Luther – Lehrmeister des Widerstands - Uwe Siemon-Netto - E-Book

Luther – Lehrmeister des Widerstands E-Book

Uwe Siemon-Netto

4,6

Beschreibung

Wie Luther Hitlers Gegnern den Rücken stärkte Ausgerechnet zum 500-jährigen Reformationsjubiläum suhlen sich Theologen und Publizisten in dem Klischee, dass Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre die Deutschen zu obrigkeitsduseligen Duckmäusern gemacht habe. Damit sei er 400 Jahre nach seinem Tod zum Wegbereiter Hitlers geworden. In «Luther – Lehrmeister des Widerstands» weist Uwe Siemon-Netto mit historischen, theologischen und religionssoziologischen Argumenten das genaue Gegenteil nach. Er erinnert an Luthers fast vergessene Widerstandslehre. Und er zeigt, wie sie Hitlers Gegnern den Rücken gestärkt hat, darunter Dietrich Bonhoeffer, Carl Goerdeler und den führenden Oppositionellen, die 1989 das DDR-Regime zu Fall brachten.

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Uwe Siemon-Netto Luther – Lehrmeister des Widerstands

www.fontis-verlag.com

Für Gillian

In Memoriam

Dr. Marianne Meyer-Krahmer (1919–2011)

© Familie Meyer-Krahmer

Uwe Siemon-Netto

Luther

Lehrmeister des Widerstands

Bildnachweise:Abb. 1: © Uwe Siemon-Netto / Abb. 2: Quelle: Wikimedia Commons, Foto: Sue Ram / Abb. 3: © Familie Richter / Abb. 4: Wikimedia Commons (Foto: Guenterjohannsen) / Abb. 5: Quelle: Wikimedia Commons, Foto: Xander Remkes [[email protected]] / Abb. 6: Quelle: http://www.zeno.org/nid/20002000428, Zugriff am 08.07.16; gemeinfreies Bild / Abb. 8: Quelle: Bundesarchiv, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bild 183-L10819, Fotograf: Kropf, Otto (Juni 1940) / Abb. 9: Quelle: Bundesarchiv, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bild 183-H27554, Foto: ohne Angabe (1929 ca.) / Abb. 10: Quelle: Wikimedia Commons, Foto: Die Woche, Moderne illustrierte Zeitschrift, Band II, Nr. 17, S. 738 / Abb. 11: Quelle: Wikimedia Commons, Bild: gemeinfrei / Abb. 12: Quelle: Wikimedia Commons, Foto: Library of Congress / Abb. 13: Quelle: Wikimedia Commons, Foto: gemeinfrei / Abb. 14: Quelle: Universitätsarchiv Leipzig, Bild FS_N02272 / Abb. 15: Quelle: Wikimedia Commons, Original in der Aula des Ratsgymnasiums in Bielefeld, gemeinfreies Foto des Gemäldes / Abb. 16: Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfreies Foto des Originals aus der Bibliothèque publique et universitaire, Neuchâtel, Schweiz / Abb. 17: Quelle: Wikimedia Commons, Foto bereitgestellt vom Oslo Museum via digitaltmuseum.no. Foto: Ernest Rude (1871–1948) / Abb. 18: Quelle: Wikimedia Commons, © Andreas Steinhoff / Abb. 19: Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfreies Foto des Bildes / Abb. 20: Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfreies Foto des Bildes / Abb. 21:Magdeburger Bekenntnis dt., in: Controversia et Confessio Digital. Herausgegeben von Irene Dingel. <http://www.controversia-et-confessio.de/id/c832b333–9dbe-4b9a-92b0–1abc0eb8e698>. (Zugriff am 10. Juli 2016) / Abb. 22: © Familie Meyer-Krahmer / Abb. 23: Quelle: Wikimedia Commons, gemeinfreies Foto des Gemäldes / Abb. 24: Quelle: Bildagentur bpk, Robert Bosch (1861–1942) / Abb. 25: Quelle: Wikimedia Commons, Foto: Underwood & Underwood / Abb. 27: Quelle: Bundesarchiv, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Bild 183-H12959, Foto: ohne Angabe (1937/1940 ca.) / Abb. 28: Quelle: Wikimedia Commons, Foto: Familie von Trott / Abb. 29: Quelle: Wikimedia Commons, Foto: Cecil Beaton (1904–1980) / Abb. 30: Quelle: Wikimedia Commons, © J.D. Noske / Anefo / Abb. 31: © Verlag C.H. Beck. Vielen Dank für die freundliche Abdruckerlaubnis. / Abb. 32: Quelle: Wikimedia Commons, Foto: gemeinfrei / Abb. 33: Quelle: Bundesarchiv, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, B 145 Bild-F041435–0032, Foto: Reineke, Engelbert (November 1973) / Abb. 34: Quelle: Wikimedia Commons, Foto entstammt dem gemeinfreien Buch (The Project Gutenberg) «The Mirrors of Downing Street, Some Political Reflections by a Gentleman with a Duster» von Harold Begbie

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Die verwendeten Bibelzitate wurden der Lutherbibel von 1912 entnommen.

© 2016 by Fontis – Brunnen Basel

Umschlag: Spoon Design, Olaf Johannson, Langgöns Foto Umschlag: Daniel Eschner, Spoon Design, Langgöns E-Book-Vorstufe: InnoSet AG, Justin Messmer, Basel E-Book-Herstellung: Textwerkstatt Jäger, Marburg

ISBN (EPUB) 978-3-03848-450-9 ISBN (MOBI) 978-3-03848-451-6

Inhalt

Vorwort

Einführung

1. Widerlegte Klischees

Klischeedenken als pervertierte Typisierung

Klischees, Zeitgeist und Moderne

Das Klischee als «Ding»

2. Luther, der Schurke

Die Quellen des Klischees

3. Luther – doch kein Schurke?

Das theologische Gewicht der Ordnung

Die beiden Reiche

Widerstand à la Luther

Gottes «Wundermänner» und des Teufels Gäuche

Wann bewaffneter Widerstand erlaubt ist

Das Magdeburger Bekenntnis

Bonhoeffer verneigt sich vor Flacius

4. Luther gerechtfertigt (I): Der Fall Goerdeler

Das Klischee vom deutschen Militarismus

Klischeedenken im Weißen Haus

Ein Opfer des Zeitgeistes

5. Luther gerechtfertigt (II): Leipzig 1989

Luthers Erben bewähren sich

Brüsewitz: Ein Fanal «in casu confessionis»

War Gorbatschow ein «Wundermann»?

Epilog: Kairos der Zwei-Reiche-Lehre

Anhang I

Ein Gott, zwei Reiche: das lutherische Paradoxon

Anhang II

Lehrmeister wider das vergötzte Ich (Essay)

Anmerkungen

Personenregister

Vorwort

Peter L. Berger, Religionssoziologe © Boston University

Uwe Siemon-Netto behandelt und verknüpft im vorliegenden Buch aus ganz neuer, denkerisch eigenständiger Perspektive eine Reihe von Themen: die Rolle des Klischees in der zeitgenössischen Kultur; das Luther-Klischee, demzufolge der Reformator als der geistige Ahnherr Hitlers zu betrachten ist; die Entstellung, die Luthers Verständnis des Verhältnisses von Christentum und Welt durch dieses Klischee erfährt; die praktischen Konsequenzen des Luther-Klischees im Zweiten Weltkrieg und danach; und schließlich die Relevanz der richtig verstandenen lutherischen Position auch für die Gegenwart.

Das ist wahrlich ein breites Spektrum von Fragen, und die Bravour, mit der Siemon-Netto sich dieser selbstgestellten Aufgabe entledigt, spricht ebenso sehr für seine fachliche Kompetenz wie für sein Engagement. Da die je spezifischen Lesergruppen ihr Interesse natürlich auf unterschiedliche Fragestellungen konzentrieren werden, möchte ich hier nur einige ganz allgemeine Beobachtungen voranstellen.

Man kann sich darüber streiten, ob, wie Siemon-Netto behauptet, unsere moderne Gesellschaft tatsächlich stärker von Klischees beherrscht wird als frühere Zeiten. Fest steht, dass sie durch die modernen Medien schneller und effektiver verbreitet werden können. Ist ein Klischee dann erst einmal in den Köpfen einer bestimmten Gruppe verankert, so wird es zur nicht mehr hinterfragten Wahrheit und ist auch durch empirische Gegenbeweise kaum noch zu erschüttern.

Die Menschen werden nicht gern mit «kognitiver Dissonanz» konfrontiert, wie die Psychologen es nennen («Ich habe mich bereits entschieden, also verwirren Sie mich jetzt nicht noch mit Tatsachen»). Zudem sind das Denken überhaupt und das Noch-einmal-Überdenken im Besonderen recht beschwerliche Prozesse, und die meisten tendieren dazu, sich dieser Mühsal lieber gar nicht erst auszusetzen.

Die Plausibilität eines Klischees hängt denn auch nicht von der Zahl oder der Qualität der Belege ab, die zu seiner Unterstützung ins Feld geführt werden können, als vielmehr davon, inwieweit es den sozialen und psychischen Bedürfnissen einer besonderen Situation entgegenkommt. Nun muss das nicht zwangsläufig etwas Negatives sein. Wir alle gehen ständig mit Behauptungen um, deren Inhalt zweifelhaft und für uns auch gar nicht nachprüfbar ist; manche von uns vertreten gar Überzeugungen, die sämtlichen «verwirrenden» Tatsachen geradezu ins Gesicht schlagen.

Wir können uns im Alltag auch gar nicht ständig als sorgfältig prüfende Wissenschaftler aufführen – ja mehr noch: Viele Überzeugungen, die auf Irrtümern basieren, richten nicht unbedingt Schaden an, sondern können sogar eher wohltuende Auswirkungen haben.

So wird zum Beispiel ein Kind im fiktiven Klein-Poldavien, einem Land, das erst kürzlich mit einer demokratischen Regierung gesegnet wurde, in der Schule lernen, dass König Bogumil, der «Vater der Nation», ein leidenschaftlicher Philantrop war, der die Menschenrechte achtete, allen Minderheiten mit unbestechlichem Gerechtigkeitssinn begegnete und außerdem ein hohes Maß an Umweltbewusstsein an den Tag legte. Die Historiker dagegen wissen, dass Bogumil ein Massenmörder und Wahnsinniger war, dass er die Bauern terrorisierte und die Flüsse verschmutzte. Dennoch kann das Klischee, das Bogumil den Schrecklichen in Bogumil den Guten verwandelte, als ein moralisch tolerierbarer Irrtum gelten.

Das «Luther-Klischee» dagegen hat, wie Siemon-Netto nachweist, ganz sicher nicht in dieser Weise gewirkt. Wenn Siemon-Nettos These standhält (was sie meiner Ansicht nach tut), dann hatte dieses Klischee im Zweiten Weltkrieg sogar äußerst negative Folgen, denn es hinderte die Alliierten daran, diejenigen Elemente des deutschen Widerstands ernst zu nehmen, die vom lutherischen Denken herkamen. Wenn doch alle Lutheraner verkappte Nationalsozialisten waren, dann konnte man auch den Widerständlern nicht trauen – so ihre Schlussfolgerung.

Ich selbst weiß zu wenig über diese Episode im Zweiten Weltkrieg, um über die Zusammenhänge ein Urteil zu haben. Dagegen bin ich durchaus vertraut mit der ideologischen Vereinnahmung des Luther-Klischees in der Nachkriegszeit und möchte einige Anmerkungen dazu machen.

Es geht hier, wie Siemon-Netto aufzeigt, nicht nur um die Postulierung einer direkten Verbindung zwischen Luther und Hitler, zwei «bösen Deutschen». Es geht auch um die Behauptung, dass der Grund für diese Verwandtschaft in Luthers «Zwei-Reiche-Lehre» zu suchen sei.

Die Zwei-Reiche-Lehre verweist die Welt der sozialen und politischen Realitäten angeblich auf die Ebene eines unmoralischen Zynismus. Das ist natürlich eine schreckliche Entstellung der lutherischen Lehre – und zwar sowohl dessen, was Luther selbst darunter verstand, als auch der Interpretation, die sie später von in der lutherischen Tradition stehenden Denkern erhielt. Doch darauf will ich hier gar nicht eingehen.

Meine Frage lautet vielmehr: Wer profitiert ideologisch von dieser Entstellung? Und ich glaube auch die Antwort zu kennen: Das sind all jene, die das Christentum lediglich als eine Art Handlungsanweisung für eine politische Utopie verstehen. In neuerer Zeit war das die politische Linke.

Das Klischee besagt, dass der Bereich der Politik im lutherischen Denken ganz von der christlichen Moral abgetrennt sei und dass damit dem Bösen Tür und Tor geöffnet werde – der Höhepunkt dieser Entwicklung sei das Dritte Reich gewesen. Aus diesem Grund sei die Zwei-Reiche-Lehre abzulehnen, so die Folgerung dieser Argumentationslinie. Denn Gottes Gnade wirkt durchaus in dieser Welt, auch und gerade im politischen Bereich, und deshalb müssen auch die Christen aktiv werden und sozusagen der göttlichen Gnade zum Durchbruch verhelfen.

Anders formuliert: Die Aufgabe der Christen in der Welt ist es, auf eine christliche Gesellschaft hinzuwirken – eine Gesellschaft, in der die Imperative der christlichen Ethik herrschen. In der Version der politischen Linken ist diese utopische Gesellschaft eine sozialistische, und wir alle haben denn auch schon den Ausspruch gehört, dass es die Aufgabe der Christen in unserer Zeit sei, «den Sozialismus zu errichten».

Es gibt allerdings keinen zwingenden Grund, eine solche utopische Agenda nur der Linken zuzugestehen. Die Aufgabe könnte doch genauso gut lauten, «den wahren Poldovianismus zu errichten» (d. h. das Volk von allen nicht- oder nicht rein poldovischen Elementen zu «säubern») oder auch «das weiße Amerika» (welche massenmörderischen Implikationen auch immer eine solche Idee enthalten mag).

Unnötig zu sagen, dass noch keine Utopie – welcher politischen Couleur auch immer – dem Massenmord abgeneigt war; je grandioser die utopische Vision, desto grandioser gewöhnlich auch die Ausmaße, die ihr durch die Vision sanktionierter Massenmord annahm.

Die ideologische Funktion des «Luther-Klischees », wie Siemon-Netto sie definiert, lässt sich am Beispiel der ehemaligen DDR sehr schön nachweisen. Eine peinlich große Zahl von protestantischen Geistlichen und Laien war bereit, mit dem kommunistischen Regime zusammenzuarbeiten, und zwar aus einem Gefühl der Schuld über die Rolle der Kirchen im Dritten Reich heraus (wie groß die Zahl der Kollaborateure war, zeigt sich erst jetzt, nachdem die Stasi-Akten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden).

Selbst wenn wir davon ausgehen, dass diese Rolle nicht gerade eine ruhmreiche war (obwohl es natürlich durchaus wirkliche Helden gab) – die These, dass die passive Haltung vieler Kirchenmitglieder auf die lutherische Lehre zurückzuführen sei, ist dennoch nicht sehr plausibel. Zumal sich die katholischen Geistlichen und Laien keineswegs heldenhafter verhielten – und das, obwohl sie die Zwei-Reiche-Lehre nicht kennen.

Im Rückblick der ostdeutschen Protestanten jedoch musste der vermeintliche lutherische Zynismus angesichts der Gräuel der Nazi-Zeit im Namen einer neuen (wenn man so will, post-lutherischen) Hingabe an die soziale Gerechtigkeit – die als Teilnahme an der Aufgabe des «sozialistischen Wiederaufbaus» definiert wurde – wiedergutgemacht werden.

Mit anderen Worten: Die Verwerfung der lutherischen Lehre diente als Legitimation für die Beteiligung von Christen an dem utopischen Projekt des Marxismus im Allgemeinen und des marxistischen Regimes in Ostdeutschland im Besonderen.

Die Wendung «Kirche im Sozialismus», die einige lediglich als realistisches Zugeständnis an die Lage der Kirchen im von den Sowjets beherrschten Osteuropa sahen, wurde von vielen anderen durchaus als politische Handlungsanweisung mit einer höheren moralischen Legitimierung verstanden: Es ging nicht darum, dass die Kirche zusehen musste, wie sie unter dem Sozialismus überlebte, sondern darum, dass sie sich selbst aktiv am sozialistischen Experiment beteiligen sollte.

Und genau auch in dieser positiven utopischen Bedeutung fand die Wendung denn auch in ökumenischen Kreisen außerhalb der DDR Widerhall, aus ebendiesem Grund waren die protestantischen Geistlichen aus der DDR so lange Zeit die Lieblinge des Weltkirchenrats. Und nicht zuletzt war dieses Verständnis der christlichen Aufgabe in unserer Zeit mitverantwortlich für den triumphalen Aufstieg der verschiedenen «liberalen Theologien» oder «Befreiungstheologien» in protestantischen und katholischen Kreisen.

Dabei war es gerade diese Utopie, der die lutherische Zwei-Reiche-Lehre zuvorkommen wollte. Siemon-Netto weist darüber hinaus nach, dass nicht etwa Luther, sondern Thomas Müntzer der Ahnherr der Utopien des 20. Jahrhunderts war, auch der Ahnherr der Nationalsozialisten. Als Gegenmittel gegen gefährliche Utopien ist der nüchterne Realismus des lutherischen Denkens daher auch heute noch mehr als notwendig.

Es bleibt abzuwarten, ob der Zusammenbruch des Sozialismus in den ehemals sozialistischen Ländern der Version der politischen Linken von einem modernen Wiedertäufertum ein Ende setzen wird. Wie bereits gesagt, werden Überzeugungen normalerweise auf empirische Belege hin weder übernommen noch aufgegeben, und der Mythos des Sozialismus befriedigt nun einmal sowohl die Bedürfnisse des Einzelnen als auch ganzer Gruppen in hohem Maße.

Doch selbst wenn dieser Mythos in den 27 Jahren des Zusammenbruchs nach der Revolution von 1989 wirklich gestorben sein sollte, stehen schon andere Utopien bereit, seine Stelle einzunehmen. Manche dieser neuen Utopien, darunter die nationalistischen und religiös-fundamentalistischen (einschließlich der christlichen Rechten in den Vereinigten Staaten), sind rechts angesiedelt. Die meisten kommen jedoch nach wie vor von links – zwar vielleicht nicht mehr im alten sozialistischen Sinn, aber doch insofern, als sie dem demokratischen Kapitalismus und der bürgerlichen Kultur, in der er verkörpert ist, feindlich gegenüberstehen.

Darüber hinaus haben wir heute feministische und ökologische Utopien (letztere eng verbunden mit dem, was manchmal als «Gesundheitsfaschismus» bezeichnet wird) und multikulturelle Utopien. Und all diesen Utopien haben sich bereits wieder Scharen von christlichen Theologen, Klerikern und Laien verpflichtet, die predigen, dass es Aufgabe der Christen sei, in diesen Bewegungen mitzuarbeiten.

In einer leichten Abwandlung der Worte des britischen Journalisten Malcolm Muggeridge könnte man sagen, dass es offensichtlich keine Sache gibt, die verrückt genug wäre, als dass sich nicht ein paar demente Geistliche für sie einsetzen und ihre Schäfchen mit den passenden Liedern zur Laute auf sie einstimmen.

Um solcherlei Aktivitäten zu rechtfertigen, muss die Zwei-Reiche-Lehre, wie nicht eigens betont zu werden braucht, natürlich mit Emphase zurückgewiesen werden. Kann eine lutherische Moral – und wenn auch nur unbeabsichtigt – in amoralischen Zynismus führen? Vielleicht.

Die objektive Beschäftigung mit der Geschichte zeigt jedoch meiner Ansicht nach, dass die Utopisten zu allen Zeiten, ganz sicher aber in diesem Jahrhundert, sehr viel größeres Unheil angerichtet haben als die Zyniker. Mir scheint weiter – und damit befinde ich mich wohl in Übereinstimmung mit Siemon-Netto –, dass es die Aufgabe der lutherischen Theoretiker in unserer Welt ist, die Zwei-Reiche-Lehre an jeder Straßenecke, an der sich irgendwelche Utopisten zusammenrotten, zu verkündigen, um der Gefahr eines Massenmords, die solche Leute mit großer Regelmäßigkeit heraufzubeschwören pflegen, entgegenzutreten.

Es wäre schön, wenn man sagen könnte, dass die lutherischen Kirchen diese Pflicht erkannt und getreulich erfüllt haben. Doch leider haben sie es nicht getan. Weder in Deutschland noch in den Vereinigten Staaten noch in der Ökumene. Selbst in den Gemeinden auf dem Gebiet der ehemaligen DDR, wo man eigentlich annehmen sollte, dass die Menschen einige grundlegende Dinge begriffen haben, haben noch Reste der utopischen Verblendung überlebt, die die Idee einer «Kirche im Sozialismus» möglich machte.

Die Lutheraner scheinen im Großen und Ganzen also ebenso empfänglich für die großen utopischen Versuchungen zu sein wie die übrigen Christen. Vielleicht könnte man das als einen empirischen Beleg für eine andere lutherische Lehre sehen – die Lehre von der Erbsünde.

Peter L. Berger

Einführung

Ein halbes Jahrtausend ist es nun her, seit Martin Luther mit der Reformation die Neuzeit eingeläutet hat. Dies geschah mitten in Deutschland. Luther machte Christen klar, dass sie allein aus Gnade durch ihren Glauben an Jesu Heilstat am Kreuz erlöst seien, nun aber die Ärmel hochkrempeln sollten, um sich in der sündhaften Welt zu engagieren.

Der urlutherische Gedanke, dass der Christ berufen ist, in allen seinen säkularen Tätigkeiten – sei's als Staatschef oder Oppositionsführer, als Mutter, Grundschüler, Lehrer, Soldat oder Wähler – dem Nächsten in Liebe zu dienen, könnte für unsere konfuse und gefährliche Zeit nicht aktueller sein. Luther leistete damit einen geistlichen Befreiungsschlag, zu dessen Früchten auch die Demokratie gehörte. Man möchte meinen, dass gerade die Deutschen seiner jetzt fröhlich und dankbar gedenken sollten.

Was aber lesen wir am Vorabend des großen Reformationsjubiläums – zum Beispiel in einer großen deutschen Zeitung? «Luther ist kein Aufklärer.»1 Der Verfasser dieser Überflüssigkeit übersah offensichtlich, dass der Reformator (†1546) schon 238 Jahre tot war, bevor Immanuel Kants bahnbrechendes Werk Was ist Aufklärung? 1784 in Druck ging.

Wir lesen weiter: «Luther predigte einen eliminatorischen Antisemitismus.» Hier übersah selbiger Kommentator, dass der Antisemitismus eine Form von Rassismus ist. Rassismus war aber ein zur Reformationszeit unbekanntes Vorurteil, das erst in der Aufklärungszeit einsetzte. Luther machte zwar im Alter aus religiösen Gründen verwerfliche antijüdische Aussagen, die bereits seinen Zeitgenossen peinlich waren und insbesondere den heftigen Widerspruch Andreas Osianders (1498–1552) hervorriefen, eines fränkischen Titanen der lutherischen Reformation. Aber ein Vorläufer der Schoa, also der Liquidation einer ganzen «Rasse», war der Reformator nicht.

(Auf Luthers Schmähschriften, diesen schwarzen Fleck in der Geschichte meiner Konfession, werde ich in diesem Buch selbstverständlich eingehen. So viel sei jedoch gleich gesagt: Seine Schimpfkanonaden gegen die Juden waren genau das: verwerfliche Ausfälle eines fehlbaren Menschen, aber keine Doktrin, die etwa in den lutherischen Bekenntnisschriften nachfolgenden Generationen von Lutheranern weitergereicht worden wäre.)

Weiter heißt es: «Luther begründet die Autoritätshörigkeit des Protestantismus.» Ah, hier sind wir nun bei dem Klischee, das sich seit Beginn des Zweiten Weltkriegs in vielen vermeintlich gelehrten Köpfen eingenistet hat: Der Fürstenknecht Luther, Ahnherr Adolf Hitlers, habe die Deutschen zu obrigkeitsduseligen Duckmäusern gemacht und somit fast vierhundert Jahre nach seinem Tod einem Völkermord den Weg geebnet.

Um diesen Vorwurf, der implizit alle Deutschen seit dem 16. Jahrhundert zu Komplizen Hitlers macht, geht es mir in erster Linie in diesem Buch, dem meine Doktorarbeit zu Grunde liegt. Ich hatte sie 1992 an der renommierten Boston University in den USA vorgelegt.

In den USA werden Dissertationen immer von drei Gelehrten bewertet, dem Doktorvater und zwei weiteren Gutachtern. In meinem Fall hatten zwei Mitglieder dieses Dreiergremiums in ihren jungen Jahren wegen ihrer jüdischen Abstammung aus Wien flüchten müssen, und der Dritte war schwedischer Provenienz. Ich erwähne dies nur, um böswilligen Unterstellungen vorzubeugen: Wenn jeder von ihnen dieser Schrift die Note «A» (Sehr gut) erteilt hat, dann gewiss nicht, weil er einem Sympathisanten oder Apologeten des Nationalsozialismus den Weg zum höchsten akademischen Grad erleichtern wollte, den man in den USA erwerben kann.

Ich wurde in Boston in der Doppeldisziplin Theologie und Religionssoziologie promoviert. Aus der Sicht dieser beiden Fachgebiete – und gestützt auf historische Recherchen – nehme ich hier nun das «Luther-Klischee», wie der ursprüngliche Titel meiner Promotionsarbeit lautete, unter die Lupe. Meine geneigten Leser mögen sich bitte nicht von diesem Hinweis abschrecken lassen. Ich bin zu dem Zeitpunkt, an dem ich dies schreibe, seit fast sechzig Jahren als Journalist bemüht, auch komplizierte Sachverhalte allgemeinverständlich darzustellen, also ohne akademischen Jargon, aber auch ohne Banalitäten.

Drei persönliche Gründe haben mich zu dieser Untersuchung bewogen, die vom Klischeedenken, von Luther, vom Dritten Reich und von Carl Friedrich Goerdeler, aber auch von der unblutigen Revolution in Leipzig im Oktober 1989 handelt:

1. Ich bin ein Journalist. Klischeedenken gehört zu unserem Geschäft. Ein Journalist kann Stereotype gar nicht vermeiden. Er empfängt sie, ist ihr Urheber, und leider verbreitet er sie auch. Wenn er gewissenhaft ist, wird er sich bemühen herauszufinden, was sich hinter einem Klischee verbirgt; er wird also versuchen, es ins Lot zu rücken – in der Fachsprache wird dies «relativieren» genannt – und damit ad absurdum zu führen.

2. Ich bin ein Lutheraner. Ich wuchs mit Bach-Motetten und -Kantaten auf – mit vertonter lutherischer Theologie. Der wichtigste Mensch in meiner Kindheit war meine streng lutherische Großmutter, Clara Netto (siehe Abb. 1). Sie erzog mich zum Christen. Sie impfte mir ein, für meine Überzeugungen und meinen Glauben mutig einzustehen und mich vor falschen Propheten zu hüten – vor «Lumichen», wie Clara Netto sie auf Sächsisch nannte.

«Lumiche» waren für sie zum Beispiel die «Deutschen Christen» in der sächsischen Landeskirche. In Clara Nettos Augen huldigten sie einem falschen Geist: dem Zeitgeist. Für moderne Ohren dürfte dies vertraut wirken, denn abermals werfen Strenggläubige einem großen Teil der evangelischen Funktionsträger vor, einem anderen als dem Heiligen Geist zu dienen. Was meine Großmutter anbelangt, so ging sie aus Protest gegen die «Lumiche» auf sächsischen Kanzeln sonntags fast nie zum Gottesdienst; sie zog sich in ihr Schlafzimmer zurück, zündete eine Kerze an, hielt ihr Kruzifix in der Rechten, las ihre Losungen, die Bibel und das sächsische Gesangbuch und summte mit unvollkommener Musikalität einen Choral. Dann bat sie Gott um ein Ende der geistigen Dunkelheit, die unser Land befallen hatte.

Clara Netto, im Dreikaiserjahr 1888 geboren, kam mir in meiner Kindheit immer wie eine Dame des 19. Jahrhunderts vor: So kleidete sie sich im Stil des sächsischen Landadels. Jeden Abend beim Voralarm legte sie ihr bestes Kleid an, weil sie ja, wie sie erklärte, in dieser Nacht ihrem Herrn begegnen könne. Sie war fromm – ließ aber keine Schnoddrigkeit aus. Dies ist eine spezifisch sächsische Eigenschaft, die auch Luther auszeichnete, auf Nicht-Sachsen aber zuweilen befremdlich wirkt. Omi Netto war zum Beispiel durchaus fähig, mich während der Luftangriffe zwischen zwei Gebeten auf einen unbekannten Glatzkopf im Luftschutzkeller aufmerksam zu machen und mir ins Ohr zu flüstern: «Wer früh bürstet, braucht später nicht zu kämmen.» Wir grinsten und beteten weiter.

Einmal hatten bei uns NSDAP-Funktionäre Zuflucht gesucht. Sie trugen braune Uniformen mit viel Lametta, weswegen wir sie Goldfasane nannten. Sie waren für deutsche Männer mitten im Krieg ungewöhnlich feist und obendrein feige. Wenn um uns herum Luftminen detonierten und Feuer und Rauch von außen in den Keller drangen, zitterten sie und schrien auf. Derlei «unchristliche» Gefühlsausbrüche hätte Clara Netto ihrer Familie niemals durchgehen lassen. So senkte sie ihr Lorgnon, fasste die schweißtriefenden Goldfasane fest ins Auge und sagte kühl:

«Also meine Herren! Ach nein! Herren sind Sie ja nun nicht! Männer also! Na, da bin ich mir auch nicht so sicher. Aber was immer Sie sind: Reißen Sie sich zusammen! Das ist Ihr Krieg, nicht unserer. Wir haben nichts gegen die Engländer, Amerikaner, Franzosen oder Juden. Löffeln Sie gefälligst die Suppe aus, die Sie sich selbst eingebrockt haben. Sie sind für meinen Enkel hier schlechte Vorbilder!»

Am nächsten Morgen standen zwei Gestapo-Beamte in langen Ledermänteln in ihrer Wohnung und warfen ihr vor, zersetzende Aussagen gemacht zu haben.

«Zersetzend? Was Sie nicht sagen!»

«Sie sollen behauptet haben, dies sei nicht Ihr Krieg.»

«Das stimmt ja auch», bestätigte meine Großmutter. «Wir haben euch nicht gewählt. Wir sind Monarchisten.» Dann streckte sie ihre beiden Arme nach vorn und sagte: «Wenn Ihnen das nicht passt, dann verhaften Sie mich doch! Verhaften Sie die Witwe eines deutschen Offiziers!»

Da trollten sich die beiden Gestapomänner, aber Omi setzte zum Abschied noch einen drauf: «… und wieso sind Ihre Goldfasane eigentlich so fett? Schicken Sie diese Leute doch an die Ostfront. Da werden sie schnell abnehmen.»

Omi Netto war der Inbegriff einer lutherischen Christin: voller Gottvertrauen und wortgewaltig, das ganze Gegenteil jener Duckmäuser, die Lutheraner laut übler Nachrede sein sollen.

Eine Zeit lang wurde ich evakuiert, und zwar zu einem Landpfarrer. Dieser entpuppte sich als ein «Deutscher Christ», der oft die Hakenkreuzfahne an seinem Pfarrhaus aufzog und mich mit Ohrfeigen für jedes Fremdwort bestrafte: Sauce, Serviette, Etage, Trottoir. Diese «welschen Begriffe» wünschte der Pfarrer, ganz im Sinne des «Führers», in seinem Haus durch deutsche Vokabeln zu ersetzen: mit Tunke, Mundtuch, Stockwerk und Bürgersteig.

Ich erfuhr aber auch schon als Kind, dass dieser Mann für die Christen im Dorf nicht repräsentativ war. Er wurde in Wahrheit verachtet, angefangen vom Organisten, der zugleich mein Schulmeister war und auch im Unterricht jegliche Verbeugung vor dem nationalsozialistischen Zeitgeist unterließ; auch dies gab es in Hitlers Deutschland. Ich saß im Gottesdienst oft neben ihm auf der Orgelbank. Wenn der braune Pfarrer in seinen Predigten Adolf Hitler als den Erlöser der Deutschen pries, flüsterte mir der Kantor ins Ohr: «Er lügt, er lügt, er verrät seinen Herrn.» Damit bewies er ein ungeheures Ausmaß jener Qualität, die Dietrich Bonhoeffer bei so vielen Landsleuten im Dritten Reich vermisste, nämlich Zivilcourage. Hätte ich den guten Kantor beim Mittagessen im Pfarrhaus verpetzt, wäre er noch am selben Tag im Konzentrationslager und anschließend unter dem Fallbeil gelandet.

Ich werde meinen Lesern den Namen des Pfarrers und seines Dorfes vorenthalten, weil ich seine Nachfahren nicht in Verlegenheit bringen möchte. Aber sein Fall und der seiner Gemeinde bieten ein differenzierteres Bild der Lage des Luthertums unter den Nationalsozialisten als allgemein üblich. Wenn er Gottesdienst hielt, war außer seiner Familie und zwei oder drei Dorf-Nazis kaum jemand in der Kirche. Predigte aber sein bekenntnistreuer Amtsbruder aus einem Nachbarort, dann war das Gotteshaus voll. Denn der war ein «Lutheraner alten Schlages». Er verkündigte das Evangelium Jesu Christi und nicht das Evangelium Adolf Hitlers, und folglich kamen alle, um ihn zu hören.

Mit solchen Kindheitserinnerungen war ich umso erstaunter, als ich später den Vorwurf hörte, Luther sei Hitlers geistlicher Ahnherr gewesen. Der «Hier-stehe-ich»-Luther, den meine Großmutter so gern zitierte, soll die Deutschen einerseits zu Nazis, andererseits zu Schlappschwänzen erzogen haben? Das konnte nicht sein; es stand im Widerspruch zu meinen eigenen Erlebnissen. Als ich jenseits der Lebensmitte lutherische Theologie studierte, war ich erleichtert, dass meine Recherchen in dieser Frage meiner Großmutter recht gaben und William L. Shirer widerlegten – Shirer, der mit seinem Bestseller Aufstieg und Fall des Dritten Reiches dieses Luther-Klischee weltweit populär gemacht hatte.

3. Ich bin ein Leipziger. Wenige Tage nach meiner Geburt trat unser Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler zurück. Er war einer der bedeutendsten in der langen Geschichte unserer Stadt. Der unmittelbare Anlass seiner Demission war ein Akt nationalsozialistischer Barbarei: Während er dienstlich im Ausland war, wurde gegen seinen ausdrücklichen Wunsch das Mendelssohn-Denkmal vor dem Gewandhaus gesprengt. Ich erinnere mich gut, dass Goerdelers Name in den Kriegsjahren in meinem Elternhaus bei Tisch geflüstert wurde. Und ich entsinne mich der Trauer in meiner Familie, als dieser große Mann nach dem misslungenen Anschlag auf Hitler am 20. Juli 1944 festgenommen und zum Tode verurteilt wurde.

Anfang 1988 begegnete ich zum ersten Mal Goerdelers Tochter, der Historikerin Dr. Marianne Meyer-Krahmer. Ich saß gerade an meiner Magisterarbeit, in der ich Bonhoeffers Kreuzestheologie auf das Schicksal der Vietnam-Veteranen anwandte. Da besuchte mich diese eindrucksvolle Frau in meiner Wohnung auf dem Campus der «Lutheran School of Theology at Chicago». Sie erzählte mir von ihren vergeblichen Bemühungen, deutsche Historiker zu einer fairen Bewertung des Opfers ihres Vaters zu bewegen. Die Tatsache, dass er ein Konservativer war, widersprach dem Zeitgeist unserer Epoche, einem linken Zeitgeist, der nicht das Format hatte, sich vor der moralischen Größe eines Konservativen zu verneigen.

Je länger wir uns unterhielten, desto deutlicher erkannte ich, dass Goerdelers spezifische Form des Widerstands gegen Hitler ausgeprägt lutherische Wurzeln hatte:

Sein unerschütterlicher Sinn für Wahrhaftigkeit;

sein Sinn für weltliche Ordnung als Schöpfungsakt Gottes;

seine daraus resultierende Abneigung gegen Anarchie, Insurrektion und Tyrannenmord;

sein Bestreben, den Tyrannen festnehmen und von einem ordentlichen Gericht aburteilen zu lassen;

die rast- und furchtlose Art, mit der er die Welt schon früh vor dem nationalsozialistischen Übel warnte;

seine Bereitschaft, dieses Übel unter Einsatz seines Lebens zu bekämpfen;

seine Überzeugung, dass auch ein böses Regime erst gestürzt werden darf, wenn dadurch kein Vakuum entsteht, sondern kompetente Persönlichkeiten die Staatsgeschäfte übernehmen können.

All dies waren für mich Indizien internalisierten Luthertums. So wurde das Thema der vorliegenden Untersuchung geboren; mir wurde die Gelegenheit gegeben, klischeehaften Vorurteilen gegen zwei historische Gestalten entgegenzuwirken, denen meine Zuneigung gilt: Martin Luther und Carl Goerdeler.

Ich hatte den Entwurf für die englische Fassung meines Buches bereits geschrieben, da brach am 9. Oktober 1989 in Leipzig die Revolution aus, die dem kommunistischen Regime in der DDR ein Ende setzte und mir nach vielen Jahren die Heimkehr ermöglichte. Was ich in Leipzig in zahllosen Gesprächen mit evangelischen und katholischen Christen, mit Agnostikern und Atheisten erfuhr, passte nahtlos zu meinem Thema: Dies war eine spezifisch lutherische, will sagen: gewaltlose Revolution. Nur weil sie geordnet und friedlich verlief, gelang sie. Ausgerechnet Leipzig, das Luther sehr viel Kummer bereitet hatte, bescherte ihm eine späte Rechtfertigung.

Die erste Auflage dieses Buches war im Gütersloher Verlagshaus unter dem Titel Luther als Wegbereiter Hitlers? Zur Geschichte eines Vorurteils erschienen. Ich war über diesen Titel nicht sehr glücklich, weil er – wenngleich mit einem Fragezeichen versehen – beim flüchtigen Hinsehen den Eindruck erwecken könnte, dass auch ich den Bogen von einer der überragenden Figuren der deutschen Geschichte zu Hitler spannte, in dem Dietrich Bonhoeffer den Antichristen sah.

Ich nenne diesen Band nun in der Neuauflage Luther, der Lehrmeister des Widerstands, weil er als ein Abgesang auf einen gröblich missbrauchten Luther gedacht ist, auf den Martin Luther des Journalisten und Schriftstellers William L. Shirer, der gewiss manches über den Reformator gelesen hat, sich aber – dessen bin ich mir sicher – nie mit seiner vielschichtigen Theologie im Original beschäftigt haben kann.

Dieses Buch ist andererseits ein Versuch, einen nach wie vor bedeutsamen Aspekt des authentischen Martin Luthers wiederzuentdecken: jenes Luthers nämlich, dessen Lehre von den beiden Handlungsweisen Gottes in der Welt den Christen zum Dienst in dieser Welt befreit hat. Goerdeler und die friedlichen Revolutionäre von Leipzig, aber auch Dietrich Bonhoeffer und der mutige Bischof Eivind Berggrav von Oslo sind meine Zeugen dafür, dass dieser echte Luther unserer Zeit ungemein viel zu sagen hat, vor allem weil er Christen deutlich machte, wie und wann sie einer tyrannischen Obrigkeit die Stirn zu bieten und sie gegebenenfalls zu stürzen haben.

Mir geht es darum, einen Schatz freizulegen, der teils durch Unwissenheit, teils durch mutwilligen Missbrauch, teils durch Verleumdung verschüttet worden ist, und zwar im Dritten Reich einschließlich seiner Vorwehen und Nachwehen. Dieser Schatz ist Luthers Zwei-Reiche-Lehre, die uns Nüchternheit und Gelassenheit bescheren sollte, weil sie uns immer wieder daran erinnert, dass wir aus eigener Kraft nicht alles in dieser Welt zurechtbiegen können. Sie hat Hitler nicht den Weg geebnet, wie Shirer behauptete; im Gegenteil: Sie könnte uns von Hitler kurieren, wie Englands großer methodistischer Theologe Gordon Rupp bereits 1945 schrieb, zu einem Zeitpunkt, an dem die Ruinen des Zweiten Weltkriegs buchstäblich noch qualmten.

Da die Zwei-Reiche-Lehre und insbesondere lutherisches Obrigkeits- und Widerstandsdenken mein eigentliches Thema sind, bitte ich meine Leser um Nachsicht, wenn ich eine zweite Anklage gegen Luther nur knapp in Kapitel 2 berühre: den Vorwurf, dass die antijüdische Polemik des alternden Reformators die Saat des Völkermordes an sechs Millionen Juden in unserem blutigen Zeitalter gewesen sei. Wie die Bewunderer des Reformators noch zu seinen Lebzeiten, so bin auch ich entsetzt über seine Ausfälle, von denen ich aber auch weiß, dass die evangelische Kirche sie über drei Jahrhunderte lang schamhaft unterdrückt hatte. Für sie galt vielmehr die ganz andere Ermahnung des jungen Luthers, «dass Jesus Christus ein geborener Jude sei» (1523).

Über das Thema «Luther und die Juden», um das sich – wie über die Zwei-Reiche-Lehre – viel stereotypes Denken rankt, ist anderweitig ausführlich geschrieben worden. Dass ich dies hier nicht tue, möge mir bitte nicht als ein Mangel an Sensibilität für diese Frage angelastet werden. Der Grund ist lediglich, dass diese Studie sich auf ein anderes Klischee konzentriert, das viele davon abhält, die wohl wichtigste Stimme in unserer Geistes-, Kultur- und Religionsgeschichte in ihrer ganzen Genialität wahrzunehmen.

Ich schulde vielen Menschen Dank für ihre Hilfe bei dieser Studie, allen voran Marianne Meyer-Krahmer, mit der ich viele Stunden lang über ihren Vater sprach, die mir Einsicht in ihre Familienakten gewährte und mit der ich bis zu ihrem Tod 2011 freundschaftlich verbunden blieb. Ich danke meinem Doktorvater Peter L. Berger, der mich bei meinen Recherchen über Klischeedenken als ein soziologisches Phänomen geduldig anleitete. Ich danke den Professoren Carter Lindberg und Uri Ra'anan für ihren Rat bei meinem Versuch, das Luther-Klischee theologisch und historisch zu widerlegen.

Ich danke Ulrike Peinze für ihre wertvolle Assistenz bei meinen Recherchen und meiner Freundin Karin Jansky-Barron für ihr gewissenhaftes Korrekturlesen. Ich danke der Earhart Foundation in Ann Arbor, Michigan, für ihren großzügigen finanziellen Zuschuss zu meinen Studienkosten.

Ich danke Stefan Harms' «Verlag der lutherischen Buchhandlung Heinrich Harms» dafür, dass er mir die Rechte an meinem Titel Der erfundene Luther überlassen hat. Der vorliegende Band tritt die Nachfolge dieses Buches an, das ich revidiert, aktualisiert und ergänzt habe, wobei ich überall dort, wo ich bisher Luther-Zitate im ursprünglichen Deutsch der Reformationszeit benutzt hatte, diese zum besseren Verständnis in modernes Hochdeutsch übertrug.

Vor allem danke ich meiner Frau Gillian, die als Erste jedes Kapitel der englischen Version dieser Studie las und sich als meine zuverlässigste Kritikerin erwies.

Uwe Siemon-Netto

1 Widerlegte Klischees

Vor über siebzig Jahren wurden nach dem Umsturzversuch des deutschen Widerstands gegen Hitler am 20. Juli 1944 Hunderte von Menschen festgenommen, zu Tode gefoltert, erschossen, geköpft oder an Fleischerhaken aufgehängt. Fast alle waren Christen. Die berühmtesten unter ihnen waren Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg, der lutherische Theologe Dietrich Bonhoeffer und der frühere Leipziger Oberbürgermeister Carl Friedrich Goerdeler, der Reichskanzler geworden wäre, hätte ihr Staatsstreich Erfolg gehabt.

Der britische Premierminister Sir Winston Churchill tat diesen Vorgang am 2. August 1944 vor dem Unterhaus mit dem stereotypen Kommentar ab, hier handle es sich um «Ausrottungskämpfe unter den Würdenträgern des Dritten Reiches». Er sagte: «Die führenden Persönlichkeiten des Deutschen Reiches bringen sich gegenseitig um, aber ihre Tage sind gezählt.» Die New York Times apostrophierte am 9. August 1944 das Selbstopfer dieser edelsten Gestalten der jüngeren deutschen Geschichte als einen «Kontenausgleich … in der Atmosphäre einer dunklen Verbrecherwelt».

Marion Gräfin Dönhoff, die Mitherausgeberin der liberalen Hamburger Wochenzeitung «Die Zeit», schrieb später, dass die Westmächte es eigentlich besser gewusst hätten. Davon werden spätere Kapitel dieses Buches handeln. Wider besseres Wissen also seien die Westmächte der Lüge Hitlers gefolgt, dass «ehrgeizige Offiziere» ihn zu beseitigen versucht hätten, betonte Gräfin Dönhoff. Infolgedessen hätten sich Großbritannien und die USA der «unterlassenen Hilfeleistung» schuldig gemacht.2

In diesem Band werde ich zeigen, dass diese großen Deutschen im Einklang mit Martin Luthers Lehre über den Widerstand gegen eine tyrannische Obrigkeit gehandelt haben, ganz im Gegensatz zu dem Vorwurf berühmter Gelehrter und Schriftsteller, Luther sei Hitlers Wegbereiter gewesen und habe die Deutschen zu einem Stamm von Kriechern reduziert. Hier handelt es sich um ein Klischee, das ich mit historischen und theologischen Fakten widerlegen werde.

Springen wir in der Geschichte um Jahrzehnte nach vorne. Wir erinnern uns an diese Floskel: «Deutschland wird nie wiedervereinigt werden, jedenfalls nicht zu unseren Lebzeiten.» Spätestens seit dem Berliner Mauerbau 1961 verkündigten kommunistische Staatsmänner diesen Satz als eine unverrückbare Wahrheit. Viele ihrer westlichen Kollegen dachten nicht anders, wagten ihre Ansicht aber nur zu flüstern, um ihre Verbündeten in Bonn nicht zu verletzen. Auch viele unserer eigenen Meinungsbildner hielten das Bekenntnis zur deutschen Einheit für unrealistisch. Willy Brandt sprach von einer «Lebenslüge der Nation».

Aber dann fiel im Herbst 1989 die Berliner Mauer (siehe Abb. 2), und ein Jahr später war Deutschland auf friedlichem und demokratischem Wege vereinigt. Im Nachhinein hat sich eine vermeintliche Wahrheit wiederum als ein Klischee entpuppt.

Was aber ist ein Klischee? Als Denkschablone ist es aus der zeitgenössischen Interpretation historischer Abläufe kaum auszumerzen. Deshalb bitte ich meine Leser um Nachsicht, wenn ich einen beträchtlichen Teil dieses Kapitels der Definition und soziologischen Funktion stereotypen Denkens in der Moderne und auch Postmoderne widme. Denn anders lässt sich die anhaltende und zumeist bösartige Verleumdung Luthers nicht begreifen.

In seiner ursprünglichen Bedeutung ist ein Klischee eine stereotype Druckplatte, mit deren Hilfe ein Bild immer neu aufgelegt werden kann. Das Klischee gibt das dargestellte Objekt nie originalgetreu wieder, denn zum einen ist ein Klischee immer nur zweidimensional, zum anderen ist es nicht lebendig; einmal gegossen, ändert es sich nicht mehr. Und selbst das beste Klischee ist in der letzten Konsequenz eine Schraffur, die mindestens ebenso viel auslässt, wie sie zeigt.

Die technische Vokabel «Klischee» steht weltweit als eine Metapher für eine Denkweise, die der niederländische Soziologe Anton Zijderveld (siehe Abb. 5) so definiert: «Klischees umgehen die Reflektion und bearbeiten somit den Verstand im Unterbewusstsein, wobei sie potenzielle Relativierungen ausschließen.»3

Wie wir später sehen werden, hat Zijderveld eine enge Wahlverwandtschaft zwischen Klischees und der Moderne ausgemacht. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Klischeedenken ist ein Zwilling des Zeitgeistes, der ebenfalls keine potenziellen Relativierungen zulässt. Betrachten wir das Klischee von der Unmöglichkeit einer deutschen Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit genauer, so entdecken wir ein Komplott stereotypen Denkens mit dem Zeitgeist – einer Verschwörung mit dem Ziel, folgende Entwicklungen für unmöglich zu erklären:

Erstens, dass das Sowjet-Imperium zusammenbrechen könnte; zweitens, dass sich der Kollaps des kommunistischen Systems weitgehend gewaltlos abspielen könnte; drittens, dass in der totalitären Sowjetunion vernünftige Staatsmänner wie Gorbatschow und Jelzin an die Macht kommen könnten; viertens, dass sich in der DDR eine starke, aber friedfertige Opposition bilden könnte. Fünftens schließt unser Klischee die theologische Option komplett aus: dass nämlich Gott die Macht hat, in die Geschichte einzugreifen.