Grundgedanken der Montessori-Pädagogik - Maria Montessori - E-Book

Grundgedanken der Montessori-Pädagogik E-Book

Maria Montessori

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Beschreibung

Maria Montessori im Original – ihre Grundgedanken ausgewählt aus ihrem umfassenden Gesamtwerk. Die zum Teil erstmals auf Deutsch veröffentlichten Texte werden um praxisorientierte Beiträge von Montessori- Kennern ergänzt, u.a. zur integrativen Pädagogik und Frühpädagogik. Eine kurze und authentische Einführung, die von einer aktuellen Biografie abgerundet wird. Mit zahlreichen Fotos. Begeistert nicht nur Montessori- Kenner, sondern auch Interessierte.

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Seitenzahl: 627

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Grundgedanken der Montessori-Pädagogik

Maria Montessori (1870–1952)

Grundgedanken der Montessori-Pädagogik

Quellentexte und Praxisberichte

Herausgegeben von Harald Ludwig

Begründet von Paul Oswald und Günter Schulz-Benesch

Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gegenderte Sprachform verzichtet. Sämtliche Personenbezeichnungen gelten für alle Geschlechter.

Bildnachweis

S. 88: Jescott Montessori Preschool, Australien

S. 152: Sara Brady, Australien

S. 176: Maria Montessori Institute, Großbritannien

S. 199: Sara Guren und North American Montessori Teachers Association

S. 204: École Jeanne d’Arc Montessori, Roubaix, Frankreich; mit freundlicher Genehmigung von Christian Maréchal

Alle Bilder sind auch unter www.montessoricentenary.org abrufbar.

Der Abdruck der Porträts Maria Montessoris auf den Seiten 2, 324, 327, 313 und des Fotos auf S. 165 erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Association Montessori Internationale, Amsterdam, Niederlande.

Vollständig überarbeitete und erweiterte Neuausgabe 2022

(26. Gesamtauflage)

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 1967

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Gestaltung und Umschlag: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

E-Book-Konvertierung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

ISBN Print 978-3-451-39405-8

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82836-2

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-82837-9

Inhalt

Vorwort zur 10. Auflage

Vorwort zur 21. Auflage

Vorwort zur Neuausgabe 2017

Vorwort zur Ausgabe von 2022

A. Originaltexte Maria Montessoris

I. Mein Weg zur Pädagogik

1. Von der Medizin zur Pädagogik (1915)

2. Von der Förderung behinderter Kinder zur Erziehung nicht behinderter Kinder (1909/1948)

3. Erfahrungen in den Kinderhäusern im römischen Arbeiterviertel San Lorenzo (1910)

4. Kampf für die Emanzipation der Frau (1907)

II. Grundlagen meiner Pädagogik (1934)

III. Pädagogik als Wissenschaft

1. Pädagogik als Integrationswissenschaft (1903)

2. Empirische Forschung in der wissenschaftlichen Pädagogik (1904)

3. Pädagogik als Experimentalwissenschaft zur „Veränderung“ der Persönlichkeit (1916)

4. Die „Schaukraft“ der Lehrerin (1916)

5. Über das Beobachten (1921)

6. Grenzen „messender“ Beobachtung (1938)

IV. Anthropologische, entwicklungspsychologische und gesellschaftliche Grundlagen der Pädagogik

1. Erforschung des individuellen Menschen als Basis der Pädagogik

2. Der Mensch als unspezialisiertes biologisches „Mängelwesen“

3. Das Kind als „Baumeister des Menschen“

4. Polarisation der Aufmerksamkeit

5. Entwicklungsstufen und sensible Perioden

6. Vorstellungskraft

7. Kind und Gesellschaft

8. Montessori-Kinder: Orestes (1950)

V. Das religiöse Fundament

1. Das Kind als Geschöpf Gottes (1935)

2. Gott und das Kind (1939)

3. „La preghiera“ – Das Gebet (1944/1949)

VI. Pädagogische Grundkonzepte

1. Vorbereitete Umgebung und Freiarbeit

2. Vorbereitete Erzieher/Lehrer

3. Entwicklungsmaterial

4. Didaktische Prinzipien

5. „Montessori-Methode“

6. Lebenslanges Lernen

VII. Montessori-Institutionen

1. Frühkindliche Förderung (0–3 Jahre)

2. Montessori-Kinderhaus (3–6 Jahre)

3. Montessori-Grundschule (6–12 Jahre)

4. Montessori-Sekundarschule (12–18 Jahre)

5. Universität (18–24)

VIII. Dimensionen umfassender Menschenbildung

1. Sprachliche Bildung

2. Mathematische Bildung

3. Musisch-künstlerische Bildung

4. Sittliche und soziale Erziehung

5. Stilleerziehung

6. Religiöse Erziehung

7. Friedenserziehung

IX. Kosmische Erziehung als integrierendes Bildungskonzept

B. Die Praxis der Montessori-Pädagogik

1. Montessori-Erziehung in Familie und Spielgruppe (Annette Onken)

2. Das Montessori-Kinderhaus (Helene Helming)

3. Die Montessori-Grundschule (Hans Elsner)

4. Die Montessori-Sekundarschule (Michael Klein-Landeck)

5. Montessori-Pädagogik in der Sonderschule (Karl Neise)

6. Integrierte Erziehung behinderter und nicht behinderter Kinder in der Montessori-Pädagogik (Theodor Hellbrügge)

7. Montessori-Pädagogik und Förderung hochbegabter Kinder

7.1 Zum Begabungsverständnis Maria Montessoris (Harald Ludwig)

7.2 Wie lernen hochbegabte Kinder in der Freiarbeit der Montessori-Pädagogik? (Esther Grindel)

8. Montessori-Pädagogik mit Senioren (Jutta Hollander)

C. Montessori-Pädagogik in der Diskussion

Kritik und Metakritik der Pädagogik Maria Montessoris (Harald Ludwig)

D. Leben und Werk Maria Montessoris

I. Zeittafel zum Leben Maria Montessoris

II. Schriften Maria Montessoris

1. Vorbemerkung zur Eigenart der Schriften Montessoris (Harald Ludwig)

2. Bibliographien

3. Schriften in deutscher Sprache (Auswahl)

4. Werkausgaben in anderen Sprachen

III. Sekundärliteratur zur Montessori-Pädagogik

1. Biographien zu Maria Montessori

2. Weitere Sekundärliteratur

2. Montessori-Zeitschriften

3. Filme und andere Medien zur Montessori-Pädagogik

4. Anschriften von Montessori-Organisationen

Vorwort zur 10. Auflage

Ein Grund der Erstveröffentlichung dieses Sammelbandes im Jahre 1967 war die Tatsache der Verstreutheit der Schriften Montessoris über die lange Zeit ihres Lebens und über die verschiedenen Sprachräume hin. Inzwischen konnten wir in den 60er und 70er Jahren die meisten wichtigen Werke Montessoris in Erstübersetzungen oder quellenkritisch überarbeiteten Neuauflagen herausgeben. Die hier vorliegende Neuausgabe der „Grundgedanken der Montessori-Pädagogik“ berücksichtigt dies, indem sie nun durchgehend den neuen und genaueren Editionen folgt, Literaturnachweise und Anhang entsprechend ergänzt.

Der zweite Grund zur Herausgabe dieses Bandes besteht nach wie vor: Der Umfang des literarischen Werkes Montessoris und ein gewisser Mangel an Systematik in manchen ihrer Schriften (die ja zum großen Teil aus Redemitschriften entstanden sind) legen es nahe, die Autorin ihre wesentlichen pädagogischen Gedanken noch einmal selbst auf knappem Raum zusammengefasst aussprechen zu lassen.

Besonders drängten uns aber das andauernde Interesse an der Montessori-Pädagogik und ihre wachsende Aktualität auch im deutschen Sprachraum zu dieser erweiterten Neuausgabe. Sie möchte so weiterhin nicht nur Studienlektüre bieten, sondern allen an Erziehungsproblemen Interessierten den Zugang zum Denken und Wirken der bedeutenden Pädagogin erleichtern.

Der lebendigen Illustration mögen die von verschiedenen Autoren stammenden Berichte aus der Praxis und über die Weiterführung der Montessori-Pädagogik im sonderpädagogischen Raum dienen …

Paul Oswald, Günter Schulz-Benesch

Vorwort zur 21. Auflage

Seit vier Jahrzehnten gibt dieses Buch interessierten Leserinnen und Lesern die Möglichkeit, sich mit der Pädagogik Maria Montessoris und ihrer heutigen weiterentwickelten Praxis vertraut zu machen. In dieser Zeit hat das Werk manche Aktualisierung und Erweiterung erfahren. Die letzte Bearbeitung des Textteils wurde von den beiden Herausgebern, den Münsteraner Professoren Paul Oswald (1914–1999) und Günter Schulz-Benesch (1925–1997), im Rahmen der 10. Auflage vorgenommen, die 1990 erschien.

In den seitdem verflossenen Jahren hat die Montessori-Pädagogik in Deutschland, aber auch weltweit ein stark gewachsenes Interesse in Theorie und Praxis gefunden. Der Montessori-Kongress in Rom zu Beginn des Jahres 2007 aus Anlass des 100-jährigen Jubiläums der Gründung des ersten Kinderhauses durch Montessori im damaligen römischen Elendsviertel San Lorenzo hat das nachdrücklich demonstriert. Über 1200 Menschen aus fast 50 Ländern nahmen daran teil. In 110 Ländern der Erde gibt es heute Tausende von Einrichtungen von der Spielgruppe oder Krippe für die kleinen Kinder unter drei Jahren bis zur Universität, die ihre Arbeit an den Ideen der italienischen Pädagogin und Weltbürgerin orientieren. Viele Eltern berücksichtigen für die Erziehung ihrer Kinder in der Familie vor allem für die frühen Lebensjahre bis zum Schulbeginn die pädagogischen Prinzipien und Grundsätze Maria Montessoris. Neue Perspektiven eröffnet die Diskussion der vergangenen Jahre aber auch für die Gestaltung von Sekundarschulen, für die Montessori in ihrem Spätwerk ein Konzept vorgelegt hat, das sie allerdings im Unterschied zu anderen Bereichen ihrer Pädagogik nicht mehr selbst in der Praxis erproben konnte.

Die wissenschaftliche Montessori-Forschung hat ebenfalls weitere Fortschritte gemacht. Neu gewonnene Erkenntnisse in verschiedenen Wissenschaftsbereichen – zum Beispiel in der Didaktik und Schulpädagogik, der Heilpädagogik, der Psychologie, der Hirnforschung, der Lernbiologie, der Medizin – haben die Grundlagen der Montessori-Pädagogik überwiegend bestätigt, aber auch zu ihrer Differenzierung und Weiterentwicklung beigetragen. Die Schriften des auf den aktuellen Stand gebrachten ausführlichen Literaturverzeichnisses dieses Bandes belegen das unter unterschiedlichen Aspekten. Neue empirische Untersuchungen haben die Leistungsfähigkeit der Montessori-Pädagogik eindrucksvoll nachgewiesen.1 Gerade im deutschsprachigen Raum ist seit 1990 die Quellenbasis für die Pädagogik Montessoris durch die Veröffentlichung weiterer Bücher und kleinerer Beiträge Montessoris in deutscher Sprache noch einmal beachtlich vergrößert worden. Das verbessert auch die Grundlage zur Klärung kontroverser Diskussionen um die angemessene Interpretation ihres Denkens, welche die Pädagogik Maria Montessoris seit Jahrzehnten begleiten. Viele Missverständnisse haben ihren Grund in mangelnder Kenntnis der Schriften Maria Montessoris, in der fehlenden Beachtung ihrer Besonderheiten und der Ignorierung der Entwicklung ihres Denkens von den Anfängen bis zum Spätwerk.

Die skizzierten Entwicklungen der letzten Jahre legen es nahe, mit dieser 21. Auflage des Werkes eine gründliche Bearbeitung und Aktualisierung zu verbinden. An dem bewährten Grundaufbau des Werkes wird weiterhin festgehalten: eine Auswahl von Schlüsseltexten aus dem umfangreichen Gesamtwerk Maria Montessoris als Basis, Schilderungen der Montessori-Praxis in verschiedenen Bereichen zum besseren Verständnis ihrer Umsetzung, eine Darstellung von Leben und Werk, weiterführende Hinweise auf Literatur, Filme, Ausbildungsmöglichkeiten, Montessori-Organisationen. Die Anordnung der Texte Montessoris wird jedoch stärker systematisiert, um alle wesentlichen Grundlagen und Dimensionen des komplexen Ganzen dieser Pädagogik zu berücksichtigen. Angemessen kann man dieser Zielsetzung nur durch eine Erweiterung des Umfangs des Quellentextteils und die Hinzufügung eines Praxisberichtes für die Stufe der frühesten Kindheit gerecht werden. Den aktuellen Entwicklungen im Bereich der Sekundarschule wird durch eine neu erstellte Darstellung von Michael Klein-Landeck anstelle des schon historischen Beitrags von H.-J. Jordan Rechnung getragen. Viele Montessori-Texte sind gemäß der heutigen Forschungslage neu hinzugekommen, bewährte Passagen sind beibehalten, die Ausstattung des Bandes ist verbessert worden. Dem Verlag Herder sei herzlich dafür gedankt, dass er dies ermöglicht hat.

Der Herausgeber der Neuausgabe hofft, in dieser Weise allen Interessierten einen Zugang zum Verständnis der Montessori-Pädagogik zu ermöglichen: Eltern, Pädagogen in allen Bereichen unseres Erziehungs- und Bildungswesens, Bildungspolitikern. Diese Neuausgabe ist in ihrer inhaltlichen Struktur zudem so angelegt, dass sie als Basislektüre für Pädagogikkurse an Schulen2, für Studierende in erziehungswissenschaftlichen Studiengängen und nicht zuletzt für Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Montessori-Diplomkursen geeignet sein kann. Die Texte sollen zugleich dazu anregen, zu einem vertieften Verständnis der Pädagogik Maria Montessoris auch vollständige Schriften aus ihrem Werk zu lesen.

Maria Montessori gehört wie Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955) zu den großen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts, die versucht haben, in ihrem Denken eine Synthese von naturwissenschaftlich geprägter Rationalität und philosophischreligiöser Weltdeutung zu vollziehen, ohne dies problemlos und widerspruchsfrei erreichen zu können. Für Montessoris pädagogische Perspektive ist der zentrierende und verbindende Mittelpunkt ihres weit ausholenden Denkens und Forschens das Kind, der heranwachsende junge Mensch, der in seiner eigenständigen Personalität und unantastbaren Würde und den Bedürfnissen seiner Entwicklung geachtet und respektiert werden muss, auch und gerade in der modernen Gesellschaft. Dies gilt auch für das 21. Jahrhundert …

Altenberge bei Münster, im Januar 2008

Harald Ludwig

Vorwort zur Neuausgabe 2017

Die Gründe, die vor fünfzig Jahren zur Herausgabe dieser Textsammlung Maria Montessoris geführt haben, bestehen auch heute noch. Dass sie nun abermals in einer umfassend bearbeiteten und erheblich erweiterten Neufassung vorgelegt wird, ist vor allem darin begründet, dass seit 2010 die Schriften Maria Montessoris im Verlag Herder im Rahmen einer auf 20 Bände angelegten historisch-kritischen Gesamtedition ihres veröffentlichten Werkes erscheinen. Davon liegen inzwischen neun Bände vor. Mit dieser Edition wird weltweit zum ersten Mal eine textkritisch geprüfte und wissenschaftlich kommentierte Ausgabe der Werke der bedeutendsten Pädagogin des 20. Jahrhunderts geschaffen.

Diese Neuedition bietet eine gesicherte und authentische Fassung bereits bekannter Schriften Montessoris, aber auch bisher unveröffentlichte Texte aus ihrem umfangreichen Nachlass, der in Verbindung mit der Internationalen Montessori-Gesellschaft (A. M. I.) in Amsterdam von der Montessori-Pierson Publishing Company unter Leitung von Alexander Henny, einem Urenkel Maria Montessoris, betreut wird. Die Texte des vorliegenden Sammelbandes sind nun, soweit bisher möglich, dieser Edition der Gesammelten Werke (= GW) entnommen.

Einige Themen der neueren Montessori-Forschung sind hier berücksichtigt. Dazu gehören als sich neu entwickelnde Arbeitsfelder die Montessori-Arbeit mit hochbegabten Kindern und die mit Senioren. Auch die kritische Diskussion der Pädagogik Montessoris findet im Teil C nun Berücksichtigung. Mit den Ergänzungen und Erweiterungen soll der vorliegende Band allen Interessierten weiterhin einen aktuellen und differenzierten Zugang zur Pädagogik Maria Montessoris in Theorie und Praxis ermöglichen.

Altenberge bei Münster, im September 2016

Harald Ludwig

Vorwort zur Ausgabe von 2022

Die vorliegende Auswahl von Texten und Textausschnitten aus dem umfangreichen Werk Maria Montessoris ist auf eine hohe Resonanz gestoßen. Daher wird die in der Ausgabe von 2017 getroffene neue Grundstruktur des Bandes auch in der vorliegenden Ausgabe von 2022 beibehalten.

In den vergangenen Jahren sind jedoch weitere Bände der deutschen wissenschaftlichen Montessori-Edition erschienen. In der vorliegenden Neuausgabe des Sammelbandes wird daher der deutsche Wortlaut weiterer Texte diesen textkritisch überprüften Schriften entnommen. Zudem sind alle Texte erneut durchgesehen und erforderlichenfalls korrigiert worden.

Neu hinzugekommen ist ein kurzer, wenig bekannter Text Montessoris mit dem Titel „Orestes“, der 1950 in einer Montessori-Zeitschrift in Indien veröffentlicht wurde. Montessori berichtet hier von Erfahrungen mit einem sensiblen Jungen mit anfänglichen Lernschwierigkeiten, der sich unter behutsamer, zurückhaltender Leitung in einer Montessori-Grundschule in Rom im Umgang mit dem Lernmaterial zu einem selbstständigen, freudig lernenden Schüler entwickelte. Neu bearbeitet und auf den aktuellen Stand gebracht wurde ferner das Literaturverzeichnis.

Altenberge bei Münster, im März 2022

Harald Ludwig

A. Originaltexte Maria Montessoris

I. Mein Weg zur Pädagogik

1. Von der Medizin zur Pädagogik (1915)

Montessori kam von der ärztlichen Arbeit mit behinderten Kindern zur Pädagogik. Ihre Vorträge und Artikel zur Förderung geistig behinderter Kinder sind enthalten in Gesammelte Werke (= GW) Bd. 3: Erziehung und Gesellschaft, Freiburg 2011, Kapitel I: Das verstoßene Kind, S. 3–91.

Während ihres mehrmonatigen Aufenthaltes in den USA im Jahre 1915 im Zusammenhang mit der Panama-Pazifik-Ausstellung, in deren Rahmen auch eine Montessori-Klasse vorgestellt wurde, hielt Maria Montessori eine Reihe von Vorträgen und veröffentlichte zahlreiche Zeitungsartikel. Diese sind jetzt auch auf Deutsch zugänglich in GW Bd. 5: Kalifornische Vorträge, Freiburg 2014.

In dem folgenden, vollständig wiedergegebenen Zeitungsartikel vom 9. August 1915 für die San Francisco Call and Post berichtet sie über ihren Weg von der Medizin zur Pädagogik (siehe GW 5, S. 298–304). Die Zwischenüberschriften stammen von der Redaktion der Zeitung.

Es erfüllt mich mit außerordentlicher Freude, diese kurzen Artikel für die Call-Post zu verfassen, da ich durch dieses Medium zu der größtmöglichen Anzahl von Frauen sprechen kann.3 Sie sehe ich als die besten Mitarbeiter an meiner Mission. Sie werden rasch die Bedeutung der Tatsache begreifen, dass ich die erste Ärztin war, die ihren Abschluss an der berühmten Universität von Rom machte und dann bei den führenden Krankenhäusern der Stadt zugelassen wurde.4 Das war im Jahre 1896. In diesen Krankenhäusern wurde ich zum ersten Mal mit der Frage des Kindes konfrontiert. Auf den Krankenhausstationen gab es zu Hunderten Kinder von Armen und der Zustand dieser unschuldigen Opfer prägte sich zutiefst in mein Herz und meine Seele ein; und in ihnen, in ihren armen, kleinen, leidenden Körpern sah ich die wichtigsten sozialen Fragen vereinigt, und sie erschienen mir hier wie durch eine starke Lupe vergrößert. Doch von jenen kleinen Geschöpfen, die geboren wurden, um die Existenz der Menschheit weiterzuführen, waren diejenigen, die sich am stärksten in meinen Geist einbrannten und mein Herz bewegten, die Geistesschwachen, die Idioten, die Epileptiker und die Schwachsinnigen im Allgemeinen in der großen Irrenanstalt Roms.

Sie unterrichtete Studenten

Zu der Zeit hatte ich die Ehre, eine Position zu bekleiden, die keine andere Frau in Italien je innegehabt hatte – ich war Assistentin in der Klinik für Psychiatrie und half dem Professor5, Studenten in der Untersuchung von psychisch Kranken auszubilden. Ich war überdies Herausgeberin des von der Fakultät veröffentlichten Fachbulletins zu Nervenerkrankungen und widmete meine besondere Aufmerksamkeit allen modernen Studien zum anormalen Kind. Damals sah man in der Funktion der Schilddrüse den höchsten Fortschritt bei der Heilung von Geisteskranken, da man annahm, dass der Grund für diese Geistesschwäche eine Art Bruch in der Schilddrüse war, die (daher) nicht richtig funktionierte, und man glaubte, dass eine Wiederherstellung der Schilddrüse großartige Wirkungen für die Verbesserung des Intellekts haben werde.

Obwohl ich stark an dieser Behandlung interessiert war, welche die Intelligenz verbessern sollte, erregte diese Schar geistesschwacher Kinder meine Aufmerksamkeit im Gegensatz zu allen anderen Ärzten der Irrenanstalt nicht unter psychologischen, sondern unter moralischen Gesichtspunkten. Es war nicht die Behandlung der Schilddrüse, sondern es waren andere Erwägungen, die mich interessierten und dazu brachten, mit ihnen zu leben.

Intellektuelle Hilfe

Als ich eines Tages in diesem Irrenhaus war, genauer gesagt auf der Kinderstation, fiel mir eine Zeitung aus der Hand, und zu meiner Verwunderung sah ich die kleinen Schwächlinge herbeistürzen, um sie aufzuheben und zu zerreißen, sodass jeder einen Teil erhielt. Dabei schien es, als würden die Kleinen aufgrund dieser Eroberung von großer Freude übermannt werden. Da durchfuhr mich ein einfacher und dennoch tiefgehender Gedanke: „Wie wenig braucht es, um das Interesse dieser armen Unglückseligen zu erwecken! Sie brauchen mehr noch als die anderen Erziehung und intellektuelle Hilfe.“

Diese Idee erfasste meinen Geist und da ich mich daran erinnerte, dass ein halbes Jahrhundert zuvor ein französischer Wissenschaftler, Edouard Séguin6, ein Buch über die Erziehung der Schwachsinnigen geschrieben hatte, ging ich unverzüglich in die Bibliothek des Irrenhauses und verschlang den Inhalt des Buches. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, kam mir ein anderer Gedanke: „Es gab eine Möglichkeit, die Schwachsinnigen zu erziehen! Warum wurde das dann nicht getan?“ Und ich fand die Antwort: „Weil neurotische und schwachsinnige Kinder unter die Zuständigkeit von Ärzten fallen und Ärzte mit der Pädagogik nicht vertraut sind.“

Erziehung ist notwendig

Ich verstand dann, dass es vergebliche Mühe ist, Intelligenz ohne Erziehung zu stärken; dies ist der Grund, warum in der Medizin die Frage der Geistesschwachen von allen die am meisten vernachlässigte ist. Zwischen Medizinern und Lehrern gab es zu der Zeit eine strikte Trennung; sie trafen sich in ihrer sozialen und wissenschaftlichen Arbeit nie. Konsequenterweise entschied ich, das Problem der Geistesschwachen aus dem Gebiet der Medizin in den Bereich der Pädagogik zu verlagern. Zu diesem Zweck nutzte ich die Gelegenheit eines pädagogischen Kongresses, der im Jahre 1898 in Turin stattfand, und vor den 2000 dort versammelten Lehrern stellte ich die Frage der geisteskranken Kinder, der Idioten7, Schwachsinnigen, Geistesschwachen, Anormalen und Asozialen, aus denen die erbärmlichsten Menschen der Welt werden.8

Mein Appell rief bei den Lehrern Italiens eine enthusiastische Reaktion hervor, die plötzlich zu Beschützern und Lehrern aller Geisteskranken wurden. Es war wie ein Funke, der sich zu einem großen Feuer entwickelte. So groß war das Interesse, das in Italien durch die Frage, die ich in den Raum geworfen hatte, geweckt wurde. Somit erreichte ich erfolgreich mein erstes Ziel: Ich trug die Frage der schwachsinnigen Kinder aus dem Bereich der Medizin in den der Pädagogik, wo sie auf wunderbare Weise erfolgreich aufgenommen wurde, und ich zeigte, dass dies der natürliche und richtige Weg zu ihrer Lösung war.

Das anormale Kind

Bevor ich fortfahre, muss ich den Leser darüber informieren, dass ich zuerst vom anormalen Kind spreche, weil ich erst durch meine Studien zu ihm zu den fantastischen Ergebnissen, die ich durch meine Erfahrungen machte, sowie zu meiner Methode für das normale Kind gekommen bin.

Für mich war es ein Tag des Triumphes, als ich es endlich schaffte, diese Schar von geistesschwachen Kindern aus dem Irrenhaus hinaus in ein Institut zu bringen, das eigens von mir mit der großzügigen Hilfe der äußerst aufgeklärten Damen der römischen Aristokratie eingerichtet worden war.9 Sogar die einfache Zeremonie des Auszugs dieser Kinder aus dem Irrenhaus wurde zu einem großen Ereignis in der Ewigen Stadt. Die Straßen waren voll von Menschen aus allen Klassen, die jubelten, als sie die armen Kleinen diesen Ort der Finsternis, ein kaltes wissenschaftliches Ambiente, verlassen sahen hin zu einer freudvollen Atmosphäre des Lebens und des Wohlbefindens. Führende Hotelchefs Roms hatten ihre Busse10 zur Verfügung gestellt, um die Kinder in ihr neues Zuhause zu befördern, in das sie triumphierend Einzug hielten.

Spezielle Klasse ins Leben gerufen

In meinem Institut wurde bald eine spezielle Klasse für Kinder von außerhalb gegründet, die aus den regulären Grundschulen kamen, wo sie aufgrund von unzureichenden geistigen Qualitäten als unempfänglich für Erziehung beurteilt worden waren. Ich widmete meinem Institut, während ich es leitete, die aufrichtigste Aufmerksamkeit und Arbeit. Ich bildete die Lehrer der Grundschulklassen aus und unterrichtete selbst die Kinder von acht Uhr morgens bis sieben Uhr abends.11 Dabei ließ ich meine medizinische Karriere gänzlich beiseite, um mich vollständig dem neuen Aufgabenfeld zu widmen, in dem ich den Beginn für die Lösung der großen Frage der Kinder sah.

Dass ich meine medizinische Karriere aufgab, betone ich, weil ich dabei sehr erfolgreich gewesen war und mir eine Zukunft in moralischer und finanzieller Zufriedenheit bevorstand. So vielversprechend war meine Karriere in der Klinik der Universität Rom gewesen, dass mich, obwohl ich dort die einzige graduierte Ärztin war, alle Absolventen und die Fakultät trotzdem als ihre Repräsentantin für den Internationalen Medizinerkongress wählten, der damals in Berlin stattfand.12 Doch keine finanzielle Kompensation irgendwelcher Art und keine andere moralische Befriedigung konnten mir größere Freude bereiten als die vollständige Zuwendung zu einem Aufgabenbereich, von dem die Zukunft der Menschheit abhängt.

Ein zweiter Artikel Montessoris erschien in der San Francisco Call and Post am 11. August 1915 (hier leicht gekürzt; vollständige Fassung siehe GW 5: Kalifornische Vorträge, Freiburg 2014, S. 305–308, der folgende Text ist auf den S. 305–307 zu finden).

Als ich im Jahre 1898 das Institut für geistig Behinderte einrichtete, begann ich mit 109 Kindern. Sechzig davon wählte ich aus dem Behindertenheim aus; bei ihnen handelte es sich um Idioten, Schwachsinnige, Epileptiker und Paralytiker/Gelähmte. Die übrigen fünfzig waren Kinder, die von öffentlichen Schulen als unternormal und unbändig abgewiesen worden waren. Diese Kinder, die aufgrund der Gesetze, die damals in Italien galten, abgeschoben worden waren, waren sich ganz selbst überlassen. Sie waren im wahrsten Sinne des Wortes Außenseiter. Auch Kinder, die drei Jahre in Folge eine Klasse wiederholen mussten, und solche, die generell unempfänglich waren, wurden der Schulen verwiesen und zu keiner anderen Schule des Königreichs zugelassen.

Dadurch erhielten diese Kinder das Potenzial der gefährlichsten Elemente in der Gesellschaft; man ließ zu, dass sich ihre schlimmsten angeborenen Tendenzen weiterentwickelten, und verwehrte ihnen den Hilfe bringenden Einfluss der Erziehung.

Konfrontiert mit einer dunklen Zukunft

Die Kinder gehörten größtenteils den ärmsten Klassen an. Selbst von ihren Eltern verfolgt und schikaniert, verließen sie die Schule und ihr Zuhause mit dem Stigma der moralischen und geistigen Unfähigkeit und bereiteten sich für ein kommendes Leben in Wertlosigkeit und Kriminalität vor.

Eines Tages traf ich eine Gruppe von fünf oder sechs dieser kleinen Außenseiter. Sie hausten am Ufer des Tibers und waren zu Werkzeugen und Verbündeten von kleinkriminellen älteren Kindern geworden. Ertappte man sie bei Diebstählen oder anderen minderen Delikten, verschwanden die Anführer stets und ließen die kleineren Kinder zurück, die dann ihren Tadel und ihre Strafe empfingen. Dies war damals ihre einzige „Schule“.

In meinem Institut wurden damals also verschiedene unterschiedliche Klassen von gestörten Kindern versammelt, wodurch ich die hervorragende Gelegenheit bekam, meine Erziehungsmethode experimentell zu erproben.

Kinder willkommen geheißen

Als diese Kinder von den Straßen und aus dem Irrenhaus in meine Schule kamen, wurden sie mit innigen Willkommensbekundungen und aufrichtiger Herzlichkeit begrüßt. Zum ersten Mal zeigte man ihnen, dass sie willkommen und gewollt waren. Es gab nicht das geringste Anzeichen für Unterdrückung und strenge Bewachung. Sobald sie im Institut angekommen waren, wählten sie aus den verschiedenen Beschäftigungen diejenige, die ihnen am besten gefiel.

Mein erstes Ziel war es, die Schule mit interessanten und anziehenden Dingen auszustatten. Überall konnte man kleinen, originellen Beschäftigungen nachgehen. Ich war wie ein Türke auf einem Basar. Bei der Ankunft eines Kunden, den er mit Spannung erwartet hatte, überhäuft er ihn mit Komplimenten und Höflichkeit, lobpreist seine Waren und harrt des günstigen Zeitpunkts, an dem der Kunde Interesse an einem bestimmten Artikel bekommt.

Kinder beim Spielen beobachtet

In eben dieser Manier ermutigte ich die Kinder dazu, sich frei im Institut zu bewegen und alles auszuprobieren. Mein Moment war immer dann gekommen, wenn die Aufmerksamkeit eines Kindes tatsächlich erregt wurde. Mich begeisterten sichtlich all die Dinge, die ein Kind sich für seine Beschäftigung oder Unterhaltung aussuchte. Dadurch, dass ihnen Unternehmungsgeist gestattet war, arbeiteten die Kinder eifrig und entwickelten allmählich die beste Einstellung zur Arbeit.

2. Von der Förderung behinderter Kinder zur Erziehung nicht behinderter Kinder (1909/1948)

Nach etwa zwei Jahren gab Montessori die Leitung der Scuola Magistrale Ortofrenica auf und widmete sich an der Universität Rom dem Studium der Pädagogik, der Experimentalpsychologie und der Anthropologie, in der sie eine wesentliche Grundlage der Pädagogik sah. Zugleich führte sie auch empirische Untersuchungen in Schulen durch und hielt von 1904 bis 1908 Vorlesungen zur Pädagogischen Anthropologie an der Universität Rom.13Wesentliche Impulse für die Weiterentwicklung ihrer Pädagogik erhielt sie durch die Erfahrungen im Anfang 1907 im römischen Arbeiterviertel San Lorenzo eröffneten Kinderhaus („Casa dei Bambini“). Wie es dazu kam, schildert Montessori in ihrem 1948 in 5. Auflage erschienenen Hauptwerk von 1909 so (= GW 1: Die Entdeckung des Kindes, Freiburg 2010, 3. Aufl. 2015, S. 43–47, S. 49f):

Geschichte der Entdeckung einer wissenschaftlichen Erziehung für normale Kinder

Es war Ende 1906. Ich kam aus Mailand zurück. Man hatte mich dort zur Preisverteilung auf der Weltausstellung in der Abteilung wissenschaftliche Pädagogik und Experimentalpsychologie hinzugezogen. Der Generaldirektor des „Istituto dei Beni Stabili di Roma“14 bot mir an, die Gestaltung von Kindergärten zu übernehmen, die in Häusern mit Sozialwohnungen errichtet werden sollten.

Die großartige Idee bestand darin, einen Stadtteil voll von Flüchtlingen und armen Leuten neu zu gestalten, wie das Viertel San Lorenzo in Rom, wo etwa 30 000 Einwohner auf engem Raum zusammengedrängt lebten, unter Bedingungen, die jeglicher öffentlichen Kontrolle entzogen waren. Es gab dort Arbeitslose, Bettler, Prostituierte, frisch aus dem Gefängnis entlassene Strafgefangene. Sie alle hatten Zuflucht zwischen den Mauern von Häusern gesucht, die wegen der Wirtschaftskrise nicht fertig gestellt worden waren, da fast im ganzen Viertel die Bautätigkeit zum Erliegen gekommen war.

Der von Ingenieur Talamo stammende Plan sah das Aufkaufen all dieser Mauern, dieser Häuserskelette und ihren allmählichen Ausbau zu festen Wohnungen für das Volk vor. Dieser Plan wurde mit der einfach grandiosen Idee verknüpft, alle Kinder, die noch nicht im schulpflichtigen Alter waren (von 3 bis 6 Jahren), in einer Art „Schule im Haus“ unterzubringen.

Jedes dieser Häuser mit Sozialwohnungen sollte seine eigene Schule15 besitzen, und da das Institut bereits über mehr als 400 solcher Häuser in Rom verfügte, bot diese Arbeit großartige Entwicklungsmöglichkeiten. Die erste Schule sollte im Januar 1907 eröffnet werden, und zwar in einem großen Sozialhaus des Viertels San Lorenzo. In demselben Stadtteil besaß das Institut schon 58 Gebäude, und der Plan des Direktors sah die Eröffnung von 16 Schulen in diesen Wohnhäusern vor.

Dieser besondere Schultyp erhielt den entzückenden Namen „Casa dei Bambini“ (Kinderhaus).16 Das erste wurde unter dieser Bezeichnung am 6. Januar 1907 in der Via dei Marsi 58 eröffnet. Man vertraute mir seine Leitung an.17 Die soziale und pädagogische Bedeutung einer solchen Einrichtung wurde mir in ihrem ganzen Umfang bewusst, und ich ließ mich nicht davon abbringen, dass sie einer triumphalen Zukunft entgegenging, was damals eine übertriebene Vision zu sein schien. Heute beginnen viele zu erkennen, dass ich die Wahrheit voraussah.

Am 6. Januar wird in Italien das Fest der Kinder gefeiert, das dem Epiphaniefest des katholischen Kalenders entspricht. Es ist genauso wie Weihnachten mit dem Christbaum in evangelischen Ländern, wo die Kinder Geschenke und Spielsachen bekommen. Am 6. Januar wurde die erste Gruppe von über 50 kleinen Kindern zusammengestellt. Es war interessant, diese kleinen Wesen zu sehen, die sich so stark von denen unterschieden, welche die üblichen schulgeldfreien Schulen besuchten. Sie waren schüchtern und unbeholfen, sahen dumm und unzurechnungsfähig aus. Sie waren nicht in der Lage, in einer Reihe hintereinander zu gehen, und die Lehrerin ließ jedes Kind den Schürzenzipfel des vor ihm laufenden packen, so dass sie sich wie im Gänsemarsch fortbewegten.

Sie weinten, und alles schien ihnen Angst einzuflößen – die Schönheit der anwesenden Damen, der Baum und die daran hängenden Dinge. Weder nahmen sie die Geschenke an noch probierten sie die Süßigkeiten noch antworteten sie auf Fragen. Sie waren wirklich wie eine Gruppe wilder Kinder. Gewiss, sie hatten nicht wie der Wilde aus dem Aveyron18 in einem Wald unter Tieren gelebt, aber in einem Wald verlorener Menschen, außerhalb der Grenzen der zivilisierten Gesellschaft. Beim Anblick dieses ergreifenden Schauspiels meinten viele Damen, dass diese Kinder sich nur durch ein Wunder erziehen lassen würden und dass sie sie gerne nach ein oder zwei Jahren wiedersehen würden.

Ich wurde um eine Ansprache gebeten, doch da ich nicht auf die strukturellen und wirtschaftlichen Einzelheiten des Unternehmens eingehen konnte, nahm ich ganz allgemein auf das hier begonnene Werk Bezug und las den Teil einer Weissagung zu dem von der katholischen Kirche am 6. Januar begangenen Epiphaniefest, dem Tag, der für die Eröffnung des Kinderhauses gewählt worden war.

Isaias, Kapitel 60: „Auf, werde hell, denn dein Licht ist da, die Herrlichkeit des Herrn strahlt über dir auf.

Denn sehet, die Erde bedeckt Finsternis und Wolkendunkel die Völker, doch über dir strahlt der Herr, und seine Herrlichkeit wird über dir sichtbar.

Völker wallen zu deinem Lichte und Könige zu deinem strahlenden Lichtglanz. Erhebe deine Augen ringsum und schau: sie alle haben sich versammelt und kommen zu dir; deine Söhne kommen von ferne, und deine Töchter erheben sich von allen Seiten.

Dann wirst du schauen und strahlen, dein Herz wird sich weiten, denn die Fülle des Meeres und der Reichtum der Völker werden zu dir kommen.“

„Vielleicht“ fuhr ich zum Abschluss fort, „kann dieses Kinderhaus ein neues Jerusalem werden und dadurch Licht in die Erziehung bringen, dass weitere Häuser dieser Art unter den Entrechteten vermehrt entstehen.“

Die Tageszeitungen kritisierten diese Worte auf ein so bescheidenes Unternehmen gemünzt als übertrieben. […]19

Ein Jahr später, als ein weiteres Sozialhaus mit angeschlossenem Kinderhaus eröffnet wurde, hielt das Istituto dei Beni Stabili eine Eröffnungsansprache für angezeigt, die der italienischen Öffentlichkeit eine klare Vorstellung vom Wesen dieses Versuches und von der Bedeutung einer wahren Reform sowie ihrer wissenschaftlichen und sozialen Motive geben sollte.

Diese Ansprache ist ein bemerkenswertes Zeugnis für den Bürgersinn, mit dem das Problem des Hauses und der Kinderfürsorge in nunmehr schon weit zurückliegenden Jahren im Elendsviertel San Lorenzo angepackt wurde. Es war entstanden aufgrund der Bevölkerungsverschiebung als Folge der italienischen Unabhängigkeitskriege und des Massenzustroms nach Rom, der Hauptstadt des neuen Königreiches.20

Zur Bedeutung meines ersten Lehrversuches, den ich zwei Jahre lang in den Kinderhäusern durchführte, wäre Folgendes zu sagen: Er stellt die Ergebnisse einer Reihe von Versuchen dar, die ich bei der Erziehung kleiner Kinder nach den neuen Methoden unternahm. Es handelte sich dabei gewiss nicht einfach um die Anwendung der Séguinschen Methoden in Kindergärten, das ergibt sich schon beim Nachlesen seiner Werke. Richtig ist allerdings, dass die Versuche dieser beiden Jahre auf einer experimentellen Grundlage beruhen, die auf die Zeit der Französischen Revolution zurückgeht und die Summe der Mühen darstellt, die Séguin und Itard ihr ganzes Leben auf sich genommen haben.

Was mich betrifft, so griff ich 30 Jahre nach dem zweiten Buch von Séguin dessen Ideen und – ich wage dies zu behaupten – dessen Werk mit der gleichen unverbrauchten Begeisterung neu auf, mit der er die Ideen und Werke seines Meisters Itard übernommen hatte, dem er wie ein Sohn bei seinem Tode beistand. Zehn Jahre lang experimentierte ich in der Praxis und machte mir Gedanken über das Werk dieser hervorragenden Männer, die sich aufgeopfert und der Menschheit den Beweis für ihr stilles Heldentum hinterlassen hatten.

Meine zehn Studienjahre können der vierzigjährigen Arbeit von Itard und Séguin zugerechnet werden. So waren schon 50 Jahre über mehr als ein Jahrhundert verteilt mit aktiver Vorbereitung vergangen, bevor dieser scheinbar kurze, und nur zwei Jahre dauernde Versuch unternommen wurde. Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich sage, dass dieser Versuch die Arbeit dreier Ärzte darstellt, die, von Itard bis zu mir, die ersten Schritte auf dem Wege zur Psychiatrie gingen. […]21

Die „Kinderhäuser“ breiteten sich rasch in der ganzen Welt aus, trotz der durch Krieg und Vorurteile hervorgerufenen Schwierigkeiten. Während des Zweiten Weltkrieges haben sich die „Kinderhäuser“ in Indien stark vermehrt.

Die Geschichte dieser Bewegung beweist uns, dass die gleiche Erziehung mit entsprechender Anpassung in allen Gesellschaftsklassen und bei allen Rassen möglich ist, ganz gleich, ob es sich um glückliche Kinder oder um solche handelt, die durch ein verheerendes Erdbeben verschreckt wurden. Das Kind ist die in unserer Zeit sichtbar werdende treibende Kraft, die den Menschen im Dunkeln neue Hoffnung bringt.

Das „Kinderhaus“ ist von doppelter Bedeutung: Seine soziale Bedeutung liegt in der „Schule im Haus“; seine rein erzieherische hängt von der Anwendung der von mir erprobten Methode ab.

Als die Völker unmittelbar angehender Kulturfaktor ist das „Kinderhaus“ wohl einer näheren Erläuterung wert. Es löst tatsächlich zahlreiche, utopisch erschienene soziale und erzieherische Probleme und ist als Teil der modernen Umwandlung des Heimes zu betrachten; es berührt also unmittelbar den wichtigsten Punkt der sozialen Fragen, nämlich den intimen Lebensbereich der Menschen.

3. Erfahrungen in den Kinderhäusern im römischen Arbeiterviertel San Lorenzo (1910)

In ihrem Werk „Pädagogische Anthropologie“ („Antropologia pedagogica“) von 1910 weist Montessori im Rahmen eines Unterkapitels zum Einfluss unterschiedlicher Faktoren auf das Körperwachstum auch auf die Bedeutung psychischer Anreize hin. In diesem Kontext gibt sie eine zusammenfassende Schilderung der Erkenntnisse aus ihren ersten Kinderhausgründungen im römischen Arbeiterviertel San Lorenzo (siehe GW 2/2: Pädagogische Anthropologie, Freiburg 2019, S. 162–166):

Arbeit, Liebe und Sinneseindrücke, die geeignet sind, geistige Gehalte aufzubauen, d. h. die Intelligenz zu nähren, sind Notwendigkeiten für das menschliche Leben. […]

Fénelon22 erzählt in einer Fabel, dass eine Bärin, die ein sehr hässliches Kind zur Welt gebracht hatte, auf Anraten der Krähe ihr Bärchen so sehr leckte und liebkoste, dass dieses anmutig und schön wurde. Diese Fabel enthält den Gedanken, dass Mutterliebe den Körper des Kindes verändern kann, indem sie mit den ersten wohltuenden psychischen Reizen, mit Liebkosungen und gutem Zureden seine Entwicklung hin zur Harmonie der Formen unterstützt […]

Die Natur gibt der Mutter nicht nur die Muttermilch23, d. h. die materielle Nahrung für ihr Kind, sondern auch jene absolut altruistische Liebe, welche die Seele der Frau verändert und in ihr moralische Kräfte freisetzt, die ihr zuvor noch ganz unbekannt gewesen waren und von ihr nicht erwartet wurden. Ebenso waren ihren roten Blutkörperchen die süßen und nährenden Korpuskeln der Milch unbekannt. Nun, die menschliche Natur beschützt in der Mutter die Spezies unter zwei Gestalten, die insgesamt die vollkommene Ernährung des Menschen ausmachen: Nahrung und Liebe. Wenn das Kind entwöhnt ist, erhält es die Nahrung von seiner Umgebung in mannigfaltiger Weise und es nimmt aus seiner Umgebung auch verschiedene psychische Reize auf, die geeignet sind, nicht nur seine psychische Persönlichkeit zu formen, sondern auch seine physiologische zu vollkommener Entwicklung zu führen.

Die aufschlussreichste Erfahrung habe ich in den „Kinderhäusern“ im Viertel San Lorenzo in Rom gemacht. Es handelt sich hierbei um das ärmste Viertel der Stadt, und die Kinder sind Söhne und Töchter von Tagelöhnern, die daher häufig der Arbeitslosigkeit ausgesetzt sind. Bei den Erwachsenen ist der Analphabetismus noch unglaublich stark verbreitet, sodass der Anteil von Kindern, bei denen entweder der Vater oder die Mutter Analphabet ist, sehr hoch ist. In unseren „Kinderhäusern“ gibt es kleine Kinder im Alter von drei bis sieben Jahren bei einem variierenden Stundenplan: Im Sommer von neun bis fünf Uhr nachmittags und im Winter von neun bis vier Uhr.

Bei uns hat es niemals Schulspeisung gegeben; die Kleinen, die sich alle im gleichen Wohnblock befinden, in dem ihre Familien leben, gehen für eine halbe Stunde nach Hause, um zu essen. Wir haben also auf keine Weise Einfluss auf ihre Ernährung genommen.

Die angewandten pädagogischen Methoden sind jedoch derart, dass sie eine graduelle Reihe von psychischen Reizen darstellen, die hervorragend an die Bedürfnisse der Kinder angepasst sind. Das Umfeld regt jedes Individuum gemäß seiner subjektiven Potenzialität zur eigenen psychischen Entwicklung an. Die Kinder sind in all ihren Äußerungen frei und werden mit sehr freundlicher Herzlichkeit behandelt. Ich glaube, dass dieses interessante pädagogische Experiment zum ersten Mal gemacht wurde, nämlich in das kindliche Bewusstsein etwas zu säen und gleichzeitig die spontane Ausweitung der Persönlichkeit strikt frei zu lassen, in einem ruhigen Umfeld, das die Wärme affektiver und friedlicher Empfindungen ausstrahlt.

Die Ergebnisse waren erstaunlich: Wir mussten unsere Vorstellungen zur Psychologie des Kindes neu fassen, da sich viele der sogenannten kindlichen Instinkteüberhaupt nicht entwickelten und stattdessen in jenem ursprünglichen Bewusstsein unerwartete intellektuelle Empfindungen und Leidenschaften entstanden, wahrhafte Offenbarungen der erhabenen Größe des menschlichen Geistes! Die intelligente Aktivität jener kleinen Kinder schien wie ein Quellwasser, das den Felsen entsprang, die man fälschlicherweise in den keimenden Geistern allein vermutet hatte. Wir sahen, wie sie zu unserem Erstaunen aus ungestilltem Durst nach Wissen die Spielzeuge außer Acht ließen, und wie sie mit großer Sorgfalt die zerbrechlichsten Lehrgegenstände und die zartesten Pflanzen, die in die Erde gesät wurden, unbeschadet ließen. Sie, die für triebhafte Vandalen gehalten werden! Am Ende erschienen sie uns wie Kinder einer Menschheit, die stärker entwickelt ist als die unsere, doch sie sind nichts anderes als eine wunderbare, in ihrer natürlichen und freien Entwicklung geleitete und geförderte Menschheit!

Doch was am meisten verwundert, ist die überraschende Tatsache, dass bei allen Kindern derartige Verbesserungen ihres allgemeinen Ernährungszustandes festgestellt wurden, dass sie sich merkbar von ihrem ursprünglichen Zustand und den Verhältnissen, in denen sich ihre Geschwister befinden, unterscheiden. Viele Schwache kräftigten ihren Organismus, sehr viele an Lymphatismus Leidende gesundeten. Die Kinder sind so einzigartig pausbäckig und rosig, dass sie Kinder reicher Eltern zu sein scheinen, die auf dem Land gelebt haben. Wer sie sieht, kann kaum glauben, dass es sich um Kinder eines analphabetischen Proletariats handelt!

Nun haben wir noch die Notizen aufbewahrt, die über die Kinder gemacht wurden, als sie sich in der Schule vorstellten. Bei sehr vielen war notiert worden: Aufbaumittel notwendig. Doch keins der Kinder nahm Medizin, keines änderte den Ernährungsplan: Die blühende Gesundheit der Kinder ist also durch ihr zufriedenes und vollkommenes psychisches Leben bedingt. Und doch sind sie beständig und von neun bis fünf Uhr elf Monate im Jahr in der Schule! Man könnte meinen, dass dieser Stundenplan übertrieben ist! Doch noch mehr verwundern könnte die Tatsache, dass die Kinder während des ganzen Stundenplans beschäftigt sind. Noch mehr könnte der Bericht vieler Mütter erstaunen, die erzählen, wie ihre Kleinen, wenn sie nach Hause kommen, sich bis zu dem Moment beschäftigen, wenn sie ins Bett gehen. Und schließlich könnte es fast unmöglich erscheinen, dass viele der Kleinen sich bereits morgens um 8:30 Uhr ruhig in der Schule befinden, lächelnd und fast in seliger Vorfreude auf das Vergnügen, das sie an dem langen Tage erwartet! Wir haben gesehen, wie kleine Kinder zu genauen Betrachtern des Umfelds wurden und sich dabei von sich aus an neuen Eindrücken erfreuten. Ihre Statur, die wir Monat für Monat messen, zeigt, dass das physiologische Wachstum bei allen üppig ist, doch besonders bei jenen, deren Durchblutung hervorragend geworden ist.

Diese experimentellen Ergebnisse haben uns wie eine unerwartete Kundgebung der Natur in Erstaunen versetzt, oder – wenn man so will – wie eine wissenschaftliche Entdeckung. Wir hätten jedoch etwas von all dem erahnen können, wenn wir bedacht hätten, dass unsere physische Gesundheit wesentlich mehr mit dem Frieden des Bewusstseins und dem Glück verbunden ist als mit dem materiellen Brot!

Lernen wir den Menschen kennen, den erhabenen Menschen in seiner wahren Wirklichkeit! Lernen wir ihn im zartesten Kleinkind kennen! Wir haben experimentell herausgefunden, dass er durch Arbeit, Freiheit und Liebe entsteht. Bisher hatten wir jedoch die wundervollen Schönheiten seiner Natur unter den unvernünftigen Spielzeugen, der Sklaverei des Befehls und der Verachtung für seine spontanen Äußerungen verborgen gehalten. Der Mensch lebt, um von seiner frühen Kindheit an zu lernen, zu lieben und etwas zu schaffen. Dadurch wachsen auch seine Knochen und daran bereichert sich sein Blut!

Nun wird ein solcher Faktor physiologischer Entwicklung von unseren veralteten pädagogischen Methoden erstickt. Wir verhindern mehr oder weniger vollständig die Entwicklung der einzelnen Persönlichkeiten, um alle Schüler in den gleichen Rahmen zu pressen. Die Vervollkommnung jedes einzelnen wird durch das allgemeine Niveau verhindert, das alle erreichen und nicht überschreiten sollen, wenn die Schüler von uns nur aufnehmen, aber nicht für sich selbst etwas schaffen sollen. Sie müssen unbeweglich und in ihrem Bewusstsein von den starren Programmen eingeengt stillsitzen, so wie auch ihr Körper in den eisernen Bänken unbeweglich gehalten wird.

Wir wollen Maschinen sehen, die von uns installiert und bewegt werden, wogegen sie doch die stolzeste Schöpfung der Natur darstellen.

Wir zerstören durch die Sklaverei göttliche Kräfte. Die Belohnungen und die Bestrafungen stellen für uns bei der erzwungenen Unterwerfung dieser wunderbaren Aktivitäten die Peitsche dar. Wir ermutigen mit Belohnungen! Wozu? Zum Gewinn der Belohnung. Und damit lenken wir den Blick des Menschen vom Ziel ab, welches Wissen, Freiheit und Arbeit ist, um ihn auf die Belohnung zu polarisieren, die moralisch gesehen Eitelkeit, materiell gesehen nur ein paar Gramm Metall ist. Wir bestrafen, um die Natur zu unterwerfen, die nicht gegen das Gute, das Schöne und das Ziel des Lebens rebelliert, sondern gegen uns, die wir Tyrannen und keine Anführer sind.

Und doch bestrafen wir auch nicht Krankheit, Unglück und Armut!

Wir sind Dompteure freier Wesen, nicht Erzieher von Menschen.

Unser Glaube an die Belohnung und die Bestrafung als notwendige Mittel für den Fortschritt der Kinder und der Disziplin ist ein Vorurteil, das experimentell widerlegt worden ist. Nicht der individuelle, materielle und nutzlose Preis ist der psychische Reiz, der die vielfachen Entfaltungen des menschlichen Lebens vorantreibt: Er verdirbt durch die Eitelkeit die Größe des Bewusstseins und zwingt es in die Grenzen des Egoismus, der Verderben bedeutet. Der Reiz, der des Menschen würdig ist, ist die Freude, die er empfindet, wenn er sich selbst wachsen sieht; und er wächst nur durch die Errungenschaften des Geistes und durch die universelle Solidarität. Es stimmt nicht, dass das Kind nicht in der Lage sei, einen größeren spirituellen Reiz zu fühlen als den armseligen Preis, der ihm eine egoistische und illusorische Überlegenheit gegenüber seinen Klassenkameraden verleiht. Wir sind es eher, die nunmehr durch unseren Egoismus verdorben die neuen menschlichen Kräfte nach unseren Maßstäben bewerten.

Die kleinen Kinder der „Kinderhäuser“ zerstören von sich aus die Auszeichnungen: Sie verachten die Medaillen, die ihnen als Abzeichen an die Brust geheftet werden, und suchen stattdessen aktiv die Lehrgegenstände, mit denen sie ohne jegliche Anleitung durch den Lehrer, sich selbst aufbauen, bewerten, korrigieren und vervollkommnen können.

Zu den Bestrafungen: Sie sind entmutigend und wir verhängen sie über die, die schon entmutigt sind!

Auch bei den Erwachsenen, den Starken, ist bekannt, dass man die Gefallenen ermutigen, den Schwachen helfen und den Entmutigten Mut zusprechen muss. Und wenn dies für die Starken gilt, wieviel mehr dann für das Leben auf dem Weg der Entwicklung?

Die Welt erwartet von uns eine große Reform: Wir müssen die eisernen Ketten zerbrechen, mit denen wir das Bewusstsein der neuen Generationen gefesselt halten!24

4. Kampf für die Emanzipation der Frau (1907)

In einem Beitrag vom Mai 1907 zieht Montessori eine Art Bilanz der Arbeit der feministischen Bewegung Italiens in den vorangegangenen Jahren unter ihrer Beteiligung. Mit ihrer Teilnahme am Internationalen Frauenkongress in Berlin 1896 begann sie ihr aktives Eintreten für eine Emanzipation der Frau. Ihre entsprechenden Vorträge und Artikel aus dieser Zeit sind enthalten in GW 3: Erziehung und Gesellschaft, Freiburg 2011, Kapitel II: Die neue Frau, S. 92–208. Die folgenden Textausschnitte aus dem Artikel „Feminismus“ finden sich auf den S. 177–185.

Es scheint mir an der Zeit, Fakten zu sammeln und damit zu beginnen, unsere Bilanz vorzulegen. Das Thema ist umfangreich und die Erfolge des Feminismus sind nicht wenige. […]

Wer denkt, dass der Feminismus eine Bewegung mit vollständig entwickelten Ideen sei und dass das Ausmaß seiner Bedeutung auf der Anzahl der Frauen beruhe, die mit dem Wahlrecht sympathisieren, und der Mitglieder der feministischen Vereine jeder Art, der irrt sich. Er beruht auf der realen Menge der werktätigen Frauen, die einen Beitrag zum sozialen Reichtum – im weitesten Sinne – leisten, von der Industrie bis hin zu geistigen Bereichen, und die sich im Vergleich zu alten Gesetzen neue gesellschaftliche Rahmenbedingungen schaffen. Es ist ebenfalls eine Illusion zu denken, dass Namen, die mit mehr oder weniger blendenden Familienwappen geschmückt sind, oder Namen von Ehemännern, die auf Ehefrauen ohne eigene Persönlichkeit übertragen werden, die organische Herausbildung eines feministischen Gedankenguts beeinflussen können. Es sind die Frauen, welche die geistigen Fähigkeiten für höhere Studien und Erfahrung im Lebenskampf haben, die allein Leiterinnen und Gestalterinnen des neuen Bewusstseins sein können. Das demokratische Konzept, dem die Aufgabe zukommt, jeden Schritt der Welt nach vorn zu lenken, kann nichts anderes als Fundament haben als die Vorbereitung eines aufgeklärten Bewusstseins. […]

Ich glaube, dass niemand auf die Verteidigung einer Klasse von Bürgern verzichten kann, erst recht nicht auf die Verteidigung der Hälfte der Bevölkerung gegen die andere Hälfte. Ich glaube auch, dass niemand möchte, dass die Frau sich allein verteidigt, aber mit außerrechtlichen Mitteln, also mit der Revolution. Kurz gesagt: die Eroberung des Wahlrechts wird wie eine natürliche logische Konsequenz aus der erfahrungswissenschaftlichen Untersuchung der gesellschaftlichen Frage der Frau hervorgehen. Auch bei dem jetzigen katholischen Kongress von Mailand ist man zu diesem Schluss gelangt […] Dass sich die Frau in unserem Land in einem rapiden Aufstieg befindet, beweisen viele Tatsachen – in erster Linie ihr Andrang bei den höheren Ausbildungen. Vielleicht belegen das nicht die Statistiken der Universitäten. Aber auf einem vergleichbaren Niveau befinden sich die höheren Ausbildungsinstitute für Lehrerinnen, die einer Universität gleichkommen, da sie vom Gesetz bevollmächtigt sind, Diplome zu verleihen, die ohne Einschränkung von Stufen zum Unterrichten in allen Sekundarschulen für Mädchen berechtigen. Die Lizenziaten der Lehrerinneninstitute werden gemeinsam mit den Hochschulabgängern bei Bewerbungen zugelassen.25 […]

Das, was die gesellschaftliche Bedeutung solcher Institute ausmacht, ist der unbezwingliche Ansturm von Frauen, von jungen Mädchen, welche ohne Zweifel die Crème de la Crème der neuen Kräfte der italienischen Frauen darstellen. Das ist das Phänomen. Im Jahre 1880 gab es in den Lehrerinneninstituten fünfzig Fortbildungsstellen, d. h. Stellen mit kostenlosem Zugang zum Studium, und nicht einmal diese Stellen wurden besetzt, auch wenn sie noch so verlockend waren. Jetzt sind nicht nur die Fortbildungsstellen abgeschafft worden, sondern auch die Gebühren sind enorm angestiegen und übertreffen sogar die Universitätsgebühren. Jedes Jahr melden sich achtzig oder neunzig Schülerinnen an! Bei den Bewerbungen von 1896 wagten es nur wenige Lizenziaten von Lehrerinneninstituten, sich zusammen mit den Hochschulabgängern vorzustellen. Im Jahr 1900 waren es etwa eintausend.

Warum eilen die neuen intellektuellen italienischen Frauen so herbei, werden so mutig und begeben sich in Scharen auf das Kampffeld? Die Lehrerinneninstitute bieten keine besonderen Attraktionen. Vielleicht ist es gerade diese wohlbekannte Seite des Problems, die mit solch einer Leichtfertigkeit behandelt wurde: Die Lehrerinneninstitute sind Schulen für Frauen, d. h. vernachlässigte Schulen, um nicht zu sagen verachtete Schulen. Die Institute blühen aber auf: Es sind gut zweihundert Schülerinnen pro Institut!

Hingegen ist die Anzahl der Studentinnen an den von Männern beherrschten Universitäten insgesamt relativ gering, trotz der unbestreitbaren Überlegenheit der Lehrmittel und den besseren Möglichkeiten bei den Bewerbungen. […]

Die Länder, die von uns als die am weitesten entwickelten Länder angesehen werden, zum Beispiel England, spüren die Notwendigkeit, höhere Institute für Frauen zu gründen, damit diese die weiblichen Kräfte anziehen, die weit von den Städten oder den großen Zentren für Bildung entfernt sind.

Ich habe in London eine Universität nur für Frauen besucht: Auch der Professor für „klinische Chirurgie“ war dort eine elegante und auf sympathische Weise umgängliche Dame. Die Wissenschaft oder besser gesagt die wissenschaftlichen Diplome sind an jener Universität nicht verboten und sie haben die gleiche Wichtigkeit und die gleiche Bedeutung wie die Abschlüsse für Männer. Aus jener Universität gehen auch Frauen mit einem Abschluss in Medizin hervor; sogar die meisten haben einen Abschluss in Medizin. Ich sah die Studentinnen glücklich und ruhig, frei wie bei sich zu Hause, dort auf den Alleen, zwischen den Gebäuden der Kliniken und der anatomischen und zoologischen Säle und in ihren Clubs, wo sie sich trafen, um sich von den Vorlesungen zu erholen und den traditionellen Tee einzunehmen.

Und wir, können wir nichts anderes als wertvolle Kräfte schnell kritisieren, sie auf fatale Weise vernachlässigen und schuldhaft verschwenden? Ich glaube nicht. Es ist die Zeit des Handelns gekommen: Wir haben genug geredet. Es ist an der Zeit, Fakten zu sammeln, ein wenig Bilanz zu ziehen und zu reagieren.

II. Grundlagen meiner Pädagogik (1934)

In einem hier ungekürzt wiedergegebenen Artikel bietet Maria Montessori 1934 einen Überblick zu ihrer Pädagogik. Dieser Text erschien ursprünglich in: Handbuch der Erziehungswissenschaft, hrsg. von Franz X. Eggersdorfer u. a.; III. Teil, Bd. 1: Familien- und Kleinkinderpädagogik, München 1934 (= 1934 dt), S. 265–285. Nach Vergleich mit einer im Montessori-Archiv der Universität Münster vorhandenen Kopie eines italienischen Typoskripts des Textes (= 1934 it) wurde dieser erneut übersetzt und veröffentlicht in: Montessori, Maria: Meine Pädagogik, Reihe: Montessori-Perlen, Freiburg 2021, S. 9–54. Diese Übersetzung aus dem Italienischen wird im Folgenden übernommen.

In allen Ländern wird daran gearbeitet, die Erziehung zu verbessern. Eine Reihe psychologischer Wissenschaften mit den verschiedensten Namen ist mit dem Zweck entstanden, das Kind zu studieren. Die meisten dieser Studien basieren auf Charakteristika, die allgemein als normalen Kindern gemeinsam gelten, und alle Voraussetzungen und alle Folgerungen bleiben Theorie. Auch wenn die Forschung zu einem Ergebnis geführt hatte, fehlte der Weg, diese Erkenntnis dem kindlichen Leben nutzbar zu machen. Doch in den meisten Fällen glaubt man trotz aller Forschung auch heute noch, dass der Erwachsene den Charakter eines Kindes formen könne und dass es nicht nur die Aufgabe, sondern die Pflicht des Erziehers sei, diese Formung vorzunehmen. Dem Kind und seiner schöpferischen Kraft überlässt man den kleinsten Teil dieser Bildungsarbeit.

Fast alle Pädagogen und Eltern betrachten die Kindheit als ein Durchgangsstadium zum Erwachsensein, und in diesem Sinne bestimmt der Erwachsene alle Bedürfnisse des kindlichen Lebens.26 Der Charakter muss gefestigt werden, das Kind muss sich bestimmte moralische Eigenschaften aneignen, andere unmoralische unterdrücken. Auch der Geist muss gebildet werden und ein bestimmtes Kulturgut erwerben. Man verlangt vom Kind, in der gleichen Weise zu arbeiten wie der Erwachsene: zielbewusst und mit geringstem Kraftaufwand. In festgelegten Zeitabschnitten muss ein bestimmtes Pensum erreicht werden. Die Ordnung beim Kind wird von außen diktiert und Gehorsam sowie Disziplin sind die Folgen der Autorität des Erwachsenen. Wie es um die innere Ordnung eines Kindes bestellt ist, interessiert immer erst dann, wenn ein Kind krank, übernervös oder über das Normalmaß hinaus „ungezogen“ ist.

Die Pädagogik verlangt, ebenso wie die Medizin, dass die Erziehung am ersten Tage des Lebens des Kindes beginne. Die Medizin fordert besondere Rücksicht vom Erwachsenen auf die physische Entwicklung des Kindes, Rücksicht auch schon vor der Geburt des Kindes, die also nur der Erwachsene nehmen kann. Die Medizin gibt Richtlinien und Hilfen, die wir als Regeln der Hygiene und Kinderpflege kennen und die sich allein an den Erwachsenen richten. Die Pädagogik dagegen gibt nur ein Prinzip, gleichsam einen Rat, wie der Erwachsene seine eigene Arbeit, seine Erziehungsarbeit, am leichtesten durchführen kann. Sie gibt Hilfen für den Erwachsenen, aber nicht für das Kind. Man gibt den Rat, mit der Erziehung im frühesten Alter einzusetzen, solange das Kind noch wie weiches Wachs sei. Es sei leichter, das kleine Kind aus weichem Wachs zu formen als das ältere, das nicht mehr so formbar sei. Und so erzieht man das Kind vom ersten Tag seines Lebens an, und bestraft es für seine Fehler und seinen Ungehorsam. Der Erwachsene hat also den Nutzen der pädagogischen Lehre, nicht das Kind.

Wenn ein Problem trotz aller aufgewandten Kraft und Anwendung aller zur Verfügung stehenden Mittel schwer zu lösen bleibt, so liegt dies oft daran, dass man nicht jeden einzelnen Faktor, der für die Lösung von Bedeutung sein könnte, genügend beachtet hat. Ist der übersehene Faktor erst einmal entdeckt, so ist das Problem von überraschender Einfachheit. Gerade die besonders naheliegenden Faktoren lässt man meist unbeachtet.

Immer hat man sich an die Persönlichkeit des Kindes nur in dem pädagogischen Sinn gewendet, der das Kind zum Objektder Erziehungund des Unterrichts macht. Gemäß dieser pädagogischen Ausrichtung hat man die Art der Beziehung zwischen dem Kind und dem Erwachsenen festgelegt. Die Natur dieser Beziehung zwischen dem Kind und dem Erwachsenen hat man aber zu erforschen versäumt, so dass man sie nicht erkennen konnte.

Geht man aber diesem Aspekt genauer nach, so taucht ein soziales Problem auf, das niemals Beachtung gefunden hat: Der übersehene Faktor ist gefunden. Das Kind und der Erwachsene leben in einer Vereinigung der Zwietracht und des Kampfes. Es sind zwei vollkommen verschiedene Wesen.

Der Erwachsene ist ein willensstarker, selbstbewusster Mensch im Vergleich zu dem kleinen, unwissenden Kind, das hilflos seiner Obhut anvertraut ist. Der Erwachsene hat sich mit seiner produktiven, nach außen gerichteten Arbeit eine Umgebung geschaffen, die seinen Bedürfnissen entspricht. In dieser Umgebung lebt das Kind wie ein außersoziales Wesen, das nichts zu dieser Gesellschaft beitragen kann, da das Ziel seines Lebens und seiner Arbeit sich auf sein Inneres und nicht auf die Außenwelt richtet.

Das Kind ist so ein Fremder in der sozialen Ordnung des Erwachsenen und könnte sagen: ‚Mein Reich ist nicht von dieser Welt‘. Die Pädagogik hat also Forderungen aufzustellen, die sich an den Erwachsenen richten und nicht an das Kind.

Aus der Erkenntnis der richtigen Beziehung zwischen dem Kind und dem Erwachsenen konnten wir mehr finden als eine abstrakte Psychologie. Wir haben das neue Kind gefunden, das sich uns durch wunderbare Äußerungen offenbart hat. Wir sehen also klar, dass die Kindheit ein Stadium des Menschseins ist, das sich vollkommen von dem des Erwachsenseins unterscheidet. Wir haben erkannt, dass es sich um zwei verschiedene Formen des menschlichen Lebens handelt. Das Kind trägt nicht die verkleinerten Merkmale des Erwachsenen in sich, sondern in ihm wächst sein eigenes Leben, das seinen eigenständigen Sinn hat. Wer ist es, der diese zweite Schöpfung, das Werden des Erwachsenen, vollbringt? Wachsen vielleicht die Eltern für das Kind? Formt etwa der Erzieher den Charakter? Bildet der Lehrer den Geist? Das Reifen des Menschen im Kinde ist eine Art neuer Schwangerschaft, die länger währt als die Schwangerschaft im Mutterleib, und das Kind allein ist der Bildner seiner Persönlichkeit. Es ist ein schöpferischer Wille, der es zur Entwicklung drängt. Im ganz kleinen Kind ist die Zeichnung des Charakters noch nicht sichtbar, aber in ihm ruht, wie in einer Zelle, die ganze zukünftige Persönlichkeit.

Der Erwachsene soll nicht danach streben, ein mächtiger Erzieher zu werden, sondern er muss seine Beziehungen zum Kind harmonisch gestalten und dem Kind gegenüber eine verständnisvolle Einstellung erwerben. Dann wird es für ihn eine Selbstverständlichkeit werden, dem Kind eine Umgebung zu schaffen, die seiner Aktivität angepasst ist, damit es – Herr in dieser Umgebung – sich frei entwickeln kann. Es ist notwendig, dass der Erwachsene die beiden verschiedenen Lebensrhythmen anerkennt, sie ordnet und miteinander ausgleicht, dass er die Grenzen begreift, innerhalb deren er pädagogisch handeln darf. Es ist notwendig, dass er sich dem Kind gegenüber beherrschen lernt. Wir predigen Zurückhaltung und Geduld als fundamentale Vorbereitung des Lehrers und Zurückhaltung und Geduld allen Müttern und Vätern und allen denen, die mit dem Kind in Berührung kommen. Diese Zurückhaltung wird das Kind nicht verweichlichen oder verwöhnen, sondern ihm das größte Hindernis für die gesunde Bildung seiner Persönlichkeit aus dem Weg räumen.

Auch wir gebrauchen den Vergleich mit dem Wachs, doch in ganz anderer Weise. Es ist wahr, dass das Kind in seiner frühen Lebensepoche gleich weichem Wachs ist, aber dieses Wachs kann nur von der sich entfaltenden Persönlichkeit selber geformt werden. Die einzige Pflicht des Erwachsenen ist es, diese Formung des Wachses vor Störung zu bewahren, damit die feinen Zeichnungen, die das erwachende psychische Leben des Kindes dem Wachs einritzt, nicht ausgelöscht werden. Das kleine Kind formt die Sprache, bevor es sprechen kann; es formt die Bewegungen, bevor es die Herrschaft darüber gewonnen hat. Wenn der Erwachsene diese zarten Formungen auslöscht, so ist das so, wie wenn die Meereswelle, wenn sie auf den Sand schlägt, alles verwischt; und wer hier etwas aufbauen wollte, müsste stets neu anfangen und würde dabei ermüden.

Wir verstehen unter Erziehung, der psychischen Entwicklung des Kindes vom Beginn seines Lebens an zu helfen. Wir wollen dieses Kind schützen und pflegen, das immer wachsen muss, jeden Tag und jede Stunde, und dessen Arbeit die größte Schöpferarbeit der Menschheit ist. So wie sein Körper in Intervallen wächst und sich entwickelt, so wächst auch seine Persönlichkeit in Perioden bestimmter Sensibilität. Die ganze Entwicklungsarbeit, die das Kind leistet, wird von Gesetzen bestimmt, die wir nicht kennen, und folgt dem Rhythmus einer Aktivität, die uns fremd ist. Wir versuchen nicht, diese geheimnisvollen Kräfte zu ergründen, sondern wir achten sie als ein Geheimnis des Kindes, das nur ihm allein gehört. Die Hilfe, die wir zu geben vermögen, liegt allein in der äußeren Welt.

Dies erfordert vom Erwachsenen eine weise Zurückhaltung. Denn eine Eigenart der Beziehungen zwischen dem Kind und dem Erwachsenen – die letzterem schrankenlose Macht gibt – liegt darin, dass das Kind immer in Beziehung zum Erwachsenen steht, aber niemals umgekehrt. Wir können unser Leben auch ohne das Kind gut führen, aber das Kind braucht den Erwachsenen zum Leben. Die Lösung dieser Bindung an den Erwachsenen ist eine Notwendigkeit für die Entwicklung des Menschen. Die Existenz eines Wesens verwirklicht sich nur, wenn es sich von Banden befreit, die es gefesselt halten.

In der Tat zielt auch das ganze unbewusste Streben des Kindes darauf ab, sich vom Erwachsenen zu lösen, um eine unabhängige Persönlichkeit zu werden. Unsere Erziehung trägt diesem Streben des Kindes sorgfältig Rechnung; und unser Ziel ist es, dem Kind in jeder Hinsicht zu helfen, sich von uns unabhängig zu machen. Wieviel Kraft gehört dazu, bis das kleine Kind sich vom Mutterschoß gelöst hat; bis es gelernt hat, alleine zu gehen, und nicht mehr getragen zu werden braucht; bis es sprechen kann, um das zu sagen, was es nötig hat; bis es all die Handlungen seines kleinen Lebens allein und richtig ausführen kann und nicht mehr der erdrückenden Hilfe des Erwachsenen bedarf. Wir sehen klar die Abschnitte seiner Befreiung von der Abhängigkeit vom Erwachsenen: Die Zähne geben ihm die Möglichkeit, sich unabhängig von der Mutter ernähren zu können. Sein Vermögen zu laufen bedeutet, sich ohne Hilfe des Erwachsenen fortbewegen zu können, und die Beherrschung des Sprechens ermöglicht ihm, sich mitteilen zu können, ohne auf die Auslegung seiner Wünsche durch den Erwachsenen angewiesen zu sein.

Aber dieser kreativen Arbeit des kleinen Kindes trägt der Erwachsene nicht Rechnung. Er glaubt im Allgemeinen, dass ein neugeborenes Kind für das Leben gerettet ist, wenn man die einfachsten Forderungen der Hygiene erfüllt. Das Weinen, das den Menschen durch sein ganzes Leben begleitet und das man dann als Ausdruck des Schmerzes versteht, wird in diesem ersten Lebensalter mit Befriedigung als eine Atemübung festgestellt. Wieviel Wünsche hat dieses kleine Wesen, die es noch nicht ausdrücken kann und die daher nie verstanden werden, und wieviel Leid durch ihre Nichterfüllung!

Die Menschen, die den Säugling in der ersten Zeit seines Lebens behüten und pflegen, müssten in einer ganz anderen Weise vorbereitet und geschult sein, als es jemals heute geschieht. Wie zart müsste dieses kleine Wesen angefasst werden und mit welcher Ruhe müsste es umgeben und mit welcher Aufmerksamkeit beobachtet werden, um alle seine Bedürfnisse, die von so ungeheurer Wichtigkeit für das ganze Leben sind, befriedigen zu können. Stattdessen richtet sich das Interesse der Eltern und selbst der besten Pflegerin auf die Dinge, die das Kind umgeben und die sein physisches Wohl gefährden könnten, während die Bedürfnisse der kleinen sich entfaltenden Seele vollkommen unbeachtet bleiben. Man schützt die Gegenstände vor den kleinen noch ungeschickten Händen; man fängt mit Tadel und Verboten an zu erziehen und merkt nicht, wieviel Wunden man damit in dieser kleinen Seele schlägt, obwohl es genügen würde, eine Umgebung zu schaffen, die für die Aktivitäten des Kindes geeignet ist. Die Handlungen des Erwachsenen in seiner Beziehung zum Kind sind nicht darauf gerichtet, dem Kind zu helfen, sondern seine Aktivitäten zu unterdrücken.

Das kleine Kind, das langsam anfängt, sich in der Außenwelt umzusehen, beginnt seine wichtige Epoche des Beobachtens. Es sammelt Bilder um Bilder und prägt sie seinem Gedächtnis ein. Der Erwachsene kann nichts Unmittelbares dazu tun, diese Arbeit zu unterstützen; aber er muss sich immer dessen bewusst sein, dass er sie nicht stören darf.

Erwachsene, welche ein kleines Kind auf den Arm nehmen, ohne zuvor den Ausdruck seines kleinen Gesichtes zu beachten, oder die mit ihm spielen oder es schaukeln, ohne sich darum zu kümmern, was das Kind eigentlich möchte, stören es vielleicht bei einer wichtigen Aufbauarbeit. Ein kleines Kind muss alles Neue aufmerksam und lange betrachten, sei es das Gesicht eines neuen Menschen oder sei es irgendein Gegenstand. Wie oft hat ein kleines Kind bei einer solchen Störung schon geweint, und niemand hat die Tränen richtig verstanden.

Wir lassen unsere kleinen Kinder ihre Beobachtungen machen. Wir stören sie nicht beim Sammeln dieser Bilder, die für sie die erste Kenntnis der Welt bedeuten.

Um die Außenwelt kennenzulernen und sich in ihr zurechtzufinden, bedarf das Kind einer Ordnung, die einen Teil seines Lebens ausmacht und die es verteidigt, wo es nur kann. Es liebt die Dinge seiner Umgebung immer auf dem gleichen Platz zu sehen, und ist selbst bemüht, diese Ordnung, wenn sie einmal gestört ist, sofort wiederherzustellen.

Doch wie selten wird dieses Bedürfnis des Kindes erkannt und respektiert. Wie selten wird ihm hier geholfen! Wie oft sind Tränen und Verzweiflung die Folge eines solchen Unverständnisses! In den meisten Fällen glaubt nun der Erwachsene, den ersten Fehler des Kindes entdeckt zu haben, und beeilt sich, ihn zu verbessern. Wir dagegen sind der Auffassung, dass diese verzweifelten Äußerungen des kleinen Kindes Ausdruck seiner Enttäuschung sind. In der Familie muss es einen Platz geben, der nur ihm gehört und an dem die Dinge sich immer an derselben Stelle befinden. Es handelt sich hier aber nicht um einen materiellen Besitz im Sinne des Erwachsenen, sondern um einen geistigen Besitz des kleinen Kindes.

Besonders auffallend ist beim kleinen Kind das Gedächtnis der Bewegung.