Ich bin nicht in meinem Alter - Christian Bartel - E-Book

Ich bin nicht in meinem Alter E-Book

Christian Bartel

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Beschreibung

An guten Tagen steht Christian Bartel mit Prunkzigarette auf einem Streitwagen aus Schweinemett, während sein Arzt in einem Brokkoli-Kostüm hinter ihm steht und "Bedenke, dass du unsterblich bist" in sein Ohr flüstert, während die Menge seine hervorragenden Leberwerte chantet. An schlechten Tagen sucht der Mittvierziger im Möbelhaus schon mal nach einem gemütlichen Sterbebett. Inmitten dieser Anfechtungen nimmt sich der preisgekrönte Autor und Satiriker trotzdem die Zeit, in seinen hochkomischen Geschichten andere drängende Menschheitsfragen zu behandeln: Wie schmecken eigentlich Engel? Schnarchen Frauen? Und darf man unangemeldeten Besuch in die Abstellkammer sperren? In seiner neuen Geschichtensammlung fühlt der Bonner Autor, Satiriker und Redakteur dem Zahn der Zeit auf denselben. Mit überbordender Fabulierlust und morbider Freude am eigenen Verfall umkreist er das Befinden der alternden Generation X und wirft die Frage auf, wann man eigentlich in seinem Alter ist.

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Christian Bartel

ICH BIN NICHT IN MEINEM ALTER!

Geschichten

Christian Bartel

wurde 1975 in Bonn geboren und arbeitet als freier Autor.

Er war Mitherausgeber der Literaturzeitschrift »Exot« und Mitorganisator des Kölner Off-Lesefestes »Little Cologne«. 2005 wurde er deutscher Poetry-Slam-Vizemeister, 2014 lud ihn der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) als Writer in Residence an die Universitäten Edinburgh, St. Andrews und Newcastle. Bartel ist Mitglied der Lesebühnen Rock ’n’ Read (Köln) und Ferkel im Wind (Bonn), schreibt komische Geschichten und erhielt dafür 2018 den renommierten Ben-Witter-Preis.

Er veröffentlichte zwei Geschichtenbände, u. a. bei Satyr, einen »Zivildienstroman« und ein unsachliches Sachbuch über das Rheinland. Daneben verdingt er sich als freier Redakteur der taz-Wahrheit, schreibt Bühnenstücke und verfasst Radiogeschichten für Kinder (»Ohrenbär«, »ARD-Kinderradionacht«) und Erwachsene (»Schreckmümpfeli«, SRF).

Christian Bartel lebt mal auf dieser, mal auf jener Rheinseite, aber noch immer häufig in Bonn.

»Wegen Christian Bartel und seinen Texten ist Bonn für mich immer die Hauptstadt geblieben!« – Bernd Gieseking

E-Book-Ausgabe April 2021

© Satyr Verlag Volker Surmann, Berlin 2021

www.satyr-verlag.de

Cover: Jussi Jääskeläinen | www.kobaia-design.com

Korrektorat: Matthias Höhne

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über: http://dnb.d-nb.de

Die Marke »Satyr Verlag« ist eingetragen auf den Verlagsgründer Peter Maassen.

E-Book-ISBN: 978-3-947106-75-2

Inhalt

I. Sternstunden der Frühvergreisung

Sport hilft

Herr Bartel kauft ein Smartphone

Genau so muss sich Konrad Kujau gefühlt haben

Niedlichkeitsinfarkt durch Reibungsenergien

Der geheinisfole Büfel

Wie auch ich endlich lernte, die Bombe zu lieben

Auf dem falschen Dampfer – eine Fiktion vom Nichtrauchen

Freunde der bürgerlichen Wohnkultur

Das rheinische Kettensägenmassaker

Reich werden mit Turbo-Dieter

Von Vollidioten und Vollautomaten

Die Hunde der Empfindsamkeit – einige literarische Versuche zum weiblichen Schnarchen

Eine Beziehung. Zwei Systeme

Mein Leben als Bandscheibe – ein Physiotagebuch

Mit Greta nach Kreta

II. Die Bartel-Apokryphen

Mein Leben als Brillenträger – eine reichlich unscharfe Kindheitserinnerung

Die Kammer – eine Achtsamkeitsübung für Gestörte

Der Leergutautomat – auf dem Mehrweg des Leidens

Heut’ hüpfen wir im Kreis herum wie wilde weiße Schafe – ein Liebesbriefroman

Der große Osterhasenschwindel – eine hart gekochte Detektivgeschichte

Sauron von Nazareth – das Krippenspiel der Pinguingruppe

Das Geheimnis der Weihnacht – eine sentimentale Weltraumoper

Das Godzilla-Evangelium

I.STERNSTUNDEN DER FRÜHVERGREISUNG

Sport hilft

Der Arzt sagt, ich soll Sport treiben.

»Aber ich treibe doch Sport«, antworte ich.

»Na sicher«, sagt der Arzt. »Das sieht man.«

Mein Arzt ist um die fünfzig, auch im Winter braun gebrannt und hat kein Gramm Fett am Körper, dafür unzählige Marathontrophäen in einer Vitrine im Behandlungszimmer, mit denen er uns Todgeweihte verhöhnt. Und so ein Genlotteriegewinner will nun Ahnung von Siechtum und Verfall haben?

Sport soll ich also treiben, findet der Medikus.

Ich schaue ihn traurig an, greife dann in das Glas mit den Bonbons für die ganz tapferen Kinder, das auf seinem Schreibtisch steht, und stopfe mir demonstrativ eine ganze Handvoll in den Mund, ohne den Blick von ihm abzuwenden. Er schüttelt den Kopf.

»Das sind keine Bonbons«, sagt er. »Wir sind hier nicht beim Kinderarzt.«

Ich spucke die Kieselsteine aus. Ich hatte mich gleich gewundert, dass da ein Kaktus im Bonbonglas wächst.

»Wenn Sie sagen, dass Sie Sport treiben, dann glaub ich Ihnen das natürlich«, sagt er, dann schaut er skeptisch auf meine Körpermitte. »Gibt ja auch Trinksport, ne?«, kichert er.

Mein Arzt findet so was lustig.

Er ist nämlich nicht bloß unsensibel, er hat auch ein Ironieproblem. Er versteht einfach nicht, dass dieses Stilmittel in seinem Beruf vollkommen fehl am Platz ist. Ich zeige auf meinen Bauch. Nicht der Plauze wegen, die einer verschärften Leibesertüchtigung in die Bresche wächst, sondern weil ich dort wichtige Informationen für meinen Arzt notiert habe.

»Empathie statt Ironie!« steht auf meinem T-Shirt, darunter habe ich noch eins an, auf dem »Der Patient hat immer recht« steht, und auf meinen Rücken ist sicherheitshalber der hippokratische Eid tätowiert, falls ich mich obenrum frei machen muss.

Dabei bin ich gar nicht richtig krank, sondern bloß alt. Und zwar so scheißalt, dass mir mein Arzt einen Gesundheitscheck empfohlen hatte.

Das sei ratsam in meinem Alter, hatte er gemeint.

»Ich bin nicht in meinem Alter!«, hatte ich schnell geantwortet. Und was sollte da überhaupt gecheckt werden? Ob ich krank oder gesund war, hatte ich bislang ganz gut allein herausbekommen, aber offenbar bin ich mittlerweile so hinfällig, dass man dazu einen Fachmann braucht.

Nach drei sehr langen Wochen will mein Arzt mir jedenfalls heute die Ergebnisse der Versorgeuntersuchung mitteilen. Ich möchte die Wartezeit im Rückblick euphemistisch mal als »intensiv« bezeichnen, weil ich sie hauptsächlich damit verbracht habe, nicht an Lungenkrebs zu denken, und dabei vor Nervosität eine nach der anderen zu rauchen.

In diesen drei Wochen habe ich mich nicht nur in allen wichtigen Hypochonderforen des Internets habilitiert, sondern auch mehrmals zu Jesus und wieder zurückgefunden, mich prophylaktisch selbst enterbt und im Möbelhaus nach einem gemütlichen Sterbebett gesucht. Servicemäßig hat der Einzelhandel im Terminal-Illness-Segment übrigens noch einiges aufzuholen, jedenfalls muss man nicht glauben, dass man bei IKEA an geschultes Fachpersonal gerät, wenn man dort im letzten Hemd und mit einem Tross Klageweiber zum Probeliegen aufkreuzt.

Beinahe hätte ich einen langweiligen Job angenommen, um ihn sofort wieder kündigen zu können, damit ich in den letzten drei Wochen meines Lebens das machen kann, was ich schon immer tun wollte. Dabei mache ich doch ohnehin schon, was ich immer machen wollte, nämlich keinen Sport, und das sogar täglich.

Kein Wunder, dass ich jetzt ein bisschen aufgeregt bin, immerhin erfahre ich gleich, wie lange ich noch zu leben habe. Ich tippe auf drei Wochen. Was nicht mal schlecht wäre, denn drei Wochen können sich verdammt lang anfühlen, wie ich mittlerweile weiß.

Der Arzt schaut mich erwartungsvoll an, zückt einen Briefumschlag, nimmt einen Zettel raus und sagt dann: »Wollen Sie nicht doch lieber raten?«

Ich zeige warnend auf mein T-Shirt. Der Arzt zuckt genervt mit den Achseln.

Ich muss ja auch gar nicht raten. Denn ich weiß ja längst, dass ich unheilbar erkrankt bin. Ein mündiger Patient spürt so etwas.

»Na gut, ich sag’s Ihnen«, meint der Arzt endlich und klingt enttäuscht. »Sie sind vollkommen gesund. Lungenfunktion ist absolut im grünen Bereich, im Blut haben wir nichts gefunden, was uns Sorgen machen müsste, und Ihre Leberwerte sind top.«

Der Doktor schaut mich sauertöpfisch an, wahrscheinlich, weil ich ausgelassen auf seinem Schreibtisch herumhüpfe. Außerdem hört er genau, was ich gerade denke. Dabei denke ich extra in Bildern. Ich denke nämlich einen Triumphzug, bei dem eine jubelnde Menge meine Leberwerte chantet, während ich auf einem Streitwagen aus Schweinemett stehe und mit einer riesigen Zigarette herumwedele, während mein Arzt in einem Brokkolikostüm hinter mir stehen und »Bedenke, dass du unsterblich bist« in mein Ohr flüstern muss.

Der Arzt räuspert sich ungehalten.

»Das heißt aber nicht, dass ich Ihnen jetzt einen Freibrief ausgestellt habe«, mahnt er.

»Oh doch«, triumphiere ich. »Sie haben mir gerade den Keith-Richards-Kaperbrief unterschrieben, die niemals auslaufende Schürflizenz für gesundheitlichen Raubbau. Bisher war es nur ein Gefühl, aber nun ist es endlich wissenschaftlich erwiesen: Ich bin unkaputtbar.«

Jetzt starrt der Arzt mich geradezu feindselig an. Mediziner hassen es, wenn ihre Patienten gesund sind, ohne dass sie ihr Lebenswandel dazu berechtigt.

Er blättert in meiner Krankenakte.

Verdammt, dieser Gesundheits-Tschekist hat jahrelang belastendes Material über mich gesammelt, und jetzt will er mich damit erpressen. Nach einer Weile erhellen sich seine Gesichtszüge tatsächlich.

»Sie haben zu viel Körperfett«, quäkt der Querulant.

Mehr hat dieser Quacksalber nicht zu bieten? Das ist ja lächerlich. Ich bin offenbar noch viel gesünder, als ich dachte.

»Oho, Körperfett. Da habe ich aber Angst«, mache ich mich lustig.

»Diabetes, Arteriosklerose, Herzinfarkt«, zählt er die beliebtesten Todesarten in meiner Gewichtsklasse auf. »Das geht schneller, als Sie glauben.«

»Aber ich treibe doch Sport«, lüge ich zum wiederholten Mal.

»Ich stelle nur fest. Sie müssen sich nicht rechtfertigen«, behauptet mein Arzt, aber das ist natürlich Quatsch. Was soll ich denn sonst beim Arzt?

Ich werfe zum Beweis meinen Mitgliedsausweis vom Tischtennisverein auf den Tisch. »Der ist seit 1982 abgelaufen«, rügt er. »Außerdem steht auf der Rückseite, dass Sie sich der Platte nicht mal mehr auf Rufweite nähern dürfen.«

»Ein Missverständnis«, wende ich ein. »Ich hatte angenommen, Tischtennis sei eine Vollkontaktsportart, so wie Rugby. Nur mit einem kleineren Ball. Sehe ich aus, als würde ich lügen«, empöre ich mich.

Der Arzt nickt.

»Wie viele Zigaretten, sagten Sie, rauchen Sie noch mal am Tag?«, fragt er listig.

»Drei«, antworte ich.

»Sag ich doch«, meint er. »Sie lügen.«

»Aber ich treibe wirklich Sport«, beharre ich. »Ich war neulich erst schwimmen, zum Beispiel.«

»Neulich?«, fragt der Arzt.

»Letzten Sommer«, sage ich. »Zweimal. Einmal sogar ohne Freibadpommes danach.«

»Zweimal in der Woche wäre gut«, sagt der Arzt, und dann schaut er mich herausfordernd an: »Aber das schaffen Sie eh nicht. Weil Sie dafür viel zu faul sind.«

»Ich bin also faul?«, frage ich. Der Arzt nickt, und ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, verlasse ich empört seine Praxis. Jedenfalls versuche ich es, aber weil ich mein Kinn so stolz hochgereckt trage, lande ich in der Vitrine mit den Pokalen und muss anschließend genäht werden.

Seitdem habe ich mein Leben radikal geändert, weil ich jetzt zweimal in der Woche Sport mache. Aber damit so viel Sport überhaupt in eine einzige Woche passt, habe ich eine eigene Zeitrechnung entwickeln müssen.

Das Prinzip ist sehr einfach: So wie sich andere Kalender an den Bewegungen träger Himmelskörper orientieren, richtet sich meine Zeitrechnung nach meinen Bewegungseinheiten aus. Und da ich – den Empfehlungen meines Arztes folgend – zweimal in der Woche Sport treibe, kann die Woche logischerweise erst um sein, wenn ich Sport getrieben habe. Das bedeutet wiederum, dass seit meinem Arztbesuch für mich nicht einmal eine einzige Woche vergangen ist, während alle anderen Menschen in dieser Zeit um volle acht Monate gealtert sind. Mein Arzt hatte also recht: Sport hilft wirklich, den Alterungsprozess aufzuhalten.

Herr Bartel kauft ein Smartphone

Der Handyverkäufer ist ein junger Mann mit Fusselbart, dem die Technikbegeisterung ins Milchgesicht geschrieben steht. Und zwar gut lesbar in Pickelschrift.

»Ich möchte ein Telefon kaufen«, sage ich, aber genauso gut hätte ich nach dem Weg zum Telegrafenamt fragen können.

Der Ladenschwengel schaut mich an, so wie ich früher meine Oma angeschaut habe, wenn sie Wörter wie »Nietenhose« oder »Filmschauspieler« benutzt hat. Ich bin noch keine drei Sekunden im Laden und habe mich schon als Antiquität geoutet. Man sagt offenbar nicht mehr »Telefon«.

Wahrscheinlich seit zwanzig Jahren nicht mehr, aber fast genauso alt war das Handtelefongerät, das mir vor Kurzem abhanden gekommen ist. Wahrscheinlich ist es mittlerweile in irgendeinem Technikmuseum gelandet und wird dort neben dem Faustkeil ausgestellt.

Es war ein gutes Telefon, denn es konnte sogar Bierflaschen aufmachen.

Sonst konnte es nix, und vielleicht haben wir uns deshalb so gut verstanden.

Auch die Telefonate waren erfreulich kurz, weil der Akku nur noch drei Minuten gehalten hat.

»Ein Telefon, also. So ein Ding mit Wählscheibe und Samtüberzug?«, fragt das Bürschchen.

Wie schön, es hat Sinn für Humor und historische Details.

»Nein«, kontere ich. »So ein tragbares mit Kurbel dran. Mein altes ist bei der Ardennenoffensive draufgegangen.«

Der junge Mann schaut verdutzt bis unverständig. Das hat er jetzt nicht verstanden, so weit geht sein Sinn für historische Details dann doch nicht.

»Na, dann schauen Sie sich mal in Ruhe um«, meint er schließlich.

Ich schaue mich in Ruhe um, und diesmal ist es an mir, verdutzt bis unverständig zu schauen, denn ich entdecke bloß glänzende Kästlein, die alle gleich aussehen, aber sehr unterschiedlich kosten.

Ich überlege, ob ich ein paar der teuren Dinger einem Praxistest unterziehen soll, habe aber leider keine Bierflasche dabei.

Es sind alles Smartphones, und so eins will ich auch, aber ich kann es nicht sagen, weil das Wort zu blöd ist. Ich sage beim Bäcker auch nicht »Zimt-Wuppi«, obwohl die wirklich lecker sind. »Die hinten links«, sage ich und dann: »Nee, die anderen, die weiter unten.« Nach einer Viertelstunde habe ich meist das Gewünschte, oder kaufe halt was anderes, zum Beispiel eine leckere Torte. Aber »Zimt-Wuppi« und »Smartphone« sage ich nicht. Ich hab auch meinen Stolz.

Außerdem habe ich Angst, dass ich am Ende nicht smart genug für mein Phone bin.

Der Verkäufer umschleicht mich in enger werdenden Kreisen, offenbar wittert er Beratungsbedarf, denn ich schleppe mich in einer Blutwolke der Ahnungslosigkeit durch seine Jagdgründe.

Gerade noch rechtzeitig bemerke ich, dass ich mir ein Aufladegerät ans Ohr halte.

»Und, schon was gefunden?«, fragt das Bürschchen grinsend.

Ich nuschele irgendwas, beuge mich wieder über die Geräte und lese Beipackzettel.

Natürlich verstehe ich kein Wort, aber da stehen ja auch keine Worte, sondern bloß apokryphe Abkürzungen und kabbalistische Zahlen.

Ich patsche ein wenig auf den Kästlein herum, so wie es die anderen Kunden auch tun, aber es gelingt mir nicht, die Geräte zum Leben zu erwecken. Wahrscheinlich muss man erst die magischen Formeln auf den Zetteln aufsagen.

»Quadcore Prozessor Qualcomm Snapdragon!«, rezitiere ich laut, aber das Gerät reagiert nicht.

Dann zeigt der Verkäufer auf ein paar Geräte, die angeblich für mich infrage kämen. Ich soll mir die Beschreibungen durchlesen und dann in Ruhe eine Entscheidung fällen, sagt er.

Augenblicklich verfalle ich in Panik, denn es ist unmöglich, die richtige Lösung zu finden, wenn man nicht mal die Aufgabenstellung versteht.

Um Zeit zu schinden, glotze ich weiter auf die technischen Daten und mache dabei sehr verständig »Aha!« und »Soso«. Dabei warte ich bloß, dass jemand irgendwas vorsagt.

»Ich nehme dieses da«, sage ich irgendwann und zeige auf ein silbernes Gerät, weil es mir sehr benutzerfreundlich und übersichtlich gestaltet scheint.

»Das ist der Lichtschalter«, sagt der Verkäufer.

Ich gebe auf.

»Nach Hause telefonieren«, sage ich kläglich und strecke dem Verkäufer meinen Finger entgegen, aber sogar für diesen matten Scherz ist das Bürschchen einfach zu jung.

Tatsächlich fühle ich mich mittlerweile wirklich wie ein Außerirdischer, nur dass ich eben aus einer technisch total unterlegenen Zivilisation komme. Ganz im Gegensatz zum Ladenschwengel, der jetzt erst richtig aufdreht. Sein Vortrag über die Mobilfunkstandards ist reiner Minnedienst, seine Pickel glühen vor Begeisterung, während ihm Begriffe wie »Highspeed Packet Access« und »asynchrones Codemultiplexverfahren« in erotischer Verzückung aus dem Mund perlen.

Ich bekomme noch mit, wie der Verkäufer mich von den Vorzügen irgendeines Funknetzes zu überzeugen versucht, dann wird seine Aussprache zusehends undeutlicher, bis die Worte zu einem unverständlichen Gebrabbel verschmelzen.

Kurz darauf laufe ich barfuß durch grüne Auen und hasche nach einem Schmetterling, denn mein Gehirn hat sich in Sicherheit gebracht, weil es heiß zu laufen drohte. Das passiert eigentlich immer, wenn mir jemand etwas Technisches zu erklären versucht. Nach ein paar Sätzen lande ich im Tiefschlaf und dann in einem Paralleluniversum. Blöderweise stromert mein Körper währenddessen unbeaufsichtigt in der Weltgeschichte herum.

Als ich aufwache, liege ich im Rinnstein vor dem Geschäft. Es ist bereits dunkel.

In der einen Hand halte ich ein nagelneues Smartphone und in der anderen einen Zehnjahresvertrag mit einem Mobilfunkanbieter, der mich gegen horrende Monatsgebühren so ziemlich vollständig meiner bürgerlichen Rechte beraubt und alle sensiblen Daten an den jeweils Höchstbietenden verscherbelt. Geht doch, denke ich, man muss sich nur auskennen.

Genau so muss sich Konrad Kujau gefühlt haben

Gerade, als ich mir noch einen Schluck Rotwein eingießen will, klingelt das Telefon.

»Kannst du den Wein schon mal einpacken, aber nicht in altes Zeitungspapier, so wie meine Weihnachtsgeschenke immer, sondern schön?«, fragt meine Freundin.

»Ja, klar«, lüge ich und lege schnell auf. Verdammt. Ich hätte es wissen müssen. Unsere Weine haben sonst immer Schraubverschluss.

Mist, jetzt habe ich unser Renommiergeschenk angebrochen. Wir sind bei Freunden schick zum Essen eingeladen, und da muss man schick was mitbringen, sagt meine Freundin, und wenn es nicht schick genug ist, dann gucken einen alle mitleidig an. So wie neulich, als ich anlässlich einer Hochzeitsfeier ein schmuckes Dosenbiermitbringsel ausgewählt hatte.

Ich fülle also die halb leere Flasche mit unserem Aldi-Kochwein auf und koste.

Nee. Jetzt ist er nicht mehr so gut. Es fehlt ihm doch ein bisschen der fruchtige Körper.

Ich würze mit Orangensaft nach, aber nun ist der Wein zu fruchtig geraten, und deswegen schütte ich ein Pinnchen Korn nach. Dann koste ich wieder.

Nee. Jetzt hab ich eine Sangria mit westfälischem Einschlag daraus gemacht, der vollkommen die tannine Herbe fehlt, und so bestäube ich die Brühe ganz leicht mit Fichtennadel-Raumspray.

Schon besser. Ich habe schon kalifornische Rotweine getrunken, die haben weniger natürlich geschmeckt. Aber da geht noch was. Mein Ehrgeiz ist geweckt, außerdem habe ich Gefallen an der Panscherei gefunden.

Ich gieße das Gebräu also in die kleine Schublade unserer alten Kommode und lasse es eine halbe Stunde ziehen, um die Barrique-Note schön auszubauen.

Allerdings bekommt er von unserer Kommode eher eine Sperrholz- als eine Eichennote, aber Holz ist Holz, und einer vordergründigen Verkostung kann mein Gebräu allemal standhalten, finde ich, vor allem wenn die Testperson schon ordentlich einen im Kahn hat. So wie ich.

Ich hämmere also vorsichtig den Korken wieder in die Flasche, klebe die angerissene Alukapsel mit Heißkleber fest und betrachte das Ergebnis mit beträchtlichem Handwerkerstolz.

Genau so muss sich Konrad Kujau gefühlt haben, als er seine Hitler-Tagebücher endlich fertig gebastelt hatte.

Wahrscheinlich hatte er da schon geahnt, dass die Sache nicht gut ausgehen wird, aber wenn man so viel Mühe in eine Sache reingesteckt hat, will man ja auch ein wenig Anerkennung dafür haben.

Die Mission für diesen Abend ist also klar.

Aber bevor dieser Wein dekantiert werden kann, muss die ganze Bande lattenstramm sein.

Nicht einfach nur angetrunken, sondern so himmelschreiend rotzbesoffen wie, sagen wir, die Stern-Redaktion, als sie die Tagebücher abnickte.

Sicherheitshalber nehme ich noch ein paar Flaschen Absinth mit, die ich vor zehn Jahren bei einem Poetry Slam in der Schweiz gewonnen habe. Die Schweizer ziehen nämlich ihren Giftmüll auf Flaschen und lassen ihn von nichts ahnenden Kleinkünstlern außer Landes schmuggeln, aber das ist eine andere Geschichte.

»Das ist aber mal so ’n richtiger Volljurist«, sage ich zwei leere Flaschen später zu meiner Freundin und zeige auf Jens, der schwankend in seinem sehr mondänen Wohnzimmer steht.

Er versucht nämlich, ein Spiralmuster in seinen Indoor-Zengarten zu pinkeln.

»Es sieht nicht nur aus wie ein Katzenklo, es ist tatsächlich eins«, freut sich meine Freundin, während Jens’ Frau anderweitig beschäftigt ist. Die muss nämlich telefonieren.

Einer spontanen Eingebung folgend, hat sie Gehaltsverhandlungen aufgenommen.

»Und du bist sicher, dass nachts um drei ein guter Zeitpunkt dafür ist?«, hatte meine Freundin noch gefragt. Eher aus Neugier denn aus Sorge allerdings, weil auch sie kurz mit dem Gedanken gespielt hatte, ihren Chef in ähnlicher Mission anzurufen.

»Diese Branche schläft nie«, hatte Jens’ Frau entgegnet, aber wie es sich anhört, lag sie mit dieser Einschätzung ziemlich daneben.

Aber das macht ihr nichts, sie macht ihren Chef so richtig schön rund. Andächtig lauschen wir den Kaskaden von Beschimpfungen, die aus der betrunkenen Frau hervorquellen, bis Jens die Beastie-Boys-Schallplatte von ganz früher auflegt und in glücklichem Wahn durch das Wohnzimmer tollt.

»Ich hab sie alle rausgeschmissen«, fasst Jens’ Frau das Gespräch zusammen.

»Den ganzen Vorstand«, jubelt sie, begreift aber einen Moment später, dass nach diesem Telefonat nur eine einzige Stelle frei geworden ist – und zwar ihre eigene.

»Scheißegal!«, brüllt Jens in sein Luftgitarrensolo, rutscht dabei aber in eine vollkommen falsche Tonart.

»Scheißegal!«, brülle ich ebenfalls und konzentriere mich auf mein eigenes Luftgitarrensolo.

Der feine Herr Anwalt mag einen Tagessatz von einer Fantastilliarde Euro haben, aber von Luftgitarrensoli versteht er nichts. Und darum geht es im Leben.

Das Lied endet, und wir versuchen beide, den freien Stuhl in der Mitte des Zimmers zu erreichen. Wir spielen nämlich nebenher auch noch Reise nach Jerusalem, aber es stehen zu viele Sachen im Weg, und jemand scheint sie ständig zu verrücken. Diesmal jedoch lande ich krachend in dem Stuhl, und der Freischwinger tut seinen letzten Schwinger.

»Das galt trotzdem«, sage ich und versuche, mich aus dem Stahlrohrgefängnis zu befreien, während Jens auf der Skulptur eines italienischen Künstlers hockt, deren Erwerb ihm sein Steuerberater als Kapitalanlage empfohlen hatte.

»Quatsch, ich saß als Erster«, lallt Jens, aber da knickt der Fuß der Bronzeplastik ein, das ganze Ding neigt sich in Zeitlupe zur Seite und scheppert endlich mit Jens zu Boden.

»Du hast verloren«, verkünde ich salomonisch.

Aber das will Jens nicht auf sich sitzen lassen. Er kann nämlich nicht gut verlieren, das konnte er noch nie. Und weil er jetzt ganz dringend Oberwasser braucht, wirft er seinen Laptop an, um mir sein Aktienportfolio zu zeigen, auch wenn er das Wort schon längst nicht mehr aussprechen kann.

Er zeigt auf den Bildschirm, auf dem Zahlenkolonnen hektisch herunterrattern.

»Ist das nicht krass?«, sagt er ehrfürchtig und zeigt nun auf die Enter-Taste. »Wenn ich da jetzt draufdrücken würde, wäre alles futsch. Das ganze Geld. Alles weg.«

Wir starren beide gebannt auf die Taste. Eine dunkle Faszination geht von ihr aus.

»Machst du eh nicht«, sage ich.

Kurze Zeit später muss ich mich bei Jens entschuldigen.

Er ist doch viel impulsiver, als ich dachte.

Zum Abschied liegen wir uns in den Armen und versichern einander unverbrüchliche Freundschaft.

»Wir sollten das unbedingt wiederholen«, sage ich noch, und erst auf dem Heimweg fällt uns auf, dass wir unser Mitbringsel gar nicht überreicht haben. Vielleicht beim nächsten Mal.

Niedlichkeitsinfarkt durch Reibungsenergien

Mit manchen Frauen sollte man nicht in Spielzeugläden gehen. Es regt sie zu sehr auf, vor allem wenn sie Töchter haben. Wie zum Beispiel Frieda. Wir suchen nämlich ein Geschenk für ihre sechsjährige Tochter, und ich muss Frieda in den Spielzeugladen begleiten, weil ich in Krisensituationen immer einen ruhigen Kopf bewahren würde, behauptet sie.

Frieda ist alleinerziehend und von einem etwas delikaten Temperament, wie es manchmal auftritt, wenn man norddeutsche Dickschädeligkeit mit südländischem, in ihrem Fall allerdings bloß südmoselfränkischem, corazón! kreuzt.

Wir haben uns vor mehr als einem Jahrzehnt kennengelernt, nachdem ich mich auf ihre Anzeige »Suche vegane, nicht rauchende Mitbewohnerin« gemeldet hatte und ich Frieda überzeugen konnte, dass man Rollen besser haarscharf am Typ vorbei besetzt, weil das interessante Reibungsenergien freisetzt und für Spannung sorgt. Und weil Frieda schon damals Schauspielerin werden wollte, hat sie das gleich eingesehen.

Außerdem war das Zimmer einfach perfekt und Frieda irgendwie auch.

Wir haben ein paar Jahre zusammengewohnt und dabei jede Menge Reibungsenergie freigesetzt, weil wir eine interessante Mischung aus Mitbewohnertum und betrunkenen Abstürzen mit anschließender Verliebtheit bei stets inkongruentem Beziehungsstatus hingelegt haben, was zuletzt ziemlich unübersichtlich wurde. Das Kind ist aber trotzdem nicht von mir, da haben wir schon längst nicht mehr zusammengewohnt, weil sie wieder nach Flensburg gegangen war, um dort schreinern zu lernen, obwohl sie letzten Endes doch am hiesigen Theater gelandet ist.

Jedenfalls kennen wir uns ganz gut, und ich rufe Frieda an, wenn ich eine handwerklich fundierte Meinung brauche, und sie ruft an, wenn sie sich mal wieder auf die Palme gebracht hat und heruntergeschüttelt werden möchte.

Ich könne sie gut deeskalieren, findet Frieda.

Das ist zwar nicht das Kompliment, das man als Erstes hören möchte, aber man kann sich seine Talente eben nicht aussuchen. Und ich verfüge halt über ein extrem flauschiges Phlegma, das ich Frieda bei Bedarf gern zur Verfügung stelle.

Was manchmal fast schade ist, denn Frieda kann sich extrem schön aufregen.

Und je mehr sie sich aufregt, desto schöner wird sie.

Wir sind mittlerweile im Spielzeugladen gelandet, und Frieda artikuliert erste Einwände.

»Warum braucht es überhaupt diese Teilung in Mädchen- und Jungenabteilung?«, fragt sie schon etwas gereizt, aber der Verkäufer versteht die Frage nicht, stattdessen erkundigt er sich nach ihren Wünschen.

»Mal sehen«, sagt Frieda. »Hauptsache, es ist nicht pink.«

Ich schaue den Verkäufer feixend an. In seiner Haut möchte ich jetzt nicht stecken.

Es gibt nämlich nur Pink, der ganze Raum ist in ein nervenzerfetzendes Pink getaucht, die Regale ächzen unter pinken Schachteln, und von überall starren uns pinkfarbene Plüscheinhörner derart rührend an, dass wir beinahe einem Niedlichkeitsinfarkt erliegen.

»Guck mal«, sage ich. »Sogar die Bleistifte sind pink mit pinken Federn dran.«

Der Verkäufer lächelt hilflos.

Frieda atmet schon ein bisschen schnapp. Das geht ja gut los.

»Die Farbe ist gar nicht mal das Problem«, behauptet Frieda. »Das Problem ist, dass es keine andere gibt.« Aber das lügt sie. Frieda hasst Pink, so wie andere Faschismus oder Rosenkohl hassen.

Kann sie zwar beides auch nicht ausstehen, aber Pink hasst sie halt noch ein wenig hingebungsvoller.

Der Verkäufer nickt und weist schließlich auf den Altar mit den Devotionalien der heiligen Lillifee, der in einem etwas augenfreundlicheren Altrosa gehalten ist, aber Frieda winkt ab.

»Und auch keinen Prinzessinnenscheiß!«, fordert sie.