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Beschreibung

Der altenative Verfassungsschutzbericht ›Die Themen gehen uns nicht aus‹, so die Herausgeber des Grundrechte-Reports. Leider – muss man hinzufügen. Sie reichen von der menschenunwürdigen Unterbringung im Strafvollzug, dem Einsatz von Staatstrojanern, der Überwachung von Demonstrierenden durch Drohnen, über Abschiebungen in Staaten, in denen Folter praktiziert wird, bis hin zum eingeschränkten Adoptionsrecht der Lebenspartner. Ein wiederkehrendes Thema ist das bedrohte Recht auf informationelle Selbstbestimmung.

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Grundrechte-Report 2013

Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland

Herausgegeben von Till Müller-Heidelberg und Elke Steven und Marei Pelzer und Martin Heiming

Fischer e-books

Vorwort der Herausgeber

Rechtsextremismus und alltäglicher Rassismus

»Das Treiben der Verfassungsschutzämter steht im Fokus der Öffentlichkeit: Auf dem rechten Auge bestenfalls blind, auf dem linken Auge hyperaktiv bis wahnhaft« – so formulierten wir im Vorwort des letztjährigen Grundrechte-Reports. Diesen Befund müssen wir für den aktuellen Berichtszeitraum 2012 erneut stellen – und er hat sich sogar noch verschlimmert. Verkehrte Welt: Statt dass der Verfassungsschutz – was seine Aufgabe sein soll – mörderische neonazistische Umtriebe rechtzeitig aufklärt, versuchen mehrere Untersuchungsausschüsse aufzuklären, was der Verfassungsschutz tatsächlich in Sachen »Nationalsozialistischer Untergrund« (NSU) und seinem Umfeld in den letzten Jahren getrieben hat. Sie stehen dabei manches Mal fassungslos vor den Schnipseln geschredderter »Tätigkeitsnachweise«. Fünf Präsidenten von Sicherheitsbehörden sind im Laufe des Jahres – folgerichtig – zurückgetreten. Diesen Weg konsequent bis ans Ende zu gehen und den Verfassungsschutz abzuschaffen, diese Notwendigkeit wird von den politischen Stellen aber nicht einmal als Frage diskutiert. Stattdessen wird, der übliche Reflex, weiter an der »Sicherheitsarchitektur« gebaut, die förmlich eine barocke Renaissance erlebt. Dazu liefert der Einleitungsartikel »Betriebsunfall NSU?«, den wir für den Berichtszeitraum 2012 wichtig, ja unumgänglich fanden, notwendige Fragen und Antworten. Dazu ergänzend beleuchtet der Artikel »Kampf gegen Rechts gegen das Grundgesetz« einen vorgeblichen Wehrturm dieser Architektur: die neue Rechtsextremismus-Datei (siehe S. 44 ff.).

 

Es kann nicht verwundern, dass der kurzatmige Umgang der höchsten politischen Stellen mit dem Thema Rechtsextremismus den alltäglichen Rassismus gegen Migranten auf der Straße, in Institutionen wie vor allem Ausländer- und Polizeibehörden geradezu herausfordert und gleichzeitig absegnet. Zudem ist es ja offenbar gar nicht Kurzatmigkeit, wenn man gleichzeitig feststellt, dass es auch in anderen Bereichen eine gezielte, sogar gesetzlich vorgesehene Diskriminierung von Migranten gibt. So hat das Bundesverfassungsgericht, nach bald 20 Jahren endlich, im Jahre 2012 geurteilt, dass gekürzte Sozialleistungen an Asylsuchende nach dem Asylbewerberleistungsgesetz verfassungswidrig sind, weil der übliche Hartz-IV-Satz sowieso schon nur das Existenzminimum darstellt – weniger als Minimum geht nicht (siehe S. 26 ff. und S. 30 ff.).

 

Jedenfalls müssen wir feststellen, dass, ganz ohne unser Zutun, dieses Thema in all seinen Facetten mit insgesamt mehr als einem Dutzend Artikeln inhaltlicher Schwerpunkt dieses Reports geworden ist – und damit auch die traurige Realität im Land spiegelt. Das reicht von der Abschaffung des Asylrechts, auf dessen 20. Todestag jetzt im Jahre 2013 wir schon einmal vorausgeblickt haben (siehe S. 143 ff.) über die Sonderbehandlung von asylsuchenden Roma (siehe S. 156 ff.) bis zur gerichtlichen Aufarbeitung des Verbrennungstods von Oury Jalloh im Polizeigewahrsam (siehe S. 191 ff.).

 

Mit dem letzten Artikel in diesem Report kehren wir zum Verfassungsschutz zurück und stellen fest, dass er auf dem linken Auge nach wie vor »hyperaktiv« ist und überwacht, was das Zeug hält, wobei er nicht einmal vor Abgeordneten des Deutschen Bundestags Halt macht (siehe S. 201 ff.). Das Tüpfelchen auf dem i, eine wahre Posse, wenn es im Gesamtzusammenhang nicht gleichzeitig wieder ein verheerendes Signal darstellte: Dem Verfassungsschutz sollte, per Gesetz, übertragen werden, über die Gemeinnützigkeit von Vereinen zu entscheiden. Listet er einen solchen Verein in seinen jährlichen Verfassungsschutzberichten als extremistisch, sollte dieser gegenüber dem Finanzamt automatisch die Gemeinnützigkeit verlieren, ohne Möglichkeit eines Rechtsmittels; überflüssig festzuhalten, dass es da natürlich wieder hauptsächlich Vereine im linken Spektrum getroffen hätte und dabei ausgerechnet solche, die sich mit ihrer antifaschistischen Arbeit dem alltäglichen Rassismus entgegenstellen. Energischer Widerstand von mehr als 100 bürgerrechtlich bewegten Organisationen konnte dieses Gesetz in letzter Minute verhindern (siehe S. 129 ff.).

 

Abschließend ist eins klar: Der Verfassungsschutz ist gründlich diskreditiert. Die Verfassungsschutzberichte sind das Papier nicht wert, auf dem sie stehen; sie gehören geschreddert. Der Grundrechte-Report, der jährlich die Verfassungswirklichkeit in unserem Land beleuchtet und gern als »alternativer Verfassungsschutzbericht« apostrophiert wird, hat ab sofort diese Bezeichnung hinter sich gelassen. Es gibt keine Alternative mehr. Er ist der einzige.

Einleitung Heiner Busch

Betriebsunfall NSU? Falsche Interpretationen und übliche Lösungen

Der »Nationalsozialistische Untergrund« (NSU) und die Arbeit der »Sicherheitsbehörden« beschäftigen derzeit einen Untersuchungsausschuss des Bundestages und drei weitere in den Landtagen Thüringens, Sachsens und Bayerns. Mehrere Hunderttausend Blatt Akten hat der Bundestagsausschuss inzwischen zusammengetragen, dutzende Zeugen wurden vernommen. Ständig erzeugte der große Skandal neue kleinere: Akten, die geschreddert wurden, V-Leute aus dem Umfeld der Gruppe, die die Verfassungsschutzämter oder – im Falle Berlins – der polizeiliche Staatsschutz des Landeskriminalamtes (LKA) dem Ausschuss zu benennen »vergaßen«, Informationen, die nicht weitergegeben wurden. Die Aufklärung, so scheint es, nimmt ihren Lauf.

Dennoch besteht die Gefahr, dass auch der Fall NSU, wie so viele Geheimdienstskandale zuvor, ohne angemessene Folgen im Sande verläuft, die Politik der »inneren Sicherheit« zur Tagesordnung zurückkehrt und der Verfassungsschutz am Ende noch ausgebaut wird. Zum einen, weil die Öffentlichkeit nach den zeitweise fast täglichen Enthüllungen den Überblick und das Interesse zu verlieren droht; zum anderen, weil im kommenden Herbst 2013 gewählt wird und der Untersuchungsausschuss des Bundestages die eigentliche Untersuchung allerspätestens vor der Sommerpause beenden und seinen Bericht produzieren muss, damit noch in dieser Legislaturperiode eine – abschließende – Debatte im Plenum stattfinden kann. Die etablierten Parteien werden das Thema aus dem Wahlkampf heraushalten wollen. Der NSU-Skandal könnte also allenfalls noch durch die Ausschüsse der Landtage am Köcheln gehalten werden.

Nichts als Pannen?

Die Gefahr, dass der NSU-Skandal ohne ernsthafte Folgen bleibt, ist umso größer, als die Bundesregierung, die »Sicherheitsbehörden« selbst und die etablierten Parteien sich längst auf eine Interpretation des Falles festgelegt und erste Folgerungen daraus bereits in institutionelle und gesetzliche Formen gegossen haben. Der Fall NSU sei zwar eine gravierende »Niederlage der Sicherheitsbehörden«, letztlich aber doch nur ein Betriebsunfall gewesen, eine Serie von schlimmen Pannen, deren Ursachen in mangelnder Kommunikation und Kooperation zwischen Bund und Ländern, zwischen Polizeibehörden und Geheimdiensten zu suchen seien.

Sicher: Pannen hat es reichlich gegeben: Es waren großenteils Pannen mit System. Mindestens 17 V-Leute der Landesämter und des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Militärischen Abschirmdienstes und des polizeilichen Staatsschutzes waren im Umfeld des NSU und des »Thüringer Heimatschutzes«, aus dem das Trio hervorging, aktiv. Das V-Leute-System gehört zur Quintessenz der geheimdienstlichen und polit-polizeilichen Arbeit. Der damit verbundene Quellenschutz – im Klartext: die Geheimhaltung auch gegenüber anderen Behörden – wurde und wird regelmäßig über die Strafverfolgung und die Fahndung gestellt (und erst recht über die parlamentarische Aufklärung). Dass auch V-Leute angeworben wurden, die in Neonazi-Organisationen eine eindeutige Führungsrolle innehatten, die ohne jeden Zweifel die politischen Positionen ihrer Gruppen weitervertraten, die auch Straftaten begingen oder begangen hatten, die zum Teil einen enormen Finanzbedarf für sich selbst und ihre Gruppen hatten und für dessen Deckung teils horrende Summen als Honorar erhielten – das alles mag den offiziösen Handbüchern zum Verfassungsschutzrecht und den offiziellen Vorschriften, die für das Bundesamt und einige Landesämter damals schon galten, zuwiderlaufen. Es entspricht jedoch der Dynamik des V-Leute-Systems. Denn sowohl die Verfassungsschutzämter als auch die Staatsschutzabteilungen der Polizei sind daran interessiert, möglichst Interna aus den von ihnen überwachten Organisationen zu erhalten – und die erwarten sie am ehesten von Leuten, die zu den inneren Zirkeln gehören, die wegen ihrer kriminellen Vorgeschichte eine entsprechende Glaubwürdigkeit bei ihren »Kameraden« haben.

Das ist aber nicht alles: Das »Frühwarnsystem«, als das sich der Verfassungsschutz gerne verkauft, hat das Gewaltpotenzial der Neonazi-Szene systematisch falsch eingeschätzt. Im Verfassungsschutzbericht des Bundes für 2010, der nur wenige Monate vor der (Selbst-)Aufdeckung des NSU erschien, ist die Rede von der »Affinität« der Neonazis zu Waffen, von einer »latenten« und »prinzipiellen Bereitschaft zur Anwendung von Gewalt gegen politische Gegner und andere Personen«. Allerdings, so heißt es weiter: »Die Anwendung systematischer Gewalt wird aber nach wie vor weitgehend abgelehnt.« Obwohl die Polizei bei Razzien immer wieder Waffen und Bomben bei Neonazis fand, blieben diese in den Augen des Inlandsgeheimdienstes weiterhin bloße Waffennarren.

Was für den Verfassungsschutz gilt, das trifft in ähnlicher Weise auch für die Polizei zu: Der Aufwand zur Ermittlung in der Mordserie an den Gewerbetreibenden türkischer bzw. griechischer Herkunft war durchaus hoch. Sieben Sonderkommissionen gab es quer durch die Republik, die durch eine »Steuerungsgruppe« unter Beteiligung des Bundeskriminalamtes (BKA) koordiniert wurden. Allein an der Besonderen Aufbauorganisation »Bosporus« in Nürnberg waren 160 Beamte und Beamtinnen beteiligt. »3500 Spuren, 11000 Personen und Millionen Datensätze von Handys und Kreditkarten« seien im Zuge der Ermittlungen überprüft worden, resümierte das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« im Februar 2011.

Gescheitert sind die Ermittlungen jedoch nicht, weil die Länder um die Führungsrolle stritten und eine Übernahme durch das BKA verhinderten, sondern weil sie in die falsche Richtung geführt wurden. Die Polizei schloss eine rechtsextreme Täterschaft von Anfang an aus. Sie suchte nach Verbindungen der Ermordeten ins kriminelle Milieu. Erst 2006 vermuteten bayerische Profiler einen rassistischen Hintergrund, konnten sich aber mit ihrer Auffassung weder beim BKA noch bei den Sonderkommissionen der anderen Länder durchsetzen. »Düstere Parallelwelt« ist der zitierte »Spiegel«-Artikel von 2011 überschrieben und gibt damit nicht nur die unter den »Fahndern« vorherrschende Meinung, sondern auch das Bild der (Medien-)Öffentlichkeit wieder: jenes der in kriminelle Machenschaften verwickelten Einwanderer, die zwar Opfer, aber gleichzeitig Mitschuldige sind.

Weiter bauen an der »Sicherheitsarchitektur«

Wer die Ursachen für das Versagen der »Sicherheitsbehörden« jedoch nur im Mangel an Koordination und Informationsaustausch verortet, zieht auch entsprechende politische Schlussfolgerungen. Noch mehr Zusammenarbeit von Polizei und Geheimdiensten lautete die erste. Vorbild dafür waren das Gemeinsame Terrorismus-Abwehrzentrum (GTAZ) und die Antiterrordatei (ATD). Das Gemeinsame Abwehrzentrum Rechtsextremismus (GAR), in dem die BKA-Staatsschutzabteilung in Meckenheim und das Kölner Bundesamt für Verfassungsschutz die Führungsrollen einnehmen, nahm schon im Dezember 2011 seinen Betrieb auf; die Rechtsextremismus-Datei (RED), in der Polizeien und Dienste aus Bund und Ländern ihre einschlägigen Erkenntnisse speichern sollen, folgte im September 2012, nachdem der Bundestag das Gesetz verabschiedet hatte. Dass mit der Datei nur solche Informationen zusammengeführt und ausgewertet werden können, die zuvor unter dem Label »Rechtsextremismus« erfasst wurden, was bei den NSU-Morden und Anschlägen eben nicht geschehen ist – wen kümmert’s?

Klar ist mittlerweile auch, dass der Verfassungsschutz aus der NSU-Krise gestärkt hervorgehen wird. Anfang Dezember 2012 beschloss die Innenministerkonferenz (IMK) seine »Neuausrichtung«. In der Presseerklärung des Innenministers von Mecklenburg-Vorpommern, der 2012 den IMK-Vorsitz innehatte, taucht der NSU nur noch unter »aktuelle Ereignisse« auf. Das Bundesamt für Verfassungsschutz erhält mehr Gewicht: Es soll von den Landesämtern »unverzüglich« mit allen relevanten Informationen zu allen »Phänomenbereichen« des »Extremismus« versorgt werden und die Auswertung zentral vornehmen. Es erhält zudem eine Koordinierungsfunktion. Im Nachrichtendienstlichen Informationssystem (NADIS) des Verfassungsschutzes, das neu NADIS-Wissensnetz heißt, sollen nun alle Daten im Volltext gespeichert werden. Geeinigt hat man sich schließlich auch auf eine stärkere Überwachung des Internet und auf eine zentrale V-Mann-Datei.

Die Neuausrichtung des Verfassungsschutzes sowie die Pläne der IMK, die Anti-Terror- und die gerade erst errichtete Rechtsextremismus-Datei »analyse- und recherchierfähig« zu machen, dürften diverse Gesetzesänderungen erforderlich machen. Von der derzeit noch in der Opposition wartenden SPD wird da kaum Widerstand kommen. Sie will »den Verfassungsschutz fit machen für den Schutz der Demokratie.«

Ein Ende des V-Leute-Systems oder gar eine vollständige Abschaffung der Ämter kommt für die Staatsparteien, die den Inlandsgeheimdienst für sein Versagen in Sachen NSU mit Fitnessprogrammen und Wellnesskuren belohnen wollen, nicht in Frage. Ein Jahr nach dem Auffliegen der Neonazi-Truppe sind zwar die Untersuchungsausschüsse immer noch mit der Aufklärung des Geschehens befasst, die etablierte Politik der inneren Sicherheit ist hingegen wieder im gewohnten alten Fahrwasser gelandet. Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich hat dafür Mitte November den schlagenden Beweis erbracht: Er gliederte das noch nicht einmal ein Jahr alte GAR in ein neues Gemeinsames Extremismus- und Terrorismusabwehrzentrum (GETZ) ein, mit dem nun Geheimdienste und Polizei auch gegen »Linksextremismus«, »Ausländerextremismus«, Spionage und Proliferation kooperieren sollen. Ansonsten bleibt von der »entschlossenen Bekämpfung des Rechtsextremismus« nur ein erneuter NPD-Verbotsantrag, der an der Realität des Rassismus in diesem Land nichts ändern wird.

Kampf gegen Rechts, aber wie?

Eine Alternative zu diesem Programm setzt nicht auf den weiteren Ausbau geheim(dienstlich)er Überwachung, sondern zum einen auf eine offene politische Auseinandersetzung sowohl mit den rechten und rechtsextremen politischen Gruppierungen als auch mit dem alltäglichen und dem institutionellen Rassismus. Das notwendige Wissen für diese gesellschaftliche Auseinandersetzung, auch das Detailwissen über rechte Organisationen und Seilschaften, ist vorhanden – u.a. bei jenen antifaschistischen Gruppen, Archiven und Bildungszentren, die wegen ihres Engagements vom Verfassungsschutz überwacht und als »Linksextremisten« abgestempelt werden. Den Verfassungsschutz braucht es für diese gesellschaftliche Auseinandersetzung nicht. Ihn abzuschaffen ist das Gebot der Stunde.

Das Problem rechter Gewalt besteht nicht in einer Gefährdung der »freiheitlichen demokratischen Grundordnung« oder des »Bestandes und der Sicherheit des Bundes und der Länder« – so die Floskeln der Verfassungsschutzgesetze. Weil hier nicht die staatliche Sicherheit und Ordnung bedroht sind, sondern das Leben, die Gesundheit und die Bewegungsfreiheit der Angehörigen von Minderheiten, braucht es zum zweiten eine Polizei, die das Vertrauen und die Mithilfe der Betroffenen sucht, auch wenn sie keinen deutschen Pass haben und sich nicht im politischen und gesellschaftlichen Mainstream bewegen. Das kann nur gelingen, wenn sie ihr eigenes diskriminierendes Verhalten gegenüber diesen Minderheiten und ihren institutionalisierten Rassismus beendet. Eine Polizei, die ihre »verdachtsunabhängigen« Kontrollen systematisch an der Hautfarbe oder dem »ausländischen Aussehen« orientiert, stellt Immigranten und Asylsuchende unter Generalverdacht. Sie ist Teil des Problems und nicht Teil der Lösung.

Und drittens schließlich braucht es eine Politik, die Rassismus und Rechtsextremismus nicht erst dann als Problem wahrnimmt, wenn der Standort Deutschland und das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland gefährdet sind. Eine Politik, die ständig vor »unkontrollierter Zuwanderung« warnt und das Ausländerrecht verschärft, bleibt unglaubwürdig, auch wenn sie den »Aufstand der Anständigen« ausruft wie Bundeskanzler Gerhard Schröder Anfang des letzten Jahrzehnts, oder Betroffenheitsbekenntnisse gegenüber den Opfern des NSU ablegt wie Bundeskanzlerin Angela Merkel im vergangenen Jahr 2012.

Die Würde des Menschen ist unantastbar

Art. 1 (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Wolfgang Kaleck

Ein bitterer Sieg

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte urteilt: Menschenrechte von El Masri wurden verletzt

Nach fast acht Jahren vergeblicher juristischer Bemühungen in fünf Staaten konnten der deutsche Staatsbürger Khaled El Masri und seine US-amerikanischen Anwälte am 13. Dezember 2012 einen historischen Sieg vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg verbuchen. Die Große Kammer verurteilte die Ehemalige Jugoslawische Republik Mazedonien wegen ihrer Beteiligung an der Folter, willkürlichen Festnahme und unmenschlicher Behandlung bei El Masris Festnahme in Skopje, der mazedonischen Hauptstadt, am 31. Dezember 2003. Von dort wurde er anschließend von CIA-Agenten nach Afghanistan entführt und ohne Angabe von Gründen am 29. Mai 2004 nach Albanien verbracht und freigelassen. Es war das erste Urteil des Straßburger Gerichtes über die Praktiken des US-Geheimdienstes im Rahmen des Extraordinary Rendition-Programms. Weitere Fälle sind gegen Polen und Litauen anhängig, da die USA Geheimgefängnisse in beiden Staaten unterhielten, in denen Terrorismusverdächtige festgehalten und teilweise gefoltert wurden.

Das Urteil erfuhr nicht nur in Deutschland und Europa, sondern in den USA große Aufmerksamkeit. Dort hatte El Masri mehrfach vergeblich versucht, die Hauptverantwortlichen für seine Odyssee, die US-Regierung und die CIA, zur Verantwortung ziehen zu lassen. Doch obwohl die Fakten in seinem Fall weltweit bekannt und weitgehend gesichert sind, wiesen US-Gerichte seine Klagen mit der absurden Begründung ab, seine Entführung und Misshandlung stelle ein Staatsgeheimnis dar (state secrets privilige). In Spanien fanden immerhin umfangreiche Ermittlungen statt, da die CIA-Entführungsflüge in diesem und anderen Fällen vom Flughafen Mallorca aus durchgeführt wurden. Die Ergebnisse dieser Ermittlungen gingen in die Arbeit der Staatsanwaltschaft München ein, die zuständig ist, weil El Masri Deutscher ist (sogenanntes passives Personalitätsprinzip). Das Amtsgericht München erließ zwar Haftbefehle gegen 13 an der Entführung mutmaßlich beteiligte CIA-Agenten. Doch die Bundesregierung verzichtete darauf, gegenüber den USA auf die Auslieferung der Tatverdächtigen zu drängen. Mazedonien und Albanien blockten von Anfang an jegliche Bemühungen von Anwälten und Menschenrechtsorganisationen ab, die Straftaten aufzuklären und gerichtlich zu ahnden.

Imposantes Sündenregister

Nun hat es also das schwächste Glied in dieser Kette in Straßburg erwischt: Mazedonien. Hinsichtlich des Sachverhaltes folgte der EGMR der Darstellung des Klägers, der die Ereignisse ausführlich und widerspruchsfrei geschildert hatte. Mazedonien hatte bis zuletzt entgegen der soliden Dokumentation deutscher und europäischer Stellen die Fakten bestritten. Der EGMR stellt mehrere Verstöße gegen Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) fest und zwar wegen unmenschlicher und erniedrigender Behandlung durch eine 23-tägige Isolationshaft in einem Hotel in Skopje und wegen Folter durch Prügel und Vergewaltigung am Flughafen in Skopje. Durch die Überstellung von El Masri an die USA sei er zudem der Gefahr weiterer Verstöße gegen Artikel 3 ausgesetzt gewesen. Auch die mangelhafte Untersuchung der Vorfälle durch Mazedonien verletzt Artikel 3. Dazu kommen noch Verstöße gegen Artikel 5 wegen des fehlenden gerichtlichen Haftbefehls, gegen das Recht auf Privat- und Familienleben nach Artikel 8 und gegen das Recht auf wirksame Beschwerde nach Artikel 13 EMRK. Ein imposantes Sündenregister also. Kein Wunder, dass vor allem die US-Juristen positiv auf das Urteil reagiert hatten, die seit über elf Jahren vergeblich versuchten, vor US-Gerichten auf die Einhaltung scheinbar selbstverständlicher Bürger- und Menschenrechte zu klagen.

So spricht Scott Horton vom »Harper’s Magazine« von einem wegweisenden Ereignis, weil erstmals ein hochrangiges Gericht mit juristischer Bindungskraft die routinemäßig von der CIA verwandten Praktiken rechtlich als Folter einordne. Horton fordert, dass sich US-Präsident Barack Obama auf der Grundlage der Gerichtsentscheidung entschuldigt, eine Entschädigung sowie medizinische Behandlung für El Masri anbietet und erklärt, dass die CIA diese und ähnliche Maßnahmen nicht mehr anwende. Doch es ist kaum zu erwarten, dass die US-Regierung diesem Begehren nachkommt oder sich gar entschließt, die beteiligten Agenten und deren Vorgesetzte strafzuverfolgen. So wird es also in den nächsten Jahren bei dem Zustand weitestgehender Straflosigkeit der Menschenrechtsverletzungen der USA bleiben, es sei denn, die Tatverdächtigen reisten in den Einzugsbereich des Europäischen Haftbefehls oder in solche Länder, von denen aus eine Auslieferung nach Deutschland oder anderswo möglich wäre.

Mehr Schutz gegen Folter

Doch das Urteil entfaltet nicht nur innerhalb der USA Sprengkraft. Die klaren juristischen Ausführungen zu Artikel 3 EMRK, insbesondere zu Folter, werden in vielen anhängigen Verfahren zu den Geheimgefängnissen in Polen und Litauen sowie zu den Praktiken der britischen Streitkräfte bei der Gefangenenbehandlung in Irak eine große Rolle spielen. Schon am 25. September 2012 hatte der Straßburger Gerichtshof im Fall El Haski gegen Belgien den europäischen Strafverfolgungsbehörden Grenzen im Umgang mit Informationen gesetzt, die mutmaßlich durch Folter erlangt wurden. Der aus Marokko stammende El Haski war von einem Brüsseler Gericht wegen terroristischer Straftaten auf der Grundlage von Beweisen verurteilt worden, die die marokkanische Polizei den Belgiern übermittelt hatte. Die belgische und die britische Regierung hatten in Straßburg vertreten, dass El Haski den vollen Nachweis hätte erbringen müssen, dass die Beweise unter Einsatz von Folter gewonnen wurden. Der EGMR wandte demgegenüber einen deutlich niedrigen Beweisstandard an. In Marokkos Gefängnissen würden Terrorismusverdächtige regelmäßig gefoltert, daher bestünde eine reelle Gefahr, dass dies auch im Falle der Aussagen der Fall war, die zur Verurteilung El Haskis führten. Innerhalb weniger Wochen fällten die Straßburger Richter somit zwei Urteile, die den rechtlichen Schutz vor Folter deutlich verbessern.

Khaled El Masri wird sich über das Urteil vom 13. Dezember 2012 und die dort ausgesprochene Entschädigung von 60000 Euro für den immateriellen Schaden dennoch wenig freuen. Für ihn kommen sowohl die Entschädigung als auch die Genugtuung zu spät, er erlebte die Urteilsverkündung in der Justizvollzugsanstalt in Kempten. Die unbarmherzige bayrische Justiz hatte den Mann, obschon durch die Folter und die erlittene Behandlung traumatisiert, wegen Körperverletzung und anderer Delikte zu insgesamt über drei Jahren Haft verurteilt. El Masri hat den bis dahin bestehenden guten Kontakt zu den ihn unterstützenden Menschenrechtorganisationen in der Haft abgebrochen und auch von den noch laufenden Gerichtsverfahren nichts erwartet. So wertvoll also der Urteilsspruch aus Straßburg für die juristischen Debatten um Folter und für die Folterprävention in der Zukunft sein mag, als Gerechtigkeit für Khaled El Masri wird man ihn dennoch nicht ansehen können.

Literatur

European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), Folter und die Verwertung von Informationen bei der Terrorismusbekämpfung. Die Fälle Kurnaz, Zammar und El Masri vor dem BND-Untersuchungsausschuss, Berlin 2011

Steiger, Dominik, Die CIA, die Menschenrechte und der Fall Khaled El Masri, Potsdam 2007

Marei Pelzer

Menschenwürdiges Existenzminimum auch für Asylsuchende

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat am 18. Juli 2012 entschieden, dass das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) in Teilen verfassungswidrig ist. Geklagt hatten ein 35-jähriger irakischer Flüchtling und ein 12-jähriges Mädchen, dessen Eltern aus Liberia stammen und das selbst mittlerweile die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Das Gericht entschied, dass die deutlich reduzierten Sozialleistungen für Asylsuchende nicht mit der Menschenwürde und dem Sozialstaatsprinzip zu vereinbaren sind. Asylsuchenden und andere Gruppen, die ebenfalls unter das AsylbLG fielen, erhielten 224,97 Euro monatlich, was im Vergleich zu Sozialhilfe-Leistungen (SGB XII) eine Reduzierung um 38 Prozent bedeutete. Für sechsjährige Kinder war die Diskrepanz zur Sozialhilfe am größten: Sie erhielten monatlich Leistungen in Höhe von 132,94 Euro, das waren ganze 47 Prozent weniger als der Regelsatz eines gleichaltrigen Kindes nach der Sozialhilfe (ca. 251 Euro). Die Karlsruher Richter stellten nun erstmals klar, dass das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum nicht vom Aufenthaltsrecht abhängig gemacht werden kann. Abweichungen von der Sozialhilfe oder Hartz IV unterliegen strengen Prüfungsvorgaben. Praktisch bleibt nach dem Karlsruher Urteil kaum ein Spielraum für eine Fortsetzung der sozialen Diskriminierung von Asylsuchenden.

Inhaltliche Vorgaben für eine künftige Neuregelung

Für die Zukunft hat das BVerfG dem Gesetzgeber aufgetragen, unverzüglich eine Neuregelung zu treffen. Die Leistungshöhe muss nachvollziehbar, realitätsgerecht, auf Bedarfe orientiert und insofern aktuell existenzsichernd berechnet werden. Für minderjährige Flüchtlinge müssen die besonderen kinder- und altersspezifischen Bedarfe ermittelt werden. Ob ein Abweichen von SGB II/XII-Leistungen überhaupt noch zu rechtfertigen wäre, ist zweifelhaft. Jedenfalls darf laut BVerfG eine Differenzierung nicht pauschal nach dem Aufenthaltsstatus erfolgen. Das BVerfG macht darüber hinaus deutlich, dass auch der angeblich nur vorübergehende Aufenthalt oder Abschreckungszwecke die Minderleistungen nicht rechtfertigen können.

In der Vergangenheit wurden die gekürzten Leistungen an Asylsuchende damit zu rechtfertigen versucht, dass der Bedarf an soziokultureller Teilhabe bei den Adressaten des AsylbLG ein geringerer sei als bei der übrigen Bevölkerung. Begründet wurde dies damit, dass der Aufenthalt in Deutschland nur vorübergehender Natur und ein geringerer Integrationsbedarf vorhanden sei. Die Leistungen sollten gegenüber der Sozialhilfe »vereinfacht und auf die Bedürfnisse eines in aller Regel nur kurzen, vorübergehenden Aufenthaltes abgestellt werden«.

Die Annahme, dass die Betroffenen sich nur vorübergehend in Deutschland aufhalten würden, war jedoch nicht realitätsgerecht. Bei einer genaueren Betrachtung der Personengruppen, die in den Anwendungsbereich des AsylbLG fallen, zeigt sich, dass sie sich entweder schon aus rechtlichen oder aber faktischen Gründen nicht nur vorübergehend in Deutschland aufhalten.

Betroffen sind nicht nur Asylsuchende, sondern auch Geduldete und Personen mit einer humanitären Aufenthaltserlaubnis. Selbst bei den Geduldeten, deren Status der schwächste ist, widerspricht die Annahme des nur vorübergehenden Aufenthalts vielfach der Realität. Zum Stichtag 30. Juni 2012 lebten knapp 40000 von den insgesamt 85000 Geduldeten bereits seit mehr als sechs Jahren in Deutschland. Das Gericht macht dementsprechend klar: »Es liegt auch kein plausibler Beleg dafür vor, dass die vom AsylbLG erfassten Leistungsberechtigten sich typischerweise nur für kurze Zeit in Deutschland aufhalten.«

Ebenfalls dürfen soziale Minderleistungen nicht mehr als Abschreckungsinstrument eingesetzt werden. Ausdrücklich stellt das BVerfG fest: »Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen.« Und weiter: »Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren.«

Sachleistungen müssen tatsächlich menschenwürdig sein

Andere Aspekte als die Höhe der Leistungen wurden vom BVerfG nicht thematisiert, da es sich weitgehend nur auf die Vorlagefragen des Landessozialgerichts NRW bezogen hat. Nur am Rande geht es auf die Frage der Sachleistungen ein. In vielen Kommunen wird nach wie vor kein Bargeld, sondern werden nur Sachleistungen (Lebensmittel-, Kleidungs- und Hygienepakete) zur Existenzsicherung gewährt. In anderen Kommunen werden Gutscheine ausgegeben. In der Praxis sind diese Leistungsformen nicht bedarfsdeckend, entmündigend und oftmals von extrem defizitärer Qualität. Zu solchen Sachleistungen sagt das BVerfG: »Unter der Voraussetzung und in der Annahme, dass Sachleistungen aktuell das menschenwürdige Existenzminimum tatsächlich decken, greift die Übergangsregelung nicht in die Regelungssystematik des Asylbewerberleistungsgesetzes hinsichtlich der Art der Leistungen ein.« Es verlangt damit, dass die Sachleistungen im Sinne der zuvor aufgestellten Anforderungen an die Geldleistungen existenzsichernd sein müssen. Es kann also nicht sein, dass die Sachleistungen einen geringeren Gegenwert haben als die Geldleistungen. Werden Gutscheine ausgegeben, so muss mit diesen dieselbe Kaufkraft im Ergebnis vorliegen, wie dies mit Barmitteln der Fall wäre.

Keine Äußerungen finden sich zu den Leistungseinschränkungen nach § 1 a AsylbLG. Hiernach können die Leistungen nochmals gekürzt werden, wenn unterstellt wird, der Betreffende sei zur Leistungserschleichung nach Deutschland eingereist oder habe seine Abschiebung selbst verhindert.

Dies wurde vom BVerfG zwar nicht konkret kommentiert, allerdings lässt der migrationspolitische Sanktionscharakter Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit auch dieser Norm aufkommen.

AsylbLG abschaffen

Das Urteil des BVerfG ist ein Meilenstein auf dem Weg zur Verwirklichung von gleichen sozialen Rechten unabhängig von der Herkunft oder dem Aufenthaltsstatus der hier Lebenden. Karlsruhe hat klargemacht, dass die Menschenwürde auch für Flüchtlinge gilt. Diese Leitentscheidung muss zu einem Umdenken in der Flüchtlingspolitik insgesamt führen. Weitere Instrumente, die ein menschenunwürdiges und fremdbestimmtes Leben zur Folge haben, müssen auf den Prüfstand gestellt werden, wie z.B. das Sachleistungsprinzip. Kritikwürdig ist zudem, dass das AsylbLG eine Ausgrenzung von einer regulären Gesundheitsversorgung und stattdessen eine medizinische Notversorgung festlegt.

Es wäre konsequent, die noch fortbestehenden Ungleichbehandlungen von Flüchtlingen im Sinne der vom BVerfG ausgegebenen Parole – »Die Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren« – zu überwinden, was hieße, das AsylbLG gänzlich abzuschaffen. Einige Bundesländer haben entsprechende Gesetzgebungsinitiativen im Bundesrat eingebracht. Die schwarz-gelbe Bundesregierung legte indes Ende 2012 einen Gesetzentwurf vor, der erneut die Ausgrenzung ganzer Personengruppe aus dem menschenwürdigen Existenzminimum vorsieht: Selbst für diejenigen, die eine humanitäre Aufenthaltserlaubnis haben, soll das AsylbLG weiter anwendbar sein. Erst nach zwei Jahren (statt bisher vier) sollen die regulären Sozialhilfesätze gewährt werden. An der medizinischen Notversorgung soll indes gar nichts verändert werden. Auch Sachleistungen und die Sanktionsmöglichkeiten (Leistungsentzug) bleiben unangetastet. Es zeigt sich: Wenn es um hier lebende Flüchtlinge und Migranten geht, werden Verfassungsrechte nur widerwillig umgesetzt. So werden ganze Gruppen marginalisiert und an den sozialen Rand der Gesellschaft gedrückt.

Literatur

BVerfG 18. 07. 2012, 1 BvL 10/10 und 1 BvL 2/11, Urt. v. 18. 07. 2012

Franziska Drohsel

Das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum

Bundesverfassungsgericht soll erneut entscheiden

Ob der Anspruch auf ein menschenwürdiges Existenzminimum an Bedingungen zu knüpfen ist und welcher Betrag angemessen ist, war in jüngerer Zeit zunehmend Gegenstand gerichtlicher Entscheidungen. Im Februar 2010 entschied das Bundesverfassungsgericht (BVerfG), dass der Gesetzgeber das Existenzminimum in einem transparenten und nachvollziehbaren Verfahren festzulegen hat. Aufgrund von statistischen Erhebungen setzte dieser anschließend den Regelbedarf neu fest, wobei die Regelbedarfsstufe 1 mit 364 Euro den höchsten Satz vorsieht (382 Euro ab 1. Januar 2013). Das Bundessozialgericht hält die Höhe des Regelbedarfes für Alleinstehende in einer Entscheidung aus dem Juli 2012 auch für verfassungsgemäß. Ein Berliner Sozialgericht ist dagegen von der Verfassungswidrigkeit der Neu-Festsetzung überzeugt. Es hat im April 2012 ein laufendes Verfahren ausgesetzt und die Frage der Verfassungsmäßigkeit dem BVerfG zur Entscheidung vorgelegt. Dieses Verfahren ist eine gute Gelegenheit, um sich damit zu beschäftigen, wie es mit der Gewährleistung des Grundrechts auf ein menschenwürdiges Existenzminimum tatsächlich bestellt ist.

Unbelehrbar? Gesetzgeber missachtet Verfassungsvorgaben

Es mutet absurd an, dass erstens der Gesetzgeber jahrelang trotz massiver Kritik aus der Erwerbslosenbewegung und von Sozialverbänden nicht in der Lage war, den Regelbedarf in einer verfassungskonformen Weise zu ermitteln. Zweitens hat er es erneut nicht geschafft, einen verfassungsgemäßen Regelbedarf vorzulegen, weil er den vom Bundesverfassungsgericht ausdrücklich formulierten Anforderungen nicht nachgekommen ist.

Dabei ist der verfassungsrechtliche Rahmen hinreichend klar. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ergibt sich aus Artikel 1 Absatz 1 GG i.V.m. Artikel 20 Absatz 1 GG (Sozialstaatsgebot). Mit dem Urteil vom Februar 2010 führte das Bundesverfassungsgericht einmal mehr aus, dass dessen Gewährleistung sowohl die physische Existenz eines Menschen (Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene, Gesundheit) als auch die Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und in einem Mindestmaß die Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben umfasse. Das Grundgesetz erlaube zwar keine exakte Bezifferung dieses Minimums, so dass sich die gerichtliche Kontrolle auf die Frage beschränke, ob die Leistungen evident unzureichend seien. Allerdings erfordere das Grundrecht, dass die Festsetzung der Leistungen aufgrund verlässlicher Zahlen und schlüssiger Berechnungsverfahren erfolgt.

Erneute Vorlage ans BVerfG

Die erneute Anrufung des BVerfG war deswegen erforderlich. Anlass war der Fall einer dreiköpfigen Familie, die geltend machte, dass der Regelbedarf für ein menschenwürdiges Leben nicht ausreiche. Nach dem Berliner Sozialgericht ist die vom Gesetzgeber festgelegte Höhe des Regelbedarfes aus mehreren Gründen verfassungswidrig. So sei die Referenzgruppe fehlerhaft bestimmt worden. Der Gesetzgeber müsse entscheiden, bei welcher Referenzgruppe die tatsächliche Ausgabestruktur eine Absicherung realitätsgerecht ergebe. Dabei sei zu berücksichtigen, dass bei sehr armen Haushalten sich die Ausgabenstruktur weniger nach dem tatsächlichen Bedarf als nach der tatsächlichen finanziellen Situation richte. Es sei nicht nachvollziehbar, warum als Referenzgruppe lediglich die unteren 15 Prozent gewählt worden seien und nicht wie bisher die unteren 20 Prozent.

Das Berliner Sozialgericht bemängelt zudem, dass nicht plausibel begründet worden sei, aus welchem Grund der Bedarf für Haushalte mit Kindern genauso hoch ausfallen sollte, wie der Bedarf für Alleinstehende. Vielmehr seien für Familien die spezifischen Bedarfe, die sich aus einer Familiensituation ergeben, zu berücksichtigen.

Im Übrigen seien langlebige Konsumgüter (Waschmaschine, Fahrrad etc.) nicht ausreichend berücksichtigt worden. Des Weiteren seien bestimmte Güter und Dienstleistungen in nicht nachvollziehbarer Weise in dem Katalog zur Ermittlung des Regelbedarfs zu gering berücksichtigt bzw. herausgehalten worden. Dies betrifft z.B. Aufwendungen für Verkehr, alkoholische Getränke, Schnittblumen und Zimmerpflanzen, auswärtige Speisen und Getränke, chemische Reinigung, Reparaturen von Einrichtungsgegenständen oder für Vorstellungsgespräche. Dadurch sei außerdem die Möglichkeit des internen Ausgleichs – nach der höhere Kosten in einem Bereich, z.B. hohe Telefonkosten, mit geringeren Ausgaben in einem anderen, z.B. Mobilitätskosten, ausgeglichen werden können sollten – nicht mehr gewahrt, obwohl die Möglichkeit hierzu Kernelement der Pauschalierung der Leistung sei. Die Fehler würden bei zusammenlebenden Ehepaaren bzw. Partnern zu einem normativen Fehlbetrag von mindestens 31,83 Euro und bei Jugendlichen zwischen 14 und 18 Jahren von mindestens 20 bis 28,30 Euro führen.

Sozialstaat ohne Misstrauenskultur

Solange es keine Neuorientierung in der Sozialpolitik gibt, steht außer Frage, dass der Gesetzgeber sich zumindest an die Vorgaben des BVerfG zu halten hat. Dem ist er, wie das Sozialgericht überzeugend ausführt, nicht nachgekommen. Bei der Ermittlung des Regelbedarfs ist u.a. zu fordern, dass statistisch signifikante Daten zugrunde gelegt werden, Zirkelschlüsse (Berechnung des Bedarfs anhand der tatsächlichen Ausgaben von ALG II bzw. Sozialhilfe-Empfängern) vermieden werden und die Abgrenzung zwischen regelleistungsrelevantem bzw. nicht regelleistungsrelevantem Konsum sachgerecht begründet wird. Ob das Statistikmodell zur Ermittlung eines angemessenen Bedarfs geeignet ist, darf bezweifelt werden. Das ist z.B. daran zu sehen, wie der Bedarf für eine gesunde Ernährung ermittelt wird. Faktisch führt der derzeitige Regelbedarf zu einer Unterversorgung, insbesondere bei Ernährung, Strom und Mobilität.

Grundsätzlich ist eine Form der Regelbedarfsfestsetzung zu fordern, die nicht wie bisher von einer Haltung des Misstrauens und der Missgunst erwerbslosen Menschen gegenüber geprägt ist. Sozialpolitik muss die Achtung der Menschenwürde zugrunde liegen; sie darf nicht von Nützlichkeitserwägungen geleitet sein, nach denen nur erwerbswilligen Menschen ein Anspruch auf Existenzsicherung zusteht. Da dies nach geltendem Recht, wie z.B. auch an dem Kontroll- und Sanktionssystem zu sehen ist, nicht der Fall ist, ist es an der Zeit, dem Grundrecht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum auch in tatsächlicher Hinsicht zum Durchbruch zu verhelfen.

Literatur

Bundesverfassungsgericht, Urteil vom 9. Februar 2010 - 1 BvL 1/09, 3/09 und 4/09

Bundessozialgericht, Urteil vom 12. 07. 2012 – B 14AS 153/11 R und B

Berliner Sozialgericht, Beschluss vom 25. April 2012 – S 55AS 9238/12

Geiger, Udo, Leitfaden zum Arbeitslosengeld II: Der Rechtsratgeber zum SGB II, 9. Auflage, Stand: 1. Juli 2012, Frankfurt a.M. 2012

Groth, Andy/Luik, Steffen/Siebel-Huffmann, Heiko, Das neue Grundsicherungsrecht, Baden-Baden 2011

Heitmeyer, Wilhelm, Deutsche Zustände, Folge 10, 2012

Spindler, Helga, Verfassungsrecht trifft auf Statistik. Wie soll man mit den Regelsätzen weiter umgehen?, in: info also 2011, S. 243

Jäger, Frank/Thomé, Harald, Leitfaden ALG II/Sozialhilfe von A-Z, 26. Auflage, Stand: 1. Juni 2011

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Art. 2 (1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

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