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Unter den philosophischen Disziplinen ist die Metaphysik die älteste. Ihre Bedeutung war in vormoderner Zeit so groß, dass sie nachgerade mit der Philosophie überhaupt gleichgesetzt wurde. Nur wer Metaphysik betrieb, konnte nach älterem Verständnis den Anspruch erheben, als Philosoph ernst genommen zu werden. In zweitausend Jahren Philosophiegeschichte haben sich zahlreiche große philosophische Systeme herausgebildet, die wir als »metaphysisch« klassifizieren würden. Ob der Ursprung des Terminus »Metaphysik« tatsächlich auf den Zufall zurückgeht, dass Andronikos von Rhodos (1. Jh. v. Chr.) beim Redigieren der Werke des Aristoteles vierzehn Bücher unter dem Titel meta ta physika (hinter den Büchern über die Physik) zusammenfasste, oder ob dies in den Bereich der Legende gehört – die beiden Grundpfeiler metaphysischen Denkens, Ontologie und natürliche Theologie, finden sich bereits in der aristotelischen Schrift gleichen Namens. Gleichzeitig ist die Geschichte der Metaphysik auch eine der Infragestellung ihrer Gewissheiten: bereits in der Antike durch den Skeptizismus, im 18. Jahrhundert durch den Bruch, der eine dogmatische Metaphysik fortan unmöglich machte, sowie durch die sich anschließende erkenntnistheoretische Wende. In einem materialreichen, gleichwohl von leichter Hand geschriebenen Durchgang durch die Philosophiegeschichte von den milesischen Naturphilosophen bis Heidegger und Sartre stellt der Autor in drei großen Kapiteln die klassische Metaphysik dar, wie sie im vormodernen, im mittelalterlichen Denken und in der Moderne seit der Frühen Neuzeit und dann seit der Aufklärung, insbesondere seit Kant, betrieben wurde. Eine Besonderheit des auch als Nachschlagewerk zu gebrauchenden Bandes ist sein ausführliches Glossar metaphysischer Grundbegriffe mit Erläuterungen und Literaturhinweisen.
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Seitenzahl: 1180
Veröffentlichungsjahr: 2018
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Norbert Schneider
Von denVorsokratikernbis Sartre
Bibliographische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation inder Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographischeDaten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar.eISBN (PDF) 978-3-7873-3432-2eISBN (ePub) 978-3-7873-3593-0
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Kleiner Vorspann
ANTIKE METAPHYSIK
Vom Mythos zu den Anfängen einer Reflexion über den Kosmos
a) Die milesischen Naturphilosophen
b) Pythagoras und seine Anhänger
c) Xenophanes
d) Parmenides
e) Heraklit
f) Empedokles
g) Anaxagoras
h) Demokrit
Platon
a) Die sokratische Phase
b) Die entfaltete platonische Ideenlehre
Aristoteles
a) Die Metaphysik
b) Die aristotelische Kritik der Ideenlehre Platons
c) Form und Materie bei Aristoteles
d) Potenzialität und Aktualität
e) Die aristotelische „Theologie“
Die Metaphysik der Stoiker
Metaphysikkritik des Skeptizismus
Plotin und der Neuplatonismus
a) Rückkehr zur Metaphysik
b) Plotins Lehre von dem „Einen“
c) Die Stufenfolge des Seienden
Gnosis und Frühes Christentum
Der Manichäismus
MITTELALTERLICHE METAPHYSIK
Augustin
a) (Neu-)Platonisches bei Augustin
b) Zeitlichkeit, Seele, freier Wille
Die Mystische Theologie des Pseudo-Dionysius Areopagita
Der frühmittelalterliche Universalienstreit
a) Der frühe Begriffsrealismus
b) Roscelin von Compiègne
c) Die drei Positionen im Universalienstreit
d) Kleiner Exkurs: Avicenna
Anselm von Canterbury
Albertus Magnus
Thomas von Aquin
Duns Scotus
Wilhelm von Ockham
Nikolaus von Kues
METAPHYSIK DER FRÜHEN NEUZEIT VOM RENAISSANCE-HUMANISMUS BIS KANT
Marsilio Ficino
a) Gemistos Plethon und der Einfluss des Neuplatonismus
b) Theologia Platonica
Giordano Bruno
a) Biographisches
b) Pantheismus und Naturmystik
c) Gott als die Monas
Francis Bacon
a) Der Empirismus als erste methodische Offensive gegen die scholastische Metaphysik
b) Das „Novum Organum“
c) Bacons Idolenlehre
Thomas Hobbes
a) Ein weiterer Angriff auf die traditionelle Metaphysik: Hobbes’ mechanistischer Materialismus
b) Nominalismus
c) Lehre vom Körper und der Bewegung
d) Theorie des Willens
e) Atheist oder Theist?
René Descartes
a) Die Konstruktion einer rationalistischen Metaphysik
b) Biographisches
c) Der erkenntnistheoretische Unterbau der cartesianischen Metaphysik
d) Formulierung methodischer Regeln
e) Vom Cogito zur Gottesgewissheit
f) Descartes’ Ideen- und Substanzenlehre
g) Tiere als Maschinen
h) Der Okkasionalismus
Benedictus de Spinoza
a) Zu Spinozas Biographie
b) Aufbau einer Metaphysik aus dem Geist der Geometrie
c) Gott als einzige Substanz
d) Lehre von den Attributen und Modi
e) Determinismus
Gottfried Wilhelm Leibniz
a) Dynamik und Harmonie: Weiterentwicklung der Metaphysik
b) Rationalismus versus Empirismus
c) Die „Théodicée“
d) Die Grundgedanken der „Monadologie“
Metaphysik im Umkreis und in der Nachfolge von Leibniz
a) Ehrenfried Walther von Tschirnhaus
b) Christian Wolff
c) Alexander Gottlieb Baumgarten
d) Georg Friedrich Meier
John Locke
a) Erkenntnistheoretische Versuche einer Metaphysiküberwindung
b) Alle Ideen stammen aus der Erfahrung
c) Einfache und komplexe Ideen
d) Substanzen, Modi und Relationen
George Berkeley
a) Revision von Lockes These der „primären Qualitäten“
b) Spiritualismus und Nominalismus
David Hume
a) Skeptizismus
b) Weiterentwicklung des Empirismus
c) Assoziationsgesetze
d) Kritik der Kausalitätslehren
Französischer Sensualismus und Materialismus
a) Die Rezeption der Locke’schen Thesen in Frankreich
b) Étienne Bonnot de Condillac
c) Julien Offray de La Mettrie
METAPHYSIK DER KLASSISCHEN DEUTSCHEN PHILOSOPHIE
Immanuel Kant. Kritizismus als Versuch einer Überwindung der vormodernen Metaphysik
a) Biographisches
b) Erste Beschäftigungen mit Problemen der Metaphysik
c) Prinzipien und Thesen des Kant’schen Kritizismus
d) Urteile und Kategorien
e) Kants Kritik von rationaler Psychologie, Kosmologie und Theologie
f) Postulate der reinen praktischen Vernunft: Unsterblichkeit, Freiheit und das Dasein Gottes
Kants Transzendentalphilosophie in der Diskussion seiner Zeit
a) Karl Leonhard Reinhold
b) Jacob Sigismund Beck
c) Salomon Maimon
d) Gottlob Ernst Schulze (Aenesidemus)
e) Jacob Friedrich Fries
f) Friedrich Heinrich Jacobi
Johann Gottlieb Fichte
a) Biographisches
b) Die Wissenschaftslehre
c) Das triadische Modell der Dialektik
d) Die politische Dimension der Ich-Philosophie
Friedrich Wilhelm Joseph Schelling
a) Abgrenzung von Fichte
b) Zur Biographie Schellings
c) Grundgedanken der Naturphilosophie Schellings
d) Schellings System des transzendentalen Idealismus
e) Die Rolle der Kunst im Rahmen der Transzendentalphilosophie
Georg Wilhelm Friedrich Hegel
a) Hegel und Schelling
b) Die „Phänomenologie des Geistes“
c) Zu Hegels Biographie
d) Die „Wissenschaft der Logik“
e) Zu Hegels Philosophie des Geistes
f) Abschließender Exkurs zu Hegels Naturphilosophie
METAPHYSIK IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT
Arthur Schopenhauer
a) Aversion gegen Hegel
b) Zu Schopenhauers Biographie
c) Schopenhauers Metaphysik
Die Metaphysik Johann Friedrich Herbarts
Nachhegelianische Religionskritik und Ideologiekritik des metaphysischen Denkens
a) David Friedrich Strauss
b) Ludwig Feuerbach
c) Religions- und Metaphysikkritik bei Karl Marx und Friedrich Engels
Rudolf Hermann LotzeVersuch einer „induktiven Metaphysik“
Auguste ComtePositivismus als Überwindung der Metaphysik
a) Comte und Saint-Simon
b) Das Dreistadiengesetz
c) Das theologische Stadium
d) Das metaphysische Stadium
e) Positivismus als neue Religion
Metaphysikkritik im Zeichen von „Vulgärmaterialismus“ und Monismus
a) Carl Vogt
b) Jacob Moleschott
c) Ludwig Büchner
d) Ernst Haeckel
Neospiritualistische und panvitalistische Metaphysik in Frankreich
a) Émile Boutroux
b) Henri Bergson
Friedrich NietzscheImmoralismus und Kritik des metaphysischen Denkens
a) Zur Biographie Nietzsches
b) Zu Nietzsches Schriften
c) Hauptmomente von Nietzsches Metaphysikkritik
d) Metaphysik und Metaphysisches in der Sicht Nietzsches
Auferstehung der Metaphysik, Erneuerung der Ontologie
a) Peter Wust
b) Nicolai Hartmann
Martin HeideggerFundamentalontologie und Frage nach dem „Wesen der Metaphysik“
a) Die Grundfrage: Was ist Metaphysik?
b) Das nichtende Nichts
c) Sorge und Angst
d) Von der Phänomenologie zur Fundamentalontologie
e) Dasein als Seiendes, das je wir selbst sind
f) Verstehen
g) Stimmung und Befindlichkeit
h) Vorhandenes und Zuhandenes
i) Das Sein des Daseins als Sorge
j) Angst und Zeitlichkeit – Sein zum Tode
k) Eigentlichkeit versus ‚Das Man‘
l) Denken und Wahrheit in Heideggers späteren Schriften
Jean-Paul Sartres phänomenologische Ontologie
a) Heidegger, Husserl und Hegel als Anreger
b) Pour-soi und En-soi
c) Nichts und Nichtung
d) Sartres Freiheitsbegriff
Kleiner Nachspann
Glossar
Allgemeine Literaturhinweise
Nachwort
Unter den philosophischen Disziplinen ist die Metaphysik die älteste.1 Ihre Bedeutung war in vormoderner Zeit so groß, dass sie nachgerade mit der Philosophie überhaupt gleichgesetzt wurde. Nur wer Metaphysik betrieb, konnte nach älterem Verständnis den Anspruch erheben, als Philosoph ernst genommen zu werden, und diesen Anspruch hatte selbst noch Immanuel Kant, der „Alleszermalmer“, vor Augen, der nur vermeintlich, wie es die an ihn sich anschließenden Richtungen vielfach suggerierten, auch der Metaphysik hatte den Garaus machen wollen. In seinen Vorlesungen über Metaphysik hatte Kant notiert: „Was den Namen Metaphysik anbetrifft, so ist nicht zu glauben, dass derselbe von ohngefähr entstanden, weil er so genau mit der Wissenschaft selbst passt …“2 („Wissenschaft“ bedeutete für Kant natürlich noch dasselbe wie „Philosophie“.) Allein schon die Titel diverser Schriften Kants zeigen an,3 dass er seine kritische Philosophie lediglich als ein vorbereitendes Durchgangsstadium zu einer neu zu errichtenden Metaphysik ansah. So schrieb er: „Die Metaphysik ist ohne Zweifel die schwerste unter allen menschlichen Einsichten; allein es ist noch niemals eine geschrieben worden. Die Aufgabe der Akademie zeigt, daß man Ursache habe, sich nach dem Wege zu erkundigen, auf welchem man sie allererst zu suchen gedenkt.“4 Dieses Zitat dokumentiert hinlänglich den Bruch, der sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts vollzogen hatte: Weiterhin unbeirrt eine dogmatische Metaphysik zu schreiben, bei der die Verfasser sich einredeten, zu wissen, was in letzter Instanz die objektiven Gesetze der Wirklichkeit bzw. des Seins seien, schien kaum mehr möglich.
Immerhin waren bis zu diesem Zeitpunkt weit mehr als zweitausend Jahre vergangen, innerhalb derer sich große philosophische Systeme von nachhaltiger Wirkung herausgebildet hatten, die wir als „metaphysisch“ klassifizieren würden. Was dürfen wir vorläufig als die wichtigsten Definitionsmerkmale der Metaphysik (als philosophischer Gattung) herausstellen? Allgemein nähert man sich dem Begriff gern über seine Quasi-Etymologie. Es wird traditionell darauf hingewiesen, dass der Terminus zunächst eher ein Zufallsprodukt war. Beim Redigieren der Werke des Aristoteles habe Andronikos von Rhodos (1. Jh. v. Chr.) vierzehn Bücher unter dem Titel meta ta physika zusammengefasst, da sie bibliothekarisch hinter den Büchern über die Physik eingeordnet waren. Man habe aber sehr schnell erkannt, dass dies auch in einem metaphorischen Sinne aufgefasst werden könne, da der Inhalt dieses Werks tatsächlich etwas behandelte, was „hinter der Natur“ angesiedelt sei, also über die Erkenntnis der Naturgesetze hinausgehe. Ob diese Geschichte nun zutrifft oder nicht – es ist viel darüber geschrieben worden –, so lässt sich doch das, was Metaphysik definiere, aus dem durchaus vielschichtigen und aspektreichen Konzept der aristotelischen Schrift dieses Namens herausdeduzieren. Aristoteles selbst hat sie als protē philosophía, gelegentlich sogar als sophia (Weisheit) bezeichnet, dann ihr aber auch den Titel theologia gegeben. Daraus ist bereits zu ersehen, dass die Gotteslehre, zumindest früher, einen Hauptaspekt der Metaphysik abgedeckt hat, freilich nicht, wie bei der Religion und ihren kultischen Einrichtungen, als dogmatische Glaubenslehre. Vielmehr lässt sich für die Antike, näherhin: für die griechische Philosophie, bei der Gotteslehre ein tendenziell säkularisierendes Moment ausmachen, da es ihr darum ging zu erklären, wie die Welt, der Kosmos, entstanden ist; woraus die Welt besteht und wohin sie sich mit welchem Ziel entwickelt, nicht zuletzt aber auch: wer sie ins Werk gesetzt hat und gegebenenfalls immer noch in ihre Verfasstheit und Prozesse eingreift.
Die Struktur des Kosmos zu bestimmen, sein Sein zu erfassen, war seit alters Aufgabe der Ontologie, und so können wir also vorderhand „natürliche Theologie“ und Ontologie als die beiden wichtigsten Grundpfeiler der älteren Metaphysik bestimmen. In ihr ist noch nicht vollzogen, was die meisten philosophischen Systeme der Neuzeit charakterisiert: die radikale Wende zu einer erkenntnistheoretischen Grundlegung. Zwar wird über Erkenntnis (epistēmē) in der antiken Philosophie fortwährend reflektiert, doch noch nicht in dem Sinne einer Isolierung eines epistemologischen Denkansatzes. Ausnahmen bilden hier gelegentliche Vorstöße in den Lehren der Sophisten, z.B. bei Protagoras und Gorgias, oder Formen des Skeptizismus, wie sie sich etwa bei den Epikureern oder bei Pyrrhon von Elis (um 362 – um 270 v. Chr.) finden. Hier wird ansatzweise die Selbstgewissheit destruiert, mit der sonst über Weltentstehungsmodelle oder die Beschaffenheit der Wirklichkeit geurteilt wurde.
1 Den Versuch eines systematischen Aufrisses von Problemen der Metaphysik sowie ihrer zentralen Begriffe findet man im Glossar unter dem Eintrag „Metaphysik“ (S. 509 ff.).
2 Max Heinze: Vorlesungen Kants über Metaphysik aus drei Semestern. Leipzig 1893, S. 666. Lesenswert ist die lange editorische Einleitung Heinzes.
3 Kant: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können. Riga 1783; Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Riga 1785. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (= erster selbständiger Teil der Metaphysik der Sitten, erschienen Königsberg 1797); Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. Riga 1786.
4 Kant: Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral 1 § 4, in: Sämmtliche Werke. Hg. v. Gustav Hartenstein. Leipzig 1868, Bd. 6, S. 126. Siehe auch Dietmar H. Heidemann: Kants Vermögensmetaphysik, in: Andree Hahmann/Bernd Ludwig, Hg.: Über die Fortschritte der kritischen Metaphysik. Beiträge zu System und Architektonik der kantischen Philosophie. Hamburg 2017, S. 59–78, hier S. 65.
Die Anfänge des metaphysischen Denkens lassen sich nur undeutlich bestimmen. An der Westküste Kleinasiens, in Milet, später auch in Unteritalien und Sizilien sowie auf Mittelmeerinseln, haben sich nach der antiken Überlieferung im 6. Jh. v. Chr. erstmals Modelle herausgebildet, die sich von mythologischen und religiösen Formen der Weltdeutung lösten. Man geht davon aus, dass über den lebhaften Warenaustausch mit dem Orient und den dort schon weit früher ausgebildeten „Weisheiten“ Ideen in die Griechisch sprechende Sphäre eindrangen. Über diesen Verkehr zwischen dem Orient und Griechenland sind wir gut über die Aufzeichnungen des ältesten Geschichtsschreibers, Herodot, unterrichtet. Bei Homer, dem Verfasser von Ilias und Odyssee, ist noch keine entmythologisierte Weltentstehungslehre erkennbar. In seinem polytheistischen Weltbild agieren noch ganz selbstverständlich die Götter und Heroen unter den Menschen.
Über diesen sagenhaften Sänger wissen wir nur wenig: Ob er tatsächlich nur eine einzelne Person war oder sich hinter seinem Namen nicht doch mehrere Sänger verbargen, deren Werk später vereinheitlicht und redigiert wurde, ist bis heute strittig. Die Entstehung seiner Epen wird nach neuerer Auffassung in Kleinasien situiert; diskutiert werden u.a. Smyrna und Kolophon. Man geht davon aus, dass sie entweder im 9. oder aber im 13. Jh., zur Zeit des Trojanischen Krieges, verfasst wurden. Anders als bei Homer sieht es bereits bei Hesiod aus, der in seinen Werken und Tagen (Erga kai hemerai) eine erste Theogonie schuf.1 Zwar operierte auch er noch mit dem mythologischen Personal, aber er schien sich, Hans Leisegang zufolge, deutlich gegen Homer wenden zu wollen, als er schrieb (bzw. durch die Musen sagen ließ): „Viel Erdichtetes sprechen wir wohl, das Wirklichem gleichet, / Aber wir künden euch auch, so wir wollen, lautere Wahrheit“.2 Dieser Satz, in dem der „Wahrheit“ (alētheia) eine so signifikante Rolle zugesprochen wird, wird allgemein als „erster Keim“ eines „Drangs nach Ordnung, Überblick, Systematik im Hinblick auf die den Menschen umgebenden, ihn bedrängenden und ihn fördernden Mächte der Erde und des Himmels“ interpretiert.3 Bei Hesiod taucht erstmals der Gedanke einer Entwicklung auf, und zwar nicht nur im Hinblick auf die Entstehung der Welt (Kosmogonie) und die Herkunft der Götter (Theogonie), sondern auch in der Frage nach der Schöpfung des Menschen und seinem Schicksal. Bezeichnend ist in Erga kai hemerai der Prometheusmythos, der bei Hesiod durchaus eine pessimistische Komponente hat, denn auf dem Menschen, dem schöpferischen Menschen, ruht ein Fluch: das Unheil von Mühe und Arbeit, das sich für Hesiod im geschichtsmythischen Eisernen Zeitalter ausgebreitet hat, so dass an die selige Welt des Goldenen Zeitalters nur noch eine sehnsuchtsvolle Erinnerung blieb.
Vorformen ersten philosophischen – metaphysischen – Denkens hat man schon seit dem 19. Jahrhundert, etwa bei Nietzsche oder Erwin Rohde4, in den eleusinischen Mysterien, im Dionysoskult und schließlich in der Orphik gesehen.5 In letzterer habe sich, so die These, in der sagenhaften Gestalt des thrakischen Heros und Sängers Orpheus eine Ablösung vom Dionysosdienst vollzogen, die mit einer Vergeistigung einherging. Sie wird besonders bemerkbar bei dem Mythographen Pherekydes von Syros (6. Jh. v. Chr.) sowie bei Theagenes und Akusilaos, bei denen das Bestreben sichtbar wird, „die Gottheiten von ihrer anthropomorphen Auffassung zu befreien und in Weltenmächte aufzulösen. Für sie ist Zeus die das All durchflutende Kraft.“6 Laut Diogenes Laertios (Vitae philosophorum I, 119)7 hat Pherekydes in seiner Theo-Kosmogonie von drei Urgottheiten gesprochen: Zas (Zeus), Chronos („Zeit“) und Chthonie (die „Irdische“). „Chronos erzeugte […] die Elemente: Feuer, Luft und Wasser und verteilte diese in die ‚fünf Winkel‘ der Welt. Daraus wiederum ging eine zweite Generation von Göttern hervor, die mit jenen Weltregionen verbunden sind und die anschließend für Zas und Chthonie eine glanzvolle Hochzeit ausrichten. Bei ihrer Verbindung überreicht Zas seiner Frau einen ‚Brautmantel‘, in den die Ordnung des Kosmos eingewebt ist, und Chthonie ‚wird‘ daraufhin erst zur wahren ‚Erde‘ (Gê) und zum tragenden ‚Weltbaum‘, der durch alle Dimensionen reicht, indem er in der Unterwelt wurzelt und sein Geäst bis in den Himmel erstreckt.“8
Von solchen noch an Götterhandeln gebundenen kosmogonischen Vorstellungen machte man sich erstmals im 6. Jh. in der milesischen Naturphilosophie frei. Das kleinasiatische Milet, südlich vom heutigen Izmir gelegen, war eine der bedeutendsten Handelsstädte der Antike.9 Es besaß den wichtigsten Umschlaghafen für den Handel mit dem Orient. Die Stadt, die zahlreiche Kolonien bis zum Schwarzen Meer gründete, war nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch so dominant, dass sie über längere Zeit die Seeherrschaft über die Ägäis ausübte. Mit dem Warenverkehr ging ein reger intellektueller Austausch einher, namentlich mit Ägypten. Einer der ersten großen Naturphilosophen war Thales, von dem man nur wenig weiß, aber immerhin doch so viel, dass er Handelsreisen nach Phönizien und Ägypten unternommen hat. Von den Ägyptern erlernte er die Methoden der Himmelskunde, die er seinerseits noch verbesserte. Eine Sonnenfinsternis, vermutlich die des Jahres 586 v. Chr., soll er aufgrund exakter Berechnung vorausgesagt haben. Aristoteles hat Thales in seiner Metaphysik (I, 3) explizit als Begründer einer Philosophie bezeichnet, die rational nach dem Urgrund (arché) der Dinge gefragt habe: „Thales, der erste Vertreter dieser Richtung philosophischer Untersuchung, bezeichnet als solches Prinzip das Wasser. Auch das Land, lehrte er deshalb, ruhe auf dem Wasser. Den Anlaß zu dieser Ansicht bot ihm wohl die Beobachtung, daß die Nahrung aller Wesen feucht ist, daß die Wärme selber daraus entsteht und davon lebt; woraus aber jegliches wird, das ist das Prinzip von allem. War dies der eine Anlaß zu seiner Ansicht, so war ein andrer wohl der Umstand, daß die Samen aller Wesen von feuchter Beschaffenheit sind, das Wasser aber das Prinzip für die Natur des Feuchten ausmacht.“10
Man hat die Theorie des Thales, von der selbst schon Aristoteles nichts Schriftliches als verlässliche Quelle mehr vorlag, als Hylozoismus bezeichnet, als Lehre von der Stoffbelebung. Dies gründet sich darauf, dass bei Thales noch Restformen polytheistischen Denkens existierten, etwa wenn er behauptete (oder: behauptet haben soll), dass der Kosmos „voll von Dämonen“ sei. Das darf man sich wahrscheinlich aber nicht so vorstellen, als habe er an Geister im Sinne von Gespenstern geglaubt. Vielmehr haben wir es beim antik-griechischen Begriff des „Dämons“ (daímōn) mehr mit einem Zwischenwesen zwischen konkret vorstellbarer Gottheit und halbwegs abstrakt aufzufassenden Kräften zu tun, die die Welt beseelend durchdringen. Auch bei Xenokrates findet man diese Vorstellung; ebenso noch bei den Stoikern.11
Mit Astronomie hatte sich gleichfalls Anaximander (610–547 v. Chr.) intensiv befasst, der zweite der jonischen Naturphilosophen.12 Von ihm ist überliefert, dass er eine Erdtafel sowie eine Himmelskugel geschaffen und darüber hinaus eine Schrift Über die Natur (Perì physeos) verfasst habe, von der aber nichts erhalten blieb. Man hat es als einen Fortschritt gegenüber Thales’ „materialistischer“, weil auf einen Stoff rekurrierender Welterklärungstheorie gewertet, dass Anaximander nicht mehr ein sinnliches Element, sondern, wie man zunächst einmal denken mag, eine geistige Entität als Urgrund angab. Er nannte es apeiron, das Unbestimmte.13 In dem Wort steckt etymologisch griech. péras, die Grenze. Also ist apeiron das Grenzenlose, das durch nichts Eingeschränkte. Das lässt antizipativ schon an spätere Vorstellungen des Absoluten denken, welches immer der philosophische Terminus für Gott war. Aber ob Anaximanders Begriff tatsächlich theistisch gemeint war, steht erst einmal dahin, ja es wird sich auch nicht mehr verifizieren lassen. Und es ist keineswegs ausgemacht, dass Anaximander tatsächlich etwas Geistiges im Auge hatte; vielmehr kann er auch an Quantitatives gedacht haben, zumal aus diesem apeiron durch Aussonderung physische Gegebenheiten hervorgingen wie das Kalte und Warme, das Flüssige, schließlich auch die Luft und eine alles umgebende Feuerkugel, die dann barst und Ringe bildete: die kosmischen Sphären mit Sonne, Mond und Sternen. Folgt man der späten Quelle des (Pseudo-)Plutarch, hat Anaximander sogar eine Art Deszendenztheorie entwickelt, eine Lehre von der Entstehung der Tiere, deren Ursprung er im Meere suchte (was heutigen Theorien erstaunlich nahekommt!), und er hat darüber hinaus noch die These vertreten, dass die Menschen einst aus Tieren entstanden seien.14
Als Rückschritt gegenüber Anaximander wurde es gedeutet, dass der dritte Milesier, Anaximenes (ca. 588–524 v. Chr.), theoretisch wieder zu einem stofflich gedachten Element als Urgrund zurückging.15 Für ihn war es die Luft (aér), auf die letztlich alles Leben und der ganze Kosmos rückführbar sei. Genauer besehen, hat er aber Anaximanders apeiron-Theorie durchaus in sein Modell integriert, denn die Komponenten dieses „Unbestimmten“, Unbegrenztheit und Beweglichkeit, spielen auch bei Anaximenes eine wichtige Rolle. Die Luft ist für ihn früher noch als das Wasser, und hier könnte man wieder etwas vermeintlich Modernes sehen, denn erst die neuere Chemie hat ja erweisen können, dass Wasser eigentlich aus „luftförmigen“ Stoffen, aus Gasen, nämlich Sauerstoff und Wasserstoff, besteht. Eine wichtige These des Anaximenes war, dass aus dem Element der Luft durch Verdünnung Feuer hervorgehe. Er sprach generell von den Vorgängen einer pyknosis und manosis, von Verdichtung und Verdünnung, die dafür verantwortlich seien, dass je nachdem, wie und in welchem Maße diese Geschehensabläufe stattfinden, aus Luft ursächlich Wind, Wolken, Wasser und Erde entstünden.
Deutlich unterschieden von der hylozoistischen Lehre der drei milesischen Naturphilosophen war die Doktrin des Pythagoras und seiner Schüler, unter denen besonders Philolaos herausragt.16 Diese Lehre hat großen Einfluss auf das Denken Platons gehabt,17 in dessen Dialog Phaidon auch zwei Pythagoreer, nämlich Simmias und Kebes, auftreten. Es war wieder Aristoteles, der in seiner Metaphysik (I, 5) Kunde von deren Grundgedanken gab: „Unter diesen nun und noch vor ihnen haben die Pythagoreer, wie man sie nennt, sich mit dem Studium der Mathematik beschäftigt und zunächst diese gefördert; in dieser heimisch geworden, haben sie sodann die Prinzipien derselben zu Prinzipien des Seienden überhaupt machen zu dürfen geglaubt. Da nun unter den Prinzipien der Mathematik der Natur der Sache nach in erster Linie die Zahlen stehen, so glaubten sie in den Zahlen mancherlei Gleichnisse für das was ist und was geschieht zu finden, und zwar hier eher als in Feuer, Erde oder Wasser. So bedeutete ihnen eine Zahl mit bestimmten Eigenschaften die Gerechtigkeit, eine andere Seele und Vernunft, wieder eine andere den rechten Augenblick, und so fand sich eigentlich für alles ein Gleichnis in einer Zahl. Da sie nun auch darauf aufmerksam wurden, daß die Verhältnisse und Gesetze der musikalischen Harmonie sich in Zahlen darstellen lassen, und da auch alle anderen Erscheinungen eine natürliche Verwandtschaft mit den Zahlen zeigten, die Zahlen aber das erste in der gesamten Natur sind, so kamen sie zu der Vorstellung, die Elemente der Zahlen seien die Elemente alles Seienden und das gesamte Weltall sei eine Harmonie und eine Zahl. Was sich nur irgendwie an Übereinstimmungen zwischen den Zahlen und Harmonien einerseits und den Prozessen und Teilen des Himmelsgewölbes und dem gesamten Weltenbau andererseits auftreiben ließ, das sammelten sie und suchten einen Zusammenhang herzustellen; wo ihnen aber die Möglichkeit dazu entging, da scheuten sie sich auch nicht vor künstlichen Annahmen, um nur ihr systematisches Verfahren als streng einheitlich durchgeführt erscheinen zu lassen. Ich führe nur ein Beispiel an. Da sie die Zehn für die vollkommene Zahl halten und der Meinung sind, sie befasse die gesamte Natur der Zahlen in sich, so stellen sie die Behauptung auf, auch die Körper, die sich am Himmel umdrehen, seien zehn an der Zahl, und da uns nur neun in wirklicher Erfahrung bekannt sind, so erfinden sie sich einen zehnten in Gestalt der Gegenerde.“18 In diesem Zitat ist in nuce alles Wesentliche der pythagoreischen Lehre eingefangen. Man erkennt hier sehr deutlich die Dominanz von Mathematik und Astronomie als Leitsystemen für die Erschließung des Urprinzips. Dieses ist nun die Zahl, mithin eine hochgradige Abstraktion, bei der zunächst Objekte geschieden und zu Einheiten zusammengefasst werden, die sich vom Konkreten vollkommen lösen. Zahlen sind – so haben es die Philosophen immer auch gesehen – Ergebnisse der menschlichen Bewusstseinstätigkeit, also des Denkens. So sagte später René Descartes noch: „Cum numerus non in ullis rebus creatis, sed tantum in abstracto sive in genere consideratur, est modus cogitandi duntaxat“.19 Die Zahl ist für ihn also ein modus cogitandi.
Da die Zahl das Messen ermöglicht und bei der Beobachtung der Himmelserscheinungen auch das Festhalten zeitlicher Abläufe, welches es gestattet, Vorhersagen zu treffen – der zeitliche Faktor war ihrer Bestimmung von Anfang an inhärent –, wurde sie zu einem Machtinstrument, über das gesellschaftlich Privilegierte verfügten, namentlich Priester und andere Gelehrte, die sich, über gesellschaftliche Arbeitsteilung hierfür freigestellt, mit Erdvermessung (Geometrie) oder Himmelserforschung (Astronomie, Astrologie) befassten. Zahlen gewannen Bedeutung aber auch durch Tauschabstraktion.20 Es lag nun nahe, das eigentlich einem kognitiven Abstraktionsprozess sich Verdankende als etwas den Dingen unlösbar a priori, also von Anfang an Innewohnendes zu begreifen. Somit konnte die Zahl von den Pythagoreern zu einer Wesenheit hypostasiert, d.h. vergegenständlicht oder, wie man gern auch sagt: reifiziert, werden. Wenn sich derlei Vorstellungen dann noch mit Mysterienkulten verbanden, welche die Pythagoreer als esoterischer Orden pflegten, konnten sich solche gleichnishaften Auffassungen von ihrer fast schon göttlichen Qualität entwickeln, wie sie Aristoteles beschrieben hat.
Waren bei Pythagoras und seinen Anhängern noch deutlich religiöse Momente erkennbar, so kollidierte die Position des Xenophanes,21 der um 570 v. Chr. in Kolophon geboren wurde und hochbetagt in Elea, einer Kolonie der Phokäer in Unteritalien, nach 480 starb, insofern mit althergebrachten religiösen Anschauungen, als er so radikal wie vor ihm keiner eine Kritik an den Göttermythen vortrug. „Hatten die Milesier versucht, die mythischen Theo- bzw. Kosmogonien durch naturphilosophische Theorien zu ersetzen und die traditionellen Göttervorstellungen damit überflüssig zu machen, so wendete sich Xenophanes direkt gegen die anthropomorphen Anschauungen von den Göttern.“22 Zum einen kritisierte Xenophanes in moralischer Missbilligung das Fehlverhalten der Götter, die wegen ihrer „ruchlosen Taten“ kaum Vorbild sein können: „Alles haben Homer und Hesiod den Göttern angehängt, was nur bei Menschen Schimpf und Schande ist: Stehlen und Ehebrechen und sich gegenseitig Betrügen.“23 Zum andern sah er in den Göttern lediglich Konstrukte nach dem Bilde des Menschen: „[W]enn die Ochsen [und Rosse] und Löwen Hände hätten oder malen könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden die Rosse roßähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen und solche Körper bilden, wie [jede Art] gerade selbst das Aussehen hätte.“ Darüber hinaus stellte er ethnographisch vergleichend die Relativität der Gottesvorstellungen fest: „Die Äthiopen [behaupten, ihre Götter] seien schwarz und stumpfnasig, die Thraker, blauäugig und rothaarig.“24 Xenophanes sah eine Unvereinbarkeit zwischen dem polytheistischen Modell der Mythen, wie sie bei Homer und Hesiod erzählt werden, und der von ihm selbst stark gemachten Vorstellung von nur einem, dem einen höchsten Gott. In seiner nur noch aus Bruchstücken bekannten Schrift Über die Natur heißt es:
„Ein einziger Gott, unter Göttern und Menschen der größte, weder an Gestalt den Sterblichen ähnlich noch an Gedanken. [Die Gottheit] ist ganz Auge, ganz Geist, ganz Ohr. Doch sonder Mühe schwingt er das All mit des Geistes Denkkraft. Stets am selbigen Ort verharrt er sich nirgend bewegend, und es geziemt ihm nicht bald hierhin bald dorthin zu wandern. Denn aus Erde ist alles, und zur Erde wird alles am Ende. Dieses obere Ende der Erde erblickt man zu unseren Füßen an die Luft stoßen, das untere dagegen erstreckt sich ins Unermeßliche. Erde und Wasser ist alles, was da wird und wächst.“25
Diese monotheistische Vorstellung, die schon über die henotheistische hinausgeht – bei dieser wird zwar auch schon die Verehrung einer Gottheit gefordert, jedoch nur als einziger Stammes- oder Nationalgottheit und noch nicht in einem universalistischen Sinne – hat eine deutliche Ähnlichkeit mit dem Kult Jahwes bei den Juden, der zwar auch primär ein Stammesgott war, im Alten Testament (z. B. Ex. 2, 14 f.) aber so beschrieben (oder umschrieben) wurde, dass sein Anspruch über Israel hinausging. Auch Jahwe duldet keine Götter neben sich; er soll der alleinige sein, der alles ins Dasein ruft. Man hat den Monotheismus stets als einen Fortschritt bezeichnet, aber man darf auch nicht übersehen, dass hinter ihm nicht selten ein Modell des Despotismus steht: Der eine Gott sieht und hört alles, er vermag alles. Diese personalistische Vorstellung des mosaischen Glaubens findet sich bei Xenophanes jedoch nicht, denn bei ihm ist die eine Gottheit gedacht als hen kai pan, als „eines und alles“, und somit ist sie deutlich pantheistisch aufgefasst. „Im Hinblick auf das Weltall als Ganzes aber behauptet er, das Eine sei Gott“, sagt Aristoteles,26 der Xenophanes als den „ersten Einheitslehrer“ bezeichnete und von ihm wusste, dass Parmenides sein Schüler gewesen sei. Diesen hielt Aristoteles für bedeutender. Die Gedankengänge des Xenophanes seien „grobkörnig“, „während Parmenides doch irgendwie einen tieferen Blick zu zeigen scheint“.27
Parmenides gilt als das Haupt der eleatischen Schule, benannt nach dem schon erwähnten Ort Elea in Unteritalien. Er stammte aus einer reichen Familie und diese aristokratische Herkunft scheint auch in seiner Lehre durch, die im Kern die erste große abendländische Ontologie repräsentiert. Seine Position wurde von Platon geschätzt, der ihn „den Großen“ nannte, und in dem Dialog, der den Namen des Parmenides trägt, hat dieser eine bemerkenswert starke Position. Während sonst Sokrates der Situationsmächtige ist, dem die Dialogpartner lediglich mit kleinlauten Floskeln beipflichten, ist es hier einmal umgekehrt: Parmenides trägt seine Thesen vor und Sokrates muss ständig zustimmende Bemerkungen machen („Ja“, „Allerdings“, „Notwendigerweise“, „So scheint es“, „Ja freilich, das sind wir übereingekommen“ usw.).
In seiner Schrift Über die Natur entfaltet Parmenides seine Wahrheits- und Seinslehre.28 Der Text beginnt noch mit einem mythologischen Bild: Ein Rossegespann zog ihn, geleitet von Heliadenmädchen, zu einer Stelle „weitab von der Menschen Pfade“:
„Da steht das Tor, wo sich die Pfade des Tages und der Nacht scheiden; Türsturz und steinerne Schwelle hält es auseinander; das Tor selbst, das ätherische, hat eine Füllung von großen Flügeltüren; die wechselnden Schlüssel verwahrt Dike, die gewaltige Rächerin. Ihr nun sprachen die Mädchen mit Schmeichelworten zu und beredeten sie klug, ihnen den verpflöckten Riegel geschwind von dem Tore zu stoßen. Da sprang es auf und öffnete weit den Schlund der Füllung, als sich die erzbeschlagenen Pfosten, die mit Zapfen und Dornen eingefügten, nach einander in ihren Pfannen drehten.“
Die Göttin verspricht ihm, alles zu erfahren „von der wohlgerundeten Wahrheit“. Sie rät ihm, nur den Verstand walten zu lassen und nicht den Sinnen zu trauen. Der zentrale Satz, den sie ihm einschärft, ist, dass allein das Seiende ist „und dass es unmöglich nicht sein kann“, denn ein Nichtseiendes sei unerforschbar, man könne es, weil es „unausführbar“ sei, nicht erkennen. Darum lasse es sich auch nicht aussprechen. „Denn [das Seiende] denken und sein ist dasselbe.“29
Über das Nichtseiende wird gleichsam ein Tabu verhängt. Schon es auszusprechen, würde ja bedeuten, ihm eine Existenzberechtigung zu geben. Wahrscheinlich beinhaltet die Ausschließung des Nichtseienden ein Verdikt über alle Phantasiegespinste, denen die Masse, „die blind Ratlosen, der urteilslose Haufen“,30 Glauben schenkt. Diesen Menschen, die Parmenides verachtet, gilt Sein und Nichtsein für dasselbe. Was aber zählt, ist allein das Seiende. Man könnte nun denken, dass Parmenides damit die objektive Realität meinte, all das, was sich über Empirie verifizieren lässt. Aber das wäre zu modern gedacht. Mindestens lässt sich jedoch feststellen, dass Parmenides noch keine (methodischen) Zweifel am Sein des Seienden plagten. Es war für ihn verbürgt. Aber er dachte es als ein Unwandelbares, Unvergängliches: „Es war nie und wird nicht sein, weil es zusammen nur im Jetzt vorhanden ist als Ganzes, Einheitliches, Zusammenhängendes.“31 Bemerkenswert ist dieser Präsentismus, die Vorstellung des Seins im Hier und Jetzt, die auch noch für den späten Heidegger bestimmend war (der nicht von ungefähr zu den Vorsokratikern zurückkehrte).32 Parmenides polemisierte mit dieser Theorie unterschwellig, und ohne ihn zu nennen, gegen Heraklit, von dem noch zu sprechen sein wird. Dessen Lehre vom Werden setzt er entgegen, dass ein Seiendes nicht wachsen könne, denn dann habe es ja bereits vorher ein Sein gegeben, das notwendigerweise ein anderes Sein wäre. Ganz konsequent hat Parmenides seine Lehre freilich nicht durchgeführt, denn sein Lehrgedicht Über die Natur enthält noch eine Erzählung von der Weltentstehung: „wie Erde und Sonne und Mond und der allumfassende Himmelsäther und die himmlische Milchstraße und der äußerste Olympos und der Sterne heiße Kraft zur Geburt strebten.“33
Die Lehre von der Unwandelbarkeit des Seins hat großen Einfluss auf Platons Ideenlehre ausgeübt, denn nach diesem sind die Ideen (als die eigentlichen Seienden) ebenfalls konstant und zeitlos; auch sie sind gekennzeichnet durch Gegenwärtigkeit (parousía) in den Dingen (Phaidon 100 D).
Der Wahrheitslehre des Parmenides war eine lange, letztlich bis heute nachwirkende Nachgeschichte beschieden. Sie lässt sich zusammenfassen in seinem Satz der Identität von Denken und Sein: to gar autò noeîn estin te kai einai („Denn dasselbe ist Denken und Sein“). Daraus wurde später die Formel von der adaequatio rei et intellectus (z. B. bei dem Scholastiker Albertus Magnus, Summa theologiae I, 25, 2, dem dessen Schüler Thomas von Aquin mit ähnlichen Formulierungen folgte), bei der indes nicht mehr von Identität, sondern von Annäherung die Rede ist. Dass dem Denken diese Fähigkeit seiner absoluten Übereinstimmung mit dem Sein zugetraut wird, begründet Parmenides implizit damit, dass auch das Denken ein Seiendes ist; ohne ein Sein gäbe es kein Denken. Allerdings wird die Identitätsthese lediglich autoritativ, ja dogmatisch statuiert, ohne dass für sie eine epistemologische Begründung geliefert würde. Abgesehen davon, dass Erkenntniskritik zu dieser Zeit kaum am Horizont philosophischer Reflexion stand, konnte Parmenides an ihr auch nicht gelegen sein, denn sein Anspruch zu kennen, was das Sein ist und wie beschaffen es sei, war zugleich ein Herrschaftsanspruch und hatte den Charakter von privilegiertem priesterlichen Arkanwissen.
Herrscherlich trat in seinem Argumentationsgebaren auch Heraklit (um 550–475 v. Chr.)34 auf, den die Alten skoteinós, den Dunklen, nannten. Dunkelheit war in der Vormoderne nicht, wie seit Descartes, geächtet als obscuritas, die obendrein auch noch confusa ist. Vielmehr war sie, ähnlich wie die theia mania, der göttliche Wahnsinn, Ausweis eines besonderen, von den Göttern verliehenen Wissens, von dem die Masse, der Pöbel, ausgeschlossen ist. Auch Heraklit, aus Ephesus stammend, stammte aus vornehmem Geschlecht, er war also nicht anders als Parmenides aristokratisch gesinnt35 und schrieb wie dieser eine Abhandlung Über die Natur, von der freilich nur wenig mehr als 120 als authentisch geltende Fragmente erhalten sind. Wie die Milesier vertritt Heraklit, zumindest in Teilen, eine hylozoistische Weltentstehungstheorie. Das Urprinzip, die arché, sieht er im Element des Feuers, das ihm beseelt erscheint, lebendig und sogar als Ausdruck der Vernunft, des Logos (man denke hier an die spätere Metapher der Fackel der Vernunft!). Im Feuer erkannte Heraklit den Vorgang allen Werdens und Vergehens. Das Feuer wandle sich; so gebe es einen Weg nach unten (hodòs kato), wo es eine Transformation in Wasser und Erde durchmacht, und einen nach oben, wo es im Vorgang der ekpyrosis in ein Weltenfeuer übergeht.36 Mit der Betonung der Vernunft (über die zu verfügen natürlich ein Vorrecht der gesellschaftlich Starken ist, die es verstehen, ihre Affekte im Zaum zu halten) geht eine Verdammung allen Sinnengenusses einher: „Bestände das Glück in körperlichen Lustgefühlen, so müsste man die Ochsen glücklich nennen, wenn sie Erbsen zu fressen finden.“37 Die Sinne, von denen Heraklit allein den Augensinn für einigermaßen verlässlich hält („Augen sind genauere Zeugen als die Ohren“38), wertete er gegenüber der Vernunft deutlich ab.39
Der aus dem Urelement des Feuers abgeleitete Gedanke des Werdens, ja eines fortwährenden Wandels wird von Heraklit zum einen an dem berühmten Bild des Flusses demonstriert, in dem alles fließt (panta rhei)40 und nichts so bleibt, wie es gerade noch zuvor war (oudèn menei). Daher könne man nicht zweimal in denselben Fluss steigen, der inzwischen schon ein anderer geworden ist. Aber Heraklit hat dieses Werden, diesen Wandel nicht als etwas Chaotisches aufgefasst, sondern entdeckte in ihm eine streng geregelte Gesetzmäßigkeit, was er wiederum am Lauf der Sonne zeigte. In dieser Gesetzmäßigkeit ist nun die (Welt-)Vernunft am Werk, der Logos; insofern konnte er sagen, alles geschehe katà ton lógon, gemäß dem Logos. Das war nun ein höchst schillernder Begriff. Primär ist mit Logos das Wort oder die Rede bezeichnet, darüber hinaus ihr Sinn. Er ist somit genau genommen an einen Denkenden und Sprechenden gebunden, und dies konnte bei der von Heraklit vorgenommenen Potenzierung ins Kosmische eigentlich nur eine Gottheit sein, so wie das Judentum dafür den analogen Begriff des Memra (bzw. in kabbalistischer Tradition des Chochmah,41 der göttlichen Vernunft) hatte, des göttliches Wortes, das im Schöpfungsakt die Dinge und Lebewesen hervorbrachte.42 Aber die Gottesvorstellung ist bei Heraklit im Logos-Begriff nicht mehr präsent; dieser hat sich von ihr abgelöst.
Zum andern demonstrierte Heraklit den Prozess des Werdens am Beispiel des Krieges. Er gebrauchte den Begriff polemos, der mehr als nur Streit oder Kampf bedeutet. Er sei der Vater, ja der König (basileus) von allem. Letztlich verstand er den Krieg aber wohl doch nicht nur als eine militärische Aktion, stattdessen mehr als einen „Gegenlauf“ (enantiodromía). Hegel hat das den Geschehensprozess Vorantreibende, an das Heraklit dachte, als eine frühe Vorstufe seines Prinzips der Dialektik gesehen (und Marx und Engels sind ihm später in dieser Auffassung gefolgt, so dass Heraklit gelegentlich als Ur-Vater des dialektischen Materialismus gedeutet werden konnte). So heißt es in Hegels heute noch lesenswerten Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie: „Heraklit sagt: alles ist Werden; dies Werden ist das Prinzip. Dies liegt in dem Ausdrucke ‚Das Sein ist so wenig als das Nichtsein; das Werden ist und ist auch nicht‘. Die schlechthin entgegengesetzten Bestimmungen sind in eins verbunden; wir haben das Sein darin und auch das Nichtsein. Es gehört nicht bloß dazu das Entstehen, sondern auch das Vergehen; beide sind nicht für sich, sondern identisch. Dies hat Heraklit damit ausgesprochen. Das Sein ist nicht, so ist das Nichtsein, und das Nichtsein ist nicht, so ist das Sein; dies ist das Wahre der Identität beider. Es ist ein großer Gedanke, vom Sein zum Werden überzugehen; es ist noch abstrakt, aber zugleich ist es auch das erste Konkrete, die erste Einheit entgegengesetzter Bestimmungen. Diese sind so in diesem Verhältnisse unruhig, das Prinzip der Lebendigkeit ist darin.“43
Durch die meisten Fragmente Heraklits, den die Nachwelt den „weinenden Philosophen“ genannt hat, zieht sich ein pessimistischer Grundzug. Er scheint die Geburt als ein Unglück betrachtet zu haben: „Wann sie geboren sind, schicken sie sich an zu leben und dadurch den Tod zu erleiden, oder vielmehr auszuruhen, und sie hinterlassen Kinder, daß auch sie den Tod erleiden.“44 „Tod ist alles, was wir im Wachen sehen, und Schlaf, was im Schlummer.“45
In ein neues Stadium trat die vorsokratische Naturphilosophie bei dem auf Sizilien, in Akragas (dem heutigen Agrigent), geborenen Arzt, Sühnepriester und Redner Empedokles (geb. um 483), um dessen Lebensende sich manche Legenden gerankt haben, besonders die, dass er sich in den Krater des Ätna gestürzt habe. Auch er entstammte einer vornehmen Familie, aber er ging auf die Seite der Volkspartei über, die er gegen die Tyrannis zum Siege führte. Aristoteles hat seine besonderen rhetorischen Fähigkeiten gerühmt, die ihm im politischen Kampf zweifellos genützt haben. Er wurde von der Menge (plēthos) bewundert, fast vergöttert, und selbstbewusst hat er das auch über sich berichtet: „Doch was red’ ich hierüber noch viel, als ob ich etwas großes vollführe? Bin ich doch mehr als sie, die sterblichen, vielfachem Verderben geweihten Menschen!“46 Aber die Gunst des Volkes blieb ihm nicht zeitlebens erhalten. Es war ihm verwehrt, nach Akragas zurückzukehren; in der Verbannung lebend, zog er es, wenn man dem Bericht des Historiographen Timaios von Tauromenion Glauben schenken darf, vor, sein Leben auf der Peloponnes zu beschließen.47
In der Metaphysik hat Aristoteles mehrfach die Lehre des Empedokles zusammengefasst. Er betont, dass dieser die Lehre von den vier Elementen (Wasser, Luft, Feuer und Erde) eingeführt habe. Die ersten drei waren, freilich jeweils als einziges Urprinzip, bereits von den älteren Naturphilosophen (Thales, Anaximenes und Heraklit) eingeführt worden. Er fügte nun noch die Erde hinzu. „Diese, meint er, seien das beständig Bleibende; sie entständen nicht, sondern verbänden sich nur in größerer oder geringerer Masse zur Einheit und lösten sich wieder aus der Einheit.“48 Am Anfang hätten diese Elemente, die Empedokles auch „Wurzeln“ (rhizomata) der Dinge nannte, ungesondert und unvermischt nebeneinander bestanden, gehalten einzig durch das Band der Liebe (philothēs, philia). Aber diese Verbindung sei dann durch den Hass (neikos) getrennt worden. So liegen, Empedokles zufolge, Liebe und Hass als Urkräfte in fortwährendem Widerstreit, jedoch werde die zum Untergang führende Herrschaft des Hasses zum Schluss durch die Liebe besiegt, die das Getrennte wieder vereinige, und zwar in einer allumfassenden Kugel (sphairos). Auch bei Empedokles sind also wieder geistähnliche Kräfte am Werk, die aus der psychischen Introspektion auf das All projiziert werden. Dahinter mochte der Gedanke gestanden haben, dass das, was wir an und in uns an psychischer Dynamik mit Bewusstsein wahrnehmen, eigentlich nur physische Kräfte sind, die in anderen Dingen und Lebewesen, denen es an diesem Bewusstsein mangelt, als objektive kosmische Triebkräfte walten.
„Anaxagoras von Klazomenae dagegen, der ihm gegenüber dem Lebensalter nach der frühere, seinen Arbeiten nach der spätere war, nimmt eine unendliche Vielheit von Urbestandteilen an. So ziemlich alles, was aus gleichartigen Teilen besteht nach der Art von Wasser oder Feuer, entstehe und vergehe allein durch Mischung und Scheidung; ein Entstehen und Vergehen in anderem Sinne habe es nicht, sondern bleibe ewig.“49
Unmittelbar nach seiner Darstellung der Lehre des Empedokles ließ Aristoteles die dem Anaxagoras (um 500 – um 428) gewidmete folgen. Der aus der Nähe von Smyrna stammende Philosoph war ein Freund des Perikles, der in Athen das mächtige Strategenamt innehatte; er konnte sich deshalb seiner Protektion erfreuen. Aber als Perikles in einer Reihe von Prozessen der Asebie, der Gottlosigkeit, angeklagt wurde (damals ein beliebtes Mittel der Amtsenthebung, verbunden mit der Androhung drakonischer Strafen), war davon auch sein Schützling betroffen. Anaxagoras, schon dem Greisenalter nahe, musste Athen den Rücken kehren und ließ sich zum Lebensende in Lampsakos in Kleinasien nieder.
Aus dem Aristoteles-Zitat ist bereits ersichtlich, dass Anaxagoras versucht hat, so etwas wie eine Atomenlehre zu entwickeln. Die vier Elemente des Empedokles weitet er zu einer unbestimmten, unendlichen Vielzahl aus, die er als „Samen“ (spérmata) bezeichnet. Sie sind die letzten Substanzen (chrémata), auf die alles zurückzuführen ist. Gleichartige verbinden sich, Ungleichartige stoßen sich ab. Die sich verbindenden Atome nennt Aristoteles Homoiomerien, d. h. Verbindungen von ähnlichen Teilen. Rudimentär ist hier schon eine Molekül-Theorie zu erkennen, aber es ist zu Recht immer wieder davor gewarnt worden, die Atomenlehre des Anaxagoras physikalistisch zu interpretieren. Vielmehr handle es sich um eine Form des „qualitativen Atomismus“.
Dazu passt, dass Anaxagoras folgenreich eine weitere Theorie entwickelt hat, in der das geistige Prinzip sogar dominant hervortritt: Es ist die Lehre vom Nous (νοῦς), was wörtlich mit Denkkraft, Verstand, Vernunft oder Geist zu übersetzen wäre. Aber rein geistig hat sich Anaxagoras die Atome wohl nicht vorgestellt, sondern immer auch mit Stofflichem, mit Materie behaftet, und seien sie noch so „überfein“. Kant hätte eine solche Auffassung nicht mehr akzeptiert. Einigen seiner Zeitgenossen hielt er vor, dass sie „gerne in der Metaphysik pfuschern möchten“ und sich dabei die Materie als „ein geistiges und doch ausgedehntes Wesen“50 ausdenken. Aber genau solch eine Mischung stellte sich Anaxagoras vor, der sich noch nicht in moderner Abstraktion bewegte. Der Hylozoismus, die Vorstellung von einer belebten Materie, war für Denker wie Anaxagoras noch selbstverständlich, weil aus vitalem Anschauungsbedürfnis unverzichtbar erscheinend.
Was verstand er nun unter dem Nous? Darüber ist viel gerätselt worden. Viel ist auch, aus dem Horizont der jeweiligen philosophischen Systeme, in diesen Begriff hineinprojiziert worden. Der Lehrer Nietzsches und von Wilamowitz-Moellendorffs in Schulpforta, Max Heinze, hat dieses alles durchwaltende kosmische Prinzip des νοῦς im Rahmen pantheistischer Vorstellungen interpretiert: Anaxagoras „hat seinen kosmischen νοῦς ja nach Analogie des menschlichen gebildet, wonach es nicht befremden kann, dass er sich den menschlichen auch in Verbindung mit dem allgemeinen νοῦς vorstellte. Ferner sah er den kosmischen als Princip der Bewegung überhaupt an, die lebenden Wesen haben aber das Princip der Bewegung in sich, was war natürlicher, als dass er diesen den νοῦς innewohnen liess und ihn scheinbar zertheilend gleich der Seele oder dem Leben setzte.“51 Die Lehre des Anaxagoras, resümiert Heinze zum Schluss seiner Abhandlung, habe nachhaltig auf Platon und Aristoteles eingewirkt, so dass bei diesen „sogar im Ausdruck bisweilen Ähnlichkeit mit Anaxagoras zu Tage“ trete.52 Man kann dem hinzufügen, dass die Nous-Lehre, wenngleich völlig verändert, in der Vorstellung des Weltgeists weiterwirkte, wie sie Hegel vertrat, früh schon in seiner Phänomenologie des Geistes, dann aber auch in den Grundlinien der Philosophie des Rechts. Der Weltgeist hat bei Hegel jedoch kaum noch, wie bei den Griechen, eine kosmologisch-naturphilosophische Komponente, sondern wird von ihm verstanden als eine Objektivation, in der sich der Geist in höchster Stufe „an sich“ vollendet,53 und zwar in geschichtsphilosophischer Dimension als „absolute Allgemeinheit“.54
Zwar nahm Anaxagoras einen fortwährenden Wandel der Atome an – bewirkt durch Mischung und Scheidung –, aber in seiner Gesamtheit dachte er sich das Sein doch ähnlich wie die Eleaten, besonders Parmenides, nämlich als ein unwandelbares, mit sich stets identisches Sein.55 Das sieht nur scheinbar nach einem Widerspruch aus, der sich jedoch aufhebt, sobald man sich klarmacht, dass sich im Grunde genommen dahinter der Gedanke der Energieerhaltung verbirgt, eine Theorie, die mathematisch-physikalisch erst in den Debatten des 19. und 20. Jahrhunderts zur Thermodynamik mit einem Höchstmaß an wissenschaftlicher Wahrscheinlichkeit begründet werden konnte.56
An die Atomenlehre des Anaxagoras knüpfte Demokrit57 aus dem thrakischen Abdera an, der von sich sagte, dass er jung war, „als Anaxagoras schon alt war“. Demokrit war ein langes Leben beschieden. Besonders tat er sich auf dem Gebiet der Geometrie hervor. Von den philosophischen Diskussionen seiner Zeit hat er offenbar das meiste registriert, jedoch keineswegs immer mit Zustimmung. So lehnte er beispielsweise den Ansatz der Sophisten ab: „Wer gern widerspricht und viel Worte macht, ist unfähig, etwas Rechtes zu lernen“58, soll er über sie gesagt haben. Höchst merkwürdig bleibt, dass Demokrit, obwohl er sich zeitweilig in Athen aufhielt, von Platon mit keiner Silbe erwähnt wird. Das muss nicht heißen, dass dieser nichts von ihm gewusst hat; wohl aber scheint es sich um ein geflissentliches Ignorieren gehandelt zu haben, fast um ein über Demokrit verhängtes Tabu. Platon lehnte grundsätzlich einen materialistischen Atomismus, wie ihn Demokrit vertrat, ab. Dennoch gab es wiederholt, worauf der Platon-Forscher Paul Natorp aufmerksam gemacht hat, gedankliche Berührungen mit ihm; sehr früh ist dies bereits Aristoteles aufgefallen.59
Eine Verbindung von Demokrits Lehre mit der besprochenen eleatischen (Parmenides) gab es insofern, als auch Demokrit von einem ewigen Sein ausging. Allerdings stellte er es sich nicht holistisch, ganzheitlich, vor, sondern in diametralem Gegensatz dazu gänzlich atomisiert, in allerkleinste, der Wahrnehmung nicht mehr zugängliche Einzelteilchen zerlegt. Von Parmenides unterscheidet ihn des Weiteren, dass er durchaus ein Nicht-Seiendes annimmt: „Das Nichts existiert ebenso sehr wie das Ichts“ (to den), heißt es in einem Fragment.60 „Materialistisch“ an seiner Lehre war, dass er die Atome als etwas Körperliches bestimmte: Sie sind Korpuskeln, kleinste Masseteilchen, die unterschiedliche Schweregrade haben. Einige haben größeres Gewicht, andere sind sehr leicht. Auch unterscheiden sich die Atome durch ihre Gestalt, die sich Demokrit nur nach dem Muster stereometrischer Formen vorstellen konnte: als Kugel, Würfel, Zylinder oder Pyramide. Entsprechend können sie sich auch nur unterschiedlich anlagern, aber gerade dies bewirke die Gegenstandsvielfalt in der Erscheinungswelt.
Die Atome schwirren und wirbeln als „volle“ Partikeln durch den Raum, der von Demokrit als etwas Leeres gedacht wird.61 Das Leere wiederum ist in seiner Sicht ein Nicht-Seiendes, eben jenes „Nichts“, in dem sich das Seiende in Gestalt der Atome bewegt.62 Fortwährend prallen sie aneinander ab und verändern dadurch ihre Richtungen und Bewegungen, die kreis- oder wirbelförmig ausfallen können. Demokrit hat hier also eine Art Repulsionstheorie geschaffen, die freilich noch sehr unbestimmt war und Kritik vor allem von Aristoteles erfahren hat.
Die Annahme der unterschiedlichen Struktur der Atome gab Demokrit die Grundlage für seine Weltentstehungstheorie. Aus den schweren Atomen sei durch Verdichtung die Erde hervorgegangen, aus den leichteren Himmel, Luft und Feuer. Bemerkenswert ist, dass Demokrit erstmals die Hypothese vertrat, dass unsere Welt nur eine unter vielen sei. Er nahm also, natürlich ungleich primitiver, wie heute manche Physiker (Max Tegmark63) die virtuelle Existenz von Parallelwelten an, die sich durch unterschiedliche Kombination der Atome prinzipiell bilden können. Alles geschah aus reiner Notwendigkeit (anánke). Deshalb leugnete Demokrit auch, dass es Zufälle gebe. Letztlich lassen auch diese sich nur streng deterministisch erklären.
Demokrits Atomismus war eine radikale Theorie, deren Physikalismus ihr über zwei Jahrtausende eine scharfe Gegnerschaft eintrug. Denn sie vertrug sich als „Materialismus“, der in der Antike wegen seiner Nähe zum Hylozoismus noch keineswegs als anstößig empfunden wurde, nicht mit späteren spiritualistischen Konzeptionen, namentlich nachmals denen der Kirche, die für sich dogmatisch das Wissensmonopol beanspruchte. Stein des Anstoßes war ihr vor allem seine Seelenlehre, denn Demokrit beschrieb auch die Seele als ein Aggregat aus Atomen. Er ging davon aus, dass sich nach dem Tod die Seelenatome mit anderen verbinden würden und so eine neue Seele entstehe. Das stand natürlich im Widerspruch zur kirchlichen Lehre von der Unsterblichkeit der Seele und ihrer Bindung an eine Person. So kann es kaum erstaunen, dass immer da, wo gegen diese Institution aufbegehrt wurde, Argumente der atomistischen Lehre ins Spiel gebracht wurden. Besonders war dies im späten 18. Jahrhundert der Fall. Viele Vertreter der Französischen Aufklärung wie etwa d’Holbach beriefen sich auf Demokrit, dessen Theorie durch die modifizierenden Positionen des Epikureismus und besonders über das Lehrgedicht De rerum natura des Lukrez an das Abendland weitervermittelt wurde.64 Im 19. Jahrhundert wiederum war er die große Leitfigur für alle Varianten des Materialismus. Ludwig Feuerbach rühmte ihn ebenso wie Ludwig Büchner, und nicht zuletzt war es kaum verwunderlich, dass Karl Marx für seine Dissertation das Thema Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie65 wählte und damit bereits programmatisch sein Interesse an einer materialistischen Position bekundete.
Wenn wir nun von Demokrit unmittelbar zu Platon übergehen, so bedarf es einer Rechtfertigung, warum die in Platons Schriften ja auch vorgestellte spezifische Philosophie des Sokrates hier nur gestreift werden kann. Das hat seinen Grund darin, dass sie im Kern nicht eigentlich auf ein metaphysisches Modell hinauslief, sondern mehr anthropozentrisch und damit ethisch ausgerichtet war. Allerdings war Sokrates’ Methode durchaus konstitutiv für Platons metaphysische Ideenlehre. Das sokratische Verfahren der Mäeutik, der „Hebammenkunst“,66 die dem Dialogpartner unbewusste, in ihm schlummernde Erkenntnisse und letztlich ethische Einstellungen zu entlocken sucht, basierte auf dem Verfahren der Induktion (eisagogé). Sokrates’ Biograph Xenophon (der in der wissenschaftlichen Literatur als stilistisch und philosophisch eher schlicht dargestellt wird, im Gegensatz zum Sprachkünstler Platon, in dessen Dialogen Sokrates argumentativ wie dramaturgisch höchst achtunggebietend in Szene gesetzt wird) charakterisierte diese Methode so: „Vom Gangbarsten und Zweifellosesten ging Sokrates in seinen Untersuchungen jedesmal aus, indem er dies als den sichersten Weg erachtete.“ (Memorabilien IV 6, 15)67 Gemeint ist damit seine „dialektische“ Methode, die im Wortsinne noch an den Dialog, das Streitgespräch auf dem Markt, der agorá, gebunden war und in der Regel auch von Alltäglichem ausging. Erst in der gemeinsamen Erforschung des Problems, nicht in einsamer Hypothesenbildung, gelangt man nach Sokrates zur Erkenntnis. Dialektik ist in diesem Sinne noch ein „kollektives“ Projekt, wenngleich für die platonischen Dialoge, in denen Sokrates auftritt, kennzeichnend ist, dass er die Zügel des Disputs fest in der Hand hat und die Gesprächspartner mehr oder weniger subtil lenkt, ihnen dabei aber das Gefühl gibt, sie seien selbständig zu den Erkenntnissen gelangt.
Die genuin sokratische Position ist nach allgemeiner Auffassung (und naheliegender Weise) im Frühwerk Platons zu finden:
□ Zunächst ist sie in der Apologie des Sokrates und im Kriton entwickelt.
□ Die von Sokrates aufgeworfenen ethisch-religiösen Probleme werden besonders im Eutyphron erörtert, in dem es um die Frömmigkeit geht;
□ Weiterhin findet sie sich im Laches, wo die Tapferkeit Gegenstand der Untersuchungen ist, dann auch
□ im Charmides, der die Besonnenheit (sophrosynē) zum Thema hat.
□ Wie man nach Sokrates zur Erkenntnis des Wesens dieser Tugenden gelangt, ist im Menon herausgearbeitet, in dem es um das Prinzip der Wiedererkennung (anámnesis) geht.
Sokrates geht in diesen Dialogen implizit fast immer von religiösen Prämissen aus, beispielsweise von einer Reinkarnationslehre, die seiner Auffassung vom Erkennen als einem Erinnern an präexistente Ideen letzten Endes hinterlegt ist. Aber er setzt seine Thesen nicht dogmatisch als etwas fertig Gegebenes, sondern versucht auf induktivem Wege zum Erweis ihrer Richtigkeit zu gelangen. Dass Erkennen Rückerinnerung sei, demonstriert er einmal ausnahmsweise nicht an einem ethischen, sondern an einem mathematischen Thema. Denn auch für Sokrates war die Mathematik die Wissenschaft, deren Axiome und Resultate unverrückbaren Geltungsanspruch haben. Hier stand er noch ganz in der von Pythagoras begründeten Tradition. Im Dialog Menon führt er einen Sklaven, der kein Wissen in der Geometrie hat, Zug um Zug zu dem Punkt, an dem dieser in der Lage ist, die Seitenlänge eines Quadrates zu bestimmen, die entsteht, wenn dessen Flächeninhalt verdoppelt wird. Er entlockt diesem, der zuvor scheinbar nichts wusste, also das richtige Ergebnis.68
In nuce ist hier bereits die Ideenlehre angedeutet, die Platon dann in den Dialogen der sog. mittleren Periode ausgebaut hat, in denen er mehr seine eigene, von Sokrates sich lösende Auffassung entfaltet:
□ im Phaidon, in dem – im Anschluss an Gedanken der Apologie – eine Lehre von der Unsterblichkeit der Seele begründet wird;
□ im Theätet (griech. Theaitetos), welcher faktisch Platons „Erkenntnistheorie“ enthält, der also der Frage nachgeht, wie man zur wahren epistēmē gelangt. Dabei werden sophistische Argumentationen, die – leicht verfälschend – dem Protagoras unter Rückgriff auf die heraklitische „Fluss“-Lehre in den Mund gelegt werden, zurückgewiesen;
□ im Phaidros (kein Frühwerk, wie noch Schleiermacher annahm), in dem die Ideenlehre besonders bündig entwickelt wird, und
□ im Parmenides, in dem es (in einem fiktiven Dialog zwischen Parmenides und Zenon) um die Ideen und „das Eine“ geht.
□ Hinzu kommen noch das Symposion und Teile seiner Politeia.
Aus all diesen Dialogen lässt sich idealtypisch die Grundstruktur der platonischen Ideenlehre herauskristallisieren. Aber man muss sich bei einer solchen „Systemrekonstruktion“ dessen bewusst sein, dass Platon selbst ein widerspruchsfrei kohärentes „System“ weder irgendwo formuliert noch überhaupt intendiert hat. Vieles ist in mythischer, bildlicher Verkleidung nur angedeutet, vieles bleibt auch nach mehreren Anläufen einfach im Aporetischen stecken. Letzten Endes geht es Platon um eine „Schau“ des wahrhaft Seienden, das er in den Ideen erblickt. Beachtenswert ist bei ihm die Betonung des Gesichtssinnes. Auch im Begriff der Idee steckt eine auf Sehen oder Schau hinweisende indogermanische Wurzel, die gleichfalls im lateinischen Verbum videre wirksam ist.69 Die Ideen sind für ihn die Urbilder (paradeigmata) der Dinge, welche die Seele einmal bereits erschaut hat. Zu ihnen gelangt man getrieben vom Eros, den Phaidros (im Symposion) im Anschluss an Hesiod als einen der ersten Götter bezeichnet. Eros wird zunächst ganz „leiblich“ als das Prinzip der Liebe, des Hingezogenseins zwischen zwei Liebenden, aufgefasst, wobei Sokrates hier vorrangig an die Homoerotik bzw. Päderastie denkt.70 Indes: Auch manchen Frauen, wie Alkestis, der Tochter des Pelias, sagte er rühmend eine solche leidenschaftliche Liebe nach.71 Den Eros versteht er als „Dämon“, als Mittelglied zwischen Gott und Mensch. Als solcher wird er von Platon bzw. Sokrates ausschließlich positiv gesehen, denn der Eros suche nur das Schöne und das mit ihm untrennbar verbundene Gute. Auf einer weiteren Abstraktionsstufe wird dieses Prinzip des Eros für Platon nun auch zu einem des Erkenntnisstrebens. Aber er bleibt auch hier noch im Bilde des leiblichen Eros, denn Erkenntnis wird auch als ein Zeugungsakt beschrieben, d. h.: sie findet nicht nur etwas vor, nämlich die Ideen, sondern erzeugt sie auch.72 Die Ideen sind reine Denkobjekte, die, einmal entdeckt bzw. im dialektischen Gang der Erörterung erschlossen, einen sich vom Denken lösenden Seinscharakter annehmen und folglich objektiv bestehen. Platon nennt sie auch Noumena: Es sind Denkgebilde, die sich verselbständigt haben und nicht mehr an die Subjekte, die sie einmal erkannten, gebunden sind. In dieser Loslösung hypostasiert Platon sie zu himmlischen Gebilden. Sie befinden sich sogar an einem „überhimmlischen Orte“ (hyperouraníō topō). Auf diese Weise verhimmelt und mit göttlicher Qualität versehen, können sie nun als das Ursprüngliche erscheinen, von dem die Sinnendinge nur noch Abbilder (eidola) sind.
Platon stellt somit aus heutiger Sicht die Realverhältnisse auf den Kopf. Diese Form des objektiven Idealismus sollte eine lange Nachgeschichte haben. Sie dominierte beispielsweise lange noch im Mittelalter, in dem die Ideen „Universalien“, d. h. Allgemeinbegriffe, geheißen wurden, die als Gattungsbegriffe gleichsam vor den Dingen bestehen (siehe unten S. 72 ff.). Und auch noch bei Kant und im deutschen Idealismus wirkt diese Lehre nach,73 schließlich auch bei Edmund Husserl. Die Dinge haben nach Platon an den göttlichen Ideen lediglich teil. Der griechische Begriff dafür ist Methexis.74 In der Politeia bringt Platon noch das Modell der Mimesis ins Spiel, die hier – anders als in der späteren Begriffsverwendung bei Aristoteles – lediglich besagen soll, dass z.B. ein von einem Tischler hergestellter realer Stuhl nichts anderes als eine Nachahmung der (präexistenten) Idee des Stuhls ist. Wenn nun ein Künstler einen Stuhl malt, bringt er lediglich eine Nachahmung einer Nachahmung hervor.75 Da sein gemalter Stuhl nach Platon nur Schein ist, lässt sich hier eine wertmäßige Abschattung nach unten erkennen, folglich ein hierarchisch gestufter Seinskosmos. Das wahrhaft Seiende sind die Ideen, ihre Abbilder in den realen Gebilden haben bereits einen abgeschwächten Seinscharakter, und erst recht nimmt schließlich die Seinsqualität bei den künstlerischen Nachbildungen ab.
War Platon anfangs noch seinem Lehrer Sokrates in der induktiven Methode der Dialektik gefolgt, so verfuhr er, je mehr seine Ideenlehre feste Konturen annahm, später nur noch deduktiv. Im 7. Buch der Politeia, welches das berühmte Höhlengleichnis enthält, führt Platon aus, wie man von den Prinzipien, vom Unbedingten (anhypótheton) zum Bedingten und Einzelnen herabsteigt. Damit geht ein Dogmatismus einher, ein Anspruch, zu wissen, wie die Ideenwelt beschaffen ist. Ein vergleichbares Wissen erkennt Platon auch im Staatswesen, das von Aristokraten regiert werden soll. („Wenn dagegen Bettelleute und nur an ihren eigenen Beutel denkende Menschen zu Staatsämtern kommen, die ihr vermeintliches höchstes Gut sich von dort erst holen zu müssen glauben, so gibt’s keine Möglichkeit zu einer guten Staatsverwaltung.“76) Daraus ist unschwer zu ersehen, dass die platonische Ideenlehre einen durchaus elitären Charakter hatte und tendenziell eine Apologie der herrschenden Schicht implizierte. Dazu passt auch die von Parmenides entliehene Vorstellung „des Einen“: So wie das Sein grundsätzlich, hat auch der Staat eine Einheit zu sein, unverrückbar und unwandelbar. Deshalb musste, politisch betrachtet, der Atomismus eine Gefahr bedeuten, ein anarchisches Durcheinander mit zahllosen individuellen Bewegungen.
Im Gegensatz zu Platon verfuhr sein Schüler Aristoteles weitgehend erfahrungsorientiert. Berühmt ist sein tode ti, das „Dies da“, womit das konkrete Einzelding gemeint war. Von ihm ging Aristoteles aus, nicht von einem nur behaupteten Ideenhimmel.
Wir hatten schon gleich zu Beginn vermerkt, dass die erste Abhandlung, die den später zum philosophischen Gattungsnamen verallgemeinerten Titel Metaphysik trägt, die des Aristoteles ist. Er selbst hat die Bezeichnung aber gar nicht gebraucht, sondern sie wurde erst spät, im 1. Jahrhundert v. Chr., von Andronikos aus Rhodos eingeführt. Dieser war der zehnte Leiter der von Aristoteles begründeten peripatetischen Schule. Benannt war diese Einrichtung nach dem Ort, an dem Aristoteles seinen Unterricht abhielt: Es war eine Wandelhalle (perípatos), in der man sich philosophierend „erging“. Aristoteles (384-322), aus dem thrakischen Stageira stammend (daher wurde er früher oft auch „der Stagirite“ genannt), war der Sohn des makedonischen Leibarztes Nikomachos, der selbst einer Familie von Ärzten entstammte. Mit dieser Familientradition hat man es, wohl nicht zu Unrecht, erklärt, dass Aristoteles zeitlebens naturwissenschaftliche Studien trieb und nur selten die Nähe zum empirisch Wissbaren verließ.
Früh verwaist, kam er als Jüngling nach Athen und wurde bald Schüler Platons, der ihn „den Leser“ nannte. Er blieb fast zwanzig Jahre, bis zum Tod des Meisters, in diesem Kreis, der im Hain des Akademos (daher: „Akademie“) philosophische Gespräche führte. Dann aber folgte er der Einladung des Königs Philipp von Makedonien, welcher ihm die Erziehung seines Sohnes Alexander auftrug. Bevor dieser seinen großen Feldzug nach Asien antrat, kehrte Aristoteles wieder zurück nach Athen und gründete dort im Süden vor den Stadtmauern (zusammen mit Theophrast) seine Schule im Lykeion (danach der spätere Name Lyceum), einem Hain, der dem Apollon Lykeios geweiht war. Hier befand sich die genannte Wandelhalle. Wie Aulus Gellius (2. Jh. n. Chr.) berichtet (Noctes Atticae, 9. Buch),77 habe Aristoteles morgens „akroamatische“ Vorträge gehalten, d. h. solche, die zum Hören bestimmt waren und die, da sie ein Vorwissen erforderten, als „esoterische“ bezeichnet werden. Nachmittags dagegen trug er in etwas populärerer Form für ein breites Publikum seine „exoterischen“ Texte vor. Nur zwölf Jahre blieb Aristoteles in Athen. Dann zog er es vor, da er der Gottlosigkeit bezichtigt wurde (der wahre Grund war aber wohl seine Nähe zu den Makedoniern), die Stadt zu verlassen. In Anspielung auf das Schicksal des Sokrates sagte er, er wolle den Athenern nicht ein zweites Mal die Gelegenheit geben, sich an der Philosophie zu versündigen.78 Bald danach starb er im Alter von 62 Jahren an einem Magenleiden.
Zu den akroamatischen Schriften gehört auch die Metaphysik
