Verantwortung für diese Welt - Maria Montessori - E-Book

Verantwortung für diese Welt E-Book

Maria Montessori

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Beschreibung

Diese wichtigen Vorträge und Artikel, die Maria Montessori in den letzten 25 Jahren ihres Lebens geschrieben hat, spiegeln die Reife ihrer Ideen zur menschlichen Entwicklung wieder. Im selben Zug weist sie auf die Mängel der Gesellschaft hin, die das menschliche Entwicklungspotenzial beeinträchtigen. Die im Buch enthaltenen Artikel diskutieren die Bedeutung ihrer Entdeckungen sowohl für das moralische als auch das soziale Handeln des Menschen.

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Verantwortung für diese Welt

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Verantwortung für diese Welt

Herausgegeben im Auftrag derDeutschen Montessori Gesellschaft e.V.und derAssoziation Montessori (Schweiz)

Maria Montessori

Verantwortungfür diese Welt

Schlüsseltexte über den Menschen und eine neue Erziehung

Übersetzt von Malve Fehrer und Ulrike Hammer

Titel der Originalausgabe: Citizen of the World

Copyright © The Montessori-Pierson Publishing Company, 2019

Für die deutsche Ausgabe

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2020

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Umschlagkonzeption: Berres & Stenzel, Freiburg

Satz: Röser Media, Karlsruhe

Umschlaggestaltung: Berres-Stenzel

Umschlagmotiv: © rawpixel - 123RF

Fotos im Innenteil: © The Montessori-Pierson Publishing Company

ISBN EBook (EPUB) 978-3-451-81888-2

ISBN EBook (PDF) 978-3-451-81929-2

ISBN Print 978-3-451-38711-1

Inhalt

Einführung

1 Die zwei Naturen des Kindes

2 Die Bedeutung der Anpassung

3 Moralische und soziale Erziehung

4 Die vier Phasen der Erziehung

5 Die Erneuerung in der Erziehung

6 Der vergessene Bürger

7 Die fortwährende Aktualität des Plädoyers von Maria Montessori

Die Erklärung der Rechte des Kindes der UN

Die Bekanntmachung der Erklärung der Rechte des Kindes

Die Ziele der Sozialpartei des Kindes

Ein Schritt vorwärts in die Zukunft: Die Soziale Partei des Kindes

8 Die San-Remo-Vorträge, 1949

Vortrag I: Die schöpferische Fähigkeit der frühen Kindheit

Vortrag II: Die menschliche Solidarität in Zeit und Raum

Vortrag III: Der absorbierende Geist

Vortrag IV: Die Einheit der Welt durch das Kind

9 Frieden und Erziehung

Nachwort der Übersetzerinnen

Einführung

Mit diesen Aufsätzen und Vorträgen gehen wir mit Maria Montessori auf mehrere, parallel verlaufende Reisen.

Eine davon ist chronologisch erzählt. Sie beginnt damit, dass Montessori 1933 zu ihren eigenen Studierenden spricht. Dort erkunden wir mit ihr „Die zwei Naturen des Kindes“: Das „abweichende“ Kind, von dem die Mehrheit der Erwachsenen annimmt, dass es die „wahre“ Natur des Kindes widerspiegelt, mit Merkmalen, die je nach ihren besonderen Vorurteilen von Erwachsenen entweder unterdrückt oder gefördert werden; und eine andere, tiefere, „verwandelte“ Natur, die zuvor nicht bekannt war und die sie später mit dem Begriff „Normalisierung“ beschreiben würde. Im Laufe des Jahrzehnts finden wir verschiedene Vorträge und Aufsätze, in denen Montessori ihre Ideen über die einzigartige Bedeutung der Anpassung im menschlichen Leben, die Auswirkungen ihrer Entdeckungen auf das moralische und soziale Leben und ihr weiterentwickeltes Verständnis der vier Entwicklungsphasen von der Geburt bis zum frühen Erwachsenenalter mitteilt. Und in den vier Vorträgen, die sie auf dem 8. Internationalen Kongress im August 1949 in San Remo (Italien) gehalten hat, führt uns Montessori ihre eigene brillante Zusammenfassung einer lebenslangen Arbeit vor Augen.

Eine weitere Reise dieses Buches ist thematisch erzählt. Maria Montessori war in erster Linie Wissenschaftlerin. Deshalb ging die Wissenschaft für sie immer der Theorie voraus. Was wir als Montessoris Theorien bezeichnen, wurde durch wissenschaftliche Beobachtungen und Entdeckungen von der Realität abgeleitet – Realitäten, die sie als universelle Gesetze der menschlichen Entwicklung beschrieb. Montessori begnügte sich jedoch nie damit, auf der theoretischen Ebene zu bleiben. Sie vertrat immer die Ansicht, dass die praktische Anwendung dieser Gesetze ebenso wichtig, wenn nicht sogar wichtiger ist. Und so begleiten wir Montessori auf unserer Reise durch die Zeit zugleich von ihren wissenschaftlichen Entdeckungen über die Theorie bis hin zur praktischen Anwendung für die Erziehung der Kinder und für die Vorbereitung der Umgebungen, die den menschlichen Bedürfnissen und Charakteristiken in jeder Entwicklungsphase entsprechen. Sie bringt unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf die entscheidende Rolle einer radikal veränderten Erziehung in der menschlichen Gesellschaft zurück; auf die alles bestimmenden Bedingungen in der Umwelt, die einen so entscheidenden Einfluss auf die persönlichen, kognitiven, emotionalen und sozialen Auswirkungen für jeden Menschen haben; und auf dieses neue Konzept der Erziehung für das Leben und nicht der Erziehung als bloßer Informationstransfer von einer Generation zur nächsten. Montessori selbst stellte sich der Herausforderung, solch umfangreiche Themen einem größeren Publikum zu vermitteln, vielleicht nirgendwo besser als in dem Aufsatz „Die Erneuerung in der Erziehung“ von 1942. Im einleitenden Abschnitt schreibt sie: „Es fällt mir immer schwer, meine Auffassung darzulegen, denn sie ist keine einfache, lineare Konzeption, sondern sie ist gewaltig, vergleichbar mit einer Wüste oder einem Ozean.“

Sicherlich verstehen wir alle, die wir uns für die Anwendung der Montessori-Theorie und -Praxis in der menschlichen Gesellschaft einsetzen, das Ausmaß der von ihr beschriebenen Herausforderung. Das Zeugnis von Montessoris lebenslangem, unermüdlichen Einsatz, das durch exemplarische Botschaften, die sie für ihre eigene Zeit und Kultur geschaffen hat, veranschaulicht wird, bietet uns ein hervorragendes Modell und eine ausgezeichnete Anleitung, um unsere eigenen wirkungsvollen Botschaften für unsere eigene Zeit und Kultur zu verfassen.

Und schließlich begeben wir uns mit dieser Lektüre auch auf eine visionäre Reise – mit begleitenden Überzeugungen, die vielleicht am besten in „Die bleibende Relevanz von Montessoris Plädoyer“ („Die fortwährende Aktualität des Plädoyers von Maria Montessori“) zusammengefasst sind. Hier finden wir ihren richtungsweisenden Artikel „Die soziale Partei des Kindes“ von 1941. Er wurde in den Tiefen des Zweiten Weltkriegs in Indien geschrieben, als die Menschen auf dem ganzen Planeten mit den schrecklichen Folgen einer Gesellschaft konfrontiert waren, die die „abweichende“ statt „verwandelte“ Natur des Kindes kultivierte. Isoliert durch den Krieg und die Entfernung zu ihrer Familie und Gemeinschaft, meisterte Montessori die von ihr selbst definierte kommunikative Herausforderung: Ihre Botschaft ist laut, klar und zusammenhängend und ruft alle Menschen auf, „einen weiteren Zivilisationsschritt“ zu machen. „Private Anstrengungen reichen nicht aus“, warnte sie mit der Weisheit der Erfahrung. Es müsse „ein Aufruf an das öffentliche Gewissen“ erfolgen, damit die Gesetze und Behörden des Staates in den Dienst des Schutzes des Kindes, „unseres vergessenen Bürgers“, gestellt werden können.

Dieser Artikel ist jedoch nicht nur ein scharfes Plädoyer. Er beinhaltet die eminent praktischen Ziele der Sozialen Partei des Kindes, die sie 1937 nach dem 7. Internationalen Kongress in Kopenhagen gegründet hatte. Zehn Ziele der Partei werden umrissen – eine kämpferische Agenda, die die Erklärung der Rechte des Kindes der Vereinten Nationen um zweiundzwanzig Jahre vorwegnimmt. Aber im Gegensatz zu dieser Erklärung, die die Regierungen auffordert, die Rechte des Kindes anzuerkennen und sich zu bemühen, diese Rechte durch Gesetze und andere Mittel zu beachten, wird in den Zielen der Sozialen Partei des Kindes dargelegt, wie solche „Gesetze und andere Mittel“ tatsächlich gestaltet werden könnten. Sie schlug Behörden und Praktiken vor, um das Verständnis der natürlichen menschlichen Entwicklung in den Alltag der Gesellschaft zu bringen, eine getrennte Vertretung der Kinder in der Gesetzgebung und in den Regierungsministerien zu schaffen und die Kindheit als eine Nation, „die Nation der Menschheit“, anzuerkennen, deren Bedeutung und Autorität die jeder anderen Nation überwiegen sollte.

1951 verstärkte Montessori diesen Appell in ihrer Botschaft anlässlich des dritten Jahrestages der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen. In dieser Botschaft konzentrierte sie sich erneut auf „Den vergessenen Bürger“ und stellte fest, dass die Erklärung – so bewundernswert sie auch war – noch immer nicht das Ziel erreicht hatte. Die Erklärung geht davon aus, dass der Schutz der Rechte von Erwachsenen automatisch auch die Rechte ihrer Kinder schützt. Doch Montessori erklärte dies für fehlgeleitet. Nur ein Ministerium für das Kind wird „das dringendste Bedürfnis unserer Tage erfüllen: die Kultivierung der Menschheit“. Sie rief dazu auf, die Gesellschaft als Ganzes müsse verstehen, dass das beste Interesse der Menschheit und die einzige Hoffnung auf dauerhaften Frieden in der universellen Anerkennung der „Würde der Kinder“ liege.

In dem Aufsatz „Frieden und Erziehung“ stehen wir wieder am Anfang unserer parallelen Reisen. Er wurde 1932 veröffentlicht, und wir stellen fest, dass Montessori bereits alle Stränge im riesigen Gebiet ihrer Argumentation überzeugend miteinander verbunden hatte. Wissenschaftliche Entdeckungen, Theorie und praktische Implikationen hatten sich bereits zu ihrer Vision eines neuen Menschen, eines neuen Lebens und einer neuen Welt zusammengefügt, die darauf wartet, zu einer Wissenschaft des Friedens organisiert zu werden – eine Vision, die heute nicht weniger relevant, ja sogar noch dringlicher ist und immer noch darauf wartet, dass die Menschen unserer eigenen Zeit aktiviert werden.

Ginni Sackett1

1

Dieses ist der zweite Vortrag,den Maria Montessori 1933 beim19. Internationalen Kurs in London hielt

Die zwei Naturen des Kindes

Ich sagte Ihnen, dass das Zentrum unserer Pädagogik, das Fundament, auf dem alles beruht, die Verwandlung des Kindes ist. Wir verwenden das Wort „Verwandlung“ in einem neuen Sinne. Im Allgemeinen bedeutet es, wenn man von Erwachsenen spricht, eine „Wandlung der Überzeugungen“, indem man neue Orientierungen in Bezug auf die Einstellungen seines Gewissens findet. Wenn wir jedoch beim Kind von Verwandlung sprechen, meinen wir die Offenbarung einer Natur, die sich von der unterscheidet, die wir bisher von ihm kannten. Sie tritt so sehr hervor, dass einige der Journalisten vor 30 Jahren, als dies zum ersten Mal bemerkt wurde, den Begriff „das neue Kind“ verwendeten. Was meinten sie damit? Offensichtlich eine Art Kindheit, die man vorher nicht gekannte hatte: Kinder, die mit einer anderen Wesensart ausgestattet zu sein schienen. Die Grundlage unserer Arbeit besteht also darin, zwischen diesen beiden Naturen des Kindes unterscheiden zu können. Die eine, die oberflächlichere, diejenige, die wir in den gewöhnlichen Lebensumständen beobachten, ist allen gut bekannt. Es ist die Natur, die von Psychologen als die einzige Natur des Kindes betrachtet wird.

Und es ist ausschließlich diese Natur, die von den gegenwärtigen Strömungen der Pädagogik berücksichtigt wird. Aber wenn wir von der Natur des Kindes sprechen, beziehen wir uns auf jene verborgene Natur, die besondere Bedingungen erfordert, wenn sie sich offenbaren und entwickeln soll.

Ich möchte Ihnen nun diese beiden Erscheinungsformen vor Augen führen, um den Unterschied zwischen ihren psychologischen Aspekten zu veranschaulichen. Kinder, die wir unter alltäglichen Umständen beobachten können, zeichnen sich durch bestimmte Merkmale aus, zum Beispiel durch eine Ungeordnetheit ihrer Motorik. Da sie sich ständig in Bewegung befinden, zerbrechen und zerstören sie oft Dinge. Bei solchen Kindern herrscht eine Unruhe, die der Erwachsene nicht kontrollieren kann. Selbst wenn es den Anschein hat, dass er sie eingedämmt hat, ist dies nicht wirklich geschehen. Man kann es an anderen Reaktionen erkennen. Das Kind ist ungehorsam und reagiert auf geforderte Disziplin mit Ausbrüchen, die man gemeinhin Ungezogenheit nennt, oder es reagiert damit, dass es zu weinen beginnt. Andere Merkmale dieses allgemeinen Verhaltens der Kindheit sind Schwindeln und Gier. Kinder lieben leckere Speisen, essen gern übermäßig, und der Erwachsene muss sich ständig einmischen und versuchen, sie anzuleiten. Dann gibt es Besessenheit. Kinder hängen sehr an ihrem Besitz, an ihrem Spielzeug usw. und sind immer bereit, für ihr Eigentum zu kämpfen.

Angst und Abhängigkeit sind weitere Dinge, die dieser Natur eigentümlich sind. Im Allgemeinen sind solche Kinder voller Ängste. Sie haben Angst vor der Dunkelheit, um eine Sache zu erwähnen, und sie sind in hohem Maße abhängig von Älteren. Sie suchen ständig nach jemandem, der ihnen hilft oder ihnen Gesellschaft leistet. Dies kann als natürliche Bindung emotionaler Art interpretiert werden. Wenn dem so wäre, wäre nichts dagegen einzuwenden, im Gegenteil! Aber oft handelt es sich nicht um Zuneigung. Oft erweckt das Kind, das seine Mutter oder seine Geschwister nie verlassen möchte, den Eindruck, ein Wesen zu sein, das von der Angst besessen ist, in der Welt allein gelassen zu werden, und das deshalb ständig auf Unterstützung angewiesen ist.

Auch im intellektuellen Bereich scheint es das Bedürfnis nach fortwährender Hilfe seitens der Älteren zu spüren. Es stellt ständig Fragen und fleht Erwachsene an, ihm Geschichten zu erzählen. Was die Geschichten betrifft, scheinen solche Kinder unermüdlich zu sein, und die Fragen, die sie über sie stellen, lassen oft Angst oder eine unruhige Sehnsucht erkennen.

Im Allgemeinen sind diese Kinder nicht in der Lage, sich über einen längeren Zeitraum zu beschäftigen. Sie können ihre Aufmerksamkeit nicht lange fokussieren. Wenn der Erwachsene sie zu etwas zwingen will, muss er sie ständig beaufsichtigen und ihre Aufmerksamkeit zurückrufen – und die Kinder ermüden sichtlich.

In Bezug auf die Arbeit werden solche Kinder daher sowohl als faul als auch als unfähig angesehen. Es gibt einen Aspekt ihrer Intelligenz, der sehr aktiv ist: die Phantasie. Was allgemein als eines der interessantesten Phänomene des kindlichen Geistes wahrgenommen wird, ist seine Fähigkeit, personifizieren zu können. Das Kind personifiziert Dinge seiner Umgebung. Dass es Gegenstände in etwas Lebendiges und Belebtes umwandeln kann, ist, gerade weil dabei die Wiedergabe der Wirklichkeit so weit entfernt ist, eines der Dinge, die beim Kind am meisten geschätzt werden.

Diese Merkmale und andere, die ich aufzählen möchte, gehören zu einer Natur, die nicht geeignet ist, die Begeisterung der Erwachsenen so weit zu wecken, dass man sie als Richtschnur für seine Erziehungsversuche bei Kindern ansehen könnte. Aber wir wissen sehr gut, dass der erziehende Erwachsene jedes von ihnen einzeln abwägt und dabei einige als zu korrigierende Mängel und andere als zu kultivierende positive Punkte ansieht. Zu letzteren gehören die Phantasie, der ständig geäußerte Wunsch nach Geschichten, die Fragen nach und die Bindung an Familienmitglieder. Aber obwohl bei der Erziehung einige der kindlichen Merkmale unterdrückt und andere gefördert werden, sind sie meiner Meinung nach allesamt Symptome von „abweichender“ Natur.

Als Montessori-Pädagogen stellen wir fest, dass es in der Kindheit noch eine andere und tiefere Natur gibt. Sie zeigt sich im „verwandelten Kind“. Die Merkmale dieser Natur sind ganz anders. Darunter ist die Liebe zur Arbeit, auf die sich der Geist des Kindes konzentriert. Die Konzentration wird sichtbar, indem ein Kind dieselben Übungen immer wieder wiederholt. Und es gibt die Ordnung in der Bewegung. Beides gehört zusammen, denn man sieht eine akribische Genauigkeit in den Bewegungen, die sich in Handlungen äußern. Sie werden nicht einfach fortgesetzt, sondern wiederholt. Eine weitere Besonderheit besteht darin, dass diese geordnete Tätigkeit, solange sie andauert, scheinbar ohne Ermüdung des Kindes stattfindet. Ein weiteres Merkmal dieser Natur ist die Unabhängigkeit vom Erwachsenen; die Fähigkeit des Kindes, selbstständig zu handeln, mit dem Streben nach Genauigkeit in dem, was es tut.

Andere Phänomene sind der Respekt vor dem persönlichen Eigentum anderer und das liebevolle Interesse an äußeren Gegenständen, das so intensiv ist, dass wir es „Liebe zur Umgebung“ genannt haben. Es ist jedoch eine Liebe, die durch Wissen inspiriert ist, und nicht durch den Wunsch nach Besitz. Daher gibt es keinen Streit unter den Kindern. Im Gegenteil, sie entwickeln eine ruhige und liebevolle Umgangsart und damit die Möglichkeit zum sozialen Miteinander. Die Tatsache, dass Kinder Spielzeug, Süßigkeiten und Belohnungen ablehnen, solange diese Bedingungen gegeben sind, sorgte damals, als sie zum ersten Mal beobachtet wurde, und auch heute noch für großes Erstaunen. Die Kinder bitten außerdem weder um die Hilfe der Erwachsenen oder um eine übermäßige Anzahl von Geschichten noch verspüren sie ständig das Bedürfnis, Fragen zu stellen. Andere Phänomene, die keinen besonderen Grund für ihr Auftreten zu haben scheinen, sind das Verschwinden der Angst und des Geflunkers.

Das sind also die Merkmale, die diesen beiden Naturen entsprechen. Sie verlaufen parallel zueinander. Auf der einen Seite gibt es das Schwelgen in übermäßiger Phantasie als Rückzug aus der Realität, auf der anderen Seite die tiefere Natur, die Bindung an die Umgebung mit dem Interesse an einem genauen Wissen über die Gegenstände in ihr. Auf der einen Seite ungeordnete und lärmende Bewegungen, auf der anderen Seite ruhige und leise Handlungen. Auf der einen Ebene die Abhängigkeit vom Erwachsenen und auf der anderen eine weitgehende Unabhängigkeit. In der oberflächlichen Natur finden wir Faulheit. In der tieferen Natur finden wir Liebe zu Arbeit, Konzentration und Ausdauer bei der Arbeit.

Es könnte von Interesse für uns sein, die Bedingungen kennenzulernen, unter denen sich diese beiden unterschiedlichen Naturen manifestieren. Solche, die Tendenzen hervorbringen, die zur oberflächlichen Natur gehören, sind diejenigen, die üblicherweise anzutreffen sind. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Tendenzen, die zur tieferen Natur gehören, unbekannt waren. Deshalb suchte niemand nach ihnen und man konnte sie mit keinem im Voraus festgelegten Plan wecken. Es war notwendig, es nicht dem Zufall zu überlassen, diesen Offenbarungen die Möglichkeit zu geben, zu erscheinen. Um zu verstehen, was geschehen ist, muss man eine Vorstellung von zwei verschiedenen Verfahren haben, wie man zu psychologischem Wissen gelangt. Das eine ist die Forschung. Dabei geht es um einen Psychologen, der einen bestimmten Aspekt untersuchen will und sich auf den Weg macht, dies durchzuführen. Er weiß im Voraus, worauf er hinaus will und bedient sich bei seiner Untersuchung der einen oder anderen Methode.

Das andere ist die Entdeckung. Die Entdeckung betrifft etwas, das zwar bereits vorhanden ist, aber aus dem einen oder anderen Grund dem menschlichen Bewusstsein verborgen geblieben ist. In diesem Fall handelte es sich um die Entdeckung der tieferen Natur des Kindes. Denn als die richtigen Voraussetzungen geschaffen waren, war das Ergebnis das spontane Auftreten von Merkmalen, die nicht einen Teil, sondern die ganze Persönlichkeit offenbarten. Ich muss noch einmal bekräftigen, dass sie nicht die Folge eines bestimmten oder im Voraus festgelegten Erziehungsplans waren. Sie waren nicht das Ergebnis einer festgelegten Methode.

Im Gegenteil: Das, was man als Montessori-Methode bezeichnet, ist das Ergebnis der Entdeckung von Tendenzen, die zuvor keine Möglichkeit einer dauerhaften Bekundung hatten. Die Menschen bestehen darauf, dass ich die Methode geschaffen habe, aber dem ist nicht so. Sicherlich hatte ich meinen Anteil daran, aber erlauben Sie mir, das Geschehen durch einen Vergleich zu veranschaulichen.

Wir könnten das, was stattgefunden hat, mit dem Prozess vergleichen, der sich in einer Fotokamera auf einer lichtempfindlichen Platte entwickelt. Auf ihr wird das Bild eines äußeren Objekts abgebildet. Natürlich muss die Platte eine gewisse Empfindlichkeit aufweisen, damit dieses Bild nachhaltig eingeprägt bleibt, aber das Bild wird nicht durch die Platte erzeugt. Es ist das Abbild eines Objekts, das eine eigene Form hat, seine eigenen Merkmale. Ich war die Platte. Meine Vorbereitung hatte mich empfänglich gemacht, und ich gebe zu, dass in mir auch eine Kamera vorbereitet war. In mir selbst, so möchte ich sagen, war ein bestimmter Mechanismus vorbereitet, ein wissenschaftlicher Mechanismus. Doch Tatsache ist, dass das psychologische Bild, das dauerhaft erfasst werden könnte oder eben nicht, nichts mit dem Gerät zu tun hat. Es ist nicht der Apparat, der das Objekt erzeugt, vielmehr erfasst er sein Abbild. Dieses auf der Platte entstandene Bild ist nur eine Fotografie von etwas, das existiert. In diesem Fall war es die verborgene Natur des Kindes. Ich will damit sagen, dass diese tiefere Natur des Kindes vielleicht nicht für jeden sichtbar war, aber das bedeutet nicht, dass die tiefere Natur durch mich entstanden ist, denn ich, die zufällig der Apparat war, habe sie erfasst. Sie ist ein vollständiges Ganzes mit seiner eigenen spontanen Existenz. Phänomene verdanken ihre Existenz nicht demjenigen, der sie entdeckt. Es ist lediglich das Erkennen der Tatsachen, das von der Wahrnehmungsfähigkeit des Entdeckers abhängt.

Jemand, der Elektrizität entdeckt, hat Elektrizität nicht erschaffen. Der Entdecker vermag jedoch die Bedingungen für die Wiederholung der Phänomene, die er gesehen hat, wiederherzustellen. Er tut dies, weil er versteht, was sie hervorgebracht hat.

Genau das ist mir passiert. Wenn man diese psychologischen Phänomene einmal gesehen hat, kann man nicht mehr daran vorbeigehen. Sie machten auf mich einen derartigen Eindruck, dass ich von dem Wunsch erfüllt war herauszufinden, ob es möglich wäre, sie zu wiederholen.

Ich bin sicherlich nicht die einzige, die diese Art von Phänomenen gesehen hat und von ihnen berührt wurde. Hunderte, vielleicht Tausende von unbekannten Menschen müssen sie gesehen haben. Ich möchte das Beispiel von zwei berühmten Pädagogen zitieren. Pestalozzi ist einer von ihnen. In seiner Schule in Stanz sah er ähnliche Phänomene. In seinen Schriften beschreibt er sie mehr oder weniger wie folgt:

Er schreibt, er habe Kinder gesehen, die eine Arbeit mit einem erstaunlichen Geist der Liebe ausführten. Er selbst hätte die Kinder nicht dazu bringen können, es zu tun, weil er sich nicht einmal vorstellen konnte, dass es im Rahmen ihrer Möglichkeiten liegt. Pestalozzi staunte, dass diese Kinder mit so intensiver Freude arbeiteten und Fortschritte machten, die dermaßen erstaunlich waren, dass er es nicht für möglich gehalten hätte. Als bescheidener Mensch, der erkannte, dass er mit diesen wunderbaren Ergebnissen nichts zu tun hatte, schrieb er, dass er, Pestalozzi, nichts dazu beigetragen hätte, sie hervorzurufen. Er wünschte, dass andere Menschen verstünden, dass es eine unbekannte Natur im Kind gibt.

Tatsächlich sah Pestalozzi diese Phänomene nur einmal. Sie waren eine vorübergehende Phase in seiner Schule, und er sah sie nie wieder. Aber sie blieben in seiner Seele eingeprägt. Er schrieb über sie in dem Bemühen, den neu gewonnenen Glauben zu teilen, wusste aber nicht, wie er sie wiederholen sollte. Wir haben also die Phänomene und den Entdecker, doch der Entdecker war nicht in der Lage, die Phänomene erneut hervorzurufen, wahrscheinlich aufgrund der Tatsache, dass ihm die notwendige wissenschaftliche Vorbereitung fehlte.

Dasselbe könnte auch für Tolstoi, den anderen berühmten Erzieher, gelten. In seiner Schule in Russland beobachtete er, wie Kinder von analphabetischen und mittellosen Bauern, die aufgrund ihrer Anlagen für das schulische Lernen unzugänglich schienen, plötzlich vor Begeisterung für das Lernen entflammten. Die Kinder vergaßen, dass sie hungrig waren, und dachten nur noch ans Lernen. Dann verschwand dieses Phänomen wieder, und Tolstoi gelang es nicht, es noch einmal hervorzurufen, obwohl dies bis zu seinem Tod sein Hauptanliegen blieb.

Solche Ereignisse, die historisch weit auseinander liegen, liefern uns den Beweis, dass diese Offenbarungen von Kindern natürliche Phänomene sind, die häufig ungesehen und unbekannt bleiben. Dies beweist uns auch, dass, wenn sie verborgen und ungesehen bleiben, es bestimmte Bedingungen geben muss, die ihrem Auftreten entgegenstehen. Kinder befinden sich also im Allgemeinen unter Bedingungen, die nur flüchtige Blicke auf das Erscheinen der Phänomene einer tieferen Natur erlauben. Außerdem sind die Bedingungen, unter denen solche Phänomene hervortreten können, nicht bekannt.

Es war zum Teil dem Zufall zu verdanken, zum Teil meiner wissenschaftlichen Vorbereitung und meiner früheren Arbeit, die mich für die Wahrnehmung spontaner psychologischer Ausprägungen sensibel gemacht hatten, dass ich die Bedingungen, die diese Erscheinungen ermöglichten, erkannt und wiederhergestellt habe. Seitdem bin ich bestrebt, das Wissen über diese tiefere Natur in den Bereich der Erziehung einzubeziehen.

Ich möchte Ihnen die Bedingungen nennen, unter denen sich diese Ausprägungen zuerst zeigten. Unsere erste Einrichtung beherbergte etwa 40 Kinder armer, ungebildeter Eltern: zum Beispiel waren sie Blumenverkäufer, Gepäckträger usw. Diese Eltern waren auf der Suche nach Arbeit und deshalb fast nie zu Hause, so dass die Kinder tagsüber sich selbst überlassen waren. Als wir sie zum ersten Mal zusammenbrachten, hatten sie alle Merkmale von Kindern in ähnlichen Verhältnissen: Sie waren schüchtern, verängstigt und dazu angehalten, sich zu verstecken, sobald sie einen Fremden sahen.

Ihr Alter lag zwischen drei und sechs Jahren. Das Ziel, sie zusammen zu holen, war nicht, sie zu unterrichten, sondern zu verhindern, dass sie Hauswände verschmutzten und verunstalteten. Sie wurden mir nicht als Lehrerin, sondern als Ärztin anvertraut, denn die Kinder schienen wegen Unterernährung und ähnlicher Beschwerden medizinische Hilfe zu benötigen. Es stand mir jedoch frei, sie auch zu unterrichten, wenn ich dazu geneigt war. Außerdem hatte man mir dazu entsprechende Mittel zur Verfügung gestellt.

Ich werde Ihnen nun sagen, welche Mitarbeiter ich ausgewählt habe. Keine Lehrerin, die etwas auf sich hielt, hätte diese Aufgabe angenommen. Deshalb wählte ich eine Frau, die einst ein Lehrerdiplom erworben hatte, jetzt aber als Näherin arbeitete, und später eine andere, die ein Grundstudium hinter sich hatte und jetzt Pelze ausbesserte. Das waren also die Umgebung und die pädagogischen Mitarbeiterinnen. Von diesen außergewöhnlichen Lehrerinnen verlangte ich nur eine Sache, und zwar, dass sie genau das tun sollten, was ich ihnen sagte. Da sie keine Verantwortung für formalen Unterricht hatten, drängten sie den Kindern ihre eigene Persönlichkeit keineswegs auf. In diese Umgebung führte ich bestimmte Kriterien ein. Zum Beispiel die Idee, die Kinder glücklich zu machen, ohne eine ihrer Äußerungen zu verhindern oder zu behindern. Im Gegenteil, ich bat diese Mitarbeiterinnen, den Kindern die Möglichkeit zu geben, frei zu handeln. In die Umgebung brachte ich einige Möbel, die auf die Größe der Kinder abgestimmt waren, sowie verschiedene Gegenstände, die ich bereits in früheren psychologischen Arbeiten verwendet hatte, wie etwa das Material zur Ausbildung der Sinne.

Lassen Sie uns beispielhaft ansehen, welches die Bedingungen waren, die sich günstig auf die spontanen Äußerungen auswirkten. Diese Kinder wurden in keiner Weise von ihren Eltern beeinflusst, die immer unterwegs waren, um ein paar Cent zu verdienen, und auch von keinem Lehrer, der sie unterrichten wollte. Das heißt, sie waren weit entfernt von jedem Erwachsenen, der sie mit irgendeiner Anweisung hätte beeinflussen können.

Auf diese Weise wurden günstige Bedingungen geschaffen. Eine sehr seltene Situation. In der Tat, denn obwohl oft gesagt wird, dass Eltern oder Lehrer den Kindern Freiheit lassen sollten, ist es wirklich eine andere Sache, dies auch zu tun.

Dann geschahen gewisse kleine Dinge, die mich beeindruckten. Zum Beispiel zeigten die Kinder eine sehr große Liebe für Sauberkeit. Wir hatten ihnen beigebracht, sich die Hände zu waschen, und nun gingen sie überall umher und suchten nach Möglichkeiten, dies zu tun.

Diese Begeisterung für das Händewaschen war etwas Außergewöhnliches. Die Mütter kamen, um uns zu erzählen, dass die Kinder, wenn sie nicht in der Schule waren, aus dem Haus stürmten und für längere Zeit weg waren. Als sie nach ihnen suchten, fanden sie sie an den Brunnen, wo die Frauen ihre Wäsche wuschen. Diese beschwerten sich, dass die Kinder die gesamte Seife, die sie in die Hände bekamen, zum Händewaschen verschwendet hätten und dann dastanden und sie betrachteten. Das Merkwürdigste war, dass dies den Kindern nicht nur große Freude zu bereiten schien, sondern dass sie sich auch umblickten und intelligente Bemerkungen machten, als ob sie innerlich erwacht wären.

In der Schule erlaubten wir ihnen, sich weiter zu waschen, und außerdem gaben wir ihnen noch etwas anderes zu tun. Wir erlaubten ihnen, in der Umgebung aufzuräumen. Ein ähnlicher Erfolg wurde erreicht. Die Kinder säuberten mit großer Begeisterung nicht nur die Dinge um sie herum, sondern es geschah auch etwas Eigenartiges: Nachdem sie die Gegenstände gereinigt hatten, machten sie unaufhörlich damit weiter, so dass der Lack der Möbel darunter litt! Und diese Tätigkeit war von Freude und weiterem Erwachen der Intelligenz begleitet. Ermutigt durch diese Tatsache beschäftigten wir uns mit Möglichkeiten, ihnen beizubringen, sich zu kämmen und sich selbst anzuziehen. Dies war in der Tat ein enormer Erfolg. Nachdem sie gelernt hatten, ihre Kleider zu knöpfen, knöpften sie sie auf und zu und wiederholten den Vorgang immer wieder. Das Gleiche gilt für die Haare: Sie kämmten ihre Haare, und immer wieder kämmten sie sie.

Diese Aktivitäten sind für ein Kind unter normalen Bedingungen schwierig, denn wir Erwachsene neigen dazu, nutzlosen Tätigkeiten ein Ende zu setzen. Besonders dann, wenn das Bedürfnis des Kindes nach Aktivität nicht verstanden wurde, hätte jede Mutter gesagt: „Jetzt bist du sauber. Das reicht. Hör auf!“ Aber hier in der Schule konnten die Kinder diese Aktivitäten zu ihrer vollen Befriedigung ausführen. Durch ihr Verhalten wurde uns eine grundlegende Wahrheit bewusst, nämlich dass das Kind für seine eigene innere Entwicklung arbeitet und nicht, um ein äußeres Ziel zu erreichen, und dass es, nach getaner Arbeit, nicht wirklich eine besondere Fähigkeit, sondern etwas in sich selbst entwickelt hatte. Freude, das Fehlen von Schüchternheit, wachsende Intelligenz, das waren die Phänomene, die sich im Laufe der Zeit noch deutlicher zeigten. Eine andere Sache, die damals seltsam erschien, war das Bedürfnis nach Ordnung, das sich bei den Kindern entwickelte. Sie brachten alles wieder an seinen Platz zurück. Es gab bestimmte wissenschaftliche Instrumente, die für die Kinder schwierig zu handhaben waren, aber wenn die Zeit kam, in der die Mitarbeiterin sie wegräumen wollte, versuchten die Kinder, es vor ihr zu tun. Der Grund dafür war ihr offensichtlich nicht klar, wie ich bei einer Gelegenheit herausfand, als ich anwesend war. Sie sagte den Kindern, sie sollten Gegenstände, die sie nichts angingen, nicht anfassen. Ich bat sie, die Kinder tun zu lassen, was sie wollten, und ich sah, dass die Gegenstände selbst sie nicht interessierten. Es war die Ordnung, in der sie platziert wurden, die sie interessierte. Nach und nach erkannten wir die Liebe des Kindes für Ordnung und erlebten seine überraschende Fähigkeit, sich an die genaue Position eines jeden Gegenstandes zu erinnern.