Großvaters Bärbele - Wilhelm Tramitzke - E-Book

Großvaters Bärbele E-Book

Wilhelm Tramitzke

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Beschreibung

Wilhelm Tramitzke im Februar 1926 in Wischniovka Bessarabien, heute Moldaurepublik, geboren, ist Nachfahre Deutscher Kolonisten, die in den Jahren 1814-1842 auswanderten. In seiner fiktiven Erzählung beschreibt der Autor die Geschichte eines Landwirts, den man mit tausenden anderen Familien 1940 aus Bessarabien ins Deutsche Reich umsiedelte. Das Kind Barbara wurde während der Umsiedlung auf einem Donaudampfer geboren und in Prahovo, Jugoslawien, getauft. Weil ihr Vater kurz danach zur Wehrmacht eingezogen wurde, war der Großvater um das Kind sehr besorgt. Die Familie musste monatelang in Umsiedlerlagern ausharren. Da sie Haus und Hof und all ihre Habe aufgeben mussten, versprach man ihnen eine Ansiedlung in Danzig, Westpreußen. Die Geschichte beinhaltet Umstände, Elend und Not, die sie in der polnischen Kaschubei (Pommerellen) mit den dort ansässigen Bewohnern hatten. Die Umsiedlung der Bessarabien-Deutschen, von der hier gesprochen wird, entspricht der Tatsache, doch die hier erzählte Geschichte ist frei erfunden, könnte aber vielen tausenden Umsiedlern so ähnlich widerfahren sein. Anfang 1945 begann die Flucht aus der Kaschubei mit der Schwiegertochter und Enkelkind, die der Großvater mit viel Glück und Courage bewältigte. Die Familie fand, dank vieler guter Menschen, im Hohenloher Land eine neue Heimat.

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Wilhelm Tramitzke

GROSSVATERS BÄRBELE

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Titelbild

Bundesarchiv, Bild 183-W0402-500 / Dissmann / CC-BY-SA 3.0

640-44: „II. Weltkrieg 1939 - 1945 Ungarn 1944:

In langen Trecks fahren Pferdefuhrwerke der sogenannten Schwarzmeerdeutschen in Richtung Deutschland. (Aufn.: Juli 1944/Dissmann)“

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Mein Großvater war mein ein und alles seit ich mich erinnern kann. Ich habe meinem Großvater viel zu verdanken. Er prägte mein Leben und er lehrte mir mit der heutigen Zeit umzugehen, indem er immer die heutige Zeit mit seiner Jugendzeit gegenüberstellte, und die schien mir grauenhaft gewesen zu sein, obwohl er immer betonte, wie glücklich seine Kindheit war, was glaubhaft klingt. Auch wenn man zur damaligen Zeit sehr gottgläubig war und sehr primitiv, meiner Ansicht nach, lebte.

Ich, aus der dritten Generation könnte mir ein Leben, welches meine Großeltern führten, nicht vorstellen, aber die damalige Zeit und die Umstände ließen nichts Anderes zu. Der Erzählung nach lebten meine Großeltern im Ausland und betrieben eine Landwirtschaft von beachtlicher Größe. Vor Beginn des 2. Weltkrieges wurden sie umgesiedelt und verloren sich mit vielen tausenden anderen Umsiedlern unter den Millionen Bürgern des Deutschen Reiches. Mein Großvater erzählte nicht von dem Verlust seiner Geburtsheimat, sondern er erzählte mir von der Zukunft und von seiner Kindheit, sonst ließ er die Vergangenheit stillschweigend hinter sich. Leider kannte ich meine Großmutter nicht, denn sie verstarb bald nach der Umsiedlung, weil sie den Verlust der Geburtsheimat nicht verkraften konnte, erzählte mein Opa.

Nach alter Sitte lebten meine Eltern und Großeltern unter einem Dach, sodass oftmals drei Generationen unter einem Dach hausten. Mein Großvater, Albert Kugele, heiratete eine Bauerstochter, Maria Schwarz, und hatte drei Kinder, Sohn Oskar und zwei Töchter, Mathilde und Olga. Mein Vater heiratete noch in der alten Heimat, ebenfalls eine Bauerstochter, Elsa Stahl, und er sollte mal die Landwirtschaft seines Vaters übernehmen.

Im Herbst 1940 begann die fatale Umsiedlung der Deutschen, und ein unheimliches Elend brach über die frommen und fleißigen Bauern und Handwerker sowie Händlern herein. Sie verließen Haus und Hof und durften nur das allernotwendigste mitnehmen. Sammelplatz war die Stadt Galatz, rum. Galati) an der Donau am Schwarzen Meer. Auf der Donau bist nach Prahovo oder Semlin in Jugoslawien fuhr man die Umsiedler, um sie von dort „Heim ins Reich“ zu holen. Meine Mutter, war zu dieser Zeit hochschwanger, und brachte mich auf dem Schiff nach Prahovo zur Welt. Man taufte mich im Auffanglager (Zeltlager) in Prahovo auf den Namen Barbara. Die Umsiedler hatten bis dahin die rumänische Staatsbürgerschaft und verloren sie automatisch mit der Einbürgerung als Reichsdeutsche in den Umsiedler-Lagern, welche über Österreich, Deutschland, Böhmen und Mähren und Warthegau verteilt waren. Für meine Eltern und Großvater begann nun eine lausige Zeit, im wahrsten Sinne des Wortes. Mein Großvater erzählte mir später das Lagerleben in verschiedenen Umsiedler-Lagern, bis man ihnen eine Landwirtschaft in einem polnischen Dorf in Danzig-Westpreußen zuteilte. Die Besitzer der Landwirtschaft wurden enteignet und man setzte Umsiedler-Familien in die enteigneten Häuser.

Da die Umsiedler sehr religiöse und fromme Leute waren, erzählte mein Großvater, fanden sie es ungerecht, und sie wurden durch Drohungen und schweren Strafen gezwungen, auf den enteigneten Höfen zu bleiben, und so betrieben mein Großvater und meine Mutter die ihnen fremde Landwirtschaft, teils mit den ehemaligen Eigentümern, teils mit Arbeitern von anderen enteigneten Höfen. Das war in der Kaschubei. Auch heute noch, nach dem Krieg und nach der Flucht der dort angesiedelten Deutschen, leben die Kaschuben in ihrer angestammten Heimat unter polnischer Regierung. Kaschubei nennt man den Landstrich Pommerellen, westlich von Danzig, wo noch Kaschübisch gesprochen wird.

Mein Großvater war unsere einzige Stütze, als wir auf dem Hof in Danzig-Westpreußen angesiedelt wurden, denn mein Vater kam bald zum Militär und nach einer gründlichen Ausbildung an Artilleriegeschützen kam er an die Ostfront. Das Fiasko nahm kein Ende, denn mein Großvater konnte keine große Hilfe wegen seinem Alter sein, und meine Mutter stand nun allein auf weiter Flur mit den kaschubischen Landarbeitern, und verständigte sich mit Händen und Füßen. Immerhin befasste sich mein Großvater mit mir und bewachte mich wie sein Augapfel. Meine Mutter wurde dadurch entlastet.

Mein Großvater versuchte mir das Leben so schön wie möglich zu machen, da weit und breit keine Kinder waren, welche mit mir spielen konnten, und so vertrieb er mir die Zeit mit Spaziergängen, erklärte mir die schöne Natur mit ihren Tieren und Pflanzen, denn, Fauna und Flora hätte ich sowieso nicht verstanden. Oft saß ich bei Opa auf dem Schoß und lauschte seinen Erzählungen, was ich meistens nicht begriff.

Allmählich durfte ich mit den Kindern unserer Landarbeiter spielen, was in meinem Alter kein Problem war, denn wir Kinder tollten auf der Wiese oder im Obstgarten herum, und hatten unsere Freude daran. Mein Großvater und meine Mutter nahmen die Mahlzeiten gemeinsam mit den Landarbeitern ein, obwohl es von der Kreisleitung strikt verboten war. Mein Großvater sagte: Zuhause auf meinem Hof haben meine Knechte und Mägde mit uns an einem Tisch gesessen, und so soll es auch hier sein. Wer mit uns arbeitet, soll auch mit uns essen, war seine Devise.

Das Jahr 1944 ging zu Ende und die Ereignisse überschlugen sich. Mein Vater wurde von der Ostfront nach Frankreich an den Atlantik, besser gesagt, an Ärmelkanal versetzt, denn dort erwartete man die Invasion der Kriegsgegner. Mein Großvater bereitete unsere Flucht aus der zweiten Heimat vor, denn er schaute wohlweislich voraus, was kommen wird. Das Allernotwendigste wurde gepackt, wie Kleidung, sogar Bettzeug, notwendiges Kochgeschirr, und vor allen Dingen die Hofpapiere der alten Heimat und sonstige Legitimationen, wie Einbürgerungsurkunden etc. Das wichtigste wurde mit großer Sorgfalt hergerichtet. Die Nahrungsmittel für die Flucht. Meine Mutter ließ durch die Landarbeiter ein Schwein schlachten, und wie in der alten Heimat wurde Speckseiten geräuchert, man machte Gebratenes in Gläser, und man hatte eingemachtes Obst und Gemüse im Keller, was nun alles verladen wurde. Brote wurden gebacken und für die Reise verpackt. Man bereitete unter der Führung meines Großvaters die Flucht sehr sorgfältig vor, was für unsere Familie mit nur drei Personen einfach war, im Gegenteil der anderen Familien, welche drei, vier oder sogar fünf Kinder hatten.

Mein Großvater besprach peinlichst genau die Flucht mit seiner Schwiegertochter, denn irgendwie muss er vorausgeahnt haben, dass es so kommen wird, und nun unterbreitete er meiner Mutter den Fluchtplan nach seinen Vorstellungen. Die Arbeiter, welche durch unsere Flucht ihre Höfe wieder in Besitz nehmen konnten, waren für uns eine große Hilfe. In den drei Jahren wurden die Höfe modernisiert, was nun den Besitzern zum Vorteil kam. Auch hatten wir die Kaschuben gut behandelt, sahen in ihnen als Unseresgleichen und dementsprechend respektierten sie uns. Sie betrachteten uns nicht als Fremde oder Eindringlinge, sondern betrachteten uns als Freunde. Wie die Kaschuben zur polnischen Bevölkerung standen, blieb im Dunkeln. Unsere Landarbeiter halfen uns wo sie nur konnten, gaben meinem Großvater sogar Ratschläge, wie er am besten die Flucht nach Deutschland machen kann. Sie beschrieben den Fluchtweg so, dass er die wenigsten Risiken eingehen muss. Da anzunehmen war, dass eine riesige Fluchtwelle auf den Straßen nach Westen sein wird, so riet man meinem Großvater, er solle sich erst nach Süden bewegen und sich keinem Flüchtlingstreck anschließen, sondern sich im Alleingang auf Nebenstraßen bewegen und ab der Gegend um Posen sollte er den Weg nach Westen einschlagen. Er soll Kolonnen meiden, denn dort riskiert er aus der Luft angegriffen, oder von rückmarschierenden Truppen oder Panzerfahrzeuge von der Straße gedrängt zu werden.

Mein Großvater beachtete diese Ratschläge und er erklärte mir die Flucht auf seine Weise. Mit dem Alter von knapp über 4 Jahren saß ich vermummt und gut eingepackt in Decken auf dem Pferdewagen und fand die Reise lustig, denn mein Großvater erklärte mir bei jedem Halt, dass wir uns eine neue Heimat suchen, welche viel schöner sein wird als die alte Heimat, welche wir verlassen haben. Er erzählte mir viel von seiner Heimat und dem vielen Schnee, und fügte hinzu, dass sie bedeutend mehr Schnee hatten als hier. Bist du auch mit so einem Wagen gefahren als du klein warst, Opa? Nein erklärte mir der Großvater. Im Winter hatten wir Schlitten, und wir Kinder fuhren mit unseren Schlitten einen Hügel runter, was eine Wettfahrt war. Wenn unsere Eltern zu Besuch zu unseren Verwandten fuhren, so spannten sie zwei Pferde an einen großen Schlitten und nahmen uns Kinder mit. Auch wir waren so vermummt wie du jetzt bist, Bärbele.

Nun waren wir unterwegs und mein Großvater hielt sich an den Rat seiner kaschübischen Freunde, und schlug die Richtung Posen ein, dann schwenkte er nach Westen in Richtung Frankfurt/Oder. Immer fuhren wir auf Nebenstraßen und wurden weder von den deutschen Truppen noch von den polnischen Partisanen belästigt. Uns muss ein Engel begleitet haben, der uns den Weg bist ins Hohenloher Land gezeigt hat. Wir fuhren täglich nicht mehr als 30 Kilometer und am liebsten suchte sich unser Opa Seitenstraßen, welche durch die kleinsten Dörfer führten, aus. Da wir genügend Lebensmitteln und auch Hafer sowie Heu für die Pferde hatten, mussten wir nicht bei den Einwohnern um Lebensmitteln und Futter für die Pferde betteln. Mein Opa hielt nur an, wenn er die Pferde tränken wollte und wir etwas Nahrung zu uns nahmen. Von Zeit zu Zeit überquerten wir Hauptstraßen, und sahen Kolonnen von Flüchtlingswagen und Panzer sowie Militärfahrzeuge wie ein Lindwurm die Straße hinschlängelnd, welche von Jagdbombern bombardiert und mit Bordkanonen beschossen wurden.

Das Elend für die Flüchtlinge war groß, und es gab viele Tote und Verwundete, denn der Feind nahm keine Rücksicht, ob Militär- oder Zivilkolonnen, es wurde auf alles was da auf der Flucht war, geschossen. Ich als Kind verstand noch nicht, warum mein Opa als Alleingänger die Flucht ergriff, doch später wurde mir klar, dass mein Opa um unser Leben bangte und uns heil bis ins Reich bringen wollte. Seine Taktik war sehr gut ausgeklügelt, denn immer, wenn er Kolonnen sah, hielt er mit unserem Fahrzeug unter einem Baum, weit weg von der Kolonne, und so entkamen wir immer den Luftangriffen der Flugzeuge. Wenn sich die Flugzeuge entfernt hatten, wartete unser Opa, bis sich die Lage beruhigt hatte, dann überquerte er die Hauptstraße, um unsere Fahrt wieder über die Dörfer fortzuführen. Überall, egal auf welchem polnischen Hof wir erschienen, wurden wir immer herzlich eingeladen. Da mein Opa die russische Sprache beherrschte, war es immer interessant, dem Geschnatter zuzuhören. Noch brauchten wir kein Proviant, doch die Polen gaben uns immer etwas, und wenn es nur eingemachte Tomaten oder Gurken in Gläser waren. Wir waren auch immer sehr dankbar, wenn sie uns Brote mitgaben. Mein Opa war auch bibelfest, und oft hörte man ihn Verse aus der Bibel sagen.

Psalm 23: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf grünen Auen, und führet mich zu frischem Wasser. Es waren nicht grüne Auen, denn der Winter bescherte uns viel Schnee und wir hatten unsere Mühe, dass wir täglich unsere vorgesehenen 30 Kilometerstrecken erreichten. Wie gut die Flucht von meinem Großvater vorbereitet war, war eine Meisterleistung. Das Glück war auf unserer Seite. Was wir nicht wussten, Großvater hat oft von der alten Heimat gesprochen und erwähnte auch, dass unsere Vorfahren aus dem Schwobaländle kämen. Er erwähnte viele Orte aus dem damaligen Württemberg. Besonders hob er die Gemeinde „Cleebronn“ hervor. Was das für eine Bewandtnis hatte ist mir bis heute nicht klar. Klar ist mir, dass er damals das Ziel Cleebronn im Visier hatte, und um bis dahin zu gelangen, fuhr mein Großvater über Dörfer, um den Goldfasanen, gemeint waren die Kreisleiter und Parteigenossen, nicht in die Hände zu fallen, sagte er.

Mein Großvater wusste viel mehr als er uns sagte, was zurückführt, bevor er mit all seinen Landsleuten umgesiedelt wurde. Sein Wissen kam uns, meiner Mutter und mir, jetzt zugute, denn er muss schon von der alten Heimat aus Verbindung mit Württemberg gehabt haben, oder er hatte Bekanntschaft mit Parteigenossen aus dem Württembergischen, welche in der Kaschubei ihren Dienst machten, und weil zu der damaligen Zeit Lebensmittel knapp waren, so sah man öfters die Genossen, wie sie, zwar nicht bettelten, aber so manches Stück Landbutter, Fleisch und Wurst von den Bauern zugesteckt bekamen. Es ist möglich, dass sich mein Großvater schon zur damaligen Zeit mit dem Einen oder Anderem Parteigenossen unterhalten hat, und sich mit ihnen beratschlagte, wie man eine Flucht durchführen könnte. Der Kreisleiter und seine Genossen verschwanden über Nacht, und ließen die Landsleute schmählich im Stich und im Ungewissen.

Mein Großvater muss seine eigenen Quellen gehabt haben, denn er erzählte später, dass er von der Großoffensive der Russen am 12. Januar 1945 gehört habe, und laut Berichte haben die Russen mit 4500 Panzern ihren Großangriff begonnen.

Nun heißt es, den Russen immer einen Schritt voraus zu sein. Das war Großvaters Devise. Was bewog ihn, die Flucht erst nach Süden zu nehmen, wo es doch einfacher nach Stettin zu flüchten, um sich dort auf ein Schiff zu begeben? Auch das hat unser Großvater mit einkalkuliert, denn im Norden waren nicht nur die Ansiedler aus Pommerellen, Danzig-Westpreußen, sondern auch die Heerscharen aus Ostpreußen auf der Flucht. Um diesem großen Flüchtlingsstrom aus dem Weg zu gehen, begann mein Großvater die Flucht Anfang Januar, sodass seine Flucht mehr als Reise als Flucht aussah. Und diese Reise ging vorerst nach Süden, dann nahm er die Richtung nach Westen.

Dass die Russen vorhatten, so schnell wie möglich an die Oder zu kommen, muss mein Großvater mit einkalkuliert haben, denn er nahm stracks die Richtung nach der Umgebung von Görlitz, um dort die Neiße zu überqueren. Bei jedem Halt nahm mein Opa mich auf seinen Schoß und erzählte mir, wie schön so eine Reise auch im Winter ist. Er versprach mir, dass er mit mir auch eine Reise im Sommer machen werde, dann könnte ich den Unterschied zwischen Sommer und Winter sehen. Ich freute mich immer, wenn mein Opa so schöne Geschichten erzählte, denn auch er hätte als Kind solche Reisen gemacht. Mein Großvater kalkulierte die Reise zwischen 40 und 60 Tagen, und dementsprechend hatte er auch für diese Zeit die Nahrungsmittel und Futter für die Pferde mitgenommen. Wenn es eine Möglichkeit gab, Unterwegs Nahrungs- und Futtermitteln zu erstehen, so ergänzte er unseren Vorrat. Immer wieder entkamen wir den Luftangriffen der Russen und endlich erreichten wir die Neiße.

Von nun an wird es für uns schwieriger werden, sagte unser Großvater, denn im Reich sind die Nahrungsmittel knapp, und die Leute geben nicht gerne von dem Wenigen, was sie noch haben. Gott sei Dank, sind wir mit Nahrungs- und Futtermittel gut eingedeckt, dass wir nicht als Bettler bei den Einwohnern in Sachsen, Franken und Württemberg erscheinen.

Bis Ende Januar 1945 führte uns unser Opa heil und gesund von Westpreußen an den Orten Dirschau, Thorn, Posen, Grünberg vorbei, bis in die Umgebung von Görlitz, wo wir die Neiße überquerten. Wir entgingen dem Schicksal vieler anderer Flüchtlinge, welche nicht das Glück hatten, denn viele Tausende verloren ihr Leben durch Luftangriffe und später durch die Sowjettruppen.

Während der ganzen Flucht bis in die Gegend von Görlitz betreute mich meine Mutter Elsa, indem sie mich Pflegte und hygienisch betreute. Immer wenn wir in einem Bauerndorf übernachteten, wusch oder badete mich meine Mutter und sie wurde immer von den Frauen der Hauseigentümer unterstützt. Es sah so aus, als ob die polnischen Familien das Leid der Flüchtlinge kannten, und wollten durch ihre Gastfreundschaft das Elend der Flüchtlinge erleichtern. Während dieser Zeit versorgte unser Großvater die Pferde, nach dem Motto; erst das Pferd und dann der Reiter. Anschließend kam er in die Wohnung der Polen, und wenn auch kein Mann anwesend war, so bot man ihm immer ein besonderes Getränk an, den berühmten, Kartoffelschnaps, „Samagonka“. Der selbstgebrannte Fusel sollte gut gegen die Kälte sein. Wie dankbar waren wir den Gastfamilien, und bei der Verabschiedung sah man immer traurig dreinblickende Menschen, welche selbst um ihre Zukunft bangten.

Diese Strecke war, Gott sei Dank, hinter uns, und mein Großvater kam ins Wanken, ob er nicht unsere Pferde mit Wagen verkaufen sollte und unsere Reise per Zug weiterführen. Er besann sich glücklicherweise eines Besseren, denn sonst hätten wir all unsere Lebensmittel, unsere Schlafsachen, und all unsere Habe, welche wir mit uns führten, aufgeben müssen. Wir wären eventuell den eifrigen Parteigenossen in die Hände gefallen und irgendwo in einem Lager verschwunden. Dieses Risiko wollte unser Opa nicht eingehen und wir setzten unsere Reise nach alter Weise fort. Immer die Städte umgehend fuhren wir über die Dörfer von der Gegend Görlitz in Richtung Dresden, Chemnitz, Plauen, Bayreuth, Nürnberg ca. 600 Kilometer bis ins Hohenloher Land in Württemberg. So hatte sich unser Großvater die Reise ausgedacht. Zu betonen ist noch der Ort Cleebronn, welcher so oft von meinem Großvater genannt wurde.

Es hatte den Anschein, als ob es unseren Großvater nach Cleebronn gezogen hatte, doch das Schicksal nahm eine andere Richtung, und wir landeten in einer Ortschaft im Kreis Künzelsau, im Hohenloher Land. Unsere Reise ab Görlitz begann Anfang Februar 1945, und Großvater rechnete mit 20 bis 30 Tagen, bis wir unser unbekanntes Ziel erreichten. Die Befürchtungen, welche unser Großvater hatte, trafen nicht ein, denn überall in den Orten, wo wir um Hilfe baten, handelte es sich nur um Übernachtungen und höchstens etwas Futter für die Pferde. Mit Lebensmitteln waren wir gut versorgt, denn das war ein großes Problem bei der hungernden Bevölkerung, auch auf dem Lande.

Man erfuhr später von anderen Flüchtlingen, dass sie oftmals von den Bauern abgewiesen wurden, wenn sie um Nachtquartier baten. Wir hatten nie Schwierigkeiten mit der Landbevölkerung, weder in Sachsen noch im Frankenland. In Württemberg fühlten wir uns wie zuhause, jedoch entwurzelt. Wie vom Großvater vorausgesehen, landeten wir im Ort Ko… mit etwa 800 Einwohnern, 8 Kilometer von der Kreisstadt Künzelsau entfernt, denn unsere Lebensmittel gingen langsam zur Neige, und an Futter für die Pferde mangelte es auch. Unsere erste Begegnung war der Bürgermeister, welcher uns höflich empfing und sich unser Schicksal und unsere Sorgen anhörte. Er trat uns wohlwollend gegenüber und wies uns eine Unterkunft für eine Nacht zu, und meinte, dass wir am nächsten Tag sehen werden, ob man eine feste Bleibe für uns findet, wenn wir es möchten. Wahrscheinlich war der Bürgermeister uns gegenüber so entgegenkommend, weil mein Großvater sein Urschwäbisches an den Mann brachte?

Das war unsere Flucht aus dem Land der Kaschuben, geschildert, wie es vielen anderen Flüchtlingen auch ergangen ist. Die Beschreibung der Flucht und die Namen der Personen sind erfunden, was aber der Realität nahekommt.

Was das Schicksal uns weiter bescherte, soll nun im folgenden Abschnitt erzählt werden, denn das prägte mein Leben, was mein Großvater mir als Kind lehrte und mich in die Bahnen eines zufriedenen Lebens führte und mir eine glückliche Zukunft voraussagte.

Der Bürgermeister des Ortes muss sich bei seinen Untertanen gut ausgekannt haben, denn er machte ein älteres Bauernpaar ausfindig, Landwirt Karl Klett mit Ehefrau Luise, die gewillt waren, uns Unterkunft zu geben. Sie hatten eine leerstehende Wohnung und würden uns gerne aufnehmen. Ihr Sohn Rolf, der bei der Marine seinen Dienst versah, muss in Gefangenschaft geraten sein, denn in letzter Zeit riss die briefliche Verbindung ab. Nu trafen sich zwei Familien, welche je einen Verwandten im Krieg haben und keine Verbindung mehr hatten.