die erste Pikanterie meines Lebens. Ich hatte eine Spielgefährtin; ich glaube, sie hieß Hertha und war ein Schlosserkind. An dieser Stelle nahmen wir zum ersten Mal unsere anatomischen Unterschiede in Augenschein und waren davon vorteilhaft beeindruckt.

«Muddi, bei d'r Härdha baumeld da und'n awwr nüscht!», sächselte ich vergnügt beim Abendessen, woraufhin meine Mutter, die Konzertsängerin Ruth Siemon-Netto, streng wurde: «Aber die Hertha ist doch gar keine Akademikertochter!» Wir waren damals fünf Jahre alt.

Mutti war eine ausnehmend schöne, gebildete, aber auch etwas exaltierte Dame mit einem Akademikerfimmel, der womöglich in der größten Enttäuschung ihrer Jugend wurzelte. Von der Sexta bis zur Oberprima hatte sie davon geträumt, nach ihrer wesentlich älteren Cousine, der Patentanwältin Dr. Charlotte Francke, als zweite Frau in unserer Familie zu studieren; Charlotte Francke war meine Patentante. Vier Jahre vor meiner Geburt hatte meine Mutter an der Gaudig-Schule als Zweitbeste ihrer Klasse das humanistische Abitur bestanden, mit Einsen in Latein, Griechisch, Hebräisch und etlichen anderen Fächern. Sie wurde jedoch nicht zum Studium der Theologie und Philosophie zugelassen. Ihr wurde beschieden, dass es ihr an «nationalsozialistischen Führungseigenschaften» mangele.

So schenkte sie einem 17 Jahre älteren Akademiker ihre Aufmerksamkeit und anfangs gewiss auch ihr Herz. Sie hatte ihn bei einem Verbindungsfest im Korpshaus der Thuringia Leipzig kennen gelernt. Mutti war dort Couleurdame, wie seinerzeit die höheren Töchter hießen, die zu den Gesellschaften der Korporierten eingeladen wurden. Bei einem solchen Anlass begegnete sie dem Staatsanwalt Dr. Karl-Heinz Siemon, einem «alten Herrn», will heißen: einem mittlerweile inaktiven Senior der Thuringia.

Er sah blendend aus, war immer braungebrannt, trug Maßanzüge aus feinstem Tuch, war auf westfälisch-trockene Weise geistreich und zudem ein hochdekorierter Veteran des Ersten Weltkrieges, in dem er als junger Offiziersanwärter bei seinem ersten Kampfeinsatz in Frankreich das Augenlicht verloren hatte. Schrapnelle waren in sein Haupt und seinen Körper eingedrungen. Bis zu seinem frühen Lebensende sonderte seine Haut in unregelmäßigen Abständen Granatsplitter ab. Obendrein hatte das Kopftrauma seine Musikalität dergestalt verzerrt, dass er beim Klavierspiel zu keinen Molltönen mehr fähig war und deshalb sämtliche Akkorde in Dur transponierte, wodurch er meine sangesfreudige Mutter bei unseren Hauskonzerten auf ihrem Blüthner-Flügel nie adäquat zu begleiten vermochte.

Gegen den Widerstand ihrer weisen und willensstarken Mutter, jedoch mit dem Placet meines schwer herzkranken und bereits leicht debilen Großvaters, heiratete die noch minderjährige Ruth Netto den Dr. Karl-Heinz Siemon und war nunmehr, wiewohl nicht selbst Akademikerin, so doch eine «Frau Doktor». Das Paar bezog in der dritten Etage des Sophienplatzes 6 die weitläufige Wohnung von Muttis Eltern, die ihrerseits in ein Parterre-Appartement in der Kaiserin-Augusta-Straße umsiedelten, weil Curt Netto dort keine Treppen steigen musste.

Während ich einsam über den leeren Sophienplatz schlendere, schmunzele ich über Muttis Dünkel. Um fair zu sein: Er war harmlos und hielt sich in Grenzen, hätte aber eher in die vornehmsten Stadtteile Leipzigs gepasst: zum Beispiel nach Gohlis, wo die Nettos seit drei Generationen gewohnt hatten, oder ins Musikviertel hinter dem Gewandhaus, wo die Großeltern Siemon lebten. Hier aber wirkte er deplatziert. Denn was diesen amüsanten Flecken am Südrand der Innenstadt so reizvoll machte und was eigentlich auch der Leipziger Mentalität entsprach, war gerade das fröhliche Gemenge seiner Anrainer.

Da residierten im feinen Doppelhaus 5 und 6 Reichs-, Land- und Amtsgerichtsräte, Obristen, Unternehmer, Fabrikdirektoren und Rentiers, in den uns flankierenden Mietshäusern aus der Gründerzeit die Handwerker, Straßenbahnfahrer, Kellner und Handlungsreisenden. In manchen unserer Mansarden wohnten die brotlosen Mimen des privaten Schauspielhauses, das gleich um die Ecke an der Sophienstraße stand, umgeben von Unterkünften für Arbeiterfamilien. Erst lange nach dem Zweiten Weltkrieg erfuhr ich bei Recherchen für eine GEO-Reportage, dass die Sophienstraße wenige Schritte westlich meiner Geburtsstätte sogar in proletarische Terra Sancta mündete.

Sie endete nämlich an der Südstraße, die im Dritten Reich Adolf-Hitler-Straße hieß, unter den Kommunisten in Karl-Liebknecht-Straße umgetauft und von den schnoddrigen Leipzigern «Adolf-Südknecht-Straße» genannt wurde. Jenseits dieses Boulevards beginnt die Braustraße, und dort wurde in der Nummer 15 am 13. August 1871 Karl Liebknecht geboren, der erste Führer der KPD. Sein Vater Wilhelm war Mitbegründer der SPD, und bei ihm ging die gesamte rote Elite des 19. Jahrhunderts ein und aus; Karl Marx war auch einmal da.

In meiner irrlichternden Fantasie werden die Kinder einfacher Leute von der Brau- und der Sophienstraße zumindest schattenhaft wieder lebendig. Sie waren alle Griewatsche: garstig sächselnde Schmutzfinken mit Rollern und Rollschuhen, Handkarren und Dreirädern. Sie rollten sich im Straßenschmutz, bewarfen einander mit Pferdeäpfeln, einer Hinterlassenschaft der Lieferantenfahrzeuge, die über unser Kopfsteinpflaster ratterten. Ich beneidete meine Spielgefährten. Aus ihren Wohnungen waberte verlockend der Duft von Bratkartoffeln oder Krautwickeln – ein Geruch, der bei mir zu Hause niemals geduldet wurde, weil es dort eher etepetete zuging.

Wie gern hätte ich so ausgesehen und mich ungeniert getollt wie sie! Sie waren wie richtige Straßenkinder gekleidet; ich wurde mal im Rüschenhemd, mal im Matrosenanzug, aber immer wie ein Lackaffe nach unten zum Spielen geschickt. Die unabgehobene Schwester meines Vaters, meine Tante Elisabeth Reerink vom Musikviertel, hatte deshalb immer Mitleid mit mir. Sie zog ihre Kinder, meinen Vetter Hans-Heinz Reerink und meine Cousine Mausi, zünftig an, bevor sie zu ihrem Baumhaus im Hinterhof hinaufkraxeln durften. Ich hingegen sah meistens aus, als müsste ich bei einem Empfang am Fürstenhof Bücklinge machen und Damenhände küssen, zwei galante Gesten allerdings, die im Elternhaus gelernt zu haben ich nach wie vor dankbar bin.

In Gedanken verloren stehe ich mit dem Rücken zum Sophienplatz 6 und gedenke in einem Tagtraum des Kleidermalheurs meiner Kindheit, das allerdings auch eine freudvolle Seite hatte. Ich träume, dass es Donnerstagnachmittag ist. Den Donnerstagnachmittag hatte meine Mutter grundsätzlich mir gewidmet, während ich sie sonst, außer beim Mittagstisch, eher sporadisch sah, dafür aber ihre sich in Terzen steigernden Stimmübungen stundenlang aus dem Musikzimmer vernahm: «Wawa-wawa \u wawawa \u wawa-wawaaaaaa» oder «nau-nao-neu-noe-naeeee».

Am Donnerstagnachmittag also fuhr unten eine Pferdedroschke vor und brachte uns nach einem Halt an einer Drogerie, wo ich mich mit Salmiakpastillen eindecken durfte, ins Zentrum zu Geschäften, die in den ersten Kriegsjahren für ihre Stammkunden Kleidungsstücke und Schuhwerk ohne Bezugsscheine zurückgelegt hatten, zum Beispiel Lackschuhe, in denen ich hernach auf dem Sophienplatz Indianerhäuptling spielte.

Dass mich die anderen Griewatsche dennoch nicht wie einen Gecken behandelten – will sagen: verprügelten –, mochte mehrere Gründe gehabt haben. Erstens hatte ich mir dank meiner Musikalität das ordinärste Straßensächsisch angeeignet. Zweitens war ich noch frecher als sie. Drittens besaß ich – und zwar nur ich – ein bordeauxrotes Tretauto, mit dem ich sie alle spielen ließ. Viertens aber wurde ich in meinem Rüschenhemd und Lackschuhen ebenso schnell dreckig wie sie, womit ich mir ihren Respekt erwarb, meiner Mutter aber Zweifel einflößte, ob je etwas aus mir werden würde.

Sonntags waren auch einige von ihnen herausgeputzt, dann nämlich, wenn wir zum Kindergottesdienst in die Peterskirche gingen, deren schlanker Turm heute durch die Lücke zwischen den noch intakten Gründerzeithäusern unserer früheren Nachbarn und den neuen rosaroten Doppelhäusern hervorlugt, die jetzt an der Stelle des Prachtbaus stehen, in dem ich vor über einem Dreivierteljahrhundert geboren wurde. Dort lernte ich alle die lutherischen Choräle, die ich bis heute liebe. Ich weiß nicht, ob meine früheren Spielkameraden sie noch singen. Mir aber spendeten sie später im Leben viel Trost, vor allem im Vietnamkrieg, wenn ich als Kriegsreporter in schwere Kämpfe verwickelt war. Dann summte ich diese Lieder in meinem Kopf, zum Beispiel: «Ach, bleib mit deiner Gnade bei uns, Herr Jesu Christ.»

Der Sophien- alias Shakespeareplatz ist mir zu leer. Ich schlendere hinüber zur Shakespearestraße. Eine große Lagerfläche der Spezialbaufirma Wolff Müller gähnt, wo bis zum 4. Dezember 1943 – dem Tag, an dem auch wir ausgebombt wurden – das legendäre Leipziger Schauspielhaus stand; sein berühmtester Mime war Bernhard Wildenhain, der ihm vierzig Jahre lang die Treue hielt. Hier war ich als Sechsjähriger zum ersten Mal im Theater. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was ich damals sah. Aber beim Anblick dieses öden Grundstücks kommt mir ein pikantes Erlebnis aus den Fünfzigerjahren in den Sinn.

Ich wohnte damals in Hagen in Westfalen und saß mit meiner Mutter eines Abends im Zirkus. Als sie den Conférencier sah, zuckte sie zusammen und sagte: «Du, den kenne ich. Der wohnte eine Zeit lang in unserer Personalmansarde zur Untermiete und war ganz verschossen in mich.» Am Ende der Vorstellung suchten wir ihn in seinem Wohnwagen auf. Er herzte Mutti und sagte:

«Ach, meine Ruth, du wirst deiner Mutter immer ähnlicher!»

«Was willst du damit sagen?», erwiderte sie pikiert.

«Verstehe mich bitte nicht falsch. Ich meine dies als ein Kompliment. Du glaubtest immer, ich wäre in dich verliebt. Aber da irrtest du dich. Ich war doch der Liebhaber deiner Mutter. Sie brachte mir jeden Mittag einen kräftigen Eintopf aufs Zimmer und fiel mir dann in die Arme.»

Als wir den Zirkus verließen, sagte Mutti verschnupft: «Also ein Herr ist er wirklich nicht. Der feine Mann genießt und schweigt.»

Damit hatte sie zweifelsohne recht. Andererseits wärmt mir diese Anekdote bis heute das Herz. Sie passt so fabelhaft zu meiner Omi Netto, über die noch viel zu erzählen ist, gerade weil sie wie wohl kein anderer in meiner Familie Luthers Definition eines Christenmenschen entsprach: simul iustus et peccator (gerechtfertigt und Sünder zugleich).

Ich habe verfügt, dass diese Worte dereinst auch auf meinem Grabstein stehen sollen.

Bild 8 Die Hochzeit meiner Eltern

Bild 9 Erster Wagen: vom blinden Vater gesteuert

Bild 10 Meine Mutter: schick, schön, leicht exaltiert

Kapitel zweiKrieg und Quarkkuchen

Es gibt Menschen, die Tag für Tag ihre Zeit damit verschwenden, nach ihrer Zahnbürste, ihrem Kamm oder ihrer Lesebrille zu fahnden, zugleich aber Episoden aus ihrem zweiten Lebensjahr immer noch lebhaft vor Augen haben. Andere wiederum legen immer alles am selben Platz ab und finden es dort auch sofort wieder, können sich jedoch bestenfalls bis zu ihrer Konfirmation zurückbesinnen; das sind vermutlich die ordentlicheren Menschen. Ich aber gehöre zur ersteren Kategorie.

Ich weiß zum Beispiel noch, wie es war, als wir vor dem Krieg im Sommer ins mondäne Ostseebad Swinemünde fuhren, das heute Swinouj cie heißt und zu Polen gehört. Meine Eltern reisten erster Klasse und aßen im Speisewagen; das Kindermädchen und ich saßen vergnügt unter dem gemeinen Volk auf den Holzbänken der dritten Klasse und ernährten uns mit Fett-, Wurst- und Käsebemmchen, einem Apfel und einem Ei. Auch entsinne ich mich noch vage, in meinem unvermeidlichen Matrosenanzug auf einem Zerstörer der Kriegsmarine von richtigen Seeleuten mit Streuselkuchen bewirtet worden zu sein. Präziser noch ist mir der Ritt auf den Schultern eines hochgewachsenen Fremden im Gedächtnis, der ein merkwürdiges Deutsch sprach, mir aber sehr sympathisch war.

Später erfuhr ich, dass dies der friedensbewegte Baptistenpastor William A. Ashby von der Lordship-Lane Church im Londoner Stadtteil East Dulwich war. Er hatte mit einer Delegation kriegsblinder Engländer deren Leidensgenossen in Deutschland besucht, danach in der South London Press einen langen Zweispalter mit seinen Impressionen veröffentlicht und diesen mit einem Foto illustriert, das mich auf seinem rechten Arm zeigt; mein überdimensionierter Strohhut zeugte von Muttis Neigung, mich anders als gewöhnliche Griewatsche zu kleiden.

Der Artikel trug die Überschrift «Germans' Greatest Wish is Britain's Friendship, Says Dulwich Parson» – der größte Wunsch der Deutschen sei die Freundschaft Britanniens. Ich kann mir vorstellen, dass er dies von meinem Vater hatte, denn der war unerschütterlich anglophil, selbst dann noch, als wenige Jahre später britische Bomben auf uns regneten.

So groß war sein Faible für Großbritannien, dass er mir später in fast subversiver Weise einschärfte, wer unser Feind sei und wer nicht. Einmal besuchte ich mit meiner Schulklasse am Tag der Wehrmacht eine Volkssturmkaserne, wo wir Kinder unter anderem mit Luftgewehren auf Pappkameraden zu schießen hatten. «Meinetwegen kannst du auf Roosevelt und Stalin zielen», wies er mich an, «aber den Dicken mit der Zigarre, den verschonst du gefälligst.» Er meinte Winston Churchill.

Pastor Ashby schrieb, dass auch Hitler diesen Wunsch nach Englands Freundschaft hege. Ich hoffe, dass diese Information nicht von meinem Vater stammte, der zwar bei der Gleichschaltung des Frontsoldatenbundes «Stahlhelm» ungebeten in die NSdAP übernommen worden war, aber nie ein Parteiabzeichen trug, nie «Heil Hitler» sagte und zumindest in meiner Gegenwart nie ein lobendes Wort über den Führer verlor. In meinem Beisein wurde dieser im Familienkreis überhaupt nicht erwähnt. Vati war ein Monarchist, der in der Weimarer Zeit die nationalliberale Deutsche Volkspartei wählte und nach dem Krieg die FDP. Auch Mutti war eine Monarchistin, hatte aber meines Wissens keine parteipolitische Präferenz, zumal sie bei der letzten freien Wahl 1933 noch zu jung war, ihre Stimme abzugeben.

So königstreu war meine Familie, dass ich unter Omi Nettos Anleitung die Geschichte und Stammbäume der sächsischen und preußischen Herrscherhäuser zu studieren hatte, sobald ich lesen konnte, was wohl Anfang 1943 der Fall war. In einer raren Geste der Generosität ersparte Vati mir die zusätzliche Last, mich auch mit dem Fürstengeschlecht von Lippe-Detmold zu beschäftigen, obwohl in dessen kleinem Reich sein Großvater mütterlicherseits eine Persönlichkeit von Rang gewesen sein muss.

Ashbys Appell an seine Leser, für den Frieden auf Erden zu beten, fruchtete nichts, wie ich am 3. September 1939 erfuhr. Ich war an diesem milden Sonntag noch keine drei Jahre alt, aber jetzt, da ich einem Gespenst gleich über den verwaisten Sophienplatz irrlichtere, erinnere ich mich präzise an Einzelheiten von jenem historischen Moment im Spätsommer.

Mutti hatte auf unserer Loggia den Kaffeetisch gedeckt und die drei Leipziger Grundnahrungsmittel aufgetragen: Mohnkuchen, Quarkkuchen und Streuselkuchen. Da stand auch eine Vase mit einem prächtigen Blumenstrauß. Mein Vater trat aus seinem Herrenzimmer heraus, wo er gerade auf dem Blaupunkt-Radio die Nachrichten der BBC gehört hatte; die BBC war seine wichtigste Informationsquelle, obwohl es im Dritten Reich streng verboten war, «Feindsender» einzustellen. Mit steinerner Miene sagte er: «London meldet, dass England und Frankreich uns den Krieg erklärt hätten.» Wie meine Mutter darauf reagierte, hat sie kurz vor ihrem Tod 1991 selbstironisch einem Notizbuch anvertraut: «Ach, Karl-Heinz, solange wir noch so schöne Blumen haben \u» Vati schüttelte nur seinen augenlosen und von Granatsplitternarben zerpflügten Kopf und schwieg grimmig.

Ich durfte meinen Kakao zu Ende trinken, ein Stück Quarkkuchen essen und wurde dann schnell nach unten geschickt, um in meinem bordeauxroten Tretauto auf dem Sophienplatz meine Runden zu drehen, und zwar in demselben Sonntagsstaat, in dem ich schon morgens mit Mutti in der Peterskirche im Kindergottesdienst war und hernach im Esszimmer zu Mittag gegessen hatte.

Das sonntägliche Mittagessen war bei uns immer eine festliche Angelegenheit, an der auch Martha teilnehmen durfte, bevor sie ihren freien Nachmittag antrat. Martha war mein Kindermädchen. Sie hatte an jenem Tag aber keine Lust auszugehen, sondern entspannte sich in ihrem Zimmer. Mutti weckte sie aus ihrer Siesta und bat sie angesichts der neuen Lage, in den folgenden Stunden auf mich aufzupassen.

«Wir sind im Krieg», sagte Mutti, «achten Sie bitte darauf, dass Uwe sich nicht zu schmutzig macht. Er kann heute Abend nicht baden, weil ich die Wanne mit Wasser füllen muss, denn vielleicht werden die Engländer uns heute noch bombardieren.» Dies geschah zwar erst vier Jahre später, aber so ungewöhnlich war ihre Naivität am ersten Kriegstag nicht. Dreiundzwanzig Jahre später hörte ich, dass zur selben Stunde 1000 Kilometer westlich von uns die kleine braunhaarige Gillian Ackers in einem feuerroten Tretauto den Bürgersteig der Brownell Avenue in Southampton auf- und abfuhr, während ihre Mutter Ethel Löschwasser in ihre Wanne laufen ließ.

Gillian ist seit nunmehr 52 Jahren meine Frau. Unsere Kindheitsparallelen enden nicht hier. Wie meine Mutter war auch Ethel Ackers eine Berufsmusikerin mit einer Vorliebe für Bach, nur dass Ethel halt keine Sängerin war, sondern eine Pianistin. Wie wir wurde auch die Familie Ackers ausgebombt. Und so wie mein Vater Winston Churchill verehrte, so hatte Ethel Ackers ein Faible für einen großen Deutschen, nämlich Generalfeldmarschall Erwin Rommel. Nicht, dass sie im Herzen mit dem Dritten Reich sympathisiert hätte, aber sie hielt Rommel für glamouröser als irgendeinen General der eigenen Seite.

Vom Krieg bekam ich vorerst wenig zu spüren, außer dass die Väter, Onkels und älteren Brüder meiner Spielgefährten eingezogen wurden und Mutti mich auf ein paar Monate in das Kinderheim Urihof in Bad Kohlgrub in Oberbayern auslagerte, was weniger meiner Sicherheit als ihrer sängerischen Kompetenz zugute kam. Sie übte in meiner Abwesenheit so fleißig, dass sie bald nach meiner Rückkehr ihre ersten größeren Konzerte geben konnte.

Im Nachhinein nehme ich ihr das keineswegs übel. Ganz im Gegenteil: Meine Musikliebe und -kenntnisse sind ihr größtes Vermächtnis an mich, und dafür danke ich ihr über ihren Tod hinaus heute noch täglich. Als dann wirklich britische und amerikanische Bomber nach meinem Leben trachteten, war ich längst wieder zurück am Sophienplatz.

Aber so weit sind wir noch nicht. Bevor die Weltkatastrophe mit voller Wucht über mich hereinbrach, rückte zunächst das Martialische in mein lachsfarbenes Kinderzimmer neben der Küche ein, aber zuerst nicht in der Form des Zweiten Weltkriegs, sondern des Ersten. Eines Tages gesellte sich der Uniformkoffer meines Großvaters Curt Netto meinem weißen Schleiflackmobiliar hinzu und erhielt einen festen Platz neben meinem Stoffbären, der Räder hatte und so groß war, dass ich darauf reiten konnte.

Curt Netto war einige Monate vor meiner Geburt seinem Herzleiden erlegen und gleichwohl in meiner frühen Kindheit ein wichtiger Faktor in unserem Familienleben geblieben. Es verging kein Tag, an dem Mutti nicht verklärten Blickes seines Mannesmutes gedachte, wobei sie gern auf den Inhalt dieses schimmernden Lederbehälters verwies: auf Großvaters Pickelhaube, die ich jeden Tag polierte, auf die prächtigen Epauletten seiner Parade- und Alltagsuniformen, auf sein mit einer Silberquaste versehenes Portepee, mit dem ich oft unseren langen Korridor auf- und abmarschierte, und auf seine Orden, die ich heute noch besitze. Sie waren der Gegenstand eines andauernden und von mir immer wieder geschürten Zwistes zwischen Mutti und meiner Omi Netto, einem sächsischen Gegenstück zur glorreich despektierlichen Lady Violet aus der britischen Fernsehserie «Downton Abbey».

Bei dem Streit ging es um Curt Nettos ersten und einzigen Gefechtseinsatz. Curt Netto, sächsischer Reserveoffizier und Teilhaber der Posamentenmanufaktur Netto Klepzig in der Pfaffendorfer Straße, wurde am 3. August 1914 im Alter von bereits 46 Jahren «zum Heere einberufen», wie ich bei meinen Recherchen im Leipziger Stadtarchiv lese. Der erste Teil dessen, was sich in der Folgezeit zutrug, ist historisch unumstritten: Hauptmann Netto erstürmte auf seinem Gaul an der Spitze seiner Kompanie mit blitzendem Degen eine Anhöhe in den Vogesen. Oben war ein französisches MG-Nest. Es eröffnete das Feuer: rat-tat-tat, und schon fiel Großvater Netto aus dem Sattel und blieb reglos auf dem Waldboden liegen.

«Där Hauptmann Neddo iss dood! Unser gud'r Hauptman iss dood», schluchzten dem Bericht seines Burschen zufolge Curt Nettos Soldaten, allesamt Sachsen. Er war aber nicht tot, sondern hatte nur eine Herzattacke erlitten. Bis zu diesem Punkt stimmten Omis und Muttis Versionen dieses Vorgangs überein. Ihre Differenzen rankten sich nun lediglich um den Zustand seiner Hosen nach dem Sturz vom Pferd.

«Sie waren voll», sagte Omi, nie um eine Schnoddrigkeit verlegen.

«Du bist so gemein! Er war ein tapferer Offizier. Sieh dir doch seine Ordensspange an», sagte Mutti; Omi lächelte nur süffisant.

«Orden besagen überhaupt nichts: Ich weiß, dass seine Hosen braun waren, und zwar innen wie außen braun. Der Bursche hat mir's erzählt», erwiderte Omi.

Da ich nicht dabei war, enthalte ich mich im Uniformhosenkonflikt der Stimme. Aber wie Griewatsche nun einmal sind, hatte ich daran ein so diebisches Vergnügen, dass ich auch noch als Erwachsener von Zeit zu Zeit einen Streit zwischen den beiden Frauen über die Vogesenepisode anstiftete.

Für Großvater Netto endete dieser Zwischenfall vorteilhaft. Er wurde hoch dekoriert, zum Major befördert und heim nach Leipzig geschickt, wo er bei der Musterungsbehörde einen einflussreichen Posten erhielt, der dem Vernehmen nach seinem Ansehen in der Leipziger Gesellschaft ungemein zugute kam.

Jahre nach seinem Tod wurden auch mir die Segnungen seines Wirkens an diesem Amt zuteil. Oft fuhren wir bis in die Kriegsjahre hinein freitagabends mit der Straßenbahn der Linie 17 zur Endstation Lindenau, wo im Sommer eine Kalesche und im Winter ein Schlitten unserer harrten, um uns zum Rittergut Dölzig zu bringen. Ich durfte immer neben dem Kutscher Platz nehmen. Hinten saßen Omi und meine Eltern. Wenn's kalt war, lagen Felle auf ihren Beinen.

Einmal, nachdem wir im Dezember 1943 ausgebombt waren, erleuchteten «Christbäume» den Nachthimmel; dann begann es hinter uns zu wummern, und wir wurden aus sicherer Distanz Augenzeugen eines fürchterlichen Luftangriffes auf Leipzig, während die Pferde uns unerschütterlich weiter nach Westen zogen zu Onkel Alfred Seltmanns Rokokoschlösschen.

Kaum waren nach dem Krieg die Russen da, ließen deutsche Kommunisten das Schloss sprengen, sperrten den Onkel Alfred und seine Base in zwei Zimmer des Gärtnerhauses ein und ließen ihn so grauenhaft hungern, dass er wenige Wochen später im Krankenhaus Schkeuditz starb. Die SED-Schergen wollten seine Leiche verbrennen und die Asche verstreuen lassen. Da erbarmten sich einige seiner früheren Knechte ihres toten Herrn, stahlen ihn aus dem Kühlraum des Hospitals und brachten ihn auf einem Pferdefuhrwerk zur Dölziger Kirche, wo er wenigstens würdevoll in seiner Familiengruft beigesetzt werden konnte.

Aber noch sind wir mitten im Dritten Reich, das uns zwar kriegerisch tangierte, ideologisch jedoch vorläufig jenseits unserer Wohnungstür zu verharren hatte. Dies änderte sich am 20. April 1942 gegen 13 Uhr. Vati war kurz zuvor von seiner Arbeit am Landgericht für Strafsachen an der Elisenstraße (heute Bernhard-Göring-Straße) nach Hause gekommen. Wir saßen bei Tisch. Raymonde, unsere französische Hausangestellte, von der gleich noch mehr die Rede sein wird, trug das Mittagessen auf. Ich hatte wie immer den Mund zu halten, bis Vati mich über meinen Vormittag befragte. Da klingelte es. «Geh du bitte an die Tür», bat Mutti mich, «du siehst, dass die Raymonde zu tun hat.»

Vor der Tür stand wutverzerrten Gesichts unser Haus- und Luftschutzwart. Er wohnte im Souterrain und hätte sich niemals erdreistet, einen Mieter beim Essen zu stören, hätte er sich nicht durch seine Position als subalterner NSdAP-Funktionär dazu ermächtigt gefühlt.

«Iss dein Vadd'r zu schbräch'n?», schnarrte er mich an.

«Leider nicht. Wir sind bei Tisch», antwortete ich.

«Das iss m'r awwr schnurz. Saach dei'm Vadd'r gäfällichsd, dass es sich um eene heechsd badriodische Angeleechenheid handeld. Se dulded ieberhaubd geen'n Aufschub» – eine Angelegenheit von höchster patriotischer Bedeutung, die überhaupt keinen Aufschub dulde.

Ich holte Vati aus dem Esszimmer und wurde Zeuge eines Dialogs, der unverrückbar und deckungsgleich in die Oralgeschichte der Familien Siemon und Netto einging und selbst dann noch regelmäßig zitiert wurde, als meine Eltern sehr zu meinem Leidwesen gleich nach dem Krieg verschiedene Wege einschlugen.

«Härr Dogd'r – Herr Doktor – Sie sinn' m'r awwr ä butz'ch'r Badriode», sagte er. – Mein kriegsblinder Vater sei ihm aber ein putziger Patriot.

Vati deutete mit dem rechten Zeigefinger erst auf seine leeren Augen und dann auf das goldene Verwundetenabzeichen an seinem linken Revers.

«Was finden Sie so putzig daran, dass ein Mann sein Augenlicht dem Vaterland geopfert hat?», fragte er.

«Davon räd'ch doch gar nich», stotterte der Hauswart. «Nu wärglich, Härr Dogd'r, wissense eichendlich gar nich, was fier'n Daach m'r heide ham?» – Er fragte, welchen Tag wir heute hätten.

«Montag, 20. April.»

«Unn?»

«Und was nun?»

«Der 20. Abril iss doch Fiehrers Geburdsdaach! So was muss ä Badriode wissen.» – Dies sei Führers Geburtstag, so etwas müsse ein Patriot wissen.

«Wie schön für den Führer. Richten Sie ihm meinen Glückwunsch aus. Aber wieso muss deswegen mein Essen kalt werden?»

«Vonweech'n Ihrer Fahne, Härr Dogd'r! An Fiehrers Geburdsdaach müssen m'r alle flaggen, alle, ooch Sie!»

«Was soll denn der Unfug? Ich habe heute früh unser Dienstmädchen angewiesen, unsere Fahne vom Turmzimmer zu hissen.»

«Awwr da fladderd doch dä falsche Fahne, Härr Dogd'r! Se ham da änne schwarz-weiß-rode Flagge im Winde rumhambeln! Die iss chetzt ungild'ch!» – Da hampele eine schwarz-weiß-rote Flagge im Winde herum, und diese sei jetzt ungültig.

«Wieso ist das die falsche Fahne? Sind schwarz, weiß und rot nicht mehr die Reichsfarben, unter denen ich gegen Frankreich gekämpft habe?»

«Doch, doch», wand sich der Luftschutzwart, «awwr heide gild ähmd dä Hagngreizfahne. Das iss ä Bäfähl!» – Heute gelte eben die Hakenkreuzfahne, das sei ein Befehl.