Grundkurs Weltherrschaft - Christian Bartel - E-Book

Grundkurs Weltherrschaft E-Book

Christian Bartel

4,8

Beschreibung

In Christian Bartels Herzen ist Fülle, aber auch an seinem Bauch und da, wo andere einen Hals haben, ist Fülle. Denn Christian Bartel ist sein eigenes Füllhorn: Geniale komische Ideen quellen aus ihm nur so heraus. Endlich erscheint seine zweite Geschichtensammlung! Christian Bartel ist ein Ausnahmeathlet. In einer stürmischen Novembernacht hat er sich aus abgelaufenem Joghurt, einem alten C64-Prozessor und zwei Zentnern Hack selbst zusammengebaut und aus Jux zum Leben erweckt. Seitdem schreibt er Geschichten, Glossen und Satiren, die allesamt ebenso nah am Wahnsinn gebaut sind wie am Leben: Nacktbilder verleiten Jungs zum Einbruch in einen Kiosk, überforderte Väter fliehen vorm Herrscher von Megara, Paare übertrumpfen sich in brünstigem Sexgeheul oder klauen sich in der Kita nebenan ein Kind ... In der Fantasie dieses satirischen Ausnahmeathleten ist alles möglich. Ob er seine eigene Biografie plündert, einem Schwarzmeerfreidenkerbund und dem Kapitänsdinner der Niedlichkeit beiwohnt oder Ratschläge zur Übernahme der Weltherrschaft gibt: Christian Bartels Geschichten sind stets brüllend komisch, pointendicht, aber zugleich vielschichtig und anspielungsreich. - Große humoristische Kurzprosa.

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Christian Bartel

GRUNDKURS WELTHERRSCHAFT

CHRISTIAN BARTEL

GRUNDKURSWELTHERRSCHAFT

BEKENNTNISSE EINESAUSNAHMEATHLETEN

GESCHICHTEN

CHRISTIAN BARTEL

lebt als freier Autor in Bonn und interessiert sich für Komik und Verzweiflung. Er ist Mitglied dreier Lesebühnen in Bonn und Köln, wurde 2005 Vize-Meister des »German International Poetry Slam« und schreibt Satiren für die »Wahrheit«-Seite der »taz«. 2008 erschien sein erster Erzählungsband »Seit ich Tier bin« (Muschel-Verlag), 2011 folgten der »Zivildienstroman« (Carlsen) und das »Heimatbuch Rheinland« (Conbook). Für den Satyr Verlag gab er 2009 die Anthologie »Götter, Gurus & Gestörte« heraus (zusammen mit Anselm Neft).

1. Auflage März 2013

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2013

www.satyr-verlag.de

Coverillustration: Martin Armbruster

Autorenfoto: Matthias Stöber

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

ISBN: 978-3-944035-11-6 (E-Book)

INHALT

Über den Autor

David, seine Mutter und der Dorsch

Berge des Wahnsinns

Der Herrscher von Megara

Weltherrschaft und Marktforschung mit Seepocken-Frank

Das Kapitänsdinner der Niedlichkeit

Heuschnupfen – eine Krankmeldung

Berufsverbrecher mit Echtheitszertifikat

Lampe, Pfeffermühle, Kind

Der Schwarzmeer-Freidenkerbund

Etwas Besseres als den Tod finden wir überall

Tanzen!

Der Onkel erzählt von früher und lügt, weil er sich dicke tun will.

Nachts in Nairobi

Freunde aus Wurst

Das Grauen

Wo kommt bloß all der Hass her?

Was mit Menschen machen

Spieglein, Spieglein an der Wand

Die Einsegnung des Jens Hochstein

Herrengedeck

ÜBER DEN AUTOR

Christian Bartel ist ein Ausnahmeathlet. Er kann mit den Händen sprechen und über das Wasser sehen. Sein Gang ist aufrecht, sein Stuhl fest. Er schläft im Bett und frühstückt in der Küche, im Garten aber ruht er sich aus. In seinem Herzen ist Fülle, aber auch am Bauch und da, wo andere einen Hals haben, ist Fülle. Christian Bartel ist sein eigenes Füllhorn, sooft er davon trinkt. Er gehet nimmer zur Neige und wandelt in grüner Aue, wenn man ihn dorthin fährt.

Die Weiber singen seine Lieder, wenn sie in die Schlacht ziehen, die Männer, wenn sie den Müll runterbringen.

Christian Bartel ist der Tau, der am Morgen die Wiese netzt und das Leben weckt, sagt der Oheim, aber da irrt er sich, denn das wäre Christian Bartel viel zu früh.

Der Westwind, der über das weite Meer weht, erzählt Christian Bartel seine Geschichten, und der korrigiert sie freundlich, aber bestimmt. Geschichten brauchen nämlich ein Happy End, sagt Christian Bartel, auch wenn es ein trauriges ist. Es ist eigentlich immer ein trauriges, sagt er, und der Westwind notiert sich das fürs nächste Mal.

Christian Bartel ist gut zu den Tieren und beißt nur in jene, die ihm wohlschmecken. Er ist kein Alphatier, weil er nicht vom Affen abstammt wie der Rest von euch. Er ist die goldene Gemme, welche die Nahrungskette schließt, und er trägt sie als Schmuck um den Hals. In einer stürmischen Novembernacht hat sich Christian Bartel aus abgelaufenem Joghurt, einem alten C64-Prozessor und drei Fudern Hack (halb und halb) selbst zusammengebaut und aus Jux zum Leben erweckt, er ist sein eigenes Geschöpf, und er nennt sich Meister. Oder Igor, je nach Tagesform.

Christian Bartel steht mit hochgekrempelten Hosen im Strom der Zeit, ohne nass zu werden. Er angelt prächtige Forellen mit der bloßen Hand und wirft sie an den Himmel, wo ihr sie nachts als Sterne funkeln sehen könnt. Er steht in elegantem Spreiz, und zwischen seinen Füßen erstreckt sich das Universum. Wenn ihr etwas über Ausdehnung und Beschaffenheit des Universums wissen wollt, fragt seinen Fußpfleger.

Auf Christian Bartels Schultern thronen groß und flammend zwei blutrote Ochsen, auf deren mächtigen Rücken sitzen acht Schildkröten, auf deren Panzern wiederum ein Parkettboden aus Ebenholz verdübelt ist.

Denn Christian Bartel ist sehr geschickt mit seinen Händen.

Und auf diesem Parkett drehen sich seit unerdenklichen Zeiten Eros und Thanatos im Walzerschritt, und die Musik pfeift Christian Bartel dazu. Auf den Haarspitzen von Eros und Thanatos sitzen zwei Flöhe und spielen Fußball, mit einem Ball, den Christian Bartel aus den schwarzen Krümeln zwischen seinen Zehen geformt hat.

Dieser Ball aber ist die Welt, so wie ihr sie kennt. Für Christian Bartel ist das alles kein großes Ding, er ist damit aufgewachsen und kann damit umgehen.

DAVID, SEINE MUTTER UND DER DORSCH

David hat gesagt, wenn er noch einen erwischt, der sich auf seine Mutter einen runterholt, kriegt der was aufs Maul. Wie will er das denn kontrollieren, frage ich mich, aber ich kann ihn irgendwie verstehen, seine Mutter ist bei den Jungs echt beliebt als Wichsvorlage, und das ist auch nicht immer so leicht für David. Er selber hat ja nichts davon, sie ist schließlich seine Mutter.

Wir sollen Jans Schwester nehmen, sagt David, die hat bestimmt nichts dagegen, aber Jan steckt sich den Finger in den Mund, macht Kotzgeräusche, und damit ist eigentlich alles gesagt.

David schlägt ein paar Mädchen aus den höheren Klassen vor, alle nicken, aber dann sagt Jan: »Deine Mutter ist sooo geil«, und alle nicken noch mal, diesmal heftiger, und David boxt Jan auf den Mund.

David ist immer noch sauer, weil neulich Fotos vom FKK-Urlaub aus den Alben im Wohnzimmerschrank geklaut worden sind, und er musste seine Panini-Bilder-Sammlung auflösen, um die Fotos seiner Mutter auf dem Schulhof zurückzutauschen.

Er wirft mir einen wütenden Blick zu, obwohl ich nichts dafür kann, ich habe ihm sogar freiwillig ein Foto zurückgegeben, für das ich immerhin zwei Klaus Augenthaler bezahlt hatte, aber David ist mein Freund, und er lädt mich sonst nicht mehr zu sich nach Hause ein, hat er gesagt.

Das Problem war aber, dass die Fotos natürlich ein bisschen benutzter aussahen als vorher, außerdem sind die Gesichter von Leuten, die sonst noch auf den Fotos drauf waren, mit Edding übermalt oder weggeknibbelt, weil man natürlich nicht gut wichsen kann, wenn David oder sein Vater einem dabei zugucken, und das auch noch nackt. David hat die Fotos aber trotzdem zurückgetan, was sollte er da auch groß machen.

Als Davids Eltern die Alben irgendwelchen Freunden zeigen wollten, ist die Sache aufgeflogen. Die Freunde waren Psychologen und haben sofort herausgefunden, dass David das gemacht haben muss, weil er ein Problem mit seinem Vater hat, dessen Gesicht und Pimmel waren ja immer übermalt. Jetzt muss er jeden Montag mit seinem Vater zur Therapiestunde. Seitdem haben die beiden wirklich ein Problem miteinander.

Das Gute daran ist, sagt David, dass er jetzt in der Schule mehr Scheiß bauen kann, weil er in einer schwierigen Phase steckt. Das haben seine Eltern unserer Klassenlehrerin erzählt, und wenn David keinen Bock mehr auf Unterricht hat, rennt er einfach raus, und unsere Klassenlehrerin erklärt uns, dass wir viel Geduld mit David haben müssen, weil er in einer schwierigen Phase steckt.

Trotzdem ist es nicht ganz leicht für ihn, und deswegen hat David einen Plan ausgeheckt.

»Der Dorsch hat einen Haufen Pornos im Hinterzimmer, das weiß jeder«, erklärt er, und seine Stimme zittert, weil es ein ziemlich gefährlicher Plan ist. »Die holen wir uns. Dann hat jeder was zum Wichsen, und ihr lasst meine Mutter in Ruhe.« Alle nicken. Das ist ein faires Angebot, finden wir.

Der Dorsch heißt Dorsch, weil er nach altem Fisch stinkt und so tranige Augen hat. Er hat den Kiosk gegenüber der Schule und verkauft Sexhefte nur aus seinem Hinterzimmer, weil sich die Schulleitung beschwert hatte, als sie noch vorne in den Regalen lagen. Wir hassen den Dorsch, und der Dorsch hasst uns, aber wir haben viel Spaß mit ihm. Der Dorsch versucht immer, uns beim Klauen zu erwischen, und deswegen tun wir nur so, als ob wir klauen würden, legen die Sachen aber im letzten Moment zurück, und wenn der Dorsch uns beim Rausgehen am Genick packt, haben wir nichts in den Taschen und können uns bei der Schule über ihn beschweren.

Diesmal klauen wir aber richtig, wir brechen sogar ein, nachdem der Dorsch zugemacht hat. Keiner sagt etwas, alle müssen ständig pinkeln, und Jan hat sogar gekniffen, weil er angeblich abends nicht mehr rausdarf. Wir zwängen uns durch die Kellerluke, deren Riegel so verrostet ist, dass man ihn leicht nach innen wegbiegen kann, David steckt sich im Keller noch ein paar Underberg-Fläschchen in die Tasche. Dann sind wir schon oben im Lager.

Paul sagt, dass er schon wieder pissen muss, außerdem ist ihm schlecht und David zittern die Hände, das sieht man, aber er versucht, entschlossen zu gucken. Die Sexhefte sind mit harten, grauen Plastikstreifen zu dicken Bündeln verschnürt, die wir uns nicht aufzuschneiden trauen. Sonst finden wir nichts.

»Scheiße. Wir hauen ab«, sagt Paul und zieht mich am Ärmel zur Kellertreppe, aber da knallt die Tür auf, ein Schwall muffigen Fischdunstes springt uns an, und mit lautem Platschen schwappt die massige Gestalt des Dorsches ins Hinterzimmer. Er schwingt einen Baseballschläger über dem Kopf und brüllt »Ha!«. Dann sagt er erst mal lange nichts mehr. Er sieht ziemlich verwirrt aus und weiß nicht, wie er reagieren soll, dabei ist er hier der Erwachsene, wir wissen es nämlich erst recht nicht.

Ich versuche, zu lächeln und möglichst harmlos auszusehen, damit ich nicht geschlagen werde. Dabei funktioniert das schon auf dem Schulhof nie.

»Sie dürfen mir nichts tun, ich bin in einer schwierigen Phase«, kreischt David schließlich in die Stille, aber dem Dorsch klappt bloß der Unterkiefer noch weiter runter. Schließlich rettet ausgerechnet Paul, der sich mit einem behänden Satz unter den Tisch in Sicherheit gebracht hatte, die Situation. Paul, muss man wissen, will unbedingt Klassensprecher werden, aber das klappt nie, weil er oft sitzen bleibt, und deswegen wählt ihn keiner, trotzdem übt er schon heimlich seine Antrittsrede. Es ist eine sehr gute Rede, behauptet er, aber er kann sie nicht vor Leuten halten, weil er dann stottert.

»Liebe Mitschüler, sehr geehrter Dorsch«, kommt es unter dem Tisch hervor, »wir haben uns heute hier versammelt, um unseren Klassenkameraden David aus einer misslichen Lage zu befreien, in die er fast ohne eigenes Verschulden geraten ist, er hätte bloß den FKK-Urlaub besser nicht erwähnt, da werden die Leute halt neugierig. Kennen Sie eigentlich seine Mutter, Herr Dorsch?«

Paul zieht ein zerknittertes Bild aus der Hosentasche und streckt es vorsichtig unter dem Tisch hervor.

David protestiert, aber der Dorsch wedelt mit dem Baseballschläger.

»Er hat Abzüge gemacht« mault David völlig unpassend herum. »Die miese kleine Sau hat Abzüge gemacht.« Paul sagt stolz, dass er extra dafür in die Foto-AG gegangen ist.

»Du hast eine sehr schöne Mutter«, sagt der Dorsch schließlich anerkennend zu David. »Aber sie sollte sich vielleicht was anziehen.«

Dann erklärt Paul dem Dorsch, der sich mittlerweile interessiert zu ihm runtergebeugt hat, die ganze verzwickte Sachlage. Es ist wirklich eine sehr gute Rede, und als Paul erzählt, dass David seine ganzen Fußballbildchen hat hergeben müssen, hat David sogar Tränen in den Augen. Auch der Dorsch ist sehr beeindruckt.

»Ich brauch jetzt erst mal einen Schnaps«, sagt der Dorsch irgendwann, und David bietet ihm den Underberg an, den er aus dem Keller geklaut hat. Der Dorsch merkt aber nichts, er grunzt nur und trinkt den Schnaps.

»Du kannst jetzt da rauskommen«, sagt der Dorsch, aber Paul lehnt höflich ab und bleibt unter dem Tisch hocken. Er hat auf einmal großes Vertrauen in seine Fähigkeiten als Redner bekommen und sagt, dass wir jetzt lieber alle nach Hause gehen und die ganze Angelegenheit vergessen sollten, auch wenn sich einige ein bisschen danebenbenommen hätten, zum Beispiel wäre es ja keine Art, harmlose Kinder mit dem Baseballschläger zu bedrohen. Aber da hat Paul sich verschätzt, der Dorsch hat keine Lust, Davids Mutter zu vergessen, er will sie sogar kennenlernen. Sie soll uns abholen kommen, fordert er, jetzt sofort.

David wendet ein, dass es für die Beziehung zu seinem Vater nicht gut wäre, wenn er versucht, seine Mutter mit einem fetten Kioskbesitzer zu verkuppeln, der nach altem Fisch riecht. Er hat auch so genug Ärger, sagt er. Der Dorsch ist beleidigt und sagt, dass er jetzt die Polizei holt.

»Wir würden dann aber behaupten müssen, dass Sie nach Ladenschluss Pornos an Minderjährige verkaufen«, sagt Paul vorsichtig. »Und das wäre nicht so gut für Sie.« Kein Wunder, dass Paul lieber unter dem Tisch sitzen geblieben ist, der Dorsch bekommt einen roten Kopf und schnappt empört nach Luft, aber Paul hat recht. Die Sache klingt nicht so unwahrscheinlich, wenn man den Dorsch ein bisschen kennt. Er hat nämlich nicht den besten Ruf, weil an seinem Büdchen schon morgens die ganzen Betrunkenen stehen, und die sind kein Umgang für uns, sagen unsere Eltern. Wir nicken fleißig, und David sagt: »Tut uns leid.« Der Dorsch glotzt uns an.

»Wir sind zu dritt und gehen aufs Gymnasium«, sage ich, weil ich nicht weiß, womit ich ihm sonst hätte drohen können. Der Dorsch wird ernsthaft wütend und haut mit dem Schläger auf den Tisch, dass es kracht. Paul duckt sich, kneift die Augen zu, holt tief Luft und sagt dann mit betont fester Stimme: »Wir werden jetzt gehen.« Er krabbelt unter dem Tisch hervor, stolziert Richtung Ladentür, die Nase hoch in der Luft, bestimmt hat er das in einem Film gesehen. Paul sieht wirklich ziemlich entschlossen dabei aus, wenn man davon absieht, dass seine Knie manchmal nachgeben. David und ich gehen genauso hinter ihm her, mit wackelnden Knien und Nasen hoch in die Luft gestreckt, und der Dorsch brüllt uns hinterher, dass wir uns bei ihm nie wieder blicken lassen dürfen, aber das haben wir eh nicht vor. Das haben wir gar nicht nötig.

Wir werden einfach an Jans Schwester denken, die hat bestimmt nichts dagegen.

BERGE DES WAHNSINNS

Das Problem ist Folgendes: Unsere Putzfrau ist verschollen. Es ist nun schon Wochen her, dass wir ihren Presslufthammer geschäftig durch unsere Wohnung haben brausen hören. Auch Rüdiger Nehberg hat keine Ahnung wo sie stecken könnte. Er macht derzeit ein Praktikum unter meinem Bett und ernährt sich nur von dem, was er dort findet.

Immerhin kommt unsere Putzfrau aus dem Irak, kennt sich also in Krisengebieten aus und behält auch in ausweglosen Situationen, wie zum Beispiel unserem Badezimmer, die Nerven. Sie kommt immer unangemeldet und arbeitet gern nachts, es sei denn, wir können am nächsten Tag ausschlafen, dann kommt sie lieber am frühen Morgen. Trotzdem machen wir uns langsam wirklich Sorgen.

Unsere Wohnung ist nämlich sehr groß, wenn auch nur in Teilen begehbar. Im Frühjahr sind die Pässe gesperrt, weil dann der Frost aus dem mannshohen Büchergeröll entweicht, das in bizarren, aber bibliothekarisch hochinteressanten Formationen den Weg ins Wohnzimmer versperrt. Seit dem großen Regalunglück von 2006 führt der einzige Weg über eine notdürftig aus Bänden der Propyläen-Weltgeschichte aufgeschichteten Stiege gen Flurfenster, von dort aus hangelt man sich über einen bröckelnden Sims an der Hausfassade gen Norden, bis man den vergleichsweise festen Tritt der Starkstromleitungen unter den Füßen hat, wobei freilich darauf zu achten ist, dass man mit den Füßen auf den Isolatoren bleibt, wenn man auf und ab wippt, um den Sprung durch das Fenster ins Wohnzimmer zu schaffen.

Aber unsere Putzfrau wäre nie so vermessen, die abenteuerliche und gefährliche Reise ohne Flöttjol, unseren Bergführer, zu unternehmen. Flöttjol wohnt mit seinen Maultieren auf einem Hochplateau aus Bildbänden am großen Billybruch, dort, wo im Herbst 2006 ein ganzes Regal zu Tal gerauscht ist. Niemand weiß, wo Flöttjol hergekommen ist, am Tag nach dem großen Regalunglück war er einfach da. Die Sage geht, dass er sich aus Regalresten selbst zusammengedübelt hat, zumindest haben wir eine Gebrauchsanleitung von Ikea gefunden, die auf Flöttjol passt, aber das erklärt noch lange nicht die Maultiere.

Im Wohnzimmer ist unsere Putzfrau jedenfalls nicht, eine unberührte, zentimeterdicke Staubdecke liegt wie ein Leichentuch über dem gruftartigen Raum, den wir gerne an Filmgesellschaften vermieten, wenn die mal was in einem Pharaonengrab drehen wollen.

Vielleicht ist unsere Putzfrau von einer der riesenhaften Staubmäuse im Flur angefallen und verschleppt worden oder hat sich in einem der Spinnennetze in der Küche verfangen, die wie zerrissene Segel von der Decke hängen und dem Raum die unheimliche Anmutung eines Geisterschiffes geben, das, nur noch von bösen Geistern bewohnt, in der ewigwährenden Flaute der Saragossa-See dümpelt. Zahlreiche unvorsichtige Küchenbesucher haben in den staubigen Gespinsten bereits den Tod gefunden oder sind umgekommen, weil sie von den verbotenen Früchten unserer Vorratskammer gekostet haben.

»Guck ma, eine Fischkonserve aus meinem Geburtsjahr«, hörte ich einstmals einen Kameraden seine letzten Worte rufen. Die giftigen Miasmen, die aus unserer Spüle dampfen, hatten ihn um den Verstand gebracht.

Ich sah den Wahnsinnigen noch am Nippel der grotesk aufgeblähten Dose reißen und konnte mich geistesgegenwärtig hinter den Wall aus Sandsäcken retten, der unsere Waschmaschine daran hindern soll, während ihres Schleudergangs in unserem Viertel Amok zu hoppeln.

Die Explosion war gewaltig und verstreute unser Küchenmobiliar über mehrere Erdteile, riss aber glücklicherweise auch die verkarsteten Sedimente auf, die sich auf einem über Jahre gewachsenen Flöz aus Altglas an der Westseite der Küche gebildet hatten.

Ein ganzes Jahr lang bauten wir das wertvolle Pfand ab, bis wir auf einmal schwache Klopfzeichen hörten. Sollte es in dieser gläsernen Wüstenei tatsächlich Leben geben, frugen wir uns und schüttelten sogleich die helmbewehrten Köpfe.

»Die Klopfzeichen kommen aus dem Kühlschrank, das tun sie nun schon seit Jahren«, sagte Herr N., der Furchtloseste von uns. Er bewohnt das Zimmer gegenüber der Küche und behauptet, diesen Teil der Wohnung wie seine Westentasche zu kennen, dabei verfranst er sich sogar dort und muss von seinem Schneider dann wieder mühselig herausgetrennt werden.

Manchmal wagt sich Herr N. dennoch des Nachts alleine in unsere Küche, um sich an dem Anblick der fluoreszierenden Pilze zu erfreuen, die aus der feuchten Wand zum Badezimmer wachsen.

Auf der anderen Seite der Wand bietet unsere Badewanne einer mannigfaltigen Fauna Habitat und Rückzugsraum, aber seit Herr F. anlässlich der mehrtägigen Feierlichkeiten zu seinem Wiegenfest die Biervorräte darin zu kühlen geruhte, sind deren Dichtungen gerissen, sodass ein Osmoseverhältnis mit der Küche entstanden ist, die wir deswegen gelegentlich als Erlebnisbad vermieten. Die Wasserspiele sind wirklich spektakulär, wenn drüben jemand duscht.

Das Badezimmer hingegen ist eine Oase der Ruhe und gilt als größte zusammenhängende Grünfläche Nordrhein-Westfalens. Alleine die Quietscheenten-Population macht uns Sorge, sie hat sich wegen des reichhaltigen Nahrungsangebotes schlagartig vergrößert. Aber immerhin fressen die Biester das Moos von den Kacheln.

»Diese Pilze schmecken köstlich nach Shampoo«, behauptet Herr N. und die Wirkung sei auch nicht ohne. Ich habe den Verdacht, dass er sich mittlerweile ausschließlich von ihnen ernährt. Neulich hat er davon gefaselt, den Kühlschrank öffnen zu wollen, weil er das Geheimnis der Kratzspuren an der Innenseite der Tür lüften wolle.

»Das ist doch Irrsinn!«, habe ich gerufen. »Etwas Böses wohnt in unserem Kühlschrank. Es ist pelzig und grün und soll vor Urzeiten einmal ein Joghurt gewesen sein.«