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Großstadtgeflüster: Was bedeutet ein Moment? Welche Auswirkungen kann ein kurzer Anruf zum Geburtstag haben? Auch wenn der Anfang jeder Geschichte identisch ist, gleicht keine Story der anderen. Denn mitten in der Großstadt weiß schließlich keiner, was so alles geschehen kann. Ungewöhnliche Kurzgeschichten suchen mutige Leser, die sich auf dieses literarische Experiment einlassen. Diese Autoren werden Sie überraschen: Charlie Ash Anders, Mayadamaris Curman, Veronika M. Dutz, Claudia Dvoracek-Iby, Eric Eaglestone, Alexandra Elsäßer, Benjamin Elsäßer, Christiane Fischer, Renate Habets, Manuela Klumpjan (Grundstory), Olaf Lahayne, Volker Liebelt, Monika Lorenz, Susanne Plitzko-Sié, Sonja Servos, Christian Stehrenberg, Tamara Ströter, Michael Völkel
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Impressum
Herausgeber und Grundstory von Manuela Klumpjan
Diese Autoren haben die Geschichte beendet: (alphabetisch):
Charly Ash Anders, Mayadamaris Curman, Veronika M. Dutz, Claudia Dvoracek-Iby, Eric Eaglestone, Alexandra Elsäßer,
Benjamin Elsäßer, Christiane Fischer, Renate Habets,
Olaf Lahayne, Volker Liebelt, Monika Lorenz,
Christian Stehrenberg, Susanne Plitzko-Sié, Sonja Servos,
Tamara Ströter, Michael Völkel
Großstadtgeflüster
Neuerscheinung: November 2025
Covermotive: Pixabay
Covergestaltung: Michael Frädrich
Auswahl der Geschichten: Manuela Klumpjan
© Edition Paashaas Verlag, Hattingen
www.verlag–epv.de
Printausgabe: ISBN: 978-3-96174-276-9
Kontaktdaten gemäß der Verordnung 2023/988 zur allgemeinen Produktsicherheit (General Product Safety Regulation-GPSR): Edition Paashaas Verlag, M. Klumpjan, Im Lichtenbruch 52, 45527 Hattingen, [email protected]
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
https://dnb.d–nb.de abrufbar.
Großstadtgeflüster
Was bedeutet ein Moment?
Welche Auswirkungen kann ein kurzer Anruf zum Geburtstag haben?
Auch wenn der Anfang jeder Geschichte identisch ist, gleicht keine Story der anderen.
Ganz bewusst habe ich einen recht banalen Einstieg in die Geschichten gewählt, um mehr Raum für Fantasie zu lassen. Hurra, es hat geklappt!
Lesen Sie hier die Weiterführungen der Einleitung, die mir am besten gefallen haben.
Seien Sie überrascht: Wer ist dieser Marc?
Um welche Kirche könnte es sich handeln?
Was geschieht mit Laura?
Sie dürfen sich freuen, denn mit jeder Kurzgeschichte wird die Antwort auf die Fragen unterschiedlich ausfallen …
Viel Spaß – und herzlichen Dank für den Mut, sich auf dieses literarische Experiment einzulassen.
Ihre Manuela Klumpjan
Der laue Sommertag neigte sich dem Ende zu, als bei Laura das Telefon klingelte. Sollte doch tatsächlich jemand an ihren 21. Geburtstag gedacht haben?
Seit sie vor gut 3 Jahren das traute Heim der Eltern gegen ein Leben in der Großstadt getauscht hatte – freiwillig, das war ihr ganz wichtig! – schienen sehr viele ihre Handynummer nicht mehr zu kennen. Gut so!
Ja, sie hatte sich für ihren eigenen Weg entschieden – gegen die Normen, gegen den Wunsch ihrer Eltern und vor allem gegen den Kleinstadtmief, der sie fast erdrückt hatte.
Inzwischen lebte sie mitten in einer modernen, frechen Großstadt mit all den wirren Typen, die genau wie sie einfach nur eines wollen: das Leben genießen!
Endlich nahm sie das Gespräch an. Die Nummer sagte ihr nichts.
„Hey, schöne Lady, Marc hier! Es ist so weit. Treffpunkt um 22:00 Uhr an der Stadtkirche, Vordereingang! Ich freue mich auf die Zeit mit dir.“
Zack, aufgelegt.
Ungläubig starrte Laura auf ihr Telefon. Sie kannte keinen Marc, weder privat noch aus dem Büro.
Kurz überlegte sie, dass es wohl eine Verwechslung wäre. Doch dann war die Neugierde in ihr geweckt. Schnell streifte sie sich ihre geliebte Lederjacke über, steckte die langen braun-pinken Haare als frechen Pferdeschwanz zusammen und legte nur noch etwas Make-up und ein leichtes Parfum auf.
Es war ihr Geburtstag – möge das Abenteuer beginnen …
Freudig rannte sie die Treppen des Altbaus hinunter und stand direkt mitten im prallen Leben der City.
Die Stadtkirche war nur etwa zehn Minuten von ihrer Wohnung entfernt, Laura kannte das Café am Platz gegenüber dem Gebäude, weil sie dort ab und zu mit Kolleginnen die Mittagspause verbrachte. Schon von weitem sah sie die Kirchturmspitze, die von den letzten Strahlen der untergehenden Sonne angeleuchtet wurde. Sie spürte plötzlich ein Kribbeln im Bauch, ein untrügliches Zeichen dafür, wie sehr sie die Aufregung vor dem Unbekannten und Geheimnisvollen genoss. Und jetzt sah sie ihn, einen jungen Mann mit Jeans, einer schwarzen Lederjacke und einem schwarzen T-Shirt, auf dem in weißer Farbe “MARCoPolo“ zu lesen war. Das muss er sein, eine Lederjacke – wenn das nicht mal ein gutes Omen ist, dachte sie innerlich lachend.
Laura schritt unbekümmert auf ihn zu, schaute ihn fragend an: „Marc?“
Er betrachtete sie prüfend, dann zog ein leichtes Lächeln über sein Gesicht. „Ja, ich bin Marc“, antwortete er. „Und du bist Laura, das Geburtstagskind – wie schön, dass du gekommen bist!“
Wieder fühlte Laura ein leichtes Kribbeln – woher wusste er ihren Namen, fragte sie sich. Sie warf den Kopf in den Nacken und sah ihn herausfordernd an. „Woher weißt du, wie ich heiße, und dass ich heute Geburtstag habe, und wie bist du überhaupt an meine Telefonnummer gekommen?“, fragte sie. Ihre Stimme hatte diesen leicht metallischen Klang, wenn sie aufgeregt war.
Marc schaute sie amüsiert an, er spürte ihre Verwirrung. Dann hob er seine Hände in die Höhe, als wollte er sich entschuldigen. „Dies muss dir alles sehr verwirrend vorkommen. Aber vorerst kann ich dir nur sagen, dass ich eine Überraschung für dich habe. Bist du bereit?“
Laura nickte stumm. Worauf sie sich da nur wieder einließ?! Egal, es war ihr Geburtstag, und den wollte sie auskosten.
Marc lächelte, als ob er ihre Gedanken erraten hätte. Dann setzte er sich in Bewegung. „Komm mit, wir müssen nicht weit laufen, es ist nur eine Straße weiter“, bemerkte er mit ruhiger Stimme. Tatsächlich waren es kaum fünf Minuten, als sie vor einem Gebäude stehen blieben, das Laura ebenfalls bekannt vorkam. Natürlich, fiel es ihr wieder ein, das war das kleine Programmkino, in dem es immer die sogenannten “Independentfilme“ zu sehen gab. Sie liebte es, diese oft außergewöhnlichen Filme anzuschauen, die man sonst fast nirgendwo zu sehen bekam.
Geschlossene Gesellschaft stand auf dem Schild am Eingang. Verwundert sah sie Marc an.
„Ja“, erwiderte Marc ihren fragenden Blick, „heute ist es nur für uns offen.“
Es gab niemanden, der den Einlass kontrollierte, stattdessen zog Marc einen Schlüssel hervor, öffnete die Eingangstür und schob sie sanft zum einzigen Kinosaal. Außer ihnen war niemand da, sie hatten den Saal für sich alleine. Marc zeigte auf die Mitte des Saales: „Wir haben freie Platzwahl, da dachte ich, es ist am schönsten, wenn wir uns einfach in die Mitte setzen.“
So nahmen er und Laura ihre Plätze in der Mitte des Kinosaals ein. Wow, dachte Laura, das ist ja mal wirklich eine Geburtstagsüberraschung! Gespannt wartete sie darauf, was nun passieren würde.
Marc ging zur Seite, löschte das Licht und setzte sich dann wieder neben Laura hin. Der Film begann.
Als Erstes sah Laura den Titel: Familiengeheimnisse, ein Dokumentarfilm von Marc Filsteden.
Laura riss erstaunt ihre Augen auf: „Der Film ist von dir?“ Marc nickte und flüsterte ihr zu: „Das ist mein Beruf, ja. Und jetzt lass dich einfach überraschen.“
Laura wandte ihren Blick wieder der Leinwand zu.
Eine Erzählerstimme begann mit den Worten, dass hier eine ganz normale Familie in der Nähe von Berlin gezeigt werde, so normal es eben ging, wenn man sein Leben im anderen Teil Deutschlands in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts verbrachte. Leicht verwackelte Filmaufnahmen wechselten sich mit professionellen Aufnahmen ab. Ein Mann und eine Frau planschten mit einem kleinen Kind an einem See, lachten, spielten mit einem Ball ab und bespritzten sich gegenseitig mit Wasser. Die Frau winkte fröhlich zur Kamera hin. Die Szenerie wirkte heiter und ausgelassen. In der nächsten Szene war die Frau mit dem Kind auf einer Straße zu sehen, wie sie mit Tüten beladen in einer Schlange vor einem Geschäft standen. Die Erzählerstimme klang auf einmal ernster, beschrieb den oft beschwerlichen Alltag, dass es oft stundenlanges Warten auf Zugang zu Geschäften gab, um Lebensmittel und andere Dinge des täglichen Lebens zu erwerben. Kein Leben im Überfluss. Es sei denn, man gehörte zu den wenigen, die Zugang zu bestimmten Läden hatten und mit D-Mark bezahlen konnten. So wechselten sich immer wieder manch idyllisch anmutende Szenen mit tristem Realismus ab.
Zwischendurch gab es auch einfach nur Fotos, auf denen Alltagssituationen festgehalten waren.
Plötzlich erstarrte Laura, als die Nahaufnahme des Mannes von der Eingangsszene gezeigt wurde. Das war doch ihr Vater! Ja, er war deutlich jünger, aber es war eindeutig er. Sie schnappte nach Luft und drehte sich zu Marc: „Was soll das? Wieso ist mein Vater in diesem Film zu sehen?“
Marc schaute sie zärtlich an. „Geduld, lass uns den ganzen Film sehen, dann können wir reden.“
Laura fühlte sich wie betäubt, ihre Gedanken überschlugen sich. Während sie weiter den Film betrachtete, versuchte sie sich zu erinnern, was sie über ihren Vater wusste. Oder was sie gedacht hatte zu wissen.
Er war in Niedersachsen geboren, hatte früh seine Eltern verloren und war dann in die Nähe der Kleinstadt gezogen, die Laura vor drei Jahren verlassen hatte. Er hatte keine Geschwister, soweit sie wusste, und auch ihre Mutter hatte keine Verwandten. Laura erinnerte sich, dass ihre Mutter immer scherzhaft gemeint hatte, Laura stamme von einer Geisterfamilie ab, da es niemanden mehr aus der Familie gebe. Laura war das einzige Kind ihrer Eltern, sie hatte immer bedauert, keine Geschwister zu haben. Ihr Vater war als Sportlehrer an der Realschule tätig, wo er auch ihre Mutter kennengelernt hatte, die als Musiklehrerein arbeitete. Ihre Eltern lebten sehr zurückgezogen, hatten keinen Freundeskreis, sondern waren lieber für sich. Ein reines Spießerleben, so hatte Laura es empfunden, etwas, was sie so keinesfalls mit ihrem Leben wollte. Deshalb war sie kurz nach ihrem achtzehnten Geburtstag dieser Öde entflohen, was ihre Eltern ihr immer noch nicht verziehen hatten. Nicht einmal zum Geburtstag hatten sie ihr gratuliert! Sie wollte das Leben genießen, fühlte sich in der pulsierenden Großstadt pudelwohl. Und jetzt saß sie in einem Kinosaal und sah auf der Leinwand ihren Vater. In der damaligen DDR. Mit einer anderen Frau und einem Kind.
Aufgewühlt schaute sie den Film weiter.
Immer wieder gab es Aufnahmen von ihrem Vater in verschiedenen Situationen. Mal war er in eher privaten Situationen, mit Frau und Kind, zu sehen, mal in offiziell erscheinenden Kontexten. Er hatte offensichtlich eine wichtige Position, denn es gab Fotos und Berichte von seinen sportlichen Erfolgen, in denen immer wieder lobend hervorgehoben wurde, was für ein Vorbild er für alle sei.
Auf einmal veränderte sich die Erzählerstimme, und Laura erkannte, dass es Marcs Stimme war, die nun kommentierte.
Laura sah Zeitungsausschnitte, in deren Überschriften die Auflösung der DDR beschrieben wurde, und Fotos von der Frau, die nun abgehärmt aussah: Sie saß an einem Tisch, ihre traurigen Augen wirkten müde und resigniert. Sie hielt ein Dokument hoch in die Kamera, die Kamera zoomte nah heran, und Laura konnte lesen, dass es eine Todesurkunde war. Ausgestellt auf den Namen Uwe Filsteden. Das war Marcs Nachname, fiel Laura plötzlich auf.
Sie drückte vorsichtig Marcs Hand neben sich und fragte leise: „Dein Vater?“
Marc nickte stumm, er starrte auf die Leinwand.
Es folgten einige Fotos in rascher Abfolge: die Frau in einem schlichten Kleid mit einem anderen Mann, offensichtlich ein Hochzeitsfoto, daneben Marc als kleiner Junge mit ernstem Gesicht; Urlaubsfotos; Marcs Mutter im Auto; schließlich ein Foto von einem Grabstein mit ihrem Namen darauf.
Laura fühlte Tränen in sich aufsteigen. Wieder drückte sie Marcs Hand behutsam, dieses Mal erwiderte er ihren Händedruck und strich sanft mit einem Finger über ihre Hand.
Nun sah man Filmausschnitte aus einem Bürogebäude; die Szenen waren mit einer Handkamera aufgenommen worden, wie jemand die Treppen hochstieg und die Tür zu einem kleinen, fensterlosen Büro öffnete. Im Film wurde der Kommentar “Stasi-Unterlagen-Archiv“ eingeblendet. Akten wurden aufgeschlagen, die Einträge waren nur verschwommen zu sehen, bis ein Name plötzlich scharf und klar zu sehen war: UWE FILSTEDEN. In der Akte waren Fotos, Berichte sowie handschriftliche Einträge verzeichnet, außerdem Hinweise zu Ton- und Filmaufnahmen. Diese Szene endete mit der Überschrift: Verschollen, verschwunden oder tot?
Laura atmete schneller, hielt sich an Marcs Hand fest.
Die Erzählerstimme erklärte nun, dass es immer Zweifel am Tod von Uwe Filsteden gegeben habe. Seine Frau habe ohnehin nie daran geglaubt, aber nach monatelangem massivem Druck durch die Stasi doch eingewilligt, die Todesfeststellung durch die Behörden zu unterschreiben. Sie habe keine Wahl gehabt. Nie wurde eine Leiche gefunden, es gab nur die Todesurkunde, welche Marcs Mutter traurig in die Kamera gehalten hatte.
Im Film wurden nun verschiedene Städte gezeigt, kurze Sequenzen, die als “Suche nach einem Phantom“ beschrieben wurde. Eine Reise durch Deutschland, kreuz und quer. Viele Behördenberichte, Auszüge aus Einwohnermeldeämtern sowie Zeitungsausschnitte wurden dokumentiert.
Und dann erschien ein kurzer Zeitungsbericht über die Schule, an der Lauras Vater unterrichtete. Mit einem Foto von ihm, Torsten Müller, dem Sportlehrer.
Als Nächstes erschien im Film ein Haus. Sofort erkannte Laura ihr Elternhaus. Sie begann leicht zu frösteln. Die Kamera bewegte sich langsam auf das Haus zu, zeigte in Nahaufnahme, wie jemand (Marc?) an der Haustür klingelte und Lauras Vater öffnete. Dessen Blick erstarrte, verwandelte sich erst in Ungläubigkeit, dann in Angst und schließlich in Wut. Es gab keinen Ton in dieser Szene, aber Laura verstand auch so, was passierte. Ihr Vater schlug nach der Kamera, dann knallte er die Tür zu und verschwand wieder im Haus.
Der Film endete nach einer Stunde mit einer Landschaftsaufnahme, in der sanfte Hügel zu sehen waren, in der Mitte ein Fluss, wo auf der einen Seite ein Wachturm stand, auf der anderen Seite ein großer Pfosten in den Farben der Bundesrepublik Deutschland.
Die Erzählerstimme (wieder war es Marcs Stimme) teilte lapidar mit, dass die Suche nach dem “Phantom Uwe Filsteden“ beendet sei. Einem Mann, der zwei verschiedene Leben geführt hat: eines, das er als Uwe Filsteden begonnen hatte, ein weiteres, das er nun als Torsten Müller führt.
Als das Licht auf der Leinwand erlosch, fühlte Laura wie auch in ihr etwas erloschen war.
Marc wartete einen Moment, bis er aufstand und die Lichter im Saal wieder einschaltete. Schweigend schaute er Laura an. Dann ging er auf sie zu und umarmte sie vorsichtig, bis er spürte, dass Laura seine Umarmung erwiderte. Die Tränen strömten nun über ihr Gesicht, sie fand keine Worte.
„Alles Liebe zum Geburtstag, kleine Schwester“, sagte Marc sanft zu ihr.
Gemeinsam verließen sie das kleine Kino, nachdem Marc sorgfältig die Tür abgeschlossen hatte, und gingen in das Café in der Nähe der Stadtkirche, das als einziges noch bis Mitternacht geöffnet war.
Schweigend saßen beide in einer kleinen Nische.
Es dauerte eine ganze Weile, bis Marc als Erster wieder zu reden begann. „Dein Geburtstag ist bald zu Ende, wir haben noch etwa 45 Minuten Zeit, ihn zu feiern. Möchtest du Champagner?“
Laura sah ihn eindringlich an. „Was für ein Wahnsinn das alles ist“, entgegnete sie mit belegter Stimme. „Als ich dich in der Lederjacke gesehen habe, wusste ich irgendwie, dass du etwas Besonderes bist. Ich fasse es einfach nicht – ich habe einen Bruder! Ja, lass uns feiern und Champagner trinken. Und dann erzähl mir, wie du mich gefunden hast.“
Marc erzählte ihr dann, wie er jahrelang nach seinem angeblich verstorbenen Vater gesucht hatte, angetrieben von der Verzweiflung und Traurigkeit seiner Mutter, die nie an dessen Tod geglaubt hatte. Eine erste Spur war gewesen, dass laut der Unterlagen im Stasi-Archiv, welches er nach dem Zusammenbruch der DDR aufgesucht hatte, sein Vater ein bekannter Sportler in der DDR gewesen war, der auch Auslandsreisen machen durfte und dadurch noch andere, zahlreiche Privilegien in der damaligen DDR besessen hatte. Nirgendwo war allerdings etwas über seinen Tod zu finden gewesen. So lag die Annahme nahe, dass er sich abgesetzt hatte in den Westen, Ende der achtziger Jahre. Uwe Filsteden war ein Informant der Stasi gewesen, vielleicht sogar mehr als das, und hatte das Ende der DDR vorausgesehen. Weil er wohl befürchtete, dass dies alles herauskommen könnte, hatte er seinen Tod fingiert, Frau und Kind alleine gelassen und sich im Westen unter falschem Namen ein neues Leben aufgebaut. Seine jetzige Ehefrau war schon in der DDR seine Geliebte gewesen, sie hatte ihn bei seiner Flucht begleitet. Viele Jahre später wurde Laura geboren.
Marc hatte nach dem Tod seiner Mutter an einer Filmhochschule ein Studium begonnen und sich dann auf Dokumentarfilme spezialisiert. Mittlerweile hatte er sich einen guten Ruf erarbeitet, insbesondere was die Aufarbeitung des Lebens in der DDR betraf, und schon einige Preise gewonnen. Dennoch hatte er nie den Wunsch aus den Augen verloren herauszufinden, was mit seinem Vater passiert war. So war er auf die Idee gekommen, daraus ein Filmprojekt zu machen.
Bei den jahrelangen Recherchen zu dem Film hatte er die neue Existenz seines Vaters herausgefunden und auch entdeckt, dass es eine Halbschwester, Laura, gab. Nachdem er den Film beendet hatte, hatte er sich auf die Suche nach ihr gemacht und sie schließlich in der Großstadt entdeckt, wo Laura in einer kleinen Medien-Agentur arbeitete, die einige Künstler betreute. Ihre flippige und ausgefallene Art hatte ihn beeindruckt, sodass er beschlossen hatte, der Agentur einen Auftrag zu erteilen, und war so an ihre Kontaktdaten gelangt. Dass er ihren Geburtstag herausgefunden hatte, war nur eine Kleinigkeit für ihn gewesen. Und so hatte er diese spezielle Überraschung für sie vorbereitet.
Laura hörte die meiste Zeit schweigend seinen Erzählungen zu, nippte an ihrem Champagner. Nur ab und zu unterbrach sie ihn für eine kurze Nachfrage.
Als er seine Ausführungen beendete, nahm sie seine Hände in ihre, schaute ihm direkt in die Augen und sagte: „Mein Leben war bisher anscheinend auf einer Lüge aufgebaut. Und ich will gar nicht wissen, was meine Eltern sonst noch so alles getan haben. Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll! Keine Geisterfamilie mehr, ich habe jetzt einen echten Bruder! Wow! Was für ein unvergesslicher Geburtstag!“ Und dann prostete sie ihm lächelnd mit dem Champagnerglas in der Hand zu: „Auf ein neues Leben! Mit DIR!“
Die Autorin:
Susanne Plitzko-Sié arbeitet als Pflegewissenschaftlerin beim Gesundheitsamt. Beim Edition Paashaas Verlag ist sie in zahlreichen Anthologien mit Kurzgeschichten vertreten. Neben Literatur spielt das Theater eine große Rolle in ihrem Leben, seit 2015 ist sie Mitglied beim Galerietheater Zons.
Der laue Sommertag neigte sich dem Ende zu, als bei Laura das Telefon klingelte. Sollte doch tatsächlich jemand an ihren 21. Geburtstag gedacht haben?
Seit sie vor gut 3 Jahren das traute Heim der Eltern gegen ein Leben in der Großstadt getauscht hatte – freiwillig, das war ihr ganz wichtig! – schienen sehr viele ihre Handynummer nicht mehr zu kennen. Gut so!
Ja, sie hatte sich für ihren eigenen Weg entschieden – gegen die Normen, gegen den Wunsch ihrer Eltern und vor allem gegen den Kleinstadtmief, der sie fast erdrückt hatte.
Inzwischen lebte sie mitten in einer modernen, frechen Großstadt mit all den wirren Typen, die genau wie sie einfach nur eines wollen: das Leben genießen!
Endlich nahm sie das Gespräch an. Die Nummer sagte ihr nichts.
„Hey, schöne Lady, Marc hier! Es ist so weit. Treffpunkt um 22:00 Uhr an der Stadtkirche, Vordereingang! Ich freue mich auf die Zeit mit dir.“
Zack, aufgelegt.
Ungläubig starrte Laura auf ihr Telefon. Sie kannte keinen Marc, weder privat noch aus dem Büro.
Kurz überlegte sie, dass es wohl eine Verwechslung wäre. Doch dann war die Neugierde in ihr geweckt. Schnell streifte sie sich ihre geliebte Lederjacke über, steckte die langen braun-pinken Haare als frechen Pferdeschwanz zusammen und legte nur noch etwas Make-up und ein leichtes Parfum auf.
Es war ihr Geburtstag – möge das Abenteuer beginnen …
Freudig rannte sie die Treppen des Altbaus hinunter und stand direkt mitten im prallen Leben der City.
Ein frischer Wind blies Laura ins Gesicht, als sie beschwingt den Weg zur U-Bahn antrat. Der Himmel war klar und trotz der Lichter der Stadt konnte sie schon erste Sterne sehen. Das Leben war schön, befand sie, was auch immer dieses Treffen erbringen mochte, oder auch nicht.
Die U-Bahn war nicht voll um diese Zeit, aber doch angefüllt mit den Gerüchen und anderen Lebenszeichen all der vielfältigen Menschen, die sich jeden Tag in dieser Stadt von ihren Schlafstätten durch die U-Bahnen, Busse und Straßen zu ihren Beschäftigungen und wieder zurück drängten. Früher hätte sie vieles davon eklig, manches auch beängstigend gefunden, aber jetzt war das einfach ihr Zuhause. Laura lächelte.
An der Haltestelle Neustadt stieg sie aus und ging zu Fuß die letzten paar hundert Meter zur Stadtkirche. Es gab bestimmt hunderte Kirchen in der Stadt, und die ‚Stadtkirche‘ war weder die Größte noch die Schönste, und ganz sicher nicht die Wichtigste. Aber jeder in der Gegend wusste, wo sie war – weil es eben die einzige Kirche in Chinatown war. Sie brauchte keinen richtigen Namen – und falls sie einen hatte, war der den Lokals so unbekannt wie die Kirche bekannt. Sie tauchte auf in Sätzen wie „An der Stadtkirche biegen sie rechts ab und dann nach drei Straßen wieder links …“ und wurde dann wieder vergessen.
Als sie den Kirchplatz betrat, ging sie langsamer und beobachtete aufmerksam die Umgebung. Sie war nicht wirklich besorgt, wollte bei so einem ominösen Treffen aber auch nicht leichtsinnig werden. Doch so sehr sie ihre Sinne auch anstrengte, sie konnte nur den normalen Lärm der Stadt auffangen. Nichts Verdächtiges. Neben dem Kirchenportal lehnte ein Mann.
Laura musterte ihn im Näherkommen. Er war einen halben Kopf größer als sie, vielleicht fünf Jahre älter, stämmig gebaut, mit breitem Kinn und kurzen, braunen Haaren, beiger, etwas altmodischer Jacke, Bluejeans und weißen Turnschuhen. In der Hand hielt er eine Pappschachtel.
Laura blieb abrupt stehen, als ihr aufging, was sie an dem Anblick so merkwürdig fand. Es war nicht Louis. Natürlich war es nicht Louis, sie hatte Louis seit drei Jahren nicht mehr gesehen und das war auch gut so. Und doch sah der Typ da aus, als hätte man in einer Casting-Agentur nach einem Double gefahndet. Der gleiche Körperbau, das fast gleiche, irgendwie grobe und doch kindliche Gesicht, der gleiche langweilige Kleidungsstil.
Langsam setzte sich Laura wieder in Bewegung und schmunzelte. Das konnte ja heiter werden. Aber damit war ihre Neugier erst so richtig geweckt. Der Mann sah auf, als sie näher kam und ihr fiel auf, dass er zwar betont lässig da an der Wand lehnte, aber innerlich durchaus angespannt wirkte.
„Bist du Marc?“, fragte Laura, als sie nahe genug herangekommen war.
„Und du bist Laura?“, entgegnete dieser mit einem einnehmend liebenswürdigen Lächeln und streckte einen Arm aus, um sie zu einer Begrüßungsumarmung einzuladen.
Laura tat ihm den Gefallen, und wollte danach gleich zu einer Frage ansetzen. Doch ehe sie dazu kam, öffnete Marc die Pappschachtel und brachte ein kleines Törtchen zum Vorschein, auf das neben einer winzigen Kerze mit Zuckerguss eine Zahl gemalt war. Mit der freien Hand fummelte er ein Feuerzeug heraus, und entzündete die Kerze. „Herzlichen Glückwunsch!“, sagte er und streckte Laura das Arrangement entgegen.
„Oh, danke“, sagte Laura entzückt, nahm das Törtchen entgegen, überlegte einen Moment, und blies dann die Kerze aus. Das mochte gerade alles sehr weird sein – und sie kannte den Typen überhaupt nicht, doch dass jemand so an sie gedacht hatte, fühlte sich gut an. „Du kennst mich doch gar nicht!“, sprach sie es dann aus.
„Noch nicht“, antwortete Marc lächelnd. „Aber am Ende dieses Abends wirst du mich, wenn du magst, ganz gut kennen.“
Laura zögerte. Ja, das wirkte alles vielversprechend, aber auch sehr wolkig und sehr merkwürdig. Aber gut – sie wäre nicht hier, wenn sie nicht genau sowas reizen würde.
„Ich habe einen Tisch im Phơi bày reserviert, das ist eine erstaunlich gute Bar, für die Gegend. Fändest du das okay, so zum Warmwerden?“, fragte Marc.
Laura kannte die Bar nicht, aber nachdem sie einmal beschlossen hatte herauszufinden, was diese Einladung zu bedeuten hatte – und alles auszukosten, was sich dabei anbot – war es ihr fast egal, was das für ein Ort war. „Ich bin gespannt“, lächelte sie und nahm einen Bissen von dem Geburtstagstörtchen.
„Sehr gut!“, sagte Marc, sicherlich ein bisschen erleichtert, und bedeutete ihr, mitzukommen. „Es ist nicht weit, deshalb wollte ich mich hier treffen.“
Sie überquerten die Straße. Dann steuerte Marc auf einen vielgeschossigen Wohnblock zu. Neben dem Fußgängereingang zur Tiefgarage prangte ein abgewetztes Schild, hochkant, mit gelber Schrift auf rotem Hintergrund: Oben klein ‚Phơi bày‘, darunter große asiatische Schriftzeichen, und darunter, ganz klein: Bar. Kein Wunder, dass ihr das Schild nie aufgefallen war.
„Keine Sorge“, sagte Marc aufmunternd, ihre immer noch aktive Wachsamkeit missdeutend. „Es ist tatsächlich eine richtige Bar.“
Hinter der Tür erstreckte sich ein typisches Tiefgaragen-Treppenhaus mit Graffiti beschmierten Wänden aus ansonsten nacktem Beton und mit dem vagen Duft nach altem Urin. Sie blieben vor einer zerkratzten Aufzugtür stehen. Daneben wieder das gleiche Schild, nur kleiner.
Marc rief den Aufzug, und als sie ihn betraten, sah Laura ganz oben, neben dem Knopf für das oberste Stockwerk, das Wort ‚Bar‘ handschriftlich daneben geschrieben.
Oben angekommen standen sie wieder in einem Beton-Treppenhaus, doch jetzt wiesen bunte Lichter, Schilder und klischee-asiatische Dekorationen den Weg. Sie betraten einen flauschigen Teppich und folgten ihm zu einer einfachen Glastür, hinter der sich eine große, mit Lichterketten geschmückte Dachterrasse erstreckte. An Tischen und in Sitzecken saßen und standen gut zwei Dutzend Leute, aus Boxen dudelte unaufdringliche Lounge-Musik.
„Ein verstecktes Juwel?“, kommentierte Laura, als Marc die Tür aufschob.
Marc nickte.
Eine Angestellte begrüßte sie mit starkem Akzent und einer angedeuteten Verbeugung. Marc verwies auf seine Reservierung, und die Frau geleitete sie zu einer kleinen, aus Paletten gezimmerten Sitzecke am Rand der Dachterrasse. Dann legte sie noch zwei Menükarten auf den Tisch und zog sich zurück.
Laura blieb erstmal einen Moment stehen und nutzte die Gelegenheit, die Aussicht in sich aufzunehmen. Das Gebäude, auf dem sie sich befanden, mochte reizlos sein, doch von der Dachterrasse aus sah man über den Kirchplatz hinweg in einen Wald bunter Leuchtreklamen, und dahinter weit über die Dächer der Stadt, mit ihren Lichtern und Landmarken. Die Skyline der Großstadt bei Nacht – das hatte was.
„Danke, dass du mir das hier zeigst, das ist wirklich schön.“
Marc lächelte und setzte zu einer Antwort an, als die Bedienung kam, um ihre Bestellungen aufzunehmen.
„Ich habe noch gar nicht in die Karte geguckt …“, sagte Laura.
„Corpse Reviver Nr. 2 soll hier gut sein“, warf Marc hastig ein.
Laura lachte, als die letzten Zweifel von ihr abfielen, wem sie diesen Abend zu verdanken hatte. Corpse Reviver Nr. 1 hatte Louis ihnen bestellt, als sie das erste Mal zusammen ausgingen. Jetzt also Nr. 2? So nicht. „Ich denke, ich nehme einen Bloody Mary, danke!“, sagte sie an den Kellner gerichtet.
Der Kellner nickte, nahm noch Marcs Bestellung auf und ging. Laura setzte sich und Marc begann, flüssig und angenehm über alle möglichen Themen zu plaudern. Er verstand es, das Gespräch in Gang zu halten, auch wenn Laura die meiste Zeit still und in Gedanken war. Laura ließ es zu, dass sich ihre Hände berührten und betrachtete versonnen, wie sich seine Muskeln und Adern unter der Haut bewegten, wenn er sprach und gestikulierte. Die Getränke wurden gebracht. Laura stand mit dem Glas in der Hand auf, um vom Geländer aus noch ein wenig den Blick zu genießen. Marc stellte sich neben Laura und legte den Arm um sie.
Seine Ähnlichkeit mit Louis rief bittersüße Gefühle in Laura hervor. Sie sah Louis noch vor sich, wie er sie damals auf der Straße angesprochen hatte, vor etwas mehr als drei Jahren. Unaufdringlich zugewandt, selbstbewusst. Jemand, bei dem man gar nicht auf die Idee kam, ihn abblitzen zu lassen. Louis war klug gewesen, freundlich, fürsorglich später auch, als sie sich besser kannten. Aber auch unvorhersehbar und auf zutiefst verletzende Weise seltsam. Aus heutiger Perspektive verstand sie das eine oder andere besser, aber trotzdem. Als älterer Mann eine 18-jährige aufreißen und dann fortlaufend irritieren, sie in quälende Ängste und Selbstzweifel stürzen? Wieder und wieder hatte sie Nächte durchgeheult und mit ihren Freundinnen sein Verhalten analysiert, bis es ihr irgendwann zu viel wurde, und dann hatte sie ihn konfrontiert und bestimmt eine Stunde lang angeschrien, und dann passierte es.
Das war der Wendepunkt für sie gewesen, damals. Der Moment, in dem sie entschieden hatte, der Provinz den Rücken zu kehren und in die große Stadt zu ziehen. Und es lag definitiv nicht daran, dass sie danach zuhause nicht mehr klar gekommen wäre, dass den Freundinnen und Eltern ihre Veränderung aufgefallen wäre. Sie hatte diesen Weg gewählt – und Louis hatte damit eigentlich gar nichts zu tun, allenfalls als Katalysator. Mit diesem Arsch war sie jedenfalls fertig, der verdiente keine Gnade.
