Bolle auf Abwegen - Manuela Klumpjan - E-Book

Bolle auf Abwegen E-Book

Manuela Klumpjan

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Beschreibung

Bolle auf Abwegen - Hundeabenteuer im Hattinger Schulenberger Wald Der Anfang der Geschichte ist vorgegeben und der immer gleiche Beginn jeder Kurzgeschichte. Wie sie weitergeht, bleibt dann jedoch allein den Autoren überlassen. Erleben Sie hier 9 ganz unterschiedliche Geschichten und seien Sie dabei, was Hund Bolle in Hattingen so alles erlebt. Es erwarten Sie sehr unterschiedliche Hundegeschichten, die zeigen, wie vielfältig die Fantasie eines Autors sein kann - und wie unermesslich echte Tierliebe ist. Grundgeschichte: Manuela Klumpjan Diese Autoren haben weitergeschrieben: Britt Glaser, Eric Eaglestone, Christiane Fischer, Michael Völkel, Claudia Kociucki, Olaf Lahayne, Martina Kast, Peter J. Scholz, Susanne Plitzko-Sié

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Edition Paashaas Verlag

Herausgeber: Manuela Klumpjan

Grundgeschichte: Manuela Klumpjan

Diese Autoren haben weitergeschrieben:

Britt Glaser, Eric Eaglestone, Christiane Fischer, Michael Völkel, Claudia Kociucki, Olaf Lahayne, Martina Kast, Peter J. Scholz, Susanne Plitzko-Sié

Korrektur: Renate Habets, Manuela Klumpjan

Neuerscheinung: März 2023

Covermotive: Michael Völkel

Covergestaltung: Michael Frädrich

© Edition Paashaas Verlag, Hattingen

www.verlag–epv.de

Printausgabe: ISBN: 978-3-96174-118-2

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

https://dnb.d–nb.de abrufbar.

Bolle

auf Abwegen

Ein Buch als Fortsetzungsgeschichte?

Meine Autoren waren sofort begeistert und haben sich auf das Projekt eingelassen:

Jeder Autor hat die gleiche Einstiegsstory erhalten, von mir genauso vorgegeben. Änderungen durften daran nicht gemacht werden.

Sonstige Auflagen gab es so gut wie nicht. Jeder durfte schreiben, was ihm zu der Grundstory so eingefallen ist, mit Ausnahme von Politik, Religion und Pornografie.

Herausgekommen sind ganz unterschiedliche Kurzgeschichten, die alle eines gemeinsam haben: den Anfang.

Doch was ist Ihre Lieblingsgeschichte?

Haben Sie einen Favoriten?

Dann schreiben Sie uns doch gerne an

[email protected] Ich leite es dann an den entsprechenden Autor weiter.

Aber nun viel Freude mit Bolle im Schulenberger Wald in Hattingen an der Ruhr …

Mit ganz liebem Gruß

Ihre Manuela Klumpjan

Britt Glaser

Hund verschwunden

Es dunkelt bereits, als Katja durch den Schulenberger Wald zurück zur Hattinger Südstadt laufen will. Das ist eindeutig der schnellste Weg nach Hause. Warum müssen gerade heute die Busfahrer streiken, wenn sie am Arsch der Welt von Hattingen unterwegs ist?

Kurz überlegt sie, ob sie nicht doch besser ein Taxi ruft. Aber es ist so schön in dieser lauen Sommernacht. Was soll ihr schon passieren? Schließlich hat sie ja auch ihren Hund Bolle dabei.

Langsam zeigt sich der Mond zwischen den hohen Bäumen. Sie sollte sich etwas beeilen, denn die Waldwege können doch sehr uneben sein. Seit der Schulenberger Wald vom Besitzer “aufgeräumt“ wurde, ist fast kein Unterholz mehr vorhanden. An manchen Stellen kann sie fast 300 Meter durch die Bäume hindurch bis zur nächsten Abbiegung sehen. In ihrer Jugend sahen die Wälder anders aus.

Bolle läuft vergnügt über Stock und Stein. Er mag diesen Wald sehr, genau wie Frauchen. Plötzlich bleibt er stehen, die Ohren gespitzt, den Schwanz aufgerichtet. Er blickt zum Querweg und fängt an zu knurren.

Katja sieht nichts.

„Hey, was ist los? Hast du ein Reh entdeckt?“

In diesem Augenblick stürmt Bolle los und reagiert auch nicht mehr auf das Rufen seines Frauchens ...

Er rennt wie ein Besessener.

„Bolle! Bolle! Komm zurück! Bei Fuß! Komm, Leckerchen!“

Es dauert nicht lange, und er ist nicht mehr zu sehen.

Wie dumm kann ich sein, Bolle ohne Leine laufen zu lassen, wirft Katja sich vor. Aber warum hört er nicht? Wir besuchen doch schon fast ein Jahr die Hundeschule. Dort benimmt er sich immer vorbildlich. Kommt direkt angelaufen, wenn er gerufen wird. Selbst das Apportieren macht ihm Spaß. Warum jagt er gerade heute irgendetwas hinterher? Dabei müsste er schon ziemlich erschöpft sein, denn sie sind schon seit Stunden unterwegs. Geplant war, mit dem Bus in die Stadt zu fahren, um die Lebenswert-Buchhandlung aufzusuchen. Katja möchte einer lieben Kollegin einen Thriller schenken, von dem sie selbst ganz begeistert ist. Doch der Buchhändler und Inhaber des Ladens, Herr Müller, hat Katja entschuldigend angelacht und erklärt: „Wir können das Buch „Verloren“ gar nicht oft genug bestellen. Kaum liegen hier zwanzig Exemplare, sind sie auch schon über den Ladentisch gegangen.“ Katja hat sich gefreut, dass auch andere Leseratten dieses spannende Werk für sich entdeckt haben.

Herr Müller hat es leid getan, dass Katja den ganzen Weg zu Fuß auf sich genommen hat, und nun mit leeren Händen wieder nach Hause gehen muss.

„Mit einem Freund an der Seite ist kein Weg zu lang“, hat Katja gesagt und auf Bolle gedeutet, der brav neben ihr saß. „Außerdem mag ich Ihre Buchhandlung, samt der guten Beratung. Da laufe ich lieber fünfzehn Kilometer, als dass ich ein Buch im Internet bestellen würde.“

Katja geht langsam weiter. Bolle bleibt verschwunden. Ungeduld kriecht in ihr hoch. Sie denkt an Menschen, die ihren Hunden in den Nacken greifen, sie schütteln und fest auf den Boden drücken, wenn diese nicht gehorchen.

Bei der Vorstellung, wie Bolle am Boden liegt und gar nicht weiß, warum sein Frauchen so etwas mit ihm macht, ihm womöglich Schmerzen zufügt, tut der Hund ihr unendlich leid.

Ich würde meinem Bolle nie etwas antun, er ist doch mein Schatz, egal, was er auch anstellt. Katja lächelt. Ich werde ihm Leckerchen geben und loben, wenn er zurückgekommen ist. Ja, genau so werde ich es machen. Ob das aber die richtige Reaktion ist, dessen bin ich mir nicht sicher. Aber meine Tiere dürfen auch einen eigenen Willen haben und müssen nicht blind gehorchen.

„Bolle! Bolle, bei Fuß!“, versucht sie erneut ihren vierbeinigen Freund zu locken. Da alles Rufen aber nichts nützt, entscheidet sie sich, hier zu warten, bis er wieder zurückkommt. Die Bank einige Meter entfernt lädt sie ein, darauf Platz zu nehmen. Wie oft hat sie diese Geschichten schon gehört: von Hunden, die mal kurz ihre eigenen Wege gehen und dann schwanzwedelnd wieder auftauchen. Katja blickt in die Richtung, in die Bolle verschwunden ist. Kein Hund, aber ein Jogger kommt den Weg entlang. Katja erhebt sich und geht mitten auf dem Pfad auf den Sportler zu. Als er einige Meter entfernt ist, fragt sie laut: „Haben Sie eben einen freilaufenden Hund gesehen? Einen hellbraunen Mischling, etwa so groß.“ Sie hält die Hand in Höhe ihres Knies. Der Jogger blickt gehetzt, zeigt mit dem Zeigefinger der rechten Hand an sein Ohr und japst: „Ich hör nix. Hab Musik in den Ohren.“ Schon läuft er keuchend an ihr vorbei.

Katja blickt mit großen Augen und offenem Mund hinterher. Der Jogger verschwindet hinter der nächsten Biegung.

„Danke für nichts“, flüstert Katja. „Vielleicht brauchst du auch mal Hilfe. Ich hoffe nur, dass du sie bekommst.“ In Gedanken formt sie ein paar Schimpfwörter für diesen ignoranten Sportler wie Arschloch, Blödmann und Kappeskopp. Ihre gute Erziehung veranlasst sie jedoch dazu, diese Worte in ihrem Kopf zu lassen.

Katja atmet tief durch und dreht sich wieder in die Richtung, in der sie Bolle vermutet. So langsam könnte er wiederkommen. Er hat ja jetzt seinen Spaß gehabt.

In der Ferne ist tatsächlich ein schwarzer Schatten auszumachen. „Booollleee!“ Der dunkle Fleck zwischen den Bäumen nähert sich. „Bolle, mein Freund! Komm zu Frauchen!“

Doch die Enttäuschung ist groß, denn es ist ein großer Schatten, viel größer als Bolle.

Also ist es nicht mein Schatz, stellt Katja fest. Aber vielleicht ein Reh? Was, wenn er ein Reh verletzt hat? Nein, daran will ich nicht denken. Vermutlich hat er die Witterung eines Hasen aufgenommen und ist deshalb losgeprescht. Der Hase ist in seinem Bau verschwunden. Bolles Nase hat ihm sicherlich einen Streich gespielt. Andere Gerüche haben ihn dazu verleitet, weiter zu jagen. Ich kann es ihm nicht verübeln. Er ist den ganzen Tag lang im Haus, außer, wenn ich ihn in den Garten lasse oder Gassi mit ihm gehe. Aber die vielen Stunden, wenn ich bei der Arbeit bin, ist er allein und wartet, dass jemand nach Hause kommt. Da ist es doch verständlich, dass er, unabhängig von mir, auch mal rennen möchte. Aber jetzt kann er wieder zurückkommen.

„Bolle! Bolle!“

Katja geht hin und her. Hält nach allen Richtungen Ausschau und entschließt sich dazu, langsam weiterzugehen. In die Richtung, in der sie eben noch einen Schatten gesehen hat.

Zwischen den Baumstämmen kann man weit blicken, seit der Wald aufgeräumt worden ist. Das nützt Katja im Augenblick aber auch nichts, da sie Bolle nicht sieht.

Es heißt, man soll an der Stelle warten, wo der Hund weggelaufen ist. Er würde genau dorthin zurückkehren. Nun hoffe ich mal, Bolle weiß das.

Hundegebell erschallt aus der Ferne.

„Bolle! Komm zu Frauchen!“

Wo kam das Bellen her? Vermutlich von dort. Katja dreht sich zur Seite. Sie strengt sich an, doch außer Bäumen und einigen Sträuchern, die sich im letzten Licht des Tages als grau-schwarze Silhouetten zeigen, ist da nichts.

Unweit hinter ihr durchbrechen mehrere Schreie die Stille. „Ga, ga, ga, ga, ga!“

Katja fährt herum und fasst sich ans Herz. „Hast du mich erschreckt“, sagt sie in die Richtung, aus der die Schreie gekommen sind und ein großer Vogel flügelschlagend das Weite sucht. „Das finde ich nicht nett, du Vogel.“

Schnell blickt sie sich um.

Zum Glück ist niemand in der Nähe, somit hat auch keiner gesehen, wie ich mich erschreckt habe und gehört, dass ich mit einem Vogel spreche. Das war bestimmt ein Rebhuhn oder ein Fasan, überlegt sie. Die machen solche Geräusche.

„Bolle! Bolle!“, ruft sie erneut, doch Bolle bleibt verschwunden.

Wenn wenigstens jemand hier seine Gassi-Runde machen würde oder ein Jogger oder Radfahrer hier lang käme, mit dem man reden könnte. Den Katja ansprechen und erklären könnte, dass sie ihren Hund vermisst. Dann könnten die Personen nach Bolle Ausschau halten. Über die Probleme zu reden, ist oft hilfreich. Dass Bolle, ihr sonst immer treuer Begleiter, einfach weggelaufen ist, ist für Katja gerade alles andere als schön. In diesem Augenblick fühlt sie sich, als vermisse sie etwas sehr Wichtiges. Einen Teil, der ihr Leben vollkommen macht. Gerade so, als ob ein Stück von ihr selbst fehlen würde. Doch diesen Gedanken findet sie albern und versucht ihn fortzuwischen. Ihr Bolle hat nun mal Jagdinstinkt. Es ist ganz allein meine Schuld. Warum lasse ich ihn ohne Leine laufen?

Katja setzt sich auf einen Baumstumpf und wartet. Sie hält seine Leine in den Händen und befühlt das Leder. An manchen Stellen ist es schon abgewetzt, und winzige Teile der roten Farbe fehlen. Katja findet es nicht weiter schlimm. Sie denkt daran, wie oft die Leine bei Spaziergängen an Regentagen schon nass geworden ist. Dann trägt Bolle sie manchmal in seiner Schnauze, wenn er weiß, dass sie gleich losgehen werden. Eine Hundeleine muss nicht neu aussehen. Sie löst ihre Gedanken von der Leine und verstaut diese in ihrer Jackentasche.

Ihr Blickt geht nach allen Seiten, doch kein Hund weit und breit. Nie wieder würde sie Bolle ohne Leine laufen lassen.

„Bolle“, brüllt sie. „Wann gedenkt der Herr denn hier zu erscheinen? Ich habe keine Lust, in der Dunkelheit, mitten im Wald, auf dich zu warten. Also komm!“, fügt sie laut hinzu.

Katja sucht den Wald ringsumher unentwegt ab und hofft, den Hund trotz der fortschreitenden Dämmerung zu entdecken.

Minütlich wird es jetzt dunkler.

Ich muss hier warten, damit Bolle mich findet, wenn er zurückkommt. Ich kann jetzt unmöglich fortgehen. Hunde kommen immer wieder dorthin zurück, von wo aus sie weggelaufen sind, redet Katja sich ein und macht sich Mut. Das Knacken eines Astes durchbricht die Stille. Vermutlich ist es von rechts gekommen. Sofort springt Katja auf. Gleich würde sie ihren Bolle wieder streicheln können. Dann nichts wie raus aus dem Wald, in dem die Nacht bereits Einzug hält.

„Bolle!“, ruft sie und blickt den Weg entlang. Da ist tatsächlich ein Schatten zwischen den Bäumen gewesen.

„Bolle! Bolle! Frauchen ist hier! Komm zu mir, es gibt auch ein Leckerchen!“ Erleichtert öffnet Katja ihre Bauchtasche und greift nach den Belohnungshappen für Bolle. Froh erwartet sie ihren Hund, denn der Schatten kommt immer näher. Gleich würde Bolle den Weg erreichen und dann schwanzwedelnd auf sie zukommen. Erleichtert geht Katja ihm entgegen.

„Na komm, Bolle! Frauchen ist hier!“, lockt Katja und klatscht in die Hände. So macht sie es in der Hundeschule immer, wenn er ihr etwas bringen soll. Die Freude ist groß, als es im Unterholz laut raschelt und knackt. Der Schatten bewegt sich zwischen den Bäumen auf den Waldweg zu. Es ist ein großer Schatten. Zu groß für Bolle. Das muss ein großer Hund sein. Äste zerbrechen unter der Last des Tieres.

Katjas Herz beginnt zu rasen, als sie die Silhouette aus der Nähe betrachten kann. Im letzten Licht des Tages sieht sie die Hauer hell schimmern, während das Tier an Tempo zulegt. Ein großes Wildschwein läuft auf dem Waldweg direkt auf sie zu. Ein tiefes Schnaufen entfährt seiner Kehle. Panisch dreht Katja sich um und rennt los. Sie muss sich in Sicherheit bringen. Aber wo kann sie sich vor dem Koloss verstecken? Der Bismarckturm! In dem Gemäuer kann ich mich in Sicherheit bringen. Quer durch das gerodete Unterholz rennt Katja in der Hoffnung, nicht zertrampelt oder zerfleischt zu werden. Sie wechselt mehrmals die Richtung, wie sie es in Tierdokus gesehen hat. Die gejagten Tiere sind schlau gewesen und manch einem ist es gelungen zu entkommen. Hasen machen es auch so, geht es Katja durch den Kopf. Oder Antilopen. Doch wenn die Tiere Pech gehabt haben und nicht schnell genug weggekommen sind, waren sie die Beute. Katja rennt und springt über das Unterholz. Der Bismarckturm ist schnell vergessen, da sie durch die vielen Wende- und Zickzackmanöver keine Orientierung mehr hat, wo sie sich gerade befindet. An einer Brombeerranke hakt sich ihr Fuß ein. Sie stürzt der Länge nach auf den Waldboden. Die Schauergeschichten aus ihrer Kindheit kommen ihr plötzlich in den Sinn. Die Oma hat immer davor gewarnt, zu den Schweinen in den Stall oder auf die Weide zu gehen. Es soll Menschen gegeben haben, die von Schweinen mit Haut und Haar gefressen worden sind.

Bitte, lass es Märchen sein, fleht Katja in einem Stoßgebet. Sie erhebt sich und reißt so lange, bis das Gewächs ihren Fuß wieder freigibt.

Weg, nur weg, geht es ihr durch den Kopf, ich muss mich in Sicherheit bringen. Aus Angst, den Vorsprung zu verlieren, traut sie sich nicht umzublicken. Auch könnte sie wieder an einer Wurzel oder Brombeere hängenbleiben und erneut stürzen. Dann würde das Untier sie sicherlich zertrampeln.

Katjas Herz schlägt heftig in ihrer Brust. Das Blut rauscht laut in ihren Ohren. Ihr Atem geht stoßweise und brennt in der Brust, als habe sie Feuer geschluckt. Sie kann nicht beurteilen, wie lange sie gelaufen ist. Vielleicht fünf Minuten, vielleicht eine halbe Stunde. Ihre Kräfte schwinden mit jedem Schritt mehr, bis heftige Seitenstiche sie veranlassen, langsamer zu laufen. Sie will weiter, aber es geht nicht. Das Atmen fällt ihr furchtbar schwer. Das letzte Mal hat sie sich vor zwanzig Jahren so gefühlt, als sie in der Schule bei einem Sportfest völlig ungeübt zeigen wollte, was sie draufhat. Den Schmerz in ihrer Brust kann sie nicht mehr ignorieren. Sie bleibt stehen und lehnt sich an einen dicken Baum. In kurzen Stößen atmet sie ein und aus. Dabei schaut sie dorthin, wo sie hergekommen ist. Wo sie vermutlich hergekommen ist, denn um sie herum ist alles dunkel. Nun lauscht sie in die Schwärze. Es ist still. Kein Knacken von Ästen, die unter dem Gewicht des Wildschweines zerbersten. Sie ist froh, dass alles ruhig ist. Die Schmerzen in der Brust nehmen langsam ab, auch die Seitenstiche werden weniger. Die Vermutung, dass der Keiler gar nicht darauf aus war, ihr etwas anzutun, weicht nun der Angst, dass Bolle sich mit dem Wildschwein angelegt hat. Dass Bolle etwas passiert ist.

Ja, es wird etwas passiert sein, überlegt sie. Warum sonst kommt er nicht zurück? Katjas Magen krampft bei dem Gedanken. Ihre Kehle zieht sich zu. Tränen steigen in ihre Augen.

„Bolle, mein kleiner Bolle, warum habe ich dich nur von der Leine gelassen? Nun bringt auch das Warten nichts mehr.“ Sie greift in ihre Bauchtasche, um ihr Handy herauszuholen. Sie wird die Polizei rufen und um Hilfe bitten, für sich und für Bolle.

Sie fühlt Hundeleckerchen und die Rolle mit den Kotbeuteln. Ihre Hand tastet hin und her in der kleinen Tasche, aber das Smartphone sucht sie vergeblich.

„Jetzt habe ich auch noch mein Handy verloren“, schluchzt sie und glaubt, in einem Albtraum gefangen zu sein. „Ich habe auf Bolle nicht richtig aufgepasst. Und auf mein Handy auch nicht.“ Katja denkt an den Ablauf, bevor sie mit Bolle das Haus verlassen hat. Dann erinnert sie sich daran, das Handy zum Laden an die Steckdose gesteckt zu haben. Es liegt in der Küche auf der Arbeitsfläche. Sie hat es für den Gang zur Buchhandlung und die damit verbundene Gassi-Runde, die ja im Hellen beendet werden sollte, zu Hause gelassen.

„Verdammt, verdammt“, flucht Katja leise, dabei laufen ihr Tränen über die Wangen.

„Hallo. Hallo? Ist hier jemand? Hallo?!“, ruft sie in die Dunkelheit und erschrickt vor ihrer eigenen Stimme. Sie fühlt sich hilflos wie ein Kind, das nachts aufwacht und seine Mutter in der Wohnung nicht finden kann. „Hallo, kann mich jemand hören? Hallo? Bitte, helfen Sie mir, ich habe mich verlaufen!“

Warum sollte jemand durch den stockfinsteren Wald gehen, fragt sie sich, um etwas Sinnvolles zu denken. Denn wenn jetzt womöglich gruselige Gedanken in ihren Kopf steigen, würde es die Situation nur noch schlimmer machen. Nun heißt es, klare Gedanken zu fassen und nach einer Lösung zu suchen. Sie wischt mit dem Jackenärmel Tränen und Rotz aus dem Gesicht. Heulen bringt mich jetzt nicht weiter. Sie atmet tief durch und lauscht. Ein Kauz schreit in der Ferne, ansonsten ist es still. Das heißt, das Wildschwein ist auch nicht mehr in der Nähe. Oder es ist noch da und steht genau wie sie selbst stocksteif auf einem Fleck? Lauert mir auf, um den richtigen Moment abzuwarten, um mich zur Strecke zu bringen?

Katja macht sich selbst Mut: Warum sollte das Wildschwein hinter mir her sein? Sicherlich war es reiner Zufall, dass wir uns begegnet sind. Es ist nicht mehr in meiner Nähe. Bestimmt war der Keiler spazieren. Statt stehenzubleiben und ihn passieren zu lassen, gerate ich in Panik und laufe davon. Das war vielleicht gar nicht nötig. Katja verharrt in der Dunkelheit. Sie überlegt, was sie nun tun kann. Was jetzt das Richtige ist.

Unsichtbar bläst der Wind in das Blätterdach über ihr.

Eigentlich mag Katja das Geräusch der raschelnden Blätter. Tagsüber, wenn sie hier durch den Schulenberger Wald ihre Gassi-Runde geht. Auf den verschlungenen Wegen und an der Ruine vorbei. Die Stimme des Waldes, wie sie es nennt, hört sich je nach Witterung immer anders an. Wenn Regentropfen auf die Blätter fallen oder wenn ein heftiger Wind im Herbst das letzte Laub von den Zweigen fegen will. Auch die verschiedenen Jahreszeiten sorgen dafür, dass sich der Wald immer anders anhört. Das findet Katja sehr interessant und genießt die langen Spaziergänge im Einklang mit der Natur. Doch jetzt in der Finsternis ist es Katja unheimlich. Die Geräusche sind ihr nicht vertraut. Und die Freundlichkeit des Waldes liegt begraben in der tintenschwarzen Nacht. Liebend gern würde sie jetzt zu Hause auf ihrem Sofa sitzen, eingekuschelt in eine wärmende Decke. Aber sie steht hier, mitten im Wald an einen dicken Baum gelehnt, dessen Rinde grob und rissig ist.

Keinen Schimmer, wo sie sich gerade befindet.

Das Rascheln der Blätter ist unheimlich. Es hört sich an wie verschiedene Stimmen. Flüsternde Stimmen, mal weit weg, manchmal nah. Eine Sekunde später ertönt das Gemurmel von überall her, wie die Dunkelheit selbst. Ein Wispern und Zischen. Ein Hauch an ihrem Nacken. War das nur der Wind? Oder eine Stimme, die sich herangeschlichen hat und etwas in ihr Ohr flüstert. Kam es von links? Oder doch von rechts? Vielleicht sprechen die Bäume miteinander? Vielleicht reden sie über mich?

Ihr ist nicht wohl bei dem Gedanken. Bilder erscheinen vor ihrem inneren Auge, Szenarien aus Horrorfilmen, die sie im Laufe ihres Lebens gesehen hat.

Die Schwärze des Waldes hat Bolle verschluckt. Nun auch mich. Wenn sich jetzt ein Schlund auftun würde, könnte der Wald mich in die Tiefe ziehen, verschlingen, ohne dass es jemand bemerken würde.

Katja, sei vernünftig, warum sollte der Wald das tun?, fragt sie sich. Eine Gänsehaut überzieht ihren Körper bei der Vorstellung, auf ihrem eigenen Grab zu stehen.

Katja, du denkst jetzt an etwas Schönes, ermahnt sie sich selbst. Denk an Bolle. Er ist ein Schatz, fordert immer seine Aufmerksamkeit und liebt mich abgöttisch. Aber warum ist er nicht zurückgekommen? Was, wenn er irgendwo verletzt am Straßenrand liegt, womöglich hat er den Wald verlassen, um etwas hinterherzujagen? Würde er wohl an mich denken, sich auf mich verlassen, damit ich ihm helfe? Würde er mich vermissen?

Mitten in der Finsternis sieht Katja einen Lichtschein. All ihre Aufmerksamkeit ist nun auf die Stelle gerichtet. So plötzlich, wie das Licht da war, ist es auch wieder fort. Katja sucht, aber entdeckt nichts mehr, kein Pünktchen Helligkeit, nichts, nur Schwärze. Angestrengt blickt sie weiter in die Dunkelheit, die sie völlig umschlossen hat.

Vermutlich nur Einbildung, gesteht sie sich ein. Ein Wunschtraum in dieser Nacht. Nie wieder würde sie Bolle von der Leine lösen und nie, aber auch nie wieder ohne Handy aus dem Haus gehen. Gerade jetzt braucht sie dieses Gerät, und es liegt zu Hause.

Das Handy ist schnell vergessen, als ein klopfendes Geräusch Katjas volle Aufmerksamkeit erregt. Tok …, tok, tok. Der Klang ist unregelmäßig. Mal zwei-, dreimal hintereinander, dann wieder nur einmal. Dann ist Stille. Katja glaubt, es wird mit jedem Wimpernschlag minimal lauter. Es kommt näher. Stocksteif steht sie in der Dunkelheit und glaubt, ihr Herzschlag müsse so laut sein, dass er durch den Wald schallt. Plötzlich spürt sie eine leichte Berührung an der Schulter. Katjas Herz setzt kurz aus, dann schlägt es so heftig in ihrer Brust, dass es in ihren Ohren nur noch laut rauscht. Ihr Atem geht stoßweise. Um ihren Hals und ihre Brust scheinen gewaltige Klauen zu liegen, die ihr kaum noch Platz lassen zu atmen. Ist da jemand hinter ihr? Würde gleich eine Hand nach ihr greifen?

„Wer ist da?“

Die Antwort ist ein leises Knistern und Knacken und das flüsternde Blätterdach, ansonsten ist es still.

Da ist es wieder, dieses Licht in der Ferne. Katja geht los. Mit zittrigen Beinen, die sie bei jedem Schritt hoch hebt, um bloß nicht an einem Stock oder einer Wurzel hängenzubleiben. Nur wenige Augenblicke später ist das Licht verschwunden. Wie Irrlichter, denkt Katja, die mich ins Moor locken. Oder an einen Ort, an dem etwas auf mich wartet. Dämonen, Waldschrate, Geister, Moorhexen und Riesenspinnen machen sich in ihrem Kopf breit. Sie füllen ihre Gedanken mit Blut, abgerissenen Gliedmaßen, verwesten glitschigen Leichen. Sie verharren im feuchten Waldboden, strecken ihre knochigen Hände durch das modrige Laub. Greifen nach Katja, um sie zu sich herabzuziehen. Oder sie wird in ein gigantisches Spinnennetz gelockt, wo ihr Körper fest verschnürt wird.

In Katjas Nase kriecht ein Geruch, der geschwängert von Fäulnis ist. Ihre Schritte werden immer schneller. Sie möchte weg, raus aus dem Dickicht. Wenn ich doch wenigstens den befestigten Weg finden würde, überlegt sie, dann lauf ich darauf entlang. Egal, welche Richtung, jeder Weg führt irgendwann aus dem Wald heraus. Sie stapft immer weiter, zwischen schwarzen Schatten entlang, die noch schwärzere Dämonen freigeben.

Ein Schrei schallt durch die Nacht.

Katja verharrt zitternd. Sie hört ihren eigenen keuchenden Atem. Kurz hält sie die Luft an und lauscht. Nichts. Stille. Kein menschlicher Laut ist zu hören. Katja atmet weiter und setzt wieder einen Fuß vor den anderen.

„Ahhh!“, entfährt es ihrer Kehle. Sie wischt sich mit den Händen hektisch über das Gesicht, den Kopf und ihre Jacke. Dabei schüttelt sie immer wieder ihre Hände und Arme aus, um die Spinnweben und vermutlich auch die Spinne, in die sie hineingelaufen ist, loszuwerden.

„Das ist alles nur ein Traum, ein verdammter Albtraum. Ich werde gleich aufwachen und dann …“

Da erscheint wieder ein Licht. Es bewegt sich. Mal nach links, dann wieder nach rechts. Katja läuft los. Wo das Licht ist, ist vielleicht das Ende des Waldes.

Ein markerschütternder Schrei hallt durch den Wald.

Katja macht einen Schritt und hat befestigten Boden unter den Füßen. Sie kann es kaum glauben, sie hat einen Weg gefunden.

Nun werde ich auch wieder aus dem Wald herausfinden, ist sie nun voller Hoffnung. So schnell es die Dunkelheit erlaubt, geht Katja immer weiter. Zu beiden Seiten neben ihr raschelt, schnaubt und kichert es. Arme, die aus dicken Baumstämmen ragen, die Seelen aller Verblichenen, die über Jahrhunderte hier ermordet und verscharrt worden sind, in dieser Nacht zum Leben erwacht, um nach Katja zu greifen, sie an sich zu reißen, zu sich zu holen.

„Ich werde nie wieder Horrorfilme gucken“, flüstert sie in die Dunkelheit. Sie versucht die Vorstellungen von greifenden Armen der Toten aus ihrem Kopf zu verscheuchen. Blätter rascheln, Zweige knacken. Ein Kichern ist zu hören. Rechts neben ihr. Die Geräusche kommen näher. Werden lauter. Der Albtraum soll endlich vorbei sein, fleht Katja. Plötzlich löst sich etwas aus der Schwärze zwischen den Bäumen. Einige Meter vor ihr erscheint ein Licht und gibt ein rotes Teufelsgesicht frei. Katja geht mit strammen Schritten auf die Gestalt zu. Mir wird nichts passieren, es ist alles nur ein Traum.

Die Gestalt gibt ein teuflisches Lachen von sich, das in einem langgezogenen Schrei endet. Katja schreit auch. Laut und furchterregend. Wie eine Löwin, der sich jemand in den Weg gestellt hat. Die Teufelsfratze dreht sich von Katja weg, es klappert, und eine Gestalt in einem langen Kapuzenmantel rennt davon. Nur ein Lichtstrahl erhellt noch den Boden. Katja bückt sich und greift nach einer Taschenlampe. Sofort ist der Weg vor ihr in Licht getaucht. Noch immer hat Katja den Schrei des Teufels und ihren eigenen in den Ohren. Doch dazu gesellt sich noch etwas anderes.

Katja rennt den Weg entlang. Das Geräusch wird langsam lauter. Die erste Unsicherheit fällt von ihr ab. Sie geht noch schneller. Sie rennt, so schnell sie kann. Den Blick richtet sie suchend nach vorn.

Zwischen Bäumen erblickt sie Helligkeit. Diesmal von einem kleinen Lagerfeuer. Sofort schaltet sie die Taschenlampe aus und folgt dem Licht.

Kein Gedanke mehr an Irrlichter oder Dämonen.

Im Schutz der Bäume schleicht sie sich langsam näher an das Lagerfeuer heran. Sie hört Stimmen und erblickt Gestalten in langen Kutten. Diese verdecken ihre Gesichter unter großen Kapuzen. Zwei sitzen am Lagerfeuer und drei stehen etwas abseits und scheinen sich zu beratschlagen. Eine weitere Person erblickt Katja erst jetzt, sie hat hinter dem Feuer gestanden. In den Händen hält sie einen Strick, an dessen Ende Bolle befestigt ist. Bolle jammert und zieht in Katjas Richtung.

„Bolle!“, ruft Katja und eilt auf ihren Hund zu. Selbst wenn diese kuttenbekleideten Leute sie nun angreifen werden, wird Katja es mit jedem einzelnen aufnehmen. Sie wird kämpfen um ihren Bolle.

Die Gruppe der Zusammenstehenden springt erschrocken auseinander. Ein Mädchen kreischt laut. Bolle stürzt sich auf Katja und schleckt ihr mit der Zunge über das Gesicht. Er springt und bellt. Immer wieder umarmt Katja ihn und sagt: „Ich bin so froh, dass dir nichts passiert ist.“

Nachdem sich Bolle etwas beruhigt hat, blickt Katja zu demjenigen auf, der Bolle an dem Seil festgehalten hat. Ein vielleicht Sechzehnjähriger, der mittlerweile seine Kapuze vom Kopf gezogen hat und sagt: „Ihr Hund irrte durch den Wald, da haben wir ihn bei uns behalten. Wir wollten nachher die Polizei benachrichtigen.“

---ENDE DER LESEPROBE---