Große Kinder - Oggi Enderlein - E-Book

Große Kinder E-Book

Oggi Enderlein

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine spannende Zeit Die aufregenden Jahre zwischen 7 und 13 Die Kindheitsjahre zwischen 7 und 13 scheinen eine eher unauffällige Entwicklungsphase zu sein. Dabei wird gerade diese Zeit im Rückblick als spannend, aufregend und geheimnisvoll erlebt. Und wer in diesem Sinne eine reiche Kindheit hatte, ist als Erwachsener meist besonders aufgeschlossen, zupackend, humorvoll und souverän. Oggi Enderlein hat jene spannende Zeit in diesem übersichtlichen Elternratgeber beschrieben. Oggi Enderlein, geboren 1947 in Bogotá, ist Diplompsychologin. Nach langjähriger Tätigkeit als Kinder- und Jugendpsychologin für verhaltensauffällige Kinder arbeitet sie seit einigen Jahren freiberuflich als Supervisorin, Fachhochschuldozentin und in der Erwachsenenbildung. Oggi Enderlein ist verheiratet, Mutter von drei Kindern und lebt in der Nähe von Berlin.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 338

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Oggi Enderlein

Große Kinder

Die aufregenden Jahre zwischen 7 und 13

Deutscher Taschenbuch Verlag

Ungekürzte Ausgabe 2010

Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Lizenzausgabe mit Genehmigung des Kösel-Verlags

© 1998Kösel-Verlag GmbH & Co., München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital– die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

eBook ISBN 978-3-423-41535-4 (epub)

ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-36220-7

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website

www.dtv.de/​ebooks

Meinen kundigen Führern

Almut, Henrik und Marion.

Denn von ihnen

habe ich am meisten

über Kindheit gelernt.

Inhalt

Große Kinder heute

Persönliche Vorbemerkung

Teil I: Allgemeine Entwicklungsthemen

Ich weiß etwas, was du nicht weißt, sag’s dir aber nicht! Oder doch? Die Entwicklung von Selbstbehauptung

Wo leben wir eigentlich? Der Lebensraum des großen Kindes

Wetten, ich schaff’s? Die Entwicklung von Energie, Wille und Beweglichkeit

Wo geht’s lang? Die soziale Entwicklung

Wir sind doch wer! Gemeinschaft und Identität

Doch wer bin ich? Die Entwicklung des Selbst

Und wie seid ihr? Die Beziehung zu den Erwachsenen

Ich spüre das Leben in mir! Die Entwicklung der Gefühle

Wo wachse ich hin? Die Beziehung zur Entwicklung

Teil II: Entdecker, Eroberer, Siedler, Experten und Aufständische

Wo befinde ich mich? Die »Siebenjährigen«

Wo sind die Grenzen? Die »Acht-, Neunjährigen« oder die »kleine Pubertät«

Ich finde meinen Platz Die »Zehnjährigen«

Ich beherrsche die Welt Die »Zwölfjährigen«

Mir wird’s zu eng! Die »Dreizehnjährigen«

Die neue Welt

Literatur

Große Kinder heute

Über Kleinkinder wissen wir relativ viel. Sie hängen noch am Rockzipfel der Erwachsenen, sind ihnen nah, fordern sie, beschäftigen sie seelisch, geistig und körperlich. Kleine Kinder sind für die Erwachsenen insofern anstrengend, als man sie nicht sich selbst überlassen kann. Also haben Erwachsene seit eh und je ein ureigenes Interesse daran, etwas über die Kinder, mit denen sie unentwegt zu tun haben, zu erfahren, aber auch daran, ihre Erfahrungen weiterzugeben. Ob am Sandkasten oder in wissenschaftlichen Kongressen, es ist für sie wichtig, sich auszutauschen. Entsprechend gibt es unzählige Forschungsergebnisse, viele Bücher und inzwischen auch Filme über die Entwicklung von Kindern zwischen 0 und 6Jahren.

Auch über Jugendliche ab etwa 14Jahren gibt es verhältnismäßig viel Literatur und noch mehr Gespräche. Jugendliche ecken an, provozieren, machen Sorgen, reiben sich an den Erwachsenen, fordern sie heraus, gehen ihnen auf die Nerven. Also wecken sie das Interesse der Erwachsenen und folglich befassen sich Erwachsene, wahrscheinlich seit Menschengedenken, mit den spezifischen Erscheinungsweisen des Jugendalters.

Über das Alter zwischen 7 und 13 gibt es bisher nur wenig Literatur. Erstaunlich wenig! Ich meine Literatur, die sich mit der Entwicklung und vor allem mit den Lebensbedürfnissen von Menschen in dieser Lebensphase befasst. Irgendwie werden Kinder, sobald sie in die Schule kommen, nur noch aus der erzieherischen Erwachsenenperspektive wahrgenommen.

Denn natürlich gibt es jede Menge Bücher, Artikel, Broschüren, auch Kongresse und Forschungsprojekte, deren Inhalt Kinder zwischen 7 und 13Jahren sind. Nur geht es dabei fast immer um die Frage, wie man Kindern in dieser Altersstufe in Schule und Freizeit am effektivsten irgendetwas beibringen kann: angefangen vom Schreiben und Lesen bis zum Umgang mit Computern, von der Mengenlehre bis zur speziellen Mathematik für Mädchen, vom »kreativen Malen« bis zum »Training sozialer Kompetenz«, vom Spielturnen bis zum Leistungssport.

Auch über Heil- und Therapieverfahren kann man viel lesen und lernen: von der Ritalin-Pille bis zur Spezialdiät gegen Hyperaktivität, von Stressreduktionskursen bis zu Biofeedback bei Muskelverkrampfungen, vom Neurolinguistischen Programmieren bei Prüfungsängsten bis zu Konzentrationstraining, von Krankengymnastik bei Haltungsschäden bis zur tiefenpsychologischen Spieltherapie. Die Bandbreite von Techniken, um Kinder so zurechtzuformen, wie wir es für richtig halten, oder ihnen aus seelischen Sackgassen zu helfen, ist eindrucksvoll. Werden noch die entsprechenden Klagelieder über die zunehmenden Verhaltensstörungen von Kindern schon in den ersten Schuljahren dazugerechnet, hat man schnell eine ganze Bibliothek über die Probleme, die Erwachsene mit Kindern zwischen 7 und 13Jahren haben, beisammen.

Trotzdem werden die Symptome schlimmer. Eltern, Lehrer und Erzieher beklagen verstärkt, dass immer mehr und immer jüngere Kinder massiv auffällig werden: Aggressivität, nicht nur gegen andere in unglaublich brutaler Form, sondern auch gegen sich selbst bis hin zu Selbsttötungsversuchen, Ängste, Konzentrationsstörungen, motorische Unruhe, chronische Krankheiten, Schulverweigerung, Interesselosigkeit, emotionale Leere, Kontaktstörungen, Unberechenbarkeit, Schwer-Erziehbarkeit, Delinquenz, Drogenkonsum... Die Liste wird immer länger, die Störungen werden immer schlimmer und sie treten in allen sozialen Schichten auf.

Allerdings werden diese drastischen Formen von Auffälligkeiten fast ausschließlich in industrialisierten Regionen mit hohem technologischen und sozialen Standard beobachtet. Unbestreitbar hat das, was in den Taten der Kids unserer modernen Welt mitschwingt, tatsächlich eine ganz neue, »moderne« Qualität: Es ist etwas anderes als die in dieser Altersstufe durchaus »normale« und altbekannte Form von kindlicher Ungezogenheit, Frechheit, Schulfaulheit oder Drückebergerei. Auffallend ist für mich vor allem in Deutschland, dass immer weniger Kinder von innen heraus fröhlich und unbeschwert sind. Viele Jungen und Mädchen wirken tief unzufrieden, obwohl sie »alles haben«.

Woran liegt das? An der beruflichen Überlastung von Vätern und Müttern? An deren Arbeitslosigkeit? An Scheidungen und fehlenden Vätern? An zu verwöhnender oder zu strenger Erziehung? Am Leistungsdruck in der Schule? Das sind die Gründe, die bisher hauptsächlich angeführt wurden. Aber all das ist nicht neu und nichts, was nur in industrialisierten Regionen vorkäme! Liegt es an der »Verstädterung von Kindheit«? Auch Städte sind nichts Neues, und es gab und gibt unzählige Kinder, die in Städten aufgewachsen und dennoch unbeschwert, fröhlich und »normal« geblieben sind. Außerdem beklagen sich Lehrer an Dorfschulen genauso wie ihre Kollegen in der Stadt über zunehmende Verhaltensauffälligkeiten ihrer Schüler. Daran allein kann es also auch nicht liegen. »Neu« ist zweifellos der Verkehr, der die Kinder in Stadt und Land von den Straßen verdrängt hat, und neu und modern sind Fernseher, Computer und technisierte Spielzeuge, mit denen sich die Kinder die Zeit vertreiben. Tatsächlich sind Kinder im Schulalter die absoluten Rekordhalter, was die tägliche Fernseh- und Computerspielzeit betrifft. Aber auch Fernsehen und Computer allein können nicht der Grund dafür sein, dass Kinder so anders sind als früher. Warum schauen sie denn so viel fern, spielen sie so borniert mit ihren Gameboys und haften so an ihren Nintendospielen? Ist womöglich das Fernsehen und Computerspielen noch das Einzige, was reizvoll ist an Kindheit? Was war denn sonst reizvoll an Kindertagen?

In neueren Untersuchungen zum Freizeitverhalten von Kindern im Schulalter stellte sich heraus, dass Kinder sich durchaus anderes wünschen, als immer nur zu Hause vor dem Fernseher oder den Bildschirmen zu hocken. Sie wünschen sich vor allem mehr Platz, mehr Natur und weniger Verkehr, um mit anderen Kindern zu spielen.

Aber auch ohne Autos, Fernsehapparate oder Computer hätten es Kinder nicht leicht, sich spontan und zu mehreren zum Spielen zu treffen. Viele Kinder sind heute nämlich in feste Termine eingebunden: Morgens ist Schule und nachmittags ist entweder Hort, Töpfern, Geigespielen, Reiten, Schwimmen, Fußball, Krankengymnastik oder die Kiefernorthopädin an der Reihe: Nach einem festen Zeitplan werden moderne Kinder von einem Erwachsenen zum anderen gereicht und dabei sozusagen von einem Käfig in den nächsten gesperrt.

Dagegen rebellieren sie. Gott sei Dank!

Auf verschiedene Arten: Die einen versuchen aus dem Käfig »auszubrechen« und schlagen und beißen sozusagen wild um sich. Mit aller Kraft entziehen sie sich dem pädagogischen Zugriff der Erwachsenen und sind »schwer erziehbar«. Auch die zweite Form der Rebellion kennen wir aus der Käfighaltung von Tieren: Aggressionen gegeneinander oder gegen sich selbst– Sucht ist einer von vielen Wegen, sich selbst zu zerstören. Und auch die dritte Form der Rebellion ist bei Kindern nicht anders als bei Käfigtieren: Sie werden stumpf, apathisch, depressiv– oder umgekehrt: motorisch unruhig, nervös, hyperaktiv.

Die Erwachsenen erschrecken und versuchen das Fehlverhalten abzustellen: Die einen fordern wenn möglich geschlossene Erziehungsanstalten und meinen damit, dass die Kinder noch enger an die Leinen genommen werden sollen. Die anderen glauben, die Probleme der Kinder könnten nur durch intensivere Beschäftigung gelöst werden, sie fordern »mehr Programm« in allen Lebensbereichen und tun damit nichts anderes, als immer mehr Ablenkungsgegenstände in den Käfig zu werfen. Die dritten wollen sozusagen die Käfige aufreißen und die Kinder in eine unbegrenzte »Freiheit« entlassen und unterschätzen dabei, wie gefährlich für Körper und Seele eine schutzlose Freiheit ist. Andere wiederum fordern Therapie und meinen damit oft, dass das Kind so repariert werden soll, wie Erwachsene sich »normale Kinder« eben vorstellen: folgsam, konzentriert, fleißig, erfolgsorientiert, aufgeschlossen, freundlich, sozial anerkannt, friedfertig, aber nicht konfliktscheu.

»Kinder an die Macht« ist ein weiterer Lösungsvorschlag von Erwachsenen. Das ist zynisch. Denn wer im Käfig sitzt, kann sich nicht selbst befreien. Nein: Es ist Sache der Erwachsenen, für das Wohl der Kinder zu sorgen, die Bedingungen zu schaffen, in denen sich jedes Kind innerlich und äußerlich frei, aber geschützt zu einer individuellen, stabilen Persönlichkeit entwickeln kann.

Sigmund Freud hat das Alter zwischen 5 und 12 als »Latenzperiode« bezeichnet, das heißt, als eine auffallend unauffällige Lebensphase, in der nichts besonders Wichtiges für die Entwicklung der Persönlichkeit geschieht. Freuds Meinung wirkt leider in der Haltung vieler Entwicklungspsychologen bis heute nach. Es spricht allerdings viel dagegen, dass es im Leben von Kindern, die unter einigermaßen altersgerechten Bedingungen aufwachsen, innerlich und äußerlich besonders ruhig, unbedeutend und langweilig zugeht. Und ebenso viel spricht dagegen, dass diese Zeit für die Entwicklung der Persönlichkeit weniger entscheidend sein soll als die frühe Kindheit und das Jugendalter.

Wie entscheidend die frühen Kinderjahre für die Persönlichkeitsentwicklung des Menschen sind, haben Sigmund Freud und seine Nachfolger aus den krankhaften Persönlichkeitsstörungen bei Erwachsenen geschlossen. Inzwischen ist dieser Zusammenhang in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen worden.

Wie sich eine »verpasste Kindheit« zwischen ungefähr 6Jahren und der Pubertät auf die Persönlichkeit des Erwachsenen auswirkt, darüber gibt es meines Wissens noch keine einschlägigen Untersuchungen. Aber es gibt deutliche Hinweise:

Erwachsene »mit Ausstrahlung«, die in besonderem Maße lebendig, aufgeschlossen, taktvoll, unerschrocken sind, die mit humorvoller Selbstsicherheit auf andere Menschen zugehen, die den Mut haben, gegen den Strich zu denken, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen, die nicht von anderen die Lösung von Problemen erwarten, sondern selbst zupacken, die bereit sind, Verantwortung zu tragen und souverän damit umgehen können, wenn ihnen mal etwas danebengeht, für die Gemeinschaftsarbeit und Teamgeist eine Selbstverständlichkeit sind. Diese Frauen und Männer berichten erstaunlich übereinstimmend von Kindheiten, die voller selbstbestimmter, oft riskanter, manchmal schmerzhafter und dennoch immer lustvoller Spiele und Abenteuer gemeinsam mit Freunden waren.

Erwachsene dagegen (besonders viele der jüngeren Generation!), die durch phantasieloses Angepasstsein, fehlende Eigeninitiative, durch unausgeglichene Gefühlsausbrüche aller Art, durch Sucht nach gefühlsintensiven Erlebnissen auffallen, die unter einer eigentümlichen emotionalen Leere, oft gekoppelt mit Angstgefühlen, an Kontaktschwierigkeiten und Selbstwertstörungen leiden, haben kaum Erinnerungen an selbstbestimmte, gefühlsintensive Abenteuer und Erlebnisse gemeinsam mit einer Gruppe von Gleichaltrigen.

Die Sehnsucht nach verpassten Gefühlen und Kindheitserlebnissen bohrt aber offenbar weiter. Es ist auffallend, dass in den Industrienationen »Extremabenteuer« für Jugendliche und junge Erwachsene ein einträgliches Geschäft geworden ist: »Extrem«expeditionen, »Extrem«skifahren, Geländerallyes, Trekking, Rafting, Freeclimbing oder das »Abenteuer«, sich an einem Gummiseil hängend von einem Kran oder einer Brücke in die Tiefe zu stürzen, zeigen die Sucht nach »Feeling«, die Sehnsucht danach, endlich mal ein echtes Gefühl, den »Kick« zu erleben.

Wahrscheinlich saßen die Jungs (und Mädchen!) in dem Alter vor der Glotze, als es möglich gewesen wäre, bei einem tiefen Sprung von einem eroberten Pfosten, vom Baum in den Laubhaufen, beim Treffen in einem heimlichen Lager, beim Versteckspielen im Dunkeln hautnahe, prickelnde Gefühle zu erleben. Und wahrscheinlich hat das, was sie am Bildschirm »erlebten«, zwar die Lust auf Erlebnisse geschürt, aber die schwelende Hoffnung wurde nie eingelöst. Als Erwachsene versuchen sie dann den unbefriedigten Erlebnishunger zu stillen. Trotz aller Mühen und Extreme werden sie aber letztlich wohl nicht mehr auf ihre Kosten kommen. Zumindest muss im Vergleich zu der Zeit, als sie noch Kinder waren, sehr dick aufgetragen werden, um die ersehnten Gefühle auch nur annähernd zu erreichen. Der zunehmende Konsum von Drogen, mit deren Hilfe Gefühle intensiver und länger anhaltend erlebt werden sollen, ist ein weiteres Anzeichen dafür, dass immer mehr junge Menschen tief im Innern unter einem schalen, farblosen Gefühlsvakuum leiden und alles versuchen, um ihre Gefühle wachzurütteln und bunter zu machen.

Offenbar liegt der richtige Zeitpunkt für die Entstehung einer breiten Palette von wichtigen und tiefen Gefühlen und Lebenserfahrungen in der Zeit zwischen Schulreife und Pubertät. Und wie es scheint, ist ein Zu-Spät leicht ein Nie-Mehr.

Was also brauchen Kinder, um aus sich heraus zu ausgeglichenen, ansprechbaren, fröhlichen, emotional lebendigen, lebensbejahenden und nicht nur körperlich, sondern auch seelisch gesunden und widerstandsfähigen Menschen heranzuwachsen? Um das zu erfahren, müssen wir versuchen herauszufinden, was für große Kinder, für Kinder zwischen etwa 7 und 13 »normal« ist, welche natürlichen Lebensbedürfnisse sie haben, welchen Lebens- und Bewegungsraum sie brauchen, welche Erfahrungen für ihr Alter normal und für ihre Entwicklung wichtig sind.

Was wirklich alterstypisch und für eine natürliche Entwicklung notwendig ist, erkennt man am besten, wenn man Kindheiten aus verschiedenen Zeiten und Kulturen miteinander vergleicht. Gespräche mit Erwachsenen aus verschiedenen Generationen und unterschiedlichen Ländern sind wertvolle, lebendige Quellen. Schriftliche Lebenserinnerungen geben Einblicke in Kindheiten aus unterschiedlichen historischen und sozialen Zusammenhängen. Die Beobachtung von Kindern in Gegenden, in denen sie noch in gewissem Maße ein »Eigenleben« führen, liefert Hinweise dafür, was Kinder auch heute noch treiben und tun würden, wenn sie Gelegenheit dazu hätten.

Dort wo Kinder »natürlich« leben, besonders in den Entwicklungsländern, ist der technische Fortschritt häufig noch nicht sehr weit entwickelt. Damit verbunden ist, dass auch die sozialen Verhältnisse aus unserer Sicht oft problematisch und »unterentwickelt« sind. Und das heißt für uns Mitteleuropäer fast automatisch, dass Kinder in diesen Verhältnissen ihrer Kindheit beraubt werden, weil sie unterdrückt und zur Arbeit gezwungen sind und in Armut leben müssen.

Das stimmt. Aber es stimmt nur teilweise. Denn zum einen sind auch in »Entwicklungsländern« Kinder nicht durchwegs bettelarm, geschweige denn zu ausbeuterischer Arbeit gezwungen, genauso wenig, wie es alle europäischen Kinder früherer Zeiten waren. Zum anderen kommen auch in den Lebenserinnerungen von Menschen, die in sehr armen Verhältnissen aufgewachsen sind und die als Kinder hart drangenommen wurden, neben diesen düsteren Seiten durchaus positive, intensive Erinnerungen an ein selbstbestimmtes, erlebnisreiches Kinderleben vor, aus denen sie als Erwachsene spürbar noch Kraft schöpften. Im Kern gute Erfahrungen, die für viele Kinder unserer Tage unerreichbar geworden sind.

Mit Kindheit ist es vielleicht wie mit der Umwelt: Der technologische Fortschritt hat viel zerstört. Wenn wir das verloren gegangene Leben wiederherstellen wollen, müssen wir zwar zurückschauen, um zu sehen, was eine gesunde, ausgeglichene Natur braucht. Das heißt nicht, dass wir das Rad der Geschichte zurückdrehen müssen. Das ginge auch gar nicht. Wir müssen aber nach Möglichkeiten suchen, wie wir die verlorene Lebendigkeit zurückgewinnen können, ohne damit auf die Errungenschaften des Fortschritts verzichten zu müssen.

In diesem Sinn möchte ich mit diesem Buch versuchen, dem Rad der Geschichte einen kleinen Schubs nach vorn zu geben, in der Hoffnung, dass eines Tages die Kinder in unserer Gesellschaft wieder so leben können, wie sie es für eine natürliche und gesunde Entwicklung brauchen.

Persönliche Vorbemerkung

Den Anstoß für dieses Buch gab Professor Wolfgang Edelstein, einer der führenden Wissenschaftler am Max-Planck-Institut für Bildungs- und Entwicklungsforschung in Berlin. Ihm verdanke ich vor allem die Ermutigung, etwas aufzuschreiben, was in weiten Strecken mehr auf praktischer Lebenserfahrung beruht als auf wissenschaftlicher Forschung.

Soweit es mir möglich war, habe ich aber versucht, die wissenschaftlichen Forschungsergebnisse einzuarbeiten. Dabei habe ich allerdings auf Anmerkungen oder Querverweise im Text verzichtet. Wenn man versucht, Entwicklung als einen ganzheitlichen Prozess zu verstehen und zu beschreiben, berührt man logischerweise alle Themen der Entwicklungs- und Erziehungsforschung: Es geht um Denkpsychologie genauso wie um Emotionspsychologie, um die Entwicklung der sozialen Kompetenz ebenso wie um die Entwicklung der Identität, um den Einfluss von Schule, Unterricht und Elternhaus und um den Einfluss von Gleichaltrigen. Es geht um Stichwörter wie Entwicklungsaufgaben, Entwicklungskrisen, Sozialökologie, Kinderkultur, Mediennutzung usw. Das heißt, dass eigentlich fast in jedem Satz mindestens ein Verweis zur wissenschaftlichen Literatur sinnvoll gewesen wäre. Das wollte ich dem Leser ersparen. Die nur scheinbar übergangenen Wissenschaftler bitte ich um Verständnis und Nachsicht. Wer wissenschaftliche Querverweise sucht, wird in der neuen Ausgabe der Entwicklungspsychologie von Rolf Oerter und Leo Montada, im Handbuch der Kindheitsforschung von Manfred Markefka und Bernhard Nauck sowie in Was für Kinder vom Deutschen Jugendinstitut die Wegweiser zu den wissenschaftlich belegten Fakten finden, die in dieses Buch eingeflossen sind.

In erster Linie hat mir dennoch die erwähnte praktische Lebenserfahrung die Feder geführt. Sie hat mehrere Wurzeln: Wenn man schon bei seiner Geburt zwei ältere Geschwister hat und dann noch mal drei nachkommen, ist die Entwicklung von Kindern wohl von klein an ein wichtiges Lebensthema. Dazu kommt, dass ich von Anfang an von Kindern aus verschiedenen sozialen Schichten und Kulturen umgeben war. Ich bin in Kolumbien geboren und meine Kindheit spielte sich zwischen deutschen und kolumbianischen Kindern, zwischen Familien in relativem Wohlstand und Kindern einer Slumsiedlung ab, teilweise in der Großstadt, teilweise auf dem Land. Unsere Eltern, die selbst mit jeweils vier Geschwistern im Deutschland zwischen den Weltkriegen aufgewachsen waren, hatten ein unglaubliches Vertrauen in unsere kindlichen Instinkte und haben uns– in Grenzen, aber trotzdem reichlich– Freiheit zugestanden.

Mit 11Jahren kam ich nach Deutschland und erlebte hier, wie deutsche Kinder im Wirtschaftswunder lebten– und wie die Freiheiten deutscher Kinder immer mehr beschnitten, ihre Lebensräume immer weiter eingegrenzt wurden.

Meine Verbindung zu verschiedenen Kulturen und ihren Kindern ist bestehen geblieben und hat sich sogar erweitert. Und Kinder sind mein Beruf geworden. Vor allem die so genannten schwierigen, verhaltensauffälligen Kinder. Zum Glück hatte ich durch meine drei eigenen Kinder, ihre unzähligen Freunde und Klassenkameraden und durch die Kinder von Verwandten und Freunden immer den Vergleich mit »normalen« Kindern. Sie haben mich gelehrt, zwischen den ganz normalen, altersbedingten »Verhaltensauffälligkeiten« von Kindern und den wirklichen seelischen Hilferufen, die sich hinter den echten Verhaltensstörungen von Kindern verbergen, zu unterscheiden. Im alltäglichen Zusammenleben mit Kindern wurde aber auch zunehmend spürbar, wie sehr Kindheit in unserer modernen, technisierten Kultur »verkarstet«, an Lebendigkeit verliert.

Welche »Auffälligkeiten« »normal« sind und wo sich die Lebensbedingungen von Kindern in unserer Kultur so verändert haben, dass Kinder offenbar gar nicht mehr normal sein können, wurde in Gesprächen mit Eltern, Lehrern, Erziehern, Studenten und Erwachsenen aus verschiedenen Kulturen immer deutlicher. Besonders in den Gesprächen mit Johannes Bleek und den anderen Kolleginnen und Kollegen der Sophienpflege in Tübingen, den Studentinnen und Studenten der Fachhochschulen in Reutlingen und Potsdam sowie Erzieherinnen und Erziehern aus verschiedenen Generationen und Kulturen ist mir das immer klarer geworden.

Die Frage, ob es auch nach dem Kleinkindalter für die seelisch-emotionale Entwicklung der Person noch bestimmte Gesetzmäßigkeiten und Erfordernisse gibt, wurde zur Zeit meines Studiums von der wissenschaftlichen Psychologie nicht gestellt, und ich habe den Eindruck, dass dieses Thema trotz der neueren Forschungen immer noch unbeantwortet im Raum steht.

Es waren nicht zuletzt die Gespräche mit Waldorflehrern, die mich darin bestärkt haben, dass sich Menschen nicht nur körperlich und intellektuell, sondern auch seelisch-emotional, das heißt auch in ihren Interessen und Lebensbedürfnissen nach Gesetzmäßigkeiten entwickeln, die altersabhängig sind. Ein Kern der Pädagogik Rudolf Steiners ist nämlich, dass Kinder aufgrund ihrer inneren Entwicklung in bestimmten Altersstufen besonders offen und emotional empfänglich sind für bestimmte Lebensthemen. Die Frage lag also nahe, ob und welche altersspezifischen Lebensbedürfnisse von Kindern außerhalb der Schule und außerhalb des Einflussbereichs von Erwachsenen für die Entwicklung wichtig sind.

Schließlich hat mich eine weitere Lebenserfahrung auf die Bedeutung von Gefühlserfahrungen in der Kindheit aufmerksam gemacht: meine Psychodrama-Ausbildung bei Heika Straub am Moreno-Institut in Stuttgart und die Arbeit in und mit Psychodrama-Gruppen. (Psychodrama ist ein psychotherapeutisches Verfahren, in dem Lebensszenen, die in irgendeiner Form prägend oder entscheidend gewesen sind, von den betroffenen Menschen noch einmal nachgespielt werden. Dabei wird deutlich, wie intensiv Gefühle aus der Kindheit bis ins Ewachsenenalter nachwirken und wie lebendig und unmittelbar sie auch nach vielen Jahren noch erlebt werden, wenn der Zugang zu ihnen freigelegt wird. Das gilt für negative Gefühle genauso wie für positive.)

Hinter meinen Gedanken stehen also neben den im Literaturverzeichnis aufgeführten Büchern vor allem viele Menschen aus sehr verschiedenen Lebensbezügen. Sie alle haben an diesem Buch ebenso »mitgeschrieben« wie alle Kinder, die mit ihren Geschichten vorkommen. Wer sich konkret hinter den Geschichten verbirgt, ist nicht mehr zu erkennen: Zum einen spielen sich viele Begebenheiten bei verschiedenen Kindern in ähnlicher Form ab, zum anderen sind selbstverständlich alle Namen und andere »persönliche Kennzeichen« frei erfunden. Außerdem sind die meisten der erwähnten Kinder längst keine Kinder mehr.

Auch meine drei Kinder sind inzwischen erwachsen. Ohne sie hätte ich den inneren Faden zur Kindheit, der dieses Buch zusammenhält, wahrscheinlich längst verloren. Und ohne Hinrich, ihren Vater, hätte es etliche Erfahrungen von spannender, komischer, lustvoller Kindheit in unserer Familie nicht gegeben. Er hat uns vorgelebt, dass man als Eltern ab und zu den »erwachsenen Pädagogen« getrost abstreifen darf, um über das eigene innere Kind einen unmittelbareren Kontakt zu seinen Kindern zu knüpfen.

Euch also– und nicht zuletzt auch den Lektoren des Kösel-Verlags, Dagmar Olzog und Gerhard Plachta– ist dieses Buch zu verdanken!

Teil I

Allgemeine Entwicklungsthemen

Ich weiß etwas, was du nicht weißt, sag’s dir aber nicht! Oder doch?

Die Entwicklung von Selbstbehauptung

Es hat seinen guten Grund, dass wir vergleichsweise wenig über das »normale« Leben von Kindern zwischen etwa 7 und 13Jahren wissen. Für die psychische Entwicklung in diesem Alter ist es nämlich außerordentlich wichtig, sich dem Blickfeld der Erwachsenen, ihrer indiskreten Neugierde, ihrer Tendenz, sich in alles einzumischen, alles wissen und dirigieren zu wollen, zu entziehen. Kinder ab 7 müssen sich, wenigstens ab und zu, »von der Hand der Erwachsenen losreißen«, um, gemeinsam mit Altersgenossen, auf eigene Faust und auf eigenes Risiko zu »leben« und zu handeln. Daran wachsen sie.

Aufsichtspflicht, Haftpflichtgedanken, Sorge um die Sicherheit, der Vorrang von Schulbildung und die Angst vor »Verwahrlosung« haben bei uns in den letzten 40Jahren dazu geführt, dass die meisten Kinder bis ins Jugendalter unter der permanenten Kontrolle von Erwachsenen stehen: in der Schule, in der Freizeit, zu Hause. Daheim gibt es zwar die Möglichkeit, am Fernseher oder Computer auf »eigenes Risiko« Sendungen anzuschauen, die »verboten« sind, oder sich heimlich mit Programmangeboten zu beschäftigen, die »noch nichts für dein Alter« sind; das ist aber nur ein fahler Abklatsch von selbstbestimmtem Kinderleben.

Kinder, die nicht am Gängelband der Erwachsenen gehalten werden, beschäftigen sich mit anderen Dingen, die erheblich mehr »Lebensqualität« bringen, weil sie lebendig und mit intensiven Gefühlen verbunden sind und weil sie ganz persönliche körperliche und geistige Aktivität erfordern.

Drei zentrale Themen ziehen sich wie ein roter Faden durch die Entwicklung zwischen etwa 7 und 13Jahren:

die eigenständige Erkundung der Welt außerhalb des Elternhauses (in sicherem Abstand von Erwachsenen),

das Zusammensein und die Auseinandersetzung mit Altersgenossen (dabei haben die Erwachsenen nichts zu suchen) und

Geheimnisse und Heimlichkeiten.

Auf der ganzen Welt und zu allen Zeiten spielt das Geheime eine Schlüsselrolle im Leben von Kindern im Alter ab etwa 7Jahren. Offenbar ist es eine Art Zauberelixier für ihre Entwicklung. Heimlich etwas zu tun heißt, auf eigene Verantwortung zu handeln. Das ist ein enormer Schritt in der Entwicklung des Menschen! Ihn zu wagen, kostet allerdings große Überwindung (wie schwer tun sich noch viele Erwachsene damit, für etwas Verantwortung zu übernehmen, dessen Ausgang ungewiss ist!). Kinder werden vom Unbekannten, Geheimnisvollen, Unheimlichen, Verbotenen magisch angezogen. Diese kindliche Eigenschaft hat zwei Seiten. Nicht nur die negative, die wir Erwachsenen als Vorwand nehmen, um die Kinder vor »unbedachten Wagnissen« zu schützen und sie möglichst unter eine streng geregelte Rund-um-die-Uhr-Kontrolle zu stellen. Die positive Seite ist, dass Kinder den Dingen selbständig auf den Grund gehen und dabei viel über die Welt erfahren. Sie lernen selbstverantwortlich zu handeln und ihre Fähigkeiten einzuschätzen.

Simone de Beauvoir ist vorwiegend in Paris aufgewachsen. Umso wichtiger war es für sie offenbar, dass sie wenigstens in den Ferien auf dem Land einen Ort hatte, den sie gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester selbständig in immer weiteren Kreisen auskundschaften konnte und an dem sie unabhängig und »frei« war. Sie schwärmt noch als erwachsene Frau:

Mein Glück erreichte seinen Höhepunkt in den zweieinhalb Monaten, die ich auf dem Lande verbrachte... Meine Zeit war dann nicht mehr durch feste Anforderungen geregelt, deren Fehlen aber wurde durch die Unendlichkeit der Horizonte, die sich meiner Neugierde eröffneten, reichlich kompensiert. Ich erforschte sie auf eigene Faust, die Erwachsenen standen nicht mehr als Mittler zwischen der Welt und mir...

Wir zerschunden uns die Beine an Ginstergestrüpp, die Arme an Dorngesträuch, wir erforschten kilometerweise im Umkreis Kastanienwälder, Felder und Heideland. Wir machten große Entdeckungen: Teiche, einen Wasserfall, mitten im Heidekraut graue Granitblöcke, die wir erkletterten... (Beauvoir, S.72ff.)

In ihren heimlichen Abenteuern suchen Kinder immer wieder kleinere (und leider manchmal auch größere) Gefahren. Damit stellen sie sich unbewusst sozusagen winzig kleinen »Todesängsten«. Das Erlebnis, sie unbeschadet überstanden zu haben, festigt eine tiefe, unbewusste Lebenszuversicht. (Darauf gehe ich im Kapitel »Ich spüre das Leben in mir!« noch näher ein.)

Geheimnisse und Heimlichkeiten brauchen aber keineswegs die Verlockung von Abenteuer, um Kinder in ihren Bann zu ziehen. Allein schon, dass etwas »geheim« ist, erzeugt bei großen Kindern ein unvergleichliches »Heimlichkeitskribbeln«. In einer kleinen Szene, die Siegfried von Vegesack beschreibt, wird das deutlich:

»Aber ich habe ein Geheimnis«, fuhr Boris fort, »und das muß ich dir jetzt sagen. Aber du darfst es niemandem verraten!«

»Niemandem!« beteuerte Aurel feierlich...

»Dann mußt du es schwören!«

Aurel hockte sich hin und hob die Hand: »Ich schwöre!«

Boris rückte noch näher an sein Ohr und flüsterte:

»Ich weiß eine Höhle, die niemand weiß, auf der Insel, und dort habe ich etwas versteckt. Morgen zeige ich es dir.«

»Eine Höhle?« Aurels Herz klopfte.

»Ja, eine richtige Höhle!« versicherte Boris. »Und du– hast du auch ein Geheimnis?«

Aurel grübelte lange angestrengt: Nein, er kannte keine Höhle... und der Heuboden war... eigentlich kein... Geheimnis... Ein richtiges Geheimnis ist nur das, was niemand weiß. Wie schrecklich, daß er keins hatte. Er schämte sich sehr. Aber da fiel ihm ein, daß er einmal in Blumbergshof unter der Gartenveranda heimlich einen toten Maulwurf begraben hatte. Dieses Geheimnis konnte sich zwar nicht mit der Höhle messen, aber ein besseres wußte er nicht. Und so vertraute er Boris den toten Maulwurf an. Und auch Boris schwor, ihn niemandem zu verraten. (Vegesack, S.100f.)

Geheimnisse verbrüdern und verbünden. Und mit Geheimnissen kann man andere ausschließen. Das sind außerordentlich wichtige soziale Basiserfahrungen, die Kinder im Alter zwischen 7 und 13 in vielen Variationen durchspielen (mehr dazu in den Kapiteln »Wo geht’s lang?«, »Wir sind doch wer!« und bei den »Zehnjährigen«). Während die Erwachsenen aber wirklich draußen bleiben und nicht erfahren sollen, was man da heimlich miteinander ausheckt, treibt, tuschelt, schreibt, sammelt, versteckt, sind die ausgeschlossenen Altersgenossen unersetzliche Partner im Spiel der Heimlichkeiten. Darin liegt ihr zweiter Effekt: Wie beim Katz-und-Maus-Spiel (das übrigens eines der Lieblingsspiele von Kindern dieser Altersgruppe ist) werden nämlich die »Unwissenden« dazu herausgefordert, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Und garantiert steigen die Kinder auf Heimlichkeiten ihrer Kameraden ein. Heimlichkeiten und Geheimnisse sind also ganz wichtige Schwungräder für die Begegnung der Kinder untereinander.

Gleichzeitig sind Geheimnisse Machtmittel, um andere Kinder zu bestechen und zu unterdrücken. Das finden Erwachsene nicht schön. Und damit haben sie Recht, und das sollten sie den Kindern auch ruhig zu verstehen geben. Aber man muss auch sehen, dass Kinder mit ihren »Machtspielen« gegenseitig ihre innere Stärke und Widerstandsfähigkeit austesten. Wenn sich ein Kind nicht (mehr) von den Heimlichtuereien der Kameraden ärgern und locken lässt, beweist es damit, dass es ein gutes Maß an selbstbewusster Unabhängigkeit entwickelt hat, auf die es ein Leben lang aufbauen kann.

Auch ein Geheimnis zu wahren, erfordert innere Kraft, denn Geheimnisse haben die unangenehme Eigenschaft, dass sie unerbittlich danach drängen, verraten zu werden. Wer es schafft, ein Geheimnis nicht weiterzuerzählen, hat beträchtliche Charakterstärke entwickelt.

Um zu wissen, was richtig und was falsch ist, was wirklich gefährlich ist und was gemein, brauchen Kinder allerdings die Rückmeldung von Erwachsenen. Wenn tatsächlich Dinge passieren, die die Kinder nicht mehr in den Griff bekommen, und wenn sie sich wirklich Schlimmes antun, werden fast immer entsprechende Signale in Richtung Erwachsene gegeben. Das Problem ist aber, dass Erwachsene die Signale oft nicht verstehen, überhören oder bewusst ignorieren. Das ist schlimm für die Kinder, denn sie holen sich »heimlich«, also kaum erkennbar in beiläufigen Nebensätzen oder unschuldigen Andeutungen immer wieder die Rückversicherung, dass das, was sie tun, noch nicht zu weit geht. Falls doch, müssen Erwachsene da sein, die eindeutig Stellung beziehen und die den Kindern auch klarmachen, dass man Geheimnisse, die Schlechtes verbergen, preisgeben kann, ja offen legen muss, ohne dadurch zum »Verräter« zu werden.

Wenn man als Erwachsener entsprechend hellhörig ist, die Kinder von fern im Auge behält und ihnen dennoch ihre »Heimlichkeiten« zugesteht, wird man immer genug von dem mitbekommen, was sie treiben.

Wie wichtig gerade die »heimlichen« Kindheitserlebnisse für die Entwicklung von Eigenständigkeit, Selbstbehauptung, Kreativität, sozialem Verhalten, Selbstvertrauen, Risikobereitschaft, Zuversicht und emotionaler Lebendigkeit sind, wird erst in der Rückschau aus der Erwachsenenperspektive spürbar. Wenn ich Erwachsene, die nicht unter dem Diktat des Fernsehens und unter der lückenlosen Beaufsichtigung von Eltern oder Pädagogen aufgewachsen sind, auf ihre Kindheitserfahrungen anspreche, stoße ich zwar regelmäßig zunächst auf Reaktionen wie: »Ich habe nie etwas Verbotenes oder Heimliches getan, ich war ein ziemlich artiges Kind.« Wenn sie dann aber anfangen, von ihrer Kindheit zu erzählen, sprudeln plötzlich mit unglaublicher Lebendigkeit intensive Bilder und Gefühle hervor, Erinnerungen an alte Geheimnisse, die oft jahrelang »vergessen« waren, die aber offenkundig sehr prägend gewesen sind.

Wie bei dieser etwa vierzigjährigen Mutter, die mich in ihr jahrzehntelang gehütetes Geheimnis einweihte, als ich sie fragte, was sie gemacht habe, als sie etwa 8Jahre alt gewesen ist:

»Oh ja, da saß ich mit einer Freundin oft stundenlang am Flüsschen, auf einer Brücke, die Füße reichten gerade eben nicht bis zum Wasser...« (die Spannung, ob die Füße nass würden oder nicht, war auch nach 32Jahren noch zu spüren!). »Dabei ein Tütchen lila– lila! Brausepulver schlecken: Wer die lilanere Zunge hatte.« (Sie amüsierte sich köstlich bei dieser Erinnerung, aber ein spitzbübisches Lächeln signalisierte, dass die Geschichte weiterging.) »Dann das Tütchen in den Fluss werfen... und zur nächsten Brücke laufen, das Tütchen rausfischen...« (juchzend unterdrücktes Kichern) »...und dann weiter am Brausepulver schlotzen! Das war das Größte!– Das ging aber nur mit dieser einen Freundin.«

Das passte zu dieser feinsinnigen, unkonventionellen, engagierten, verlässlich-kooperativen, lustigen Frau.

Auch wenn diese Episode wahrhaftig harmlos ist: In Gegenwart von Erwachsenen wäre solch ein Spiel undenkbar gewesen! In Gegenwart eines Erwachsenen hätten die Mädchen ihre »eigene Verantwortung« für dieses Spiel, von dem sie annahmen, dass es bestimmt nicht »erlaubt« sei, abgestellt. Die wichtige Erfahrung, selbständig etwas sehr Ungewöhnliches, ja »Unmögliches« zu tun und mit den vermeintlichen Risiken fertig zu werden, wäre dahin gewesen. Wenn Erwachsene dabei sind, ist Kinderleben eben langweilig, die bunten, aufregenden, bereichernden Gefühle bleiben aus.

Dass sich Kinder keineswegs daran gewöhnen, ständig von Erwachsenen beobachtet und gesteuert zu werden, dass sie im Grunde nicht glücklich sind mit diesem fremdbestimmten, durchorganisierten Leben, das wir ihnen in unserer modernen Gesellschaft zumuten, belegen einige neuere Untersuchungen: Bei einer groß angelegten Befragung von Kindern im Raum Darmstadt äußerten 1989 vier von fünf Kindern den Wunsch nach häufigeren Versteck-, Fangen- oder Räuber-und-Gendarm-Spielen oder einfach mehr Spielen mit anderen Kindern (Deutsches Jugendinstitut, S.63). Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine Befragung von zehnjährigen Kindern in Österreich. Auch dort wünschten sich die meisten Kinder mehr und engere Freunde und mehr Zeit, sich mit Freunden zu treffen (vgl. Wilk/Bacher)– aber bestimmt nicht unter Anleitung von Erwachsenen!

In diesen Untersuchungen wird deutlich, dass sich erstaunlicherweise eher Stadt- als Landkinder zu Gruppen zusammenschließen und häufig miteinander ihre freie Zeit verbringen. Sie treffen sich mit Vorliebe in Kaufhäusern. Dort wird mit Computern gespielt und sicher auch auf eigenes Risiko genügend angestellt, was »geheim« ist. Bei dieser Art von Abenteuern bleibt zwar die Erfahrung einer gewissen Selbstverantwortlichkeit und Risikobewältigung erhalten und auch heute noch ist bei »Kaufhauskindern« das »Heimlichkeitskribbeln« die wichtigste Triebfeder ihrer Taten. Aber besonders »geheimnisvoll« sind Kaufhäuser bestimmt nicht, und »ungewöhnliche«, gar »einzigartige« Abenteuer, die sonst keiner kennt und die »niemand bisher« gewagt hat, sind für Kinder in unserer reglementierten Welt kaum noch zu finden.

Verschiedenste Studien bestätigen immer wieder, dass gerade Kinder zwischen 7 und 13Jahren am meisten fernsehen und sich mit Computerspielen beschäftigen. Äußerlich zum Stillstand verdammt, allein gelassen mit ihren Gefühlen und Ideen, schauen sie sich am Fernseher die geheimnisvollen und unheimlichen Abenteuer anderer an und erleben, wie andere Menschen »in aller Öffentlichkeit« Dinge tun, die eigentlich verboten sind. An ihren Gameboys und Computern klinken sie sich in vorgegebene Abenteuerbahnen ein, die genauso von fremder Hand und fremden Phantasien gesteuert sind wie die Abenteuermaschinen auf dem Festplatz: Es kribbelt zwar, es ist aber nichts, was man selbst verursacht hat oder was man mit Eigeninitiative irgendwie verändern, mit eigenen Ideen beeinflussen kann. Und wie es ausgeht, steht von vornherein fest.

Heißt das nun, dass man Kinder sich selbst überlassen soll? Dass sich Eltern, Lehrer, Erzieher, Politiker nicht mehr darum kümmern sollen, was Kinder, die erst 7, 9, 12Jahre alt sind, nach der Schule treiben, damit sie ungestört ihren »Heimlichkeiten« nachgehen können? Ist das nicht viel zu gefährlich in unserer modernen Welt? Ist es nicht im Gegenteil heutzutage geradezu lebenswichtig für Kinder, dass sie gut aufgehoben und beschützt werden und wenigstens solange sich von den Erwachsenen noch etwas sagen lassen, solange sie unter deren Aufsicht stehen? Wird nicht täglich in den Medien warnend berichtet, was alles passiert, wenn Kinder sich selbst überlassen bleiben? Sind nicht unsere eigenen Erinnerungen Warnung genug?

»Ein Glück, dass meine Eltern keine Ahnung hatten von dem, was wir getrieben haben!«, bekennen viele Erwachsene, die noch nicht der »Fernsehgeneration« angehören, wenn sie an ihre eigene abenteuerreiche unbeschwert-selbständige Kindheit zurückdenken. Rückblickend sehen sie (mit stolzgeschwellter Brust!) vor allem die Gefahren, in die sie sich begeben hatten und wundern sich, dass nicht Schlimmeres passiert ist. Weil kaum jemand mit dem anderen darüber spricht, denkt jeder: Nur ich habe so ein wildes, »gefährliches« und unbeaufsichtigtes Leben gehabt (zusammen mit den Freunden natürlich), nur ich hatte das einmalige, unglaubliche Glück, dass kaum etwas passiert ist. Zigtausendfach ist dieses »einmalige« Glück aber offenbar, denn angesichts der riskanten Spiele, die Kinder in diesem Alter schon immer und auf der ganzen Welt gespielt haben und nach wie vor spielen, wo sie es noch können, passierte und passiert erstaunlich selten wirklich Schlimmes. (Kein Vergleich zu dem, was Kindern heute im Straßenverkehr auch nur als Beifahrer zustößt!)

Als Erwachsene glauben wir, Kinder davor bewahren zu müssen, solche Dummheiten zu machen, wie wir sie selbst erlebt haben, als wir noch »klein« waren. Sobald wir Verantwortung für Kinder tragen, scheinen wir davon auszugehen, dass der normale Ausgang von freiem kindlichem Spiel der GAU– der größte anzunehmende Unglücksfall– sein muss: Sei es, dass den Kindern etwas Schlimmes angetan wird, dass sie Katastrophen anrichten oder schwer verunglücken. In unserer Angst halten wir die Kinder fest an uns gebunden und lassen sie keinen Moment aus den Augen. Damit vermitteln wir ihnen aber nichts anderes als die Botschaft: Die Welt ist zu gefährlich für dich, lass die Finger davon, du bist unfähig, darin zu überleben.

Dann wundern wir uns, wenn sie als Jugendliche und Erwachsene Angst vor dem Leben haben, sich nichts zutrauen, unfähig scheinen, aus eigener Initiative etwas Sinnvolles zu tun, auf nichts Lust haben, sich bei der Arbeit ungeschickt anstellen, voller Aggressionen stecken und sich mit Hilfe von Drogen und anderen Mitteln in eine andere, nicht reale Welt davonstehlen!

Zugegeben, wir stecken in einem Dilemma. Denn auch große Kinder kann man tatsächlich noch nicht ganz sich selbst überlassen. Es gibt objektive Gefahren, mit denen sie noch nicht umgehen können und vor denen wir sie schützen müssen. Aber Kinder brauchen auch ihre Freiheit und Freiräume, um sich entwickeln zu können. Wie viel Freiheit ein Kind verträgt und wie viel Kontrolle es braucht, hängt von seiner individuellen Entwicklung und von seinem Alter ab. (Darauf gehe ich näher im zweiten Teil des Buches ein.)

Entscheidend ist, dass wir Erwachsenen umdenken: Wir müssen den Kindern mehr zutrauen und wir müssen wieder die Bedingungen schaffen, damit Kinder frei, aber auch geschützt ihr altersgemäßes Kinderleben führen können. Wie bei der Renaturierung der Flüsse müssen wir die unmenschliche Betonierung abbauen, ohne dass es dadurch zu einer ebenso unmenschlichen Uferlosigkeit kommt.

Wo leben wir eigentlich?

Der Lebensraum des großen Kindes

Entwicklung ist wie ein Wandern von einer kleineren Welt zur nächsten, größeren: Am Anfang sind die Möglichkeiten des Menschen in jeder Hinsicht noch klein und eingeengt. Der Säugling ist in seinem Aktionsradius noch auf die Krabbeldecke beschränkt und das Vorschulkind kann sich selbständig und sicher nur innerhalb des Elternhauses bewegen (wozu durchaus Garten, Spielplatz und Kindergarten zählen). Auch in den geistigen Fähigkeiten, dem sozialen Verständnis und in den emotionalen Möglichkeiten und Bedürfnissen öffnet sich von Entwicklungsphase zu Entwicklungsphase immer wieder ein neuer Horizont.

Dort wo Kinder natürlich heranwachsen können, beginnen sie mit etwa 6Jahren von sich aus die Welt außerhalb des Elternhauses und der unmittelbaren Nachbarschaft zu entdecken und für sich zu erobern. Der Bereich, in dem die Kinder leben und spielen, weitet sich auf das Dorf mit Feld, Wald, Wiesen, Bächen oder Seen beziehungsweise auf den Stadtteil mit seinen Straßen, Gebäuden, Plätzen und Schlupfwinkeln aus. In der Gemeinschaft der Gleichaltrigen wächst das Kind im Lauf der Jahre in diese am Anfang noch unübersehbar große und fremde Welt hinein, sucht ihre Grenzen, gewinnt Sicherheit, bewegt sich schließlich souverän in dem vertraut gewordenen Lebensraum, bis es ihm am Ende dieser Entwicklungsphase, also mit etwa 13Jahren, zu langweilig und zu eng werden wird und es wieder in eine neue, größere und weitere Welt ausbrechen muss.

Die Welt außerhalb von Elternhaus und näherer Nachbarschaft steckt voller Verheißungen und Verlockungen: Alle Ecken müssen erkundet und alle Möglichkeiten, die diese Welt bietet, müssen ausprobiert, alle Geheimnisse ergründet werden. Ganz elementar: Mit Erde, Feuer, Luft, Wasser, Pflanzen und– manchmal leider– auch Tieren muss auf andere Weise als in der vorangegangenen Altersstufe experimentiert werden. Eine naturbelassene Wildnis außerhalb der Sichtweite von Erwachsenen mit undurchdringlichem Gestrüpp und Bäumen (auf die man klettern, hinter denen man sich verstecken, von denen man sich abseilen, auf die man zielen, die man als Eckpfeiler für Hütten verwenden kann), mit offenen Wiesen, Felsen, Senken im Gelände und– ganz wichtig!– mit Wasser in irgendeiner ursprünglichen Form ist der bevorzugte Lebensraum dieser Altersstufe.

Aus vielen Lebenserinnerungen ist herauszuspüren, wie wichtig es für Kinder ab etwa 7Jahren ist, die Welt selbständig, aber gemeinsam mit Gleichaltrigen zu entdecken, zu erobern und mit ihr zu »spielen«. Als Beispiel hierfür ein Blick zurück ins Jahr 1855; Friedrich Paulsen war damals etwa 9Jahre alt:

Der Sommer brachte vor allem die Lust zum Wasser mit, es wurde im Wasser gewatet und gebaut, gebadet und gefischt; das begehrteste war das Kahnfahren, ein seltenes und fast immer erschlichenes Vergnügen. Die Wasserfreuden haben mich am häufigsten mit der Mutter in Konflikt gebracht...

Im Herbst ging es darum, ... daß man einen Tonnenreifen... von dem Winde vor sich hertreiben ließ; er setzte, wenn er einmal in Schuß war, über Gräben und Zäune, wohl eine halbe Stunde lang, und die wilde Meute querfeldein hinterher.

Im Winter wurden Schlittschuh gelaufen und ... stundenweite Ausflüge über die überschwemmten Wiesen gemacht. Am schönen Sonntagnachmittag fanden sich wohl ein paar hundert Schlittschuhläufer zusammen, es wurden Fangspiele gespielt, mit allerlei Künsten des Vor- und Rückwärtslaufens.

Und mit Eis und Wasser wurde »gespielt«: Einen unwiderstehlichen Reiz übte auf die Schulknaben auch ein eben auftauender Graben; nachdem das Eis von den Rändern abgeschmolzen war, wurde es mit dem Beil durch Querschnitte in halbmeterlange Schollen geteilt; nun galt es, über sie so rasch hinzulaufen, daß, während der hintere Fuß die letzte Scholle unter Wasser drückte, der vordere schon auf der nächsten sich stütze, so daß man eben trockenen Fußes noch davonkam; natürlich, bis das Verhängnis einen doch ereilte, indem eine Scholle zerbrach oder man danebentrat. Das gab dann wieder eine häusliche Krise. (Rutschky, S.388)

Auch Stadtkinder erobern ihre Umgebung und »spielen« mit ihr. So gut es eben geht, in einer Welt, die scheinbar einzig und allein den Erwachsenen gehört. Das ist in modernen Städten am Ende unseres Jahrhunderts im Prinzip nicht anders als im Berlin von 1875:

Eins unserer liebsten Spiele war das Reifenspiel, und es war Ziel löblichen Ehrgeizes, einmal seinen Reifen von unserem Hause bis zur nahen Sophienstraße hin und zurück zu treiben, ohne daß er von einem der vielen Fußgänger umgestoßen wurde. Am schönsten konnte man diesen Sport in den Hallen der Nationalgalerie treiben. Leider hatten die Erbauer offenbar die Bedeutung des Reifenspiels noch nicht genügend erfaßt, da sie rücksichtslos genug die schönen Asphaltbahnen durch störende Stufen unterbrochen hatten, die aus den Säulengängen zu den Fahrwegen hinabführten... (Damaschke, in Rutschky, S.393)