Grundriss eines Rätsels - Gerhard Roth - E-Book

Grundriss eines Rätsels E-Book

Gerhard Roth

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Beschreibung

Ein Schriftsteller stirbt bei einer Gasexplosion in Wien, drei tschetschenische Flüchtlinge werden ermordet, eine Apothekerin versucht sich mit ihrem Kind gegen widrige Umstände zu behaupten, ein Schauspieler kehrt an den Ort seiner Kindheit zurück, eine Journalistin reist auf der Flucht vor sich selbst nach Japan, und ein alter Mann ist Augenzeuge, als 1902 in Venedig der Campanile einstürzt. In Gerhard Roths grandiosem Roman der Täuschungen ist nichts, wie es scheint, und alles möglich: Die Ungewissheit ist das verborgene Abenteuer des Alltags. ›Grundriss eines Rätsels‹ ist selbst ein Rätsel, Spiegel des großen Rätsels unseres Lebens. »Wir wissen nicht, was wir nicht wissen. Die Wirklichkeit ist ein zufälliges Gemisch aus Sichtbarem und Unsichtbarem.« Gerhard Roth

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Seitenzahl: 559

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Gerhard Roth

Grundriss eines Rätsels

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

MottoErstes BuchZweites BuchAls wissenschaftliche Hilfskraft ...1. Leopold Nachasch:2. Johann Mühlberg:3. Pfarrer Resch:4. Katechetin Schindler:5. Pia Karner:6. Gabriel (und Aleph, der Papagei):7. Therese Karner:8. Der Tschetschene Ruslan Ajinow:9. Arzt Dr. Klaus Eigner:10. Heinz Battmann:Ich stand auf, stöberte [...]Drittes BuchViertes Buch123456789101112131415161718192021Fünftes Buch1234567891011Sechstes Buch12345678910EpilogNotizen zur KindheitI.II.III.Requiem für eine vergangene ZeitDas fiebernde KaleidoskopVersuch 1Versuch 2Versuch 3Versuch 4Bildnachweise

»Auch die Geschichte ist noch nicht die Zeit, ebenso wenig die Entwicklung. Beides bezeichnet ein Nacheinander. Die Zeit ist jedoch ein Zustand, das lebensspendende Element der menschlichen Seele, in dem sie zu Hause ist wie der Salamander im Feuer.

Zeit und Erinnerung sind einander geöffnet, sind gleichsam zwei Seiten ein und derselben Medaille.«

 

Andrej Tarkowski,

Die versiegelte Zeit

Erstes Buch

Artners Verschwinden

»Mama, Mama, Mama!« Vor einer Woche hatte Philipp Artner die »Mama-Mama«-Rufe durch die Wand seines Arbeitszimmers zum ersten Mal gehört, und seit zehn Tagen störte ihn das abendliche Gebell eines unbekannten Hundes, das er dumpf aus der Wohnung neben seinem Schlafzimmer vernahm.

Artners Frau Doris war am Vormittag zu ihrer Schwester nach Graz gefahren, und er hielt sich im Arbeitszimmer auf, um in seinem japanischen Tagebuch, das er vor acht Jahren aufgezeichnet hatte, und im Album mit den dazugehörigen Fotografien zu blättern. Doris hatte es am Abend zuvor gelesen und auf ihrem Nachtkästchen liegen lassen. Schon immer hatte sie eine Reise in das Kaiserreich unternehmen wollen, und er hatte ihr versprochen, in nächster Zeit mit ihr gemeinsam nach Tokio zu fliegen. Vor allem beabsichtigte sie, die Darstellungen auf japanischen Holzschnitten mit den Eindrücken zu vergleichen, die sie dort selbst gewinnen würde. Zu seiner Überraschung fand er in dem Tagebuch ein Bild, das ihn selbst mit dem Orang-Utan-Weibchen Nonja zeigte, mit dem er bei Besuchen im Tiergarten Schönbrunn regelmäßig zu sprechen versuchte. Eine bekannte Fotografin hatte es seinerzeit aufgenommen. Vermutlich hatte Doris das Schwarz-Weiß-Bild als Lesezeichen benutzt. Das Tagebuch lag vor ihm wie die stumme Gegenwelt zur aufdringlichen Wirklichkeit, die ihn mit den Hilferufen der fremden Stimme quälte. Von Anfang an schloss er aus, dass sie von einem Kind stammten – dafür war die Stimme zu selbstsicher und zu erwachsen. Als er sie zum ersten Mal gehört hatte, hatte er an die Wand geklopft und laut gefragt, ob jemand Hilfe benötige. Daraufhin waren die Rufe verstummt, aber nach einer kurzen Pause hatten sie von neuem begonnen. Nachdem er abermals an die Wand geklopft und seine Hilfe angeboten hatte, hatten sie sofort wieder aufgehört. Das hatte sich mehrmals wiederholt, bevor es dann endgültig still geworden war.

Am nächsten Vormittag zur gleichen Zeit begannen die »Mama«-Rufe wieder, und er handelte wie am Vortag, und kurz darauf verstummten die Rufe auch.

Das Bellen des Hundes hatte er zum ersten Mal im Schlafzimmer gehört, als er auf seinem Bett lag und las. Es schien aus Einsamkeit und Verlassenheit zu kommen und wollte nicht aufhören. Weil es länger dauerte, hatte er den Verdacht, es sei die Antwort des Tieres auf eine Strafe. Später begab er sich in sein Arbeitszimmer, wo sogleich – wie befürchtet – die »Mama-Mama«-Rufe einsetzten.

Seine Frau Doris rief, als auch sie auf die Geräusche aufmerksam geworden war, laut »Hallo! Hallo!«, worauf die Rufe und das Bellen aufhörten, bald darauf aber wieder von neuem anfingen.

Bislang hatte Artner in seinem Arbeitszimmer nur eine bestimmte Art von Lauten vernommen: das Krächzen der Krähen im Hof. Er liebte die Krähen und ihre Geräusche. Wenn er allein war und schrieb, regte ihn das gedämpfte Schnarren und Knacken an. Er fühlte sich eins mit den schwarzen Vögeln, die sich im Geäst der Bäume niedergelassen hatten wie Noten auf Linien – oder wie durcheinandergeschüttelte Buchstaben, die fortlaufend einen Text von Lewis Carroll in das Gezweig schrieben, »virtuosen Unsinn«, wie er dachte.

Aber da war noch etwas: Nach einer Lesung im Josefstädter Theater hatte er vor einem Jahr auf der Bühne einen Hörsturz erlitten, seither glaubte er mitunter, verrückt zu sein, da er verschiedene Laute nicht mehr wahrnahm, auf die ihn später seine Frau aufmerksam machte. Zumindest wurde er sich seines Alters – er war 56 geworden – bewusst. Artner hasste es, über sein sich allmählich auflösendes Sexualleben nachzudenken, fand er doch jetzt, mit den Jahren, das Leben schöner als in der Zeit vorher, in der er oft nicht gewusst hatte, wovon er leben sollte.

Die Krähen jedenfalls hörte er, wenn es still war, wie etwas Vertrautes. Die gedämpften Geräusche der Straße hingegen vernahm er nur, wenn er das Fenster öffnete, um die Vögel zu fotografieren, was er aus Gewohnheit immer wieder tat. Er konnte sich an den Veränderungen des Schwarms auf der Wiese nicht sattsehen, an den schwarzen Tieren im weißen Schnee, die ununterbrochen neue Muster bildeten und Spuren hinterließen, welche schließlich die gesamte Fläche bedeckten. Er liebte diese Zeichen und deutete sie – je nach Laune – auch als Schrift, die ein Vogelepos festhielt.

Seit einiger Zeit las er ein Buch über die Entzifferung alter Sprachen und Schriften, und angeregt durch seine Lektüre entdeckte er jetzt überall Schriftzeichen. Die Natur dachte, sprach und schrieb unablässig und unabhängig vom Tun der Menschen, und natürlich konnte er die chaotische Menge an Schriften, Zeichen, Lauten und Geräuschen nicht verstehen. Er fühlte sich wohl bei dem Gedanken, in ein permanentes sprachliches Wirken eingewebt zu sein wie in einen Kokon. Vor allem war es aussichtslos zu versuchen, sich darüber Klarheit zu verschaffen.

Er las in dem Buch die Geschichte der altpersischen und mesopotamischen Keilschriften, der hethitischen Hieroglyphen sowie der kretisch-mykenischen Linearschriften. Der Band enthielt auch Abbildungen, vor allem Fotografien der Entzifferer, der ersten Kryptologen wie Jean-François Champollion, der die ägyptischen Hieroglyphen lesbar gemacht hatte, oder Georg Friedrich Grotefend und Henry Creswicke Rawlinson, die die Rätsel um die altpersische Keilschrift gelöst hatten. Außerdem fand er weitere Schriftbeispiele und Alphabete in dem Buch, die seine Phantasie anregten. Er empfand eine Leidenschaft für fremde Schriftzeichen und Wörter. Auf einer Ägyptenreise mit seiner Frau hatte er sich in Luxor ein altes Vogelbuch mit arabischen Buchstaben und den Abbildungen unbekannter Tiere gekauft und in Japan ein ausgeschiedenes, gestempeltes Bibliotheksexemplar eines ornithologischen Atlas, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. Beim Lesen seines Tagebuchs und beim Betrachten seiner Fotografien und des japanischen Vogelbuchs hatte er sich in das ferne Land und die fremde Sprache hineingeträumt. Jetzt aber hatte dieses ferne Land sich mit einem Schlag in nichts aufgelöst, und nur die »Mama-Mama«-Rufe hallten in seinen Ohren. Die Hartnäckigkeit der Schreie erinnerte ihn an eine hängen gebliebene Schallplatte und verwirrte die Gedanken in seinem Kopf, er empfand es als Niederlage, seinen Arbeitsplatz räumen und das Wohnzimmer aufsuchen zu müssen. Dort beruhigte er sich langsam und betrachtete die schematische Abbildung der neuelamischen Keilschrift des Dareios-Denkmals. Die einzelnen Zeichen glichen Nägeln aus Stiften mit Köpfen. Sie bildeten verschiedene Mengen, aus denen sich die Bedeutung ergab. Mit dem gleichen faszinierten Staunen war er durch Japan gereist und hatte die fremden Schriftzeichen bewundert, deren Bedeutung ihm verschlossen geblieben war. Trotzdem ging noch immer eine Anziehungskraft von ihnen aus, sobald er das japanische ornithologische Buch aufschlug. Sie erinnerten ihn an Seerosen auf einem dunklen Teich … Er betrachtete die Wirklichkeit, die ihn umgab, wie einen mehrfach belichteten Film … wie durch einen Fleischwolf gedrehtes Fleisch, dachte er, wie das Flirren der Flügel eines auffliegenden Käfers …

Er nahm ein Blatt Papier, um seine Gedanken, die Sprachbilder in seinem Kopf, festzuhalten. Er betrachte die Wirklichkeit, schrieb er, als blutigen Brief, als zerstörte Geometrie, als ein Gebäude voller Geräusche, als von Fliegen übertragene Ekzeme, als Fische im Eis, als Schmetterlingskonfekt, als sprechende Postkästen, als glühende Schneckenhäuser, als einen hutförmigen Bienenkorb, als Geographie des Staubes, als Medizinfläschchen voller Lügen, als Irrtum seines Kopfes, als quälende Störmusik, als ein vergessenes Schaukelpferd, als Nashörner in den letzten Atemzügen, als die Aura eines Sonnenschirms, als stotternde Landzunge … Er las das Geschriebene, zerriss es und warf die Schnipsel in den Papierkorb. Hierauf ging er in das Arbeitszimmer, aber es war noch immer verhext von den »Mama-Mama«-Rufen, die durch die Wand zu hören waren.

Schon eine Woche zuvor hatte Philipp Artner einen Termin mit dem Leiter des Globenmuseums der Nationalbibliothek, Hofrat Wawerka, verabredet, da er darüber einen Essay für eine Zeitung schreiben wollte. Er kleidete sich daher an und ging das schmale und steile Stiegenhaus hinunter, das ihn an eine Turmtreppe erinnerte und die Vorstellung in ihm wachrief, für immer in dem gemauerten Schlund gefangen zu sein … Er brach den Gedanken ab und trat ins Freie.

Das Haus Am Heumarkt 7, das er in Wien bewohnte, war ein kasernenförmiges Bauwerk, das im Ersten Weltkrieg Conrad von Hötzendorf als k.u.k. Oberarmeekommando gedient hatte. Es bestand aus zwei großen Höfen, in denen alte Platanen und Kastanienbäume wuchsen, und aus einer unüberschaubaren Anzahl von Wohnungen, weshalb ihm die meisten Mieter nicht bekannt waren. Zu ebener Erde waren früher die Pferdeställe untergebracht gewesen, und im Gang hinter dem Tor hing eine große alte Tafel, aus der die Gliederung der Wohnungen ersichtlich sein sollte. Trotzdem verirrten sich Fahrradboten, Briefzusteller und die Klienten eines Rechtsanwaltsbüros ebenso häufig in der Anlage wie die Patienten des Zahnarztes Dr. Tuppy, den er hin und wieder selbst aufsuchte. Im zweiten Hof, der auf die Beatrixgasse hinausführte, hatte sich ein Steuerberatungsbüro niedergelassen.

Als er sich dem Tor auf der Stadtparkseite zuwandte, kam ihm die Hausmeisterin Frau Blachy entgegen, die er wegen ihrer Sucht, bösartige Gerüchte zu verbreiten, »das Monster« nannte. Er wollte ihr ausweichen, doch sie blickte ihn direkt an und ging auf ihn zu.

»In zwei Tagen beginnt der Umbau«, fuhr sie ihn grußlos an.

Er hatte schon davon gehört, dass die Anlage renoviert werden würde, blieb kurz stehen und nickte.

»Das Gebäude ist, wie Sie wissen, vor 150 Jahren errichtet worden und die Gas- und Wasserleitungen sind schon alt«, fuhr sie fort. »Das wird nicht ohne Lärm und Dreck abgehen«, schloss sie befriedigt.

Er pflichtete ihr mit einem Kehlkopflaut bei.

»Dann ist es aus mit der Ruhe«, lächelte sie schadenfroh.

Ihm fielen die »Mama«-Rufe ein, und er fragte sie, um zu einem Abschluss zu kommen, welche Hausparteien mit ihren Wohnungen an die seine grenzten. Dabei geriet er wie immer, wenn ihm etwas unangenehm war, ins Stottern.

»Warum?«, entgegnete die Hausmeisterin. Sie war neugierig geworden, und ihr Blick aus den kleinen Augen in ihrem verquollenen Gesicht bohrte sich in ihn, um aus seinem Mienenspiel zu erraten, worauf er hinauswollte.

Er hasste sich dafür, dass er ihr gegenüber eine Bemerkung gemacht hatte, stieß aber dann wie unter Zwang hervor: »Ach, ni-nichts. Aus dem Ne-Nebenzimmer ruft j-jemand nach s-seiner Mutter, und in einem a-anderen bellt ein Hund.«

Über jedes gestotterte Wort war er wütend, und noch mehr ärgerte es ihn, dass er selbst schuld an der Situation war, weshalb nur hatte er den Mund aufgemacht?

»Darüber haben sich auch schon andere Hausparteien beschwert«, sagte die Frau voll bösartiger Genugtuung. »Die Mutter von Frau Lärchner schreit ohne Unterlass ›Mama‹, wenn die Tochter nicht zu Hause ist. Aber über den Hund habe ich noch nichts gehört. Ich werde der Sache nachgehen, darauf können Sie Gift nehmen.« Ihr Gesicht verzerrte sich und drückte Eifer und Kampfeslust aus.

»N-nein«, widersprach er heftig. »Ich m-möchte n-nicht, dass Sie m-meinetwegen –«

»In der Hausordnung steht, dass Hunde keine Belästigung für die Mitbewohner sein dürfen«, belehrte sie ihn.

Er wollte einen Einwand formulieren, zog es aber dann vor, die Flucht zu ergreifen, und verabschiedete sich rasch, bevor er durch das Tor auf den Heumarkt hinauseilte.

Die breite Straße war wie immer stark befahren.

Er schlug den Weg zum Ring ein, kam am Hotel Hilton vorbei, wo ihm regelmäßig einfiel, dass sich vor einigen Jahren eine Mutter mit ihrem kleinen Kind aus dem obersten Stock gestürzt hatte. Er war eine Stunde später an der Stelle vorbeigekommen. Auf dem Asphalt waren noch die Blutflecken zu sehen gewesen und die mit Kreide gezeichneten Umrisse der beiden Körper. Polizisten waren herumgestanden, und er hatte einen von ihnen gefragt, was geschehen sei.

Er solle weitergehen, hatte dieser geantwortet, und als er trotzdem stehen geblieben war: »Eine Frau ist mit ihrem Kind in den Tod gesprungen.«

Jedes Mal, wenn ihm das einfiel, hörte er ein Geräusch in seinem Kopf, das sein Gehirn erfunden hatte: den Aufschlag der Körper auf dem Asphalt – und das Knacken von brechenden Knochen.

Wie gewohnt blieb er in der Wollzeile vor den Auslagen der Buchhandlungen stehen und las die Titel der ausgestellten Werke. Auch wenn er nur wenig Geld besessen hatte, hatte er es vorzugsweise für Bücher ausgegeben. Er konnte Büchern, von denen er sich Anregung versprach, nicht widerstehen – egal ob es sich um die Monographie eines Malers, ein Lehrbuch der Psychiatrie, einen religiösen Philosophen, einen entlegenen Schriftsteller oder die Biographie eines Komponisten handelte. Er hatte einen Drang, alles zu verstehen, der ihm aber nicht bewusst war.

Seine Leidenschaft für Bücher hatte schon in der Mittelschule begonnen und seither nie mehr nachgelassen. Inzwischen hatte seine Bibliothek ein Ausmaß angenommen, das sein Leben in der Wohnung einschränkte. Überall standen Bücherregale, die bis zur Decke reichten, und in seinen geheimen Ängsten spielte die Vorstellung eine gewichtige Rolle, dass eines Tages der Boden nachgeben und das gesamte Mobiliar seines Zimmers in das darunterliegende Stockwerk stürzen könnte. Trotzdem schränkte er sich nicht ein. Wenn er dem Wunsch, ein Buch zu kaufen, widerstanden hatte, so belästigten ihn die Gedanken daran so sehr, dass er es sich am nächsten Tag erst recht besorgte. Doch machte er sich deswegen nie Vorwürfe. Er hing an jedem einzelnen der Exemplare zu sehr, als dass er seine Abhängigkeit als Qual empfunden hätte. Natürlich kannte er die »Blendung« von Canetti, er sah in der Hauptfigur Kien aber einen Narren, da dieser nicht schöpferisch war, sondern ein konformer Spießer, wie übrigens viele Figuren des ebenso scharfsinnigen wie bösartigen Schriftstellers. Er fand, dass Heimito von Doderer in dieser Hinsicht Canetti noch übertraf. Er hatte »Die Posaunen von Jericho«, die Tagebücher, »Die Strudlhofstiege« und »Die Dämonen« mit steigender Bewunderung gelesen und von dem Schriftsteller, dem der Sadismus nicht fremd war, gelernt, sich selbst besser zu verstehen: »Der Schriftsteller ist vor allem einer, der – nichts ist«, hatte Doderer in den »Tangenten«, den Aufzeichnungen aus den Jahren 1940–1950 notiert. Philipp Artner hatte sich immer für ein Nichts gehalten und wäre am liebsten unsichtbar gewesen, um alles zu sehen, was im Verborgenen stattfand: in seiner Pubertät und Jugend die heimliche Sexualität der Erwachsenen und später, um alles zu erfahren.

Im Globenmuseum fühlte er sich wie zu Hause. Hofrat Wawerka holte ihn am Eingang ab – ein kleiner, gebückter Mann mit nach hinten gekämmten dunklen, schütteren Haaren und einer spitzen Nase, die eine Hornbrille zierte. Er sprach ebenso schnell, wie er ihm vorauseilte, und obwohl Artner ihm rasch folgte, verstand er nicht, was der Hofrat ihm sagte. Der Hofrat stellte ihm auch Fragen, ohne davon irritiert zu sein, dass sein Besucher schwieg. Die großen Räume, in denen die Globen aufbewahrt wurden, waren zum Renovieren vorbereitet und ließen Artner an seltsame Operationssäle denken. Ein Teil der Schränke war in den Raum geschoben worden und wie die Vitrinen, die an den Wänden standen, mit großen grünen Plastikplanen abgedeckt. Hofrat Wawerka verlor darüber kein Wort, sondern ließ von seinem Assistenten eine Anzahl großer, reich illustrierter Globen aus dem 16. und 17. Jahrhundert auf einem breiten Tisch in der Mitte des Saales aufstellen. Der Assistent trug weiße Handschuhe und sprach die ganze Zeit über kein einziges Wort, während der Hofrat zu jedem Prachtstück einen ausführlichen Kommentar abgab.

Artner war begeistert von der Schönheit der seltenen Globen gewesen und hatte sie sich bis in alle Einzelheiten erklären lassen. Er hatte auch das riesige Exemplar einer Weltkarte gesehen, die der Jesuit Matteo Ricci 1602 im Auftrag des chinesischen Kaisers hergestellt hatte. Mit roter Tinte waren darauf kurze Erklärungen und Transkriptionen chinesischer und mandschurischer Ortsnamen in italienischer Sprache hinzugefügt worden, die die ohnehin seltene Karte zu einem Unikat machten. Zuletzt betrachteten sie – nach anderen chinesischen Landkarten – die berühmte Himmelskarte des Johann Adam Schall von Bell, eines Jesuiten, der es bis zum Leiter des Pekinger Mathematischen Tribunals gebracht hatte.

Während der Hofrat mehr als eine Stunde mit ihm sprach, verlor sich Artner in den Einzelheiten der dargestellten Kontinente und verglich die Globen und Landkarten in Gedanken mit dem menschlichen Gehirn und den Bereichen, in denen Erinnerungen und Sprache gespeichert waren. Er dachte an die fremden Sprachen, Träume und Kopfbilder, die in allen menschlichen Gehirnen jemals gespeichert worden waren und dort ein Eigenleben geführt hatten – und hörte zuletzt nicht mehr zu, was der Hofrat ihm erzählte. Seine Gedanken schweiften zu seinem letzten Besuch in der Nationalbibliothek ab, als ihm der lebhafte Hofrat Sprenger von der Musikaliensammlung die Partitur der dritten Symphonie von Gustav Mahler gezeigt hatte. Artner hatte weder die Notenschrift noch die archivierten Briefe des Komponisten lesen können, und in seinem Kopf war alles zu einer Botschaft aus der vergangenen Zeit geworden, die, wenn man den Code entzifferte, plötzlich wieder sichtbar und hörbar werden konnte.

Inzwischen zeigte ihm der Hofrat ein selten stark beschädigtes Exemplar eines Globus. Er war zerbeult, und der Kontinent Afrika war fast zur Gänze abgewetzt, Australien überhaupt noch nicht vorhanden. Der darüber hinaus bizarr zerdrückte Globus ließ ihn wie häufig daran denken, dass die Schöpfung immer auch mit einem Zerstörungsprozess verbunden war, der alles, was existierte, wieder vernichtete – sei es durch Naturvorgänge, durch Zufälle, die mit dem Schicksal gleichgestellt wurden, oder mit Absicht. Zerstörung und Zerstörungsvorgänge waren es auch, die ihn am meisten beschäftigten und bestimmten, was er schrieb. Wie selbstverständlich hielt er Ausschau nach diesen Ereignissen in der Natur, im Privatleben von Menschen, in der Geschichte, in der Religion, in der zeitgenössischen Kunst und Literatur und nicht zuletzt in der Musik. Alle Kunstwerke, die auf ihn einen Eindruck gemacht hatten, stellten Zerstörungsvorgänge dar oder hatten mit Zerstörungsvorgängen zu tun – egal ob es sich um die Zerstörung einer Form, einer Ansicht, einer gesellschaftlichen Haltung oder eines ungeschriebenen Gesetzes handelte: die sogenannten markanten Ereignisse in der Geschichte der Menschheit und der Künste. In Geburt und Liebe erkannte er schon seit längerem den unschuldigen Anfang eines mehr oder weniger komplexen Zerstörungsvorganges. Konnte er die gleichen Vorgänge nicht auch in seinem alternden Körper beobachten, und versuchte er sie nicht mit Hilfe der Medizin zu bekämpfen?

Er bewunderte Künstler, die den Zerstörungsvorgängen Momente der Schönheit entgegensetzten und bestrebt waren, ein Universum des Schönen zu errichten. Lag nicht darin der wahre Kampf gegen den Tod und die eigentliche Größe der Menschen?, fragte er sich. Er war sich allerdings längst im Klaren, dass es sich dabei um eine Illusion handelte, wenn auch um eine grandiose.

Zu Hause dachte er weiter über den beschädigten Globus nach. Es war auffallend still. Eine Zeit lang blickte er aus dem Fenster hinunter in den Hof, in dem ein Krähenschwarm nach Nahrung suchte. Er wusste nicht, wie oft er die Krähen schon beobachtet hatte. Er hatte sogar ein Krähennotizbuch angelegt, in dem er seine Beobachtungen und die verschiedensten Analogien und Metaphern festgehalten hatte, die ihm zu den schwarzen Vögeln einfielen. Diesmal begnügte er sich damit, beim Zuschauen seinen Kopf zu leeren, an die Krähen zu denken und dabei alles Übrige zu vergessen. Vor einiger Zeit hatte er eine Eule im Baum entdeckt, die den ganzen Tag über still dort saß. Er konnte es anfangs nicht glauben, aber sein Taschenfernrohr zeigte – kein Zweifel – den bewegungslos dasitzenden Vogel. Später rief er seine Frau in Graz an, erfuhr, dass alles wie gewohnt ablief, und begann dann in einem Buch zu blättern, das er auf dem Heimweg in einem kleinen Antiquariat in der Auslage gesehen und gekauft hatte. Es war von einem Professor der Medizin, Anton Neumayr, verfasst und trug den Titel »Musik & Medizin. Band 1 – Am Beispiel der Wiener Klassik«. Das Buch, das er bereits 1980 als Patient im Rudolfiner-Spital in Manuskriptform gelesen hatte, beschrieb Leben und Sterben von Joseph Haydn, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert und Wolfgang Amadeus Mozart.

Er war damals, als er in Hamburg beim Genuss von Cashew-Nüssen einen anaphylaktischen Schock erlitten hatte, auf der Intensivstation der Universitätsklinik gelandet und noch am selben Abend, nachdem sein Magen ausgepumpt worden war, entlassen worden. Auf seiner anschließenden Heimreise war er in Wien einer Einladung zum Heurigen gefolgt und hatte dort, entgegen den ärztlichen Anweisungen, Wein getrunken und eine Schachtel Zigaretten geraucht. Noch in der Nacht hatte er einen Asthmaanfall erlitten und war am Morgen darauf in das Rudolfiner-Spital in die Abteilung von Professor Neumayr eingeliefert worden. Neumayr, ein freundlicher Herr mit breitem Lächeln, hatte ihm einen Betablocker verschrieben, der seinen Blutdruck besorgniserregend abfallen ließ, und ihm nach Stabilisierung seines Zustandes durch eine Krankenschwester ein Konvolut maschinenbeschriebenen Papiers übergeben lassen – die Urfassung des Buches, das er jetzt in Händen hielt. Damals, noch unter dem Eindruck seiner tiefen Ohnmacht in Hamburg, hatte er das Manuskript Zeile für Zeile gelesen, die minuziösen Schilderungen der Todeskrankheiten der Komponisten und die Versuche, nachträglich eine endgültige Diagnose dafür zu finden. Gegen fünf Uhr früh, als er seine Lektüre beendet und dem Professor schriftlich die Zusammenarbeit mit einem Lektor empfohlen hatte, war er aus dem Krankenhaus geflohen. Sein Nachbar hatte noch tief geschlafen, und als er auf den Gang hinausgetreten war, hatte ihn eine erschrockene Ärztin, die den Nachtdienst versehen und gerade einen frisch Eingelieferten betreut hatte, vergeblich zum Bleiben zu überreden versucht und anschließend genötigt, einen Revers zu unterschreiben.

Im gedruckten Buch zu blättern war jetzt etwas ganz anderes. Er begann gerade über die Todeskrankheit von Wolfgang Amadeus Mozart zu lesen, da setzten die »Mama-Mama«-Rufe in der Nachbarwohnung wieder ein. Zuerst ignorierte er sie, aber kurz darauf las er nicht mehr weiter, sondern lauschte gebannt, ohne an etwas anderes denken zu können. Da es sinnlos war, mit der Lektüre fortzufahren, schlug er die Steckalben mit seinen Japan-Fotografien auf.

Das Land und die Menschen hatten ihn auf seiner acht Jahre zurückliegenden Japanreise so sehr bewegt, dass er vierzig Filme mit seiner damals noch analogen Nikon-Spiegelreflexkamera verbraucht hatte. Jede Nacht hatte er außerdem bis in die frühen Morgenstunden Aufzeichnungen gemacht und dabei mehrere schwarze Moleskine-Notizbücher vollgeschrieben. Was er auf Reisen festhielt, verwendete er zumeist als Material für daraus entstehende Romane, die auf seinen zufälligen Wahrnehmungen, Begegnungen und Ereignissen aufbauten. Später dachte er sich den Grundriss einer Geschichte aus, die das Gewebe der festgehaltenen Eindrücke und Erinnerungen durchdringen und sich in ihnen auflösen sollte, wie es den Erfahrungen seines Lebens, das keine Geschichten erzählte, entsprach. Er sah anstelle von Geschichten immer nur eine Summe von Momenten, aus denen das Gehirn später Geschichten konstruierte. Daher spürte er vor allem Augenblicken nach, die er selbst erlebt hatte und die ihm daher glaubwürdiger erschienen. Trotzdem verwandelte sich beim Schreiben alles in Erfindung, da er sich dann nur von der Sprache, den Wörtern, Sätzen und seiner Phantasie, die das Material umdeuteten, leiten ließ. Natürlich schied er vieles von den Notizen und Fotografien aus und fügte neue Einfälle und Gedanken hinzu, bis sich schließlich etwas Literarisches daraus entwickelte und ein Eigenleben gewann. Nachdem er die Bilder überflogen und dabei die Gedanken an die Abgründe einer Schreibsperre, einer lähmenden Sprachlosigkeit, verdrängt und sich auch die Frage gestellt hatte, wie weit sein beeinträchtigtes Gehör die Krähenlaute und die »Mama-Mama!«-Rufe verfälscht oder nur fragmentarisch wiedergegeben hatte, legte er die Alben zur Seite und schloss die Augen. Dadurch hörte er aber die »Mama-Mama«-Rufe umso deutlicher, sie erschienen ihm jetzt so geheimnisvoll wie die Laute der Krähen hinter dem Fenster im Hof.

Als er die Lider wieder öffnete, kam ihm der Einfall, mit seinem CD-Player Musik zu machen, die die Rufe übertönen würde. Er suchte eine Auswahl von Antonio Vivaldi heraus, legte die kleine Silberscheibe auf den Teller, und schon nach den ersten Takten hatte er den Eindruck, dass die Rufe verstummt waren. Während der gesamten Spielzeit war es dann wirklich still, und auch nach Ende des Konzerts regte sich nichts auf der anderen Seite der Wand. Die Stille beschämte ihn jetzt, da er die Hilfe-Rufe nur als Belästigung verstanden hatte. Er legte die »Vier Jahreszeiten« auf, und nachdem auch dabei nichts aus der Nebenwohnung zu hören gewesen war, hatte er in dem Buch von Neumayr weitergelesen. Gerade als er aufstehen wollte, um die nächste CD abzuspielen, läutete es an der Tür. Draußen stand die Frau, die die Wohnung unter ihm bewohnte und sich häufig über tatsächlichen oder eingebildeten Lärm beklagte. Zumeist fühlte sie sich durch seinen Fernsehapparat gestört, wogegen sie regelrecht rebelliert hatte, dann waren es das Radio oder der CD-Player gewesen und schließlich seine Schritte, die sie durch die Decke ihres Wohn- und Schlafzimmers hörte. Sie hatte ihn aufgeregt angerufen oder Zettel mit Beschwerden durch den Postschlitz eingeworfen, auch ein kleines Päckchen mit Filzpantoffeln vor die Tür gelegt und am Ende persönlich um Ruhe ersucht. Das geschah an Wochenenden sogar während des Tages und an den Wochentagen in der Regel erst am späteren Abend. Einmal konnte sie, wie sie sagte, nicht einschlafen, dann nicht arbeiten, da sie zu Hause wissenschaftliche Artikel über chemische Probleme schrieb. Anfangs hatte er, der solche Beschwerden nicht gewohnt war, ihre Reklamationen ernst genommen und Abhilfe versprochen, hatte sich Kopfhörer für den Fernsehapparat gekauft und Turnschuhe angezogen, doch stellte sich allmählich heraus, dass sie jede Lärmbelästigung – von welcher Seite auch immer sie kam – auf ihn bezog. Vergeblich versuchte er ihr zu erklären, dass er gerade nicht ferngesehen oder gar mit der Blockflöte geübt habe, da er weder eine solche besitze noch darauf spielen könne – sie beschwerte sich trotzdem weiter. Dann wieder war es wochenlang so, als ob niemand unter ihm wohne und die Frau verreist, verzogen oder in einem Krankenhaus war, bis sie sich eines Tages wieder am Telefon meldete und ihm weinerlich-zornig ihr Leid klagte.

Diesmal war ihr die Musik zu laut, wie sie sogleich hervorstieß und dabei durch den Spalt der Türe zu spähen trachtete. Sie trug einen hellblauen Morgenmantel aus Frotté, Tennisschuhe und war außer sich.

»Ich liege Amok«, fuhr sie ihn an. Sie versuche heute früher zu schlafen, da sie morgen um fünf Uhr aufstehen müsse, aber die Musik dringe in all ihre Poren. Letzten Sommer, als er in der Südsteiermark gewesen sei, habe sie eine Zwischendecke einziehen lassen, da jeder seiner Schritte in ihrem Kopf dröhne. Aber selbst das helfe nicht. Wenn sich seine Frau allein in der Wohnung aufhalte, sei es hingegen still, nur …

Das tue ihm leid, unterbrach er sie wütend, aber er könne ihr nicht helfen, sie tyrannisiere ihn nun schon seit – er fing wieder zu stottern an.

»Sie? Ihn?«, unterbrach sie ihn aufgebracht. Der Lärm, den er verursache, mache sie verrückt – sie könne nicht mehr denken, nicht mehr atmen, sie ersticke –

»Tut mir leid«, stieß er noch einmal hervor und machte langsam die Türe zu. Er blieb im Vorzimmer stehen und hörte noch, wie sie klappernd die Stiegen hinunterging und aus Zorn ihre Wohnungstür ins Schloss warf.

Aufgewühlt kehrte er in sein Arbeitszimmer zurück, in dem keine »Mama«-Rufe zu hören waren, obwohl die Musik verstummt war. Er blätterte daher abwesend weiter in dem japanischen Vogelbuch auf seinem Schreibtisch und betrachtete flüchtig die Bilder und Schriftzeichen. »Stille Musik«, dachte er. Doch immer wieder schweiften seine Gedanken ab zu der Frau, die hinter der Wand verstummt war. Wer war sie? Wie ging es ihr? War sie eingeschlafen oder am Ende gestorben? Und gleichzeitig dachte er auch an die Bewohnerin unter ihm, die sein Schuldbewusstsein geweckt hatte. Auch im Schlafzimmer, das er später aufsuchte, blieb es still. Nur einmal in der Nacht vermeinte er den Hund gedämpft bellen zu hören, aber er konnte sich auch getäuscht haben.

 

Er hatte einen Traum, der sich in unregelmäßigen Abständen wiederholte, seit er eine Geschichte über den Wiener Stephansdom geschrieben hatte und dabei den Glockenturm hatte hinaufsteigen müssen. Nach der Türmerstube, die er über einen schmalen, steilen Treppengang erreicht hatte, hatte ihn der Baupolier weiter hinauf über wippende, schwankende, fast senkrecht gestellte Leitern bis zum berühmten »Angstloch« geführt, einer Öffnung, durch die üblicherweise die Dachdecker auf die Turmspitze stiegen. Hinter dem »Angstloch« befand sich ein schmaler Vorbau von der Größe eines Speisetischchens, auf den er hinausgekrochen war und liegend fast 150 Meter hinunter auf den Platz geschaut hatte. Die Menschen und Fahrzeuge waren winzige Punkte und Striche gewesen, und da er seit seiner Kindheit unter panischer Höhenangst litt, war ihm sofort übel geworden. Seine Hände schwitzten, sein Herz hämmerte, und die Übelkeit, die er bereits beim Erklettern der Leitern gespürt hatte, wurde so stark, dass er krampfhaft dagegen ankämpfte, sich zu übergeben. Das Schauerlichste aber war die Sogwirkung gewesen, die die Tiefe auf ihn ausübte, eine Sogwirkung, die seinen Fluchtgedanken entgegenwirkte und ihn lähmte, weshalb er liegen blieb und sich nicht mehr bewegte, bis der Polier ihn schließlich, da er auf nichts mehr reagierte, an den Füßen wieder in den Turm hineinzog. Der gesamte Abstieg über die Leitern war dann begleitet von einer albtraumhaften Todesangst. Immer wieder hatte er den Eindruck, er würde im nächsten Augenblick die Sprossen loslassen und in den Abgrund fallen. In seinen Träumen fanden diese Stürze auch regelmäßig statt. Zumeist lag er nach einer Verfolgung durch unsichtbare Kräfte auf dem abbrechenden Vorbau des Angstlochs, worauf er, begleitet von Übelkeit und heftigem Schwindel, endlos lang in die Tiefe stürzte. Oder er kletterte die schwankenden Leitern hinunter, die plötzlich zusammenbrachen oder umstürzten und ihn mit in die Schwärze hinunterrissen.

 

Am Morgen schreckte er aus dem Schlaf hoch, er glaubte, irgendetwas sei in sein Zimmer eingedrungen … Gleich darauf hörte er es an der Tür läuten. Benommen schlüpfte er in den Morgenmantel, in der Meinung, der Briefträger stelle ihm ein eingeschriebenes Päckchen zu – es war aber eine unbekannte Frau, die vor der Tür stand. Ohne Gruß und ohne ihren Namen zu nennen, fuhr sie ihn an, weshalb er sich bei der Hausmeisterin beschwert habe … Sie betreue ihre Mutter, die an Alzheimer leide, seit Beginn ihrer Erkrankung, aber sie müsse selbst zur Arbeit gehen und diese dann allein lassen. In ihrer Abwesenheit könne es vorkommen, dass die alte Frau nach ihrer Mama rufe, womit aber sie selbst, ihre Tochter, gemeint sei … Sie sei enttäuscht, dass er nicht zuvor mit ihr gesprochen habe, fuhr sie fort und fordere ihn auf, ihr zu sagen, weshalb er gleich zur Hausmeisterin Blachy gegangen sei.

Die aufgeregte, dickliche Frau mit dem kurzgeschnittenen Haar und der großen Hornbrille, der nachlässigen Kleidung und dem forschen Gehabe erinnerte ihn in ihrem Auftreten und Aussehen an andere unangenehme Begegnungen in seinem Leben, und Widerstand regte sich in ihm. Anstelle einer Antwort gab er zurück, dass er sich bei der Hausmeisterin nicht beschwert, sondern sie im Laufe eines Gesprächs gefragt habe, wer die Nachbarin sei, die da offenbar einsam nach ihrer Mama rufe. Er schreibe nämlich in dem angrenzenden Raum und könne sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren. Der letzte Satz tat ihm schon leid, als er ihn erst zur Hälfte ausgesprochen hatte.

Die Frau, die er auf etwa fünfzig Jahre schätzte und wegen ihrer Hässlichkeit neugierig betrachtete, gab aufsässig zurück, er müsse sich wohl bei Frau Blachy beschwert haben –

»Nein!«, unterbrach er sie heftig, »i-i-ich habe I-I-Ihnen schon gesagt, dass i-i-ich m-m-mit ihr ein Gespräch geführt habe, weil es mich gequält hat, nicht zu wissen, was in der N-N-Nebenwohnung vor sich geht!«

Die Antwort schien die Frau zu beruhigen, denn plötzlich wurde sie freundlich.

»Ach so«, entschuldigte sie sich, »ich habe die Worte von Frau Blachy wohl nicht richtig verstanden, oder sie hat aus Bosheit Ihre Worte verdreht … Jedenfalls, es tut mir leid, dass ich sie geweckt habe, aber ich muss ins Gymnasium zum Unterricht und habe es eilig.«

Als er das Arbeitszimmer betrat, war es halb acht Uhr morgens und die »Mama-Mama«-Rufe waren bereits zu hören. Ihm fiel ein, dass die Nachbarin unter ihm schon um fünf Uhr hatte aufstehen wollen, und er legte beruhigt Mozarts »Zauberflöte« auf. Schon nach dem ersten Takt der Ouvertüre wurde es still, und er rief seine Mutter, die in Graz lebte, an, um sich, wie üblich, nach ihrem Befinden zu erkundigen. Zumeist machte er das einmal in der Woche. Sie war seit dem Tod seines Vaters, eines Richters, vor mehr als zwei Jahren Witwe, und vielleicht weil sie selbst Zahnarzthelferin gewesen war, sprach sie stets ausführlich über ihre Beschwerden. Sie klagte über Herzrhythmusstörungen in der Nacht, die sie mit Akupunktur behandeln lasse. Schon bei den letzten Telefonaten hatte er ihr von der chinesischen Ärztin abgeraten, die ihn wegen seiner Rücken- und Bandscheibenbeschwerden mit Akupunktur behandelt hatte. Die Akupunktur selbst hatte ihm nicht geholfen, aber er hatte sich die weiße Hartgummifigur gekauft, die die chinesische Ärztin auf dem Schreibtisch stehen gehabt hatte und auf der alle Punkte eingezeichnet und mit fremden Buchstaben versehen waren, die ihm damals wie geheime Formeln für ein magisches Ritual erschienen waren. Während er seiner Mutter zuhörte, betrachtete er die Akupunktur-Punkte und Zeichen auf der Figur und hörte mit einem Ohr der Musik zu. Seine Mutter unterbrach ihre Klagen plötzlich und fragte ihn, was für eine Musik er spiele? »Ja, die Zauberflöte«, sagte sie dann … »Es kam mir gleich bekannt vor …« Während sie weitersprach, überlegte er, ihr von den »Mama«-Rufen aus der Nebenwohnung zu erzählen, doch wusste er, dass sie ängstlich war und die Geschichte am Ende auf sich beziehen würde, als Bestätigung und Beweis, dass es ihr bald ähnlich ergehen würde. Bei diesem Gedanken erschrak er, denn ihre Herzbeschwerden hatten sich nach dem Tod ihres Mannes, den sie sehr geliebt hatte, noch verschlimmert. Er fragte sie daher nach ihrem letzten Arztbesuch und legte ihr einen Internisten ans Herz. Sie könne ja einen Termin mit ihm vereinbaren und sich dann erst in einem Vorgespräch entscheiden, ob sie sich tatsächlich von ihm behandeln lassen wolle.

 

Nach dem Telefonat las Artner das Kapitel über Krankheit und Tod von Wolfgang Amadeus Mozart weiter. Ihm fiel jetzt auf, dass er sich für die Frau in der Nebenwohnung verantwortlich fühlte und deshalb in seinem Arbeitszimmer saß, CDs auflegte und gleichzeitig versuchte, in Gedanken aus der Situation auszubrechen. In diesem Augenblick ertönte Arbeitslärm aus dem Hof. Es schien ausgeschlossen, dass er heute auch nur eine Zeile schreiben würde. In einem plötzlichen Entschluss legte er eine Aufnahme der Cello-Partiten von Johann Sebastian Bach in den Player – eine Aufnahme mit Heinrich Schiff – und kleidete sich an.

Im Mantel eilte er hinaus in das winterliche Wien. Wie immer zog es ihn zum Donaukanal hinunter. Er gelangte zuerst zur Aspernbrücke, hielt kurz vor der Sternwarte an, um in die Auslagen zu blicken, und stieg dann die Treppen hinunter zum Wasser. Wenn er am Kanal entlang flanierte und die quälenden Momente des Schreibens hinter sich ließ, war er erleichtert. Er ging gegen die Strömung und nahm sich vor, erst am Nußdorfer Wehr umzukehren. Das schmutzig-braune Wasser, an dem er dahinspazierte, erinnerte ihn an den Gedankenfluss, an Worte und Sätze, die er schrieb, und die Spiegelungen darin – der Himmel, die Wolken, Gebäude, Bäume und Sträucher – an das innere Sehen, das mit seinem Schreiben verbunden war. Er fing an, sich Notizen zu machen – für einen noch unbekannten Zweck oder auch keinen. Es genügte ihm, einfach »Material« herzustellen. Hin und wieder blieb er vor den bunten, von unbekannten Jugendlichen gesprayten Graffitis stehen und betrachtete sie genauer. Das eine oder andere versuchte er auch in Beschreibungen festzuhalten. Ein Kahn, der von einem Feuerwehrmann mit verchromtem Helm gesteuert wurde, glitt vorbei. Seine Spiegelung auf der Wasseroberfläche faszinierte Artner, und er blickte ihm nach, bis sich das reflektierte Bild aufgelöst hatte. Immer wieder schossen Radfahrer an ihm vorbei. Da er die von hinten kommenden nicht hören konnte, hasste er sie mit jedem seiner Spaziergänge mehr. Er verstaute das Notizbuch und den Stift und zog beides nach einigen Schritten wieder heraus, um eine neue Einzelheit der Umgebung, ein kleines Ereignis oder einen Gedanken festzuhalten. Manchmal überkam ihn der Wunsch weiterzugehen, sich um nichts zu kümmern und alles hinter sich zu lassen. Auch diesmal gab er diesem Drang nach. Er sah einen Möwenschwarm, aus einem hohen Schlot stieg Rauch auf. Obwohl nichts geschah, musste er in der Abgeschiedenheit des Kanalufers, die besonders in den Außenbezirken spürbar wurde, an Gewalt denken, an Gefahr und Verbrechen. Die Gedanken wurden durch immer neue Wahrnehmungen angeregt und beschäftigten jetzt pausenlos seinen Kopf.

Am Nußdorfer Wehr sah er die bronzenen Löwen auf der Brücke über seinem Kopf. Der Kanal war hier zu Ende, weshalb Artner in der Weite des Donauufers seinen Weg fortsetzte. Zuerst erreichte er die rostigen Flussschiffe, die, mit Seilen festgebunden, vor den Anlegestellen lagen. Sie sahen aus wie seltsame schwimmende Schrebergartenhäuschen, die jemand ausgegraben und ins Wasser geworfen hatte, dachte er. Weiter vorne stand ein verlassener Eisenbahnwagon, der im Sommer als Buffet diente, denn er war in hellen Farben – rot und weiß – bemalt und trug ein Schild mit der Aufschrift Riviera-Bar. Die Fenster waren mit Kartons verdeckt, ebenso die Türen. Über ein schwankendes Brett verließ ein Mann vor ihm gerade einen der großen Kähne. Er kam direkt auf ihn zu und fragte ihn, eine Zigarette in der Hand, in gebrochenem Deutsch, ob er ihm Feuer geben könne. Niemand sonst war zu sehen, und da sein Gehirn noch immer voll war mit Verbrechen und Gewalt, schüttelte er nur den Kopf. Er nahm auch die Alkoholfahne seines Gegenübers wahr und machte sich abrupt davon, wobei er angestrengt lauschte, ob der Fremde ihm folgte. Voller Unruhe drehte er sich um und stellte fest, dass der Mann jetzt am Ufer stand und in den Fluss pisste. Bis Klosterneuburg begegnete er niemandem mehr.

Endlich stieg er über eine gemauerte Treppe vom Ufer zurück auf die Straße. Er wusste nicht, wie spät es war, aber er hatte keine Lust, auf die Uhr zu schauen. Sicher war es schon Mittag geworden – es war nur seltsam, dass er keinen Hunger verspürte. Das riesige Kloster auf der Anhöhe ließ ihn sogleich an die einstige Macht der Kirche denken. Als er den Hauptplatz mit den Geschäften erreichte, kam ihm die Idee, bis nach Gugging zur psychiatrischen Klinik weiterzuwandern, den Großteil der Strecke hatte er ja bereits hinter sich, und vielleicht würde sich dort eine Gelegenheit ergeben, mit einem der Pfleger oder dem Leiter des »Hauses der Künstler« nach Wien zurückzufahren. Er suchte das »Haus der Künstler« mehrmals im Jahr auf, weil dort auch in seiner Anwesenheit weiter gezeichnet und weiter gemalt wurde und er die Bilder und die Patienten dadurch besser verstand. Mit den Künstlern verband ihn eine wenn auch lose Freundschaft. Natürlich gelang es ihm nicht, ihr Unbewusstes zu entziffern, wie dem legendären Primarius Navratil, der einigen seiner Künstler Monographien und Studien gewidmet hatte. Es ging ihm vielmehr um die Erfahrungen, die er dort machte, das Zwischenmenschliche, die Gespräche, die er zu den Bildern in Beziehung setzte. Er war sich schon seit der Zeit in der Mittelschule darüber im Klaren, dass alle Menschen nur einen Ausschnitt aus dem Spektrum der Licht- und Schallwellen sahen und hörten, dass Insekten, Fledermäuse, Vögel, Fische die Welt und die Zeit anders wahrnahmen – warum sollte es sich bei den sogenannten Geisteskranken nicht auch um eine Verschiebung der Wahrnehmung und des Denkens handeln, die nur nicht in diese Welt passte? Die Vorstellung hatte für ihn etwas Religiöses. Und während er dahinschritt und noch ganz betäubt vom Gehen am Ufer des Kanals und des Flusses war, kam ihm neuerlich der Gedanke, der ihn seit geraumer Zeit beschäftigte: einfach zu verschwinden, sich in Luft aufzulösen. Es erschien ihm als ein geradezu poetischer Akt, sozusagen im Leben zu sterben und im Leben ein Weiterleben nach dem Tod zu erfahren. Das erste Leben abzuschließen und das zweite Leben als Jenseits aufzufassen. Das ähnelte dem Schicksal von Migranten, fiel ihm ein, die in einem fremden Land manchmal ein neues Leben mit neuen Namen und neuer Herkunft begannen. Allerdings war ihm bewusst, wie schwierig das war – trug man das alte Leben doch im Kopf mit sich und ganz gewiss noch die alte Sprache, die zwar verdorren konnte, aber nie gänzlich abstarb.

Maskierte Kinder kamen ihm lärmend entgegen, eines mit einer Osama-bin-Laden-Maske, eines als Vampir Dracula und eines mit Kapitänsmütze und aufgeklebtem Bart, dessen Vorbild wohl die Fischstäbchenwerbung von Iglo war. Sie warfen Konfetti auf ihn und stoben lachend davon. Er hatte ganz vergessen, dass heute Faschingsdienstag war, obwohl seine Frau zu ihrer Schwester und ihren Neffen und Nichten nach Graz gefahren war, um mit ihnen gemeinsam zu feiern. Waren nicht auch schon auf dem Hauptplatz von Klosterneuburg und in den Straßen, durch die er gegangen war, Geschäfte und Auslagen mit bunten Papierschlangen und Lampions geschmückt gewesen? Er hatte offenbar alles übersehen. Weitere Kinder kamen ihm entgegen, während er zwischen den Villen auf dem Gehsteig dahinflanierte. Als ihn die ersten angeheiterten maskierten Erwachsenen vom Gehsteig drängten und Scherze mit ihm treiben wollten, wechselte er die Straßenseite. Das machte er von da an immer, wenn er von weitem eine Menschengruppe sah. Zweimal fuhren auch Umzugswagen an ihm vorüber, der eine stellte einen Gastgarten mit trinkenden Bauern dar, die zu ihm hinunterschrien und rülpsten, auf dem anderen spielte eine Blasmusikkapelle in Tracht. Er wechselte in Kierling neuerlich die Straßenseite, um näher am Sterbehaus Franz Kafkas vorbeizugehen, und erreichte kurz darauf die Portiersloge der psychiatrischen Klinik. Das »Haus der Künstler« lag auf einer kleinen Anhöhe, zu der er sich, jetzt schon ermüdet, mit schweren Schritten aufmachte. Ein Hubschrauber flog über ihn hinweg, und Artner blieb kurz stehen, um ihm nachzuschauen, bis er verschwunden war.

Im »Haus der Künstler« war es wie immer: Der Tag, die Zeit verflüchtigten sich dort langsam und lautlos. Nur dass heute die Patienten maskiert waren. Trotzdem erkannte er sie an ihrem Verhalten, der Körpergröße oder dem Haar. Dadurch wurde ihre Verkleidung in seinen Augen doppelt grotesk. Er sank auf einen Stuhl, sein Körper schmerzte ihn. »Jeder Muskel«, dachte er. Eine Pflegerin und ein Pfleger begrüßten ihn. Der Doktor, sagten sie, sei besetzt, aber sobald er seine Angelegenheiten erledigt hätte, würde er ihn empfangen.

Ein Künstler-Patient, Florian, den er wegen seiner mit einem Bleistift auf Zeichenpapier schraffierten Gegenstände, die geheimnisvolle Schattenwesen zu sein schienen, besonders schätzte, hockte auf der Sitzbank neben dem Fenster und starrte auf den Boden. Wie auch die Übrigen trug er seine Hauskleidung – einen Trainingsanzug –, aber dazu hatte er einen großen Piratenhut aufgesetzt, dessen gewellter Rand mit einer breiten weißen Federschlange gesäumt und dessen Krempe mit einem Goldfaden bestickt war. Sein Gesicht war bemalt: ein geschwungener und an den Seiten aufgezwirbelter Schnurrbart über blau geschminkten Lippen, schwarz nachgezogene Augenbrauen und eine Narbe an der Wange. Er trug eine unglückliche Miene zur Schau, als gehe ihm etwas gegen den Strich. Ein anderer hatte eine Kapuze aus langem schwarzen Kunsthaar auf dem Kopf, die unter dem Kinn in einen falschen Bart auslief. Sein Gesicht hatte er mit einer riesigen Kunststoffbrille, einer Gumminase und einem aufgeklebten Schnurrbart maskiert – auf Philipp machte er den Eindruck eines Kindes, das aus einem Buch zu ihm herausgestiegen war. Sein rotes T-Shirt war mit Filzstift vollgekritzelt – vielleicht wollte er den Eindruck eines Waldmenschen erwecken, der Schrecken hervorrief, dachte Artner. Niemand sprach … Weder der Cowboy mit Hut, Gürtel, Halfter und Kapselrevolver noch Robin Hood mit grünem Federhut und einem Spielzeugbogen um die Schulter oder der Koch mit weißer Mütze und Schürze und einer lachenden Oliver-Hardy-Maske vor dem Gesicht. Nur der Patient Rudolf, der seinen Vater, einen Förster, mit dem Jagdgewehr erschossen hatte und seither stumm auf dem Gang rauchte, hatte sich nicht verkleidet. Er malte auf ein Blatt in mehreren Reihen immer die gleichen Gegenstände: eine Brille, eine Gladiole, einen Würfel, einen Hut. Wie gewohnt stürmte Johann, der beredtste der zwölf Insassen, aus seinem Schlafraum, dessen Wände bis auf den kleinsten Fleck mit seinen eigenen gerahmten Zeichnungen vollgepflastert waren, erkannte ihn und flüsterte ihm zu, ob er ihm nicht in sein Zimmer folgen könne … Wie nicht anders zu erwarten, bat er ihn dort um Geld. Zugleich zeigte er ihm ein mit weißer Farbe bemaltes und mit schwarzen Schriftzeichen versehenes Brettchen von der Größe einer Spielkarte und bot es ihm zum Kauf an. Artner versuchte die Schrift zu entziffern, aber er konnte nur verschiedene Vornamen zwischen unbekannten Wörtern lesen. Nachdem der Handel abgeschlossen war, zeigte Johann ihm erleichtert seine Verkleidung: Er trug eine Weste, darunter ein weißes T-Shirt und um den Hals ein großes Kreuz, das ihm auf der Brust baumelte und ihm das Aussehen eines Pfarrers verlieh. Er holte aus einer Lade eine obszöne Gumminase heraus, die einem erigierten Penis glich, und einen weißen Cowboy-Hut mit Sheriffstern. Er stülpte ihn sich auf den Kopf und verlangte von Artner, so fotografiert zu werden. Artner holte sein iPhone aus der Jackentasche und machte zwei Aufnahmen mit Blitzlicht. Währenddessen fragte ihn Johann in seiner hektischen, vom Dialekt gefärbten Sprechweise, ob er müde sei. Artner erklärte ihm, dass er von Wien zu Fuß nach Gugging in das »Haus der Künstler« gekommen sei – »Von Wien?«, unterbrach ihn Johann. »Wirklich? Von Wien? Wirklich? Von Wien? Do miassns oba schen miad sein, net, schen miad, miad!«

Wie üblich gab ihm Artner noch Zigarettengeld, worauf Johann als Sheriff mit der obszönen Gumminase im Gesicht davonstürmte, um sich in der Kantine, die bei den Patienten »Caféhaus« hieß, Zigaretten zu kaufen. Gleich darauf trat Artner auf den Gang hinaus, sah, dass das an allen Wänden und an der Decke bemalte Zimmer des Patienten-Künstlers Kaspar leer war, und nahm dort auf dem Stuhl hinter dem Zeichentisch Platz. Er war so erschöpft, dass er kaum noch stehen konnte. Der transportable Fernseher lief, aber der Ton war ausgeschaltet. Kaspar hatte seine selbsterfundene Mythologie in bunten, großen, ineinander übergehenden Bildern festgehalten und sein Krankenzimmer so zu einer Kapelle des Wahns gemacht – zugleich Herr und Knecht seiner Götter, Dämonen, Teufel und Halbengel –, dazwischen hatte er die Türme der Kirche von Klosterneuburg gemalt, kleine Flugzeuge, Gestirne, politische Zeichen wie Hammer und Sichel, das Hakenkreuz oder Abkürzungen von politischen Parteien, die Donau, ein Schiff und anderes – nichts weniger als eine topographische Karte seines Unbewussten, wie Artner dachte.

Vor Müdigkeit fielen ihm die Augen zu, und er wusste zwischendurch nicht, ob er schon eingeschlafen oder noch wach war. Als er seine Augen öffnete, stand der massige, glatzköpfige Kaspar vor der von ihm bemalten Tür und blickte ihn mit einem Gemisch aus Schrecken, Irritation und Abscheu an. Sofort stand Artner auf und entschuldigte sich bei ihm. Ihm fiel nichts Besseres ein, als den Kugelschreiber aus der Brusttasche seiner Jacke zu nehmen und ihm in die Hände zu drücken. »Das ist für Sie!«, sagte er dabei. Kaspars Gesicht nahm den Ausdruck von Freude und zugleich Gekränktsein an, den er längst kannte. Er trug keine Maske, offenbar wollte er nicht am Faschingstreiben teilnehmen.

Inzwischen trat unversehens der Leiter des »Hauses der Künstler«, Dr. Schiemer, der mit einer Winterjacke bekleidet war, an ihn heran und fragte, ob er etwas für ihn tun könne.

Artner stellte ihm die Gegenfrage, ob er nach Wien fahre, und als der Psychiater bejahte, bat er darum, ihn mitzunehmen.

Sie fuhren langsam den Hügel hinunter, und Artner erklärte dem Doktor, dass er zu Fuß an der Donau entlang und über Klosterneuburg nach Gugging gegangen sei. Der Arzt wollte sogleich wissen, weshalb er das gemacht habe.

Artner log ihn an, dass er habe wissen wollen, wie die Patienten im »Haus der Künstler« den Faschingsdienstag feierten, und dass er, weil er dabei besser nachdenken könne, zu Fuß gegangen sei.

»Wir nennen sie nicht Patienten«, widersprach ihm Dr. Schiemer, »sondern Klienten, um nicht ihre künstlerischen Leistungen herabzusetzen.«

Auf der Weiterfahrt sprachen sie über die Verkleidungen und die Masken der Klienten, und Dr. Schiemer meinte, dass seine Künstler genauso wie andere Künstler und alle anderen Menschen in ihrer eigenen Welt lebten. Es käme wohl nur darauf an, dass jemand im Alltag die Regeln der Normalität einhalte – was immer das auch sei. Jeder, der fähig sei, seinen Hass, seine Begierden und falschen Vorstellungen hinter der Fassade der sogenannten »Anständigkeit« zu verbergen, könne intrigieren, denunzieren, lügen, im Geheimen Gewalt ausüben – also seine Gemeinheit ausleben –, ohne jemals mit einem Psychiater in Berührung zu kommen.

 

Die »Mama-Mama«-Rufe weckten ihn. Er wollte sogleich wissen, wie spät es war – neun Uhr abends, stellte er fest. Was war geschehen? Er rappelte sich auf, und ihm fiel ein, dass die alte Frau vielleicht wieder allein zu Hause im Bett lag, weil die Tochter ausgegangen war. Automatisch stand er auf und begab sich zum CD-Player, wo er diesmal »Für Alina« von Arvo Pärt auflegte. Wie erwartet wurde es augenblicklich still. Er dachte an einen Embryo, der in der Fruchtblase zu strampeln anfing und von der Mutter mit sanften Worten beruhigt wurde. Ohne lange nachzudenken, fing er an zu schreiben. Er suchte nicht wie üblich nach einem ersten Wort, einem ersten Satz, sondern ging seiner Intuition nach. Die Methode ähnelte einem Komponisten, der Geräusche mit Tönen verband, nur fügte er stattdessen verschiedene Erinnerungsfragmente zusammen. Ihm fiel jetzt ein, wie er in Rom den Vatikan besichtigt und dort den alten Landkartensaal betreten hatte, auf dessen Wänden die verschiedenen Erdteile in leuchtenden Farben aufgemalt gewesen waren. Er hatte das Gefühl gehabt, sich im Inneren eines riesigen, durchsichtigen Globus zu befinden, als ein erkennendes, aber machtloses Wesen, ein Käfer, der nichts von alldem begriff, was um ihn war. Gleich darauf fielen ihm die Bilderbücher ein, die er als Kind bei Nacht mit Hilfe einer Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen und angeschaut hatte, und ein Aufenthalt in einem fensterlosen Kellerzimmer des Goethe-Instituts in Kyoto. Er hatte in der Dunkelheit befürchtet, in den Händen eines Riesenwesens gefangen zu sein, das ihn töten wollte. Die Erinnerung daran war so stark, dass er aus Erschöpfung wieder einschlief.

Als er wieder die Augen öffnete, glaubte er, inzwischen das Bewusstsein verloren zu haben. Dann stellte er fest, dass er sich im Wasser der Donau befand … Hatte er die ganze Zeit über, nachdem er die Treppe in Klosterneuburg hinaufgestiegen war, nur geträumt? Er spürte keine Kälte, das Wasser war braun und sonnendurchschienen … Jetzt war er davon überzeugt, dass es die Donau war … Vor allem wunderte er sich, dass er unter der Oberfläche schwebte … Eine Kommode stieg vom Boden auf, ein alter Polsterstuhl, ein Kinderroller, Teller, Besteck, ein Tischtuch, gerahmte Bilder, Teile eines Matador-Baukastens, eine Puppe. Er verstand nichts, bis er entdeckte, dass sich Gegenstände unter einer Holzdecke über ihm angesammelt hatten, und er ahnte, dass er sich auf einem gesunkenen Schiff befand. Plötzlich erkannte er die Gegenstände, die noch immer vom Boden aufstiegen, wieder – sie hatten ihm gehört, und augenblicklich befiel ihn Angst. Zuerst waren es Bücher … eines, dann schwebte noch eines nach oben, dann fünf, zehn, hundert. Sie trieben in die Höhe und sammelten sich unter der Decke ebenso wie die anderen Gegenstände. Er spürte, wie ihm die Luft knapp wurde, sein Herz heftig pochte und ein feines Klingen in den Ohren allmählich zu einem betäubenden Geräusch wurde. Um nicht weiter leiden zu müssen, entschloss er sich, das Wasser in tiefen Zügen einzuatmen.

 

Er schrak auf. Draußen war es hell geworden. Noch immer lag er auf dem Kanapee seines Arbeitszimmers und registrierte verwirrt, dass ein Pressluftbohrer im unteren Stockwerk lärmte, Motorengeräusche und Stimmen aus dem Hof zu vernehmen waren, Rufe und die dumpfen Geräusche von Holz, das auf Holz fiel. Er erhob sich, blickte aus dem Fenster, sah, dass im Hof Lastwagen und andere Fahrzeuge aus- und einfuhren und Männer Bestandteile von Baugerüsten abluden. Andere errichteten einen Außenlift oder standen über Pläne gebeugt zusammen und besprachen sich. Ratlos verharrte er, doch war er sich darüber im Klaren, dass er den weiter anwachsenden Lärm nicht ertragen würde. Inzwischen fiel ihm auf, dass auch die Krähen verschwunden waren und mit ihnen ihr Knarren und Krächzen, das sonst von den Mauern des Hofes noch verstärkt wurde. Er zog die Stoffrollos herunter und las, was er am Vorabend notiert hatte, korrigierte es und zerriss es schließlich. Dann ließ er die beschriebenen Papierschnitzel auf den Parkettboden fallen und starrte sie an. Sie kamen ihm jetzt vor wie zersprungene Sprache. Die zerrissenen Wörter und Buchstaben waren ein Bild seiner geheimen Furcht vor dem Verlust der Fähigkeit, ein Manuskript zu schreiben, vor einer Schreibblockade, wie dieser Tod eines Schriftstellers genannt wird. Er setzte sich auf einen Stuhl und hörte den Baulärm mit großer Eindringlichkeit. Die Papierschnitzel lagen noch immer auf dem Boden. Er kramte kurz in seinen Manuskripten und stieß auf die Seiten seines letzten Buches, die er vor dem Druck ausgesondert hatte, und zerriss sie ebenfalls. Wie beschriebene Schneeflocken, dachte er, als sie zu Boden schwebten. Immer mehr Seiten zerriss er und noch mehr, schließlich sprang er auf und schlüpfte in Schuhe und Mantel.

Die Arbeiter im Haus und im Hof schienen das gesamte Gebäude gleich einem Wespenschwarm in Besitz genommen zu haben. Sie kümmerten sich nicht um ihn, als er an ihnen vorbeiging. Er schlug zuerst den Weg zum Schwarzenbergplatz ein. Unterwegs entschloss er sich aber, die Kärntner Straße aufzusuchen, um unter Menschen zu sein. In einer Buchhandlung erstand er einen Band über Globen, den er für seinen Essay benötigte, da er dem Hofrat nur unaufmerksam zugehört hatte. Dabei entdeckte er einen Katalog des Malers Richard Gerstl, den er ebenfalls einpacken ließ. Wenn er in einer schwierigen Lage war, kaufte er sich besonders häufig Bücher und achtete dabei zu wenig auf das Geld, das er dafür ausgab. Er setzte sich am Albertinaplatz in das Café Tirolerhof, bestellte ein kleines Gulasch und ein Glas Bier und schlug dann das Buch über Richard Gerstl auf, dessen Bilder er kannte und von dem er wusste, dass er der Liebhaber der Ehefrau des Komponisten Schönberg gewesen war. Nachdem der charismatische und starke Schönberg seine Frau Mathilde unter Druck gesetzt hatte, das Verhältnis zu beenden, und hierauf den jungen Maler aus seinem Kreis verbannt hatte, hatte dieser sich in der Nacht vom 4. auf den 5. November 1908 in seinem Atelier in der Liechtensteinstraße 20 erhängt. Der Selbstmord des damals gerade 25 Jahre alten Künstlers zog ihn an, denn er spürte selbst immer wieder den Wunsch, »aus dem Leben zu scheiden«, wie man diesen Tod im Allgemeinen umschrieb. Zuerst betrachtete er das »Selbstbildnis vor blauem Hintergrund«, eines seiner Lieblingsbilder, das er als Postkarte unter den Papieren auf seinem Schreibtisch wusste. Gerstl hatte sich darauf wie vor dem Jüngsten Gericht gemalt: mit nacktem Oberkörper, die Hüften von einem weißen Tuch umgeben, die Arme herabhängend. Der Kopf mit kurzgeschorenem Haar war vor allem wegen der Augen, des Blicks, der einen zugleich musterte und durchbohrte, auffällig. Es war ein zeitgenössisch-zeitloses Gesicht, das aus der Aura verschiedener Blaus herausleuchtete, und je länger er das Selbstportrait betrachtete, desto mehr war er davon überzeugt, dass es etwas mit dem Jenseits zu tun hatte. Gerstl hatte, wie aus dem Buch hervorging, das »Selbstbildnis in der Hölle« von Edvard Munch gekannt, das zehn Jahre früher entstanden war und den norwegischen Künstler bis zum Geschlecht nackt vor einem undefinierbaren Dunkel und Hell zeigte. Philipp kannte nur das »Selbstportrait mit Zigarette« Munchs, welches ihm beim ersten Mal, als er es gesehen hatte, wie eine Geistererscheinung vorgekommen war. Gerstls Selbstportrait hingegen kam mehr aus dem Unbewussten als dem Malerischen, glaubte er. Wie Munch hatte auch Gerstl zahlreiche Selbstbildnisse gemalt, jedes vierte seiner Bilder stellte ihn selbst dar: Das »Fragment eines lachenden Selbstbildnisses in ganzer Figur« auf der Rückseite des »Bildnis von Alexander von Zemlinsky« zum Beispiel hatte Artner im Wissen um Gerstls Selbstmord verstört, denn der junge Künstler hatte sich lachend, wie beim Fotografiertwerden, dargestellt. Das Gesicht wies auf der linken Hälfte einen dunkelblauen Farbfleck von der Stirn bis zum Kinn auf – wie eine Narbe, ein Ausschlag oder getrocknetes Blut. Die rechte Körperhälfte war gänzlich weggeschnitten. Er las, dass Gerstl seinen farbgetränkten Pinsel im eigenen Antlitz leer gestrichen habe – »eine Autoaggression, die wie eine Vorahnung des späteren Selbstmordes« anmutete, hieß es. Der Hintergrund des Bildes war dunkelbraun und schien in das Nichts überzugehen. Artner betrachtete den Katalog jetzt wie das Protokoll eines tödlichen Zerstörungsvorgangs. Zunächst widmete er sich den weiteren Selbstdarstellungen. Gerstls vier Selbstportraits mit Feder und Tusche auf Papier, alle aus feinen Punkten und Strichen zusammengesetzt, hatten etwas Okkultistisches … Er überblätterte rasch die weiteren Seiten bis zu einem wüsten »Selbstbildnis als Akt in ganzer Figur«, in dem der nackte Körper und das Geschlecht dominierten. Der Raum war irreal blau, reine Malerei, in dem ein großer Spiegel als »abstraktes Gemälde« im Hintergrund zu sehen war. Doch stellte das Bild keinen metaphysischen Raum dar, in dem ein Künstler erschien, sondern einen nackten Körper – eines Kranken, Süchtigen, Verlorenen, der alles hinter sich gelassen hatte und den Weg ins Nichts antrat.

1

Lange starrte er die beiden verwandten Bilder an: Auf dem späteren hatte Gerstl die Unschuld und Scham, die auf dem ersten noch sichtbar gewesen waren, verloren. Sein Haar war gewachsen, aber die größte Verwandlung war mit den Augen vor sich gegangen. Der früher wache, spöttische und zugleich neugierig durchdringende Blick war jetzt abwesend, in sich gekehrt, und der Künstler hatte die Augen mit einem Farbschleier bedeckt, wie um einen Ausdruck der Verwunderung und etwas wie Selbstverachtung sichtbar zu machen. Der Nasenrücken glänzte, es hatte den Anschein, als sei Gerstl zuvor gestürzt oder habe sich selbst mit der Faust geschlagen.

Es war früher Nachmittag geworden, und er hatte begonnen, »Gspritzte«, Weißwein mit Sodawasser, zu trinken. Er betrachtete jetzt – durch die gedämpfte Stille im Café und den Alkohol schon müde geworden – die weiteren Bilder Gerstls: »Die Familie« vom Sommer 1907 und das »Gruppenbildnis Schönberg« aus demselben Jahr. Wie alte Farbfotografien Spuren eines chemischen Umwandlungsprozesses aufweisen, wie alte Porzellanvasen mit Sprüngen überzogen sind, Ölbilder von Craqueluren, wie Blätter sich im Herbst verfärben, Wolken zerfallen, Blut trocknet, wie Erinnerungen ein Eigenleben beginnen, Nahrungsmittel verfaulen, alte Eisenbahnschienen verrosten, wie Löwenzahnkugeln sich auflösen, Wasser verdampft und gefriert, der Tag zur Nacht wird und die Nacht wieder zum Tag, wie aus Müllhaufen Erde entsteht, wie Abfall vermodert, wie sich alles verwandelt und verändert, so hatte Gerstl die »Familie Schönberg« und das »Gruppenbildnis« gemalt: Gemälde, die Vergehen und Entstehen festhielten, die Loslösung von Erwartungen und Konventionen, die Auslöschung von Sinn- und Nutzdenken, archaische Bilder aus der Dunkelkammer des Kopfes und der Energie freigesetzter Farben. Mit diesen Bildern hatte Gerstl seine Welt festgehalten, aus der er bereits zu flüchten begonnen hatte. Während Artner das Café verließ, fragte er sich, was ihn so sehr an Gerstls Bildern beschäftigte, doch eigentlich wollte er es gar nicht wissen.

 

Als er den Hof betrat, verließen die Arbeiter gerade das Haus. Es waren in der Mehrzahl Migranten, die sich lebhaft und scherzend in ihrer jeweiligen Landessprache unterhielten, dabei jedoch alle von der gleichen Eile getrieben waren. Unmittelbar darauf wurde es still. Die Gerüste reichten jetzt schon fast bis zu seinem Fenster im zweiten Stock hinauf und waren mit grünen Staubnetzen verhängt, er konnte also voraussehen, was auf ihn zukam. Eine Schuttrutsche aus Blech war installiert worden, über die die abgeschlagenen und herausgebohrten Mauerteile in den Hof geschafft werden sollten, ebenso hatte man Betonmischmaschinen und mehrere Holztröge aufgestellt. Einige hohe Bretterstapel und eiserne Gerüstteile waren an den Mauern aufgeschichtet. Im Gang war der Schutt nur zur Seite gekehrt, und er floh zuletzt, mehr als er ging, in seine Wohnung. Dort empfingen ihn die »Mama-Mama«-Rufe wie etwas Vertrautes. Die Papierschnitzel lagen noch immer auf dem Boden. Er eilte besorgt zu seinem CD-Player und legte Schönbergs Quartette auf, die fast augenblicklich die gewünschte Wirkung hervorriefen. Nachdem er sich umgezogen hatte, suchte er den Katalog »Arnold Schönberg. Das bildnerische Werk« heraus und verglich die Abbildungen mit den Arbeiten Gerstls. Schönberg selbst hatte ja behauptet, wusste er, dass er Gerstl beeinflusst habe, mit der üblichen Malweise zu brechen, denn Gerstl selbst habe ihm, nachdem dieser die malerischen Versuche des Komponisten gesehen habe, gesagt, dass er, Schönberg, ihm die Augen geöffnet habe. Andererseits gab es Zeugen, die umgekehrt von Gerstls Einfluss auf Schönberg sprachen. Zweifellos waren Schönbergs Bilder dilettantisch, sie erschienen ihm wie eine unfreiwillige Vorwegnahme des »Bad Paintings«, zugleich schülerhaft talentiert wie kühn, mitunter auch lächerlich, doch auf eine vertrackte Weise anregend.