Grundlagen des Evidence-based Nursing - Astrid Sobczak - E-Book

Grundlagen des Evidence-based Nursing E-Book

Astrid Sobczak

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Beschreibung

Evidence-based Nursing (EbN) ermöglicht Praktiker:innen im Gesundheitswesen, informierte Entscheidungen auf Grundlage der besten verfügbaren Evidenz zu treffen. Dadurch kann eine Versorgung der Patient:innen auf qualitativ hochwertigem Niveau sichergestellt werden. Um EbN in der Praxis umzusetzen, benötigt es neben dem Wissen über den vielschichtigen Prozess Verständnis sowie die Motivation, evidenzbasiert arbeiten zu wollen. Ein Buch für Studierende und Lehrende als Informationsgrundlage und Anregung für Praktiker:innen und Führungspersonen in Gesundheitseinrichtungen

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Astrid Sobczak, Ulrike Tscherne

Grundlagen des Evidence-based Nursing

für Auszubildende und Praktiker*innen in Gesundheitsberufen

Eine geschlechtergerechte Schreibweise wird in diesem Buch vorwiegend durch die Verwendung der Schreibung mit Stern * realisiert. Ist eine korrekte, alle Endungen berücksichtigende Schreibung auf diese Weise nicht möglich oder erfordert sie Ergänzungen, die den Lesefluss hemmen, so wird – stellvertretend für alle Geschlechter – die weibliche Form gewählt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und der Verbreitung sowie der Übersetzung in fremde Sprachen, sind vorbehalten.

Alle Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung ohne Gewähr, eine Haftung der Autorinnen oder des Verlages ist ausgeschlossen.

Copyright © 2024 facultas Verlag

Facultas Verlags- und Buchhandels AG

Lektorat: Sabine Schlüter, Laura Hödl, Wien

Umschlagfoto: © enjoynz, istockphoto.com

Satz: Wandl Multimedia-Agentur

Druck: Facultas Verlags- und Buchhandels AG

Printed in Austria

ISBN 978-3-7089-2441-0

E-ISBN 978-3-99111-844-2

Inhalt

Abkürzungsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

1 Einführung in die evidenzbasierte Pflege

1.1 Historische Entwicklung und zentrale Begriffsbestimmungen

1.2 Bedeutung und Schreibweise des Begriffs „beweisbasiertes Wissen“

1.3 Definition von Evidence-based Nursing

1.3.1 Sind patientenzentrierte Pflege und evidenzbasierte Pflege vereinbar?

1.3.2 Beweisbarkeit von komplexen Interventionen – zwingende Notwendigkeit?

1.3.3 Wenn die Evidenz am Einzelfall scheitert

2 Das Konzept des Evidence-based Nursing

2.1 Evidenzbasierte Praxis (EbP)

2.2 Evidence-based Health Care and Practice

2.2.1 Verantwortung verschiedener Ebenen der Gesundheitssysteme für die Entwicklung einer konsistenten EbP

2.2.2 EbN als professionelle Haltung und Handlungswissenschaft

2.2.3 Wirksamkeitsforschung als Qualitätsdiskurs und ein Exkurs zur Macht

3 Pflegerische Entscheidungen

3.1 Externe und interne Evidenz

3.1.1 Externe versus interne Evidenz

3.1.2 Pflegeprozess und EbN-Konzept

4 Evidenzbasiertes Wissen für die Praxis nutzbar machen

„Knowledge translation“ – Wissenstranslation

4.1 Die gegenseitige Wertschöpfung aus Theorie und Praxis

4.1.1 Gap Politik – Wissenschaft

4.1.2 Gap Wissenschaft – Praxis

4.1.3 Gap Politik – Praxis

4.1.4 Gap Praxis – Auszubildende

4.2 Wissenszirkulation: Von der Forschung in die Praxis und zurück

4.3 Implementierung einer evidenzbasierten Pflegepraxis

4.3.1 Barrieren am Weg zur Umsetzung einer evidenzbasierten Praxis

4.3.2 Auf dem Weg zur evidenzbasierten Anwendung – Notwendigkeit einer Vorleistung der Forschenden

5 Phasen des EbN-Konzeptes

5.1 Schritt 1: Die Auftragsklärung – shared decision making

5.1.1 Informationsasymmetrie in der Auftragsklärung und externe Evidenz

5.1.2 Auftragsklärung und Aufbau interner Evidenz

5.1.3 Mangelnde Adhärenz und fehlende interne Evidenz

5.2 Schritt 2: Problemidentifikation und Formulierung der Fragestellung

5.2.1 Aufbau einer Fragestellung

5.3 Schritt 3: Literaturrecherche

5.3.1 Publikationsarten

5.3.2 Evaluation des Biasrisikos

5.3.3 Orientierende Literaturrecherche versus systematische Literaturrecherche

5.3.4 Zitationssuche (citation tracking)

5.3.5 Informationsressourcen

5.3.6 Hilfestellungen zur Literatursuche

5.3.7 Durchführung der Suche

5.4 Schritt 4: Kritische Beurteilung von Studien

5.4.1 Studienqualität vs. Berichtsqualität

5.4.2 Beurteilung systematischer Reviews

5.4.3 Bewertung des Biasrisikos in klinischen Studien zu Interventionen (Interventionsstudien)

5.5 Schritt 5: Veränderung der Pflegepraxis

5.5.1 The PARIHS-Framework

5.5.2 The PEACE-Framework

5.5.3 Putting Evidence Into Nursing Practice

5.5.4 Nursing Research

5.5.5 Evidence-based Decision Making (EbDM)

5.5.6 Leitlinien/„Living Guidelines“

5.6 Schritt 6: Evaluation

5.6.1 Formative und summative Evaluation

5.6.2 Wirksamkeitsevaluation

5.6.3 Ökonomische Evaluation

5.6.4 Die drei Ebenen der Evaluation

5.6.5 Entwicklung und Bewertung komplexer Interventionen

Literatur

Anhang

Abkürzungsverzeichnis

ANPs

Advanced Nurse Practitioners

EbP

Evidence-based Practice

EbQI

Evidence-based Quality Improvement

EbHC

Evidence-based Health Care

EbM

Evidence-based Medicine

EbN

Evidence-based Nursing

EbR

Evidence-based Research

NPs

Nurse Practitioners

QI

Quality Improvement

RU

Research Utilization

Vorwort

Das Verfahren von Evidence-based Nursing ist ungefähr seit dem Jahr 2000 in deutschsprachigen Raum zumindest ein Begriff und wird vielerorts diskutiert. Die Debatten dafür oder dagegen sind so vielfältig wie der Beruf der Gesundheits- und Krankenpflege selbst. Die Argumente gegen Evidenzbasierung im Bereich der professionellen Pflege sind denen anderer Berufsgruppen wie Ärzt*innen, Physiotherapeut*innen oder Hebammen ähnlich. Dennoch setzt sich das Bestreben nach der Anwendung evidenzbasierter Maßnahmen zunehmend durch und gewinnt an Bedeutung. Zugegebenermaßen langsam, aber dafür beharrlich. In der Gesundheits- und Krankenpflege wurde mittlerweile eine immense Anzahl an Studien durchgeführt und Angehörige anderer Gesundheitsberufe wünschen sich diese Menge an Evidenz. Für den erfolgreichen und gewinnbringenden Umgang damit braucht es Fachwissen, reflektiertes Denken und eine umfassende Perspektive auf das Thema Evidence-based Nursing.

Beim Blick zurück zu den ersten Bemühungen zur Verbreitung des Gedankens von Evidence-based Nursing sind große Entwicklungen erkennbar. Die ersten Fortbildungen zum Thema waren eher theoretisch, abstrakt und es fehlte vielfach an praktischer Erfahrung. Das „German Center for Evidence-based Nursing“ hat durch seine Aktivitäten und die Publikationen von Johann Behrens wesentliche Beiträge zur Entwicklung geleistet. Auch die Anzahl an verfügbaren Studien hat sich seither stark erhöht. In der für die Gesundheits- und Krankenpflege wichtigen Datenbank CINAHL® (Cumulative Index to Nursing & Allied Health Literature) werden aktuell jährlich mehr als 100.000 Studien indexiert. Im Jahr 2000 waren es weniger als 20.000 Studien. Wenn auch „mehr Studien“ nicht automatisch „gut“ sind, kann heute auf einen wesentlich größeren und breiteren Evidenzkörper zurückgegriffen werden. Der grundlegende Prozess von Evidencebased Nursing hat sich zwar nicht verändert, aber die dahinterliegenden Methoden und technischen Entwicklungen haben sich erheblich weiterentwickelt. Der Prozess der Literaturrecherche ist nicht zuletzt aufgrund der vielen verfügbaren Datenbanken oder Suchoberflächen und deren Spezifika komplexer und aufwändiger geworden; gleichzeitig bieten sie jedoch auch mehr Möglichkeiten und einen oft einfacheren Zugang zu Studien. Wertvolle Initiativen wie RefHunter bieten hier großartige Unterstützung. Die zunehmende Komplexität der Literaturrecherche im professionellen wissenschaftlichen Setting hat zur Entstehung spezialisierter Fachkräfte geführt, den sogenannten Informationsspezialist*innen. Der Zugang zu Studien ist zum Teil leichter geworden, auch dank der Open-Access-Bestrebungen – mit all den damit verbundenen Nachteilen. Der Prozess der kritischen Beurteilung von Studien hat sich durch die Weiterentwicklung der Instrumente verändert und auch die Zusammenfassung von Studienergebnissen ist nicht zuletzt aufgrund technischer Entwicklungen einfacher geworden.

Um den Rückblick auf die Entwicklungen von Evidence-based Nursing abzuschließen, noch zwei wichtige Entwicklungen, welche der Förderung dienlich sind. Einerseits werden wissenschaftliche Publikationen nicht mehr ausschließlich für Wissenschaftler*innen verfasst. Es finden sich zunehmend mehr „laienverständliche“ Texte, vor allem im Bereich der Evidenzsynthesen. Darüber hinaus fördern visuelle Abstracts oder Videos die Verständlichkeit. Zusätzlich ist ein deutlicher Trend zur Einbeziehung von Betroffenen sowohl bei der Studiengestaltung als auch – und vor allem – bei der Auswahl der interessierenden Endpunkte erkennbar.

Die ersten vier EbN-Prozessschritte (Klärung der Aufgabenstellung, Formulierung der Frage, Literaturrecherche und kritische Beurteilung der Studien) haben sich in vielen Bereichen gut etabliert. Die beiden letzten Prozessschritte, Veränderung der Pflegepraxis und Evaluierung des Nutzens der Implementierung, scheinen jedoch weiterhin große Herausforderungen darzustellen. Sowohl in der Lehre als auch in Büchern zu Evidence-based Nursing scheinen diese beiden Schritte weniger beachtet zu werden. Die Gründe hierfür sind vermutlich mannigfaltig. Möglicherweise sind diese beiden Prozessschritte weniger klar strukturiert und erfordern ein hohes Maß an individueller Anpassung und Kreativität. Die Implementierungen in den Einrichtungen selbst werden eher selten evaluiert, was zur Folge hat, dass die Ursachen für die mögliche Ineffektivität von Neuerungen nicht oder kaum festgestellt werden können. Studien zeigen, dass die Effektivität von Maßnahmen oder Programmen stark mit der Implementierung zusammenhängt. Der Weg zu einer erfolgreichen Implementierung ist oft unklar und erfordert weitere Forschung und das gleichzeitige strukturierte, systematische Sammeln von Erfahrungen. Ein weiterer, weniger beachteter Aspekt ist der Prozess der De-Implementierung, der entweder vor einer Implementierung berücksichtigt oder zumindest im Rahmen der Implementierung mitbedacht werden sollte. Dabei geht es vorrangig um die Identifizierung und Abschaffung von schädlichen, nicht kosteneffizienten oder unwirksamen Praktiken. Die Initiative „Choosing Wisely“ bzw. deren nationale Aktionen, z. B. „Klug entscheiden“ (Deutschland), „Slow Medicine“ (Italien) oder „Gemeinsam gut entscheiden“ in Österreich, bieten zumindest Unterstützung bei der Identifizierung solcher Praktiken.

Evidenzbasierung ist mittlerweile vielen Mitarbeiter*innen im Gesundheitsbereich vertraut, hat in Organisationen und Institutionen Einzug gefunden und findet sich in lokalen und nationalen Empfehlungen oder Vorgaben wieder. In Leitlinien können mittlerweile Empfehlungen zunehmend auf Basis von Studienergebnissen begründet werden, wie z. B. in der „Evidenzbasierten Leitlinie: Sturzprävention bei älteren und alten Menschen in Krankenhäusern und Langzeitpflegeeinrichtungen“ oder auch den Expertenstandards des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung in der Pflege. Mittlerweile bieten ganze Bücher zu bestimmten Themenbereichen aktuelle evidenzbasierte Informationen, z. B. zu typischen Gesundheitsproblemen oder geriatrischen Syndromen. Evidence-based Nursing ist ein erfolgreiches Beispiel für die gewinnbringende Zusammenarbeit praktisch Tätiger mit Wissenschaftler*innen bzw. Pflegenden mit entsprechendem wissenschaftlichem Know-how. In dieser Zusammenarbeit werden praxis- und/oder pflegerelevante Fragen formuliert und die Studien durch wissenschaftliche Methoden ausgewählt, beurteilt und zusammengefasst, sodass sie schließlich von Praktiker*innen implementiert werden können. Die Evaluierung kann wieder wissenschaftlich begleitet werden. Diese enge Verknüpfung zwischen Praxis und Wissenschaft bildet die Grundlage für eine Pflege, die sowohl praxisnah als auch patientenrelevant ist.

Ich gratuliere den Autorinnen zu diesem sehr gelungenem Buch, das einen umfassenden Blick auf Evidence-based Nursing bietet. Es fokussiert nicht nur den EbN-Prozess selbst, sondern betrachtet auch die Hintergründe und angrenzende Bereiche. Das Buch kann – auch vor dem Hintergrund seiner internationalen inhaltlichen Ausrichtung – sicher einen Beitrag zur Überbrückung des Theorie-Praxis-Gaps leisten. Es bietet eine reflektierte Darstellung der verschiedenen Teilbereiche von Evidence-based Nursing und verdeutlicht die unterschiedlichen Verantwortlichkeiten entsprechend den Aufgaben in der Gesundheits- und Krankenpflege. Daher ist der Band sowohl für die Ausbildung als auch für beruflich Pflegende und das Management in den unterschiedlichen Gesundheitseinrichtungen interessant und relevant.

Martin Fangmeyer, BScN, MScN

Gablitz, im November 2023

Leitung des Informationszentrums für Pflegende,

wissenschaftlicher Mitarbeiter, Department für Evidenzbasierte Medizin

und Evaluation, Cochrane Österreich Universität für Weiterbildung Krems

Einleitung

Evidence-based Nursing (EbN) ist ein grundlegender Ansatz, der es Gesundheitsfachkräften ermöglicht, informierte Entscheidungen auf Grundlage der besten verfügbaren Evidenz zu treffen. Das vorliegende Buch erforscht die Kernprinzipien und die Bedeutung von EbN im modernen Gesundheitswesen. Es beginnt mit der Definition, hebt die Ursprünge von EbN im breiteren Rahmen der evidenzbasierten Praxis (EbP) hervor und betont gleichzeitig die Bedeutung der Integration von klinischer Expertise, Patientenpräferenzen und Forschungsergebnissen. Darüber hinaus wird der vielschichtige Prozess von EbN diskutiert, einschließlich der Formulierung klinischer Fragestellungen, der Suche nach relevanten Evidenzen sowie der kritischen Bewertung von Forschung und Anwendung von Erkenntnissen in der Patientenversorgung. Die dynamische Natur des Gesundheitswesens erfordert es, dass Praktiker*innen stets auf dem neuesten Forschungsstand sind und ihre Praktiken entsprechend anpassen.

Die Auswirkungen von EbN auf Patientenergebnisse und Sicherheit stehen im Mittelpunkt und zeigen, wie sich die Qualität der Versorgung verbessert. Ebenso werden die Herausforderungen und Barrieren in der Umsetzung von EbN dargestellt, wie beispielsweise Zeitbeschränkungen und begrenzte Ressourcen. Strategien zur Überwindung dieser Hindernisse und der Förderung einer Kultur von EbN in Gesundheitsorganisationen werden diskutiert.

Evidenzbasierte Praxis befähigt Praktiker*innen, hochwertige personenzentrierte Betreuung zu leisten. Sie fördert die Integration von Forschungsergebnissen in die klinische Praxis und führt letztendlich zu verbesserten Patientenergebnissen und Sicherheit. Die Akzeptanz von EbN als grundlegendes Prinzip ist entscheidend für die Weiterentwicklung der Gesundheitsberufe.

1 Einführung in die evidenzbasierte Pflege

Lässt sich die Entstehung eines Intertrigo durch das Einlegen von Tüchern oder Tupfern wirklich verhindern? Ist das postoperative Tragen von Antithrombose-Strümpfen in Kombination mit medikamentöser Thrombose-Prophylaxe wirklich wirksamer als eine alleinige medikamentös-prophylaktische Therapie, um Embolien zu vermeiden? In welchen Intervallen muss ein zurzeit nicht verwendeter, vollständig implantierter Gefäßzugang mit Heparin und NaCl 0,9 % gespült werden, damit er sich nicht verschließt?

Sapere aude!

„Wage es, weise zu sein“ (lateinisches Sprichwort)

„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“

Immanuel Kant machte das lateinische Sprichwort 1784 zum Leitspruch der Aufklärung. Das lateinische „Sapere aude“, welches mit Kants Zitat in Verbindung gebracht werden kann, ermutigt, frei und unabhängig zu denken, Wissen anzustreben und weise Entscheidungen zu treffen. Den Aufruf dieses Zitats setzten 1998/1999 Mitglieder der Universität Halle-Wittenberg in die Tat um und gründeten das „German Center for Evidence-based Nursing“.

Mit praxisrelevanten Fragen, aber ohne eindeutige Antworten sehen sich Praktiker*innen konfrontiert. Wie kommen sie effizient und effektiv zu verwertbaren Antworten? In der Forschungslandschaft gibt es einen stetigen Zuwachs an gesundheitsrelevantem Wissen und an Forschungsergebnissen. Die Halbwertszeit dieses Wissens sinkt aber gleichzeitig. Das bedeutet, dass die Gültigkeit von wissenschaftlichen Erkenntnissen nur kurzzeitig gegeben ist und stetig neue Forschungsergebnisse generiert werden müssen. Somit entsteht eine Diskrepanz zwischen der Verbreitung neuester wissenschaftlicher Ergebnisse und ihrer zeitnahen, praktischen Anwendung (Vollmar et al., 2017).

Pflege als Leistungserbringerin im Gesundheitssystem muss die Wirksamkeit ihrer professionellen Interventionen wissenschaftlich belegen können – vor dem Hintergrund einer sich epidemiologisch und demografisch verändernden Gesellschaft. Die finanziellen Ausgaben für die Gesundheitsversorgung steigen durch die Zunahme der alternden Gesellschaft auf der einen und durch den technologischen Fortschritt auf der anderen Seite. Mitarbeiter*innen in Gesundheitseinrichtungen sehen sich mit stetig komplexer werdenden medizinischen und pflegerischen Versorgungsfällen konfrontiert (Sobczak & Radinger, 2022). Diese Versorgungsfälle bedürfen der Auswahl bester medizinischer und pflegerischer Betreuung.

Evidenzbasierte Praxis (EbP) ist ein universell verwendbarer Begriff, der als „gewissenhafte und umsichtige Entscheidungsfindung in der klinischen Praxis, abgestimmt auf den individuellen Patient*in“, definiert wird. Die Entscheidungsfindung der klinischen Praxis begründet sich durch die verfügbare Evidenz von Pflegeinterventionen. Den Pflegepersonen steht eine Vielzahl externer und interner Informationen zur evidenzbasierten Entscheidungsfindung zur Verfügung. Ihre Entscheidung wird durch gesellschaftliche und implizite Werte im Gesundheitssystem beeinflusst (World Health Organization, 2017).

EbP liefert kein Patentrezept, wie und welche Forschungsergebnisse bei Patienten*innen gleicher oder ähnlicher Pflegeprobleme und Pflegediagnosen zum Einsatz kommen können. EbP bedeutet vielmehr das Umlegen evidenzbasierter Pflegehandlungen auf individuelle Patientensituationen.

„Evidence-based Nursing ist die Nutzung der derzeit besten wissenschaftlich belegten Erfahrungen Dritter im individuellen Arbeitsbündnis zwischen einzigartigen Pflegebedürftigen oder einzigartigem Pflegesystem und professionell Pflegenden“ (Behrens & Langer, 2022, S. 27).

In der Rechtsvorschrift für Gesundheits- und Krankenpflege (Fassung vom 15.2.2022) wird ein ethisches, evidenz- und forschungsbasiertes Handeln – einschließlich Wissensmanagement zur Weiterentwicklung der beruflichen Handlungskompetenz und die Umsetzung von fachspezifischen Forschungsergebnissen – rechtlich vorgegeben (GuKG, 2022, § 14, Abs. 2). Eine evidenzbasierte Praxis in den österreichischen Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen wird also verbindlich gefordert.

Pflegewissenschaft als Forschungsdisziplin entwickelt sich im deutschsprachigen Raum stetig weiter. Trotz der rechtlichen Vorgaben gibt es in der Praxis weiterhin Handlungsbedarf, um Wichtigkeit und Wertigkeit von evidenzbasiertem Wissen darzulegen. Den Pflegenden pflegewissenschaftliche Erkenntnisse vor Ort zugänglich zu machen und in der Organisation allgemeingültig zu verankern, ist dafür eine Grundvoraussetzung (Meyer, 2015). Weiters gibt das GUKG in § 4, Abs. 1 Folgendes in den allgemeinen Berufspflichten wieder:

„Angehörige der Gesundheits- und Krankenpflegeberufe haben ihren Beruf ohne Unterschied der Person gewissenhaft auszuüben. Sie haben das Wohl und die Gesundheit der Patienten, Klienten und pflegebedürftigen Menschen unter Einhaltung der hierfür geltenden Vorschriften und nach Maßgabe der fachlichen und wissenschaftlichen Erkenntnisse und Erfahrungen zu wahren. Jede eigenmächtige Heilbehandlung ist zu unterlassen.“ (GuKG, 2022)

In den Lehrplänen der BA-Ausbildung Gesundheits- und Krankenpflege in Österreich sind Lehrveranstaltungen zum wissenschaftlichen Kompetenzerwerb und zur Grundsteinlegung für evidenzbasierte Pflege fixer Bestandteil. Aufbauend auf dem in den Bachelor-Studiengängen erworbenen Wissen zur evidenzbasierten Pflege gibt es in den hochschulischen Masterstudiengängen (Continuing Education) vertiefende Lehrveranstaltungen. In diesen werden den Studierenden ausgewählte Implementierungsmodelle, hemmende und fördernde Faktoren der Forschungsanwendung und erweiterte klinische Pflegekompetenz, verknüpft mit evidenzbasierter Pflege, nahegebracht (FH Campus Wien, 2023).

Gesetzgebung und hochschulische Grundausbildung oder berufliche Weiterbildung unterstreichen die Notwendigkeit einer wissenschaftlich orientierten und forschungsbasierten Praxis.

1.1Historische Entwicklung und zentrale Begriffsbestimmungen

Bereits in den 1970er-Jahren gab es Bestrebungen, Forschungsergebnisse für die medizinische und pflegerische Praxis nutzbarer zu machen, um die Optimierung der Patientenversorgung voranzutreiben. Als „Grundsteinlegung“ der Evidence-based Medicine (EbM) gilt Archie Cochrane, ein schottischer Arzt und Epidemiologe an der Oxford University. Er wies darauf hin, dass es eine qualitative Hierarchie wissenschaftlichen Wissens gäbe, in der randomisiertkontrollierte Studien eine höhere Qualität innehaben würden als Einzelfallstudien. Cochrane begründete die Cochrane-Bewegung, die heute als Cochrane Collaborative und weiterhin als internationales Forschungsnetzwerk systematische Übersichtsarbeiten als Grundlagen einer evidenzbasierten Gesundheitsversorgung schafft (Cochrane, 2022). Cochrane setzte durch, dass Gesundheitsleistungen durch wissenschaftliche Beweise bewertet werden mussten. Bestimmte Formen von Studien (randomisiert-kontrollierte Studien, RCTs) waren geeigneter, eine Maßnahme wissenschaftlich zu begründen, als Ergebnisse anderer wissenschaftlicher Forschungsdesigns.

Die EbM-Bewegung begann 1981 in Form einer Gruppe klinischer Epidemiolog*innen an der McMaster University in Ontario, Kanada. Unter der Leitung von David Sackett wurde eine Reihe von Artikeln in der Canadian Medical Association veröffentlicht, wie Mediziner*innen „The Quality of Evidence“ mithilfe systematischer Bewertung beurteilen konnten – ein Bewertungssystem, welches die Bedingungen vorgibt, nach denen eine Studie hinsichtlich ihrer Qualität (Up- oder Downgrading) auf- oder abgestuft werden musste. Zu Beginn war es ein kleiner Kreis an Mediziner*innen, die Gefallen an der Bewertung methodologischer Ansätze fanden und den Einsatz bestmöglicher Behandlungsoptionen für Patient*innen forderten. Sie ignorierten dabei vorgefertigte Meinungen von (selbst-)ernannten Expert*innen oder „Eminenzen“. Der eigentliche Begriff „evidenzbasierte Medizin“ wurde einige Jahre später von Gordon Guyatt, ebenfalls McMaster University Ontario, Anfang der 1990er-Jahre geprägt (Thoma & Eaves, 2015).

Für Sackett und Kolleg*innen bedeutete EbM einen in mehreren Schritten ablaufenden Problemlösungsprozess, welcher folgendermaßen definiert wird:

“Evidence based medicine is the conscientious, explicit, and judicious use of current best evidence in making decisions about the care of individual patients. The practice of evidence-based medicine means integrating individual clinical expertise with the best available external clinical evidence from systematic research” (Sackett et al., 1996, S. 71).

Die Methoden zur Bewertung der besten Evidenz wurden durch andere Gesundheitswissenschaften übernommen. Vor allem kanadische und britische Pflegwissenschaftler*innen (McMaster University in Kanada und University of York, England) erkannten das Potenzial und passten das Konzept der EbM an pflegewissenschaftliche Bedingungen an. Diese bestanden in erster Linie im Miteinbeziehen der individuellen Wünsche und Bedürfnisse der Patient*innen. 1997 wurde an der University of York das erste europäische Evidencebased-Nursing-Zentrum gegründet, ein Jahr später wurde der erste Jahrgang des Journals of Evidence-based Nursing herausgebracht. Rasch schlossen sich auch deutschsprachige Pflegewissenschaftler*innen dem Konzept an, allen voran Johann Behrens und Gero Langer, die auch das German Center for Evidence-based Nursing „sapere aude“ an der Universität Halle-Wittenberg gründeten. Ein Kreis von Pflegewissenschaftler*innen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Südtirol, die als Methodentrainer*innen fungierten und in der Leitlinienentwicklung tätig waren, initiierten internationale Konferenzen zu gemeinsamem Austausch und Vernetzung (Behrens, 2012).

2017 wurde Evidence-based Health Care and Practice in die WHO-Richtlinien Europas aufgenommen. Dort konnte zum Ausdruck gebracht werden, dass Pflegepersonen und Hebammen ebenso eine wichtige Rolle in der öffentlichen Gesundheitsversorgung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft einnehmen. Gemeinsam stellen sie die größte Gruppe des Gesundheitspersonals dar. Sie sind Schlüsselfiguren bei der Bereitstellung effektiver, effizienter, patientenorientierter und sicherer Gesundheitsversorgung. Qualitativ hochwertige Entscheidungen müssen auf evidenten Entscheidungen basieren.

“Facilitating evidence-based practice in nursing and midwifery in the WHO European Region is a guide for member states, supported by the WHO Regional Office for Europe, to enable and enhance the contribution of nurses and midwives to promoting evidence-based practice and innovation in nursing and midwifery. It aims to promote a shared understanding of evidence-based practice in nursing and midwifery and strengthen its foundations in the region to support health policy-makers, health-care professionals and others in facilitating the culture of evidence-based practice in nursing and midwifery. The guide provides examples to support nurses and midwives in applying evidence-based practice in their clinical roles.” (World Health Organization, 2017)

1.2Bedeutung und Schreibweise des Begriffs „beweisbasiertes Wissen“

Evidenz, vom lateinischen evidentia, bedeutet „unumstößliche Tatsache“ oder auch „faktische Gegebenheit“. Synonyme sind Nachvollziehbarkeit, Stichhaltigkeit oder Unwiderlegbarkeit. Für wissenschaftliches Wissen relevanter ist die Bedeutung „durch Anschauung oder Untersuchung festgestellter Beweis“ oder „überzeugende Gewissheit“ (Duden, 2022; DWDS, 2022).

Die Frage ist, ob jegliches Wissen überprüfbar ist oder sein muss. Es gibt Wissen, welches von einer zweiten Person intersubjektiv nicht überprüft werden kann – Offenbarungen oder (widerspruchslos) hinzunehmende Annahmen. Sie als Leser*in z. B. können mir derartiges Wissen abnehmen oder nicht, so wie Sie es möchten – überprüfen werden Sie es dennoch nicht können (Habe ich Recht oder Sie, als Leser*in?).

Evidentes Wissen in der deutschen Sprache ist Wissen, welches nicht zwingend nachgeprüft werden muss – wir verwenden die Aussage „Etwas ist evident“ im Sinne von „ohne, dass ein Beweis erbracht werden muss“. Ganz anders ist die Bedeutung von „evidence“ im Englischen. „Evidence“ betrifft hier das empirisch nachweisbare Wissen. Unter „evidence“ versteht die englische Sprache einen Beleg, einen Beweis. Im deutschen Wortschatz ist „Evidenz“ etwas Stichhaltiges, etwas Unwiderlegbares. Somit braucht „Evidenz“ keine Überprüfung, keinen Beweis, aber auch keine Falsifikation – „Es liegt auf der Hand!“ Somit beginnt hier eine Unschärfe der Begriffsbedeutungen, und Evidenz bringt etwas anderes – Gegenteiliges – zum Ausdruck, als Evidence-based Nursing zum Ausdruck bringen muss.

Wie kann die deutsche Sprache vor dem Hintergrund ihrer Semantik das zum Ausdruck bringen, was wissenschaftlich mit „evidence“ gemeint ist? Sprache bedient sich mangels korrekter Übersetzung verschiedener englischer Ausdrucksweisen – daher werden „evidencebased“ bzw. „Evidence-based Nursing“ (EbN) die beiden Begriffe sein, deren Bedeutung der Anwendung und Überprüfung wissenschaftlicher Ergebnisse gerecht wird. Auf den folgenden Seiten werden die Begriffe „evidenzbasiert“ und „evidence-based“ bedeutungsgleich verwendet.

• Was verstehen Sie unter wissenschaftlich begründetem Wissen?

• Wer entscheidet, ob etwas richtig oder falsch ist?

Evidenzbasiertes Wissen hat nichts mit der sozialen Stellung der Autor*innen, der Forscher*innen oder der Publikation in einem mehr oder weniger renommierten Journal zu tun. Evidenzbasiertes Wissen kommt nicht aus dem Fundus der „Eminenzen einer Berufsgruppe“. Evidenzbasiertes Wissen fordert alleinig Überprüfung oder Nachprüfung durch wissenschaftliche Methoden ein – wissenschaftliche Ergebnisse werden bewertet. Auch Alltagswissen könnte überprüft werden, nur – wer hat dazu ausreichend Zeit und Muße? Die Entscheidung, nicht überprüftes Alltagswissen auch in die berufliche Praxis einfließen zu lassen und dort anzuwenden, resultiert daraus, …

• … wie wir in ähnlichen (auch beruflichen) Situationen gehandelt haben;

• … was uns Vorgesetzte oder „Eminenzen“ anordnen;