Grundwissen Chronisches Schmerzsyndrom - Thomas Stockhausen - E-Book

Grundwissen Chronisches Schmerzsyndrom E-Book

Thomas Stockhausen

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Beschreibung

Herausforderung für Mensch und Gesellschaft Chronischer Schmerz ist ein schweres Krankheitsleiden, das jede:n treffen kann. Etwa ein Fünftel der Bevölkerung leidet darunter. Dies stellt nicht nur eine individuelle, sondern auch eine gesellschaftliche Herausforderung dar. Thomas Stockhausen beleuchtet das Phänomen. Er hilft dabei, chronische Schmerzen am Beispiel von Rückenschmerzen zu verstehen. Zudem geht er auf die sozialmedizinische Perspektive ein und zeigt Möglichkeiten der Schmerzbewältigung auf. Ein Buch für Studierende der Gesundheits- und Pflegewissenschaften sowie angrenzender Studiengänge. Es ist darüber hinaus für alle anderen geeignet, die sozialmedizinisch auf chronische Schmerzen blicken.

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Seitenzahl: 276

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Thomas Stockhausen

Grundwissen Chronisches Schmerzsyndrom

solzialmedizinisch betrachtet

Umschlagabbildung: XXX

 

DOI: https://doi.org/xxx

 

© UVK Verlag 2025— Ein Unternehmen der Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KGDischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

Alle Informationen in diesem Buch wurden mit großer Sorgfalt erstellt. Fehler können dennoch nicht völlig ausgeschlossen werden. Weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen übernehmen deshalb eine Gewährleistung für die Korrektheit des Inhaltes und haften nicht für fehlerhafte Angaben und deren Folgen. Diese Publikation enthält gegebenenfalls Links zu externen Inhalten Dritter, auf die weder Verlag noch Autor:innen oder Herausgeber:innen Einfluss haben. Für die Inhalte der verlinkten Seiten sind stets die jeweiligen Anbieter oder Betreibenden der Seiten verantwortlich.

 

Internet: www.narr.deeMail: [email protected]

 

Einbandgestaltung: siegel konzeption | gestaltung

 

utb-Nr. 0000

ISBN 978-3-1234-5678-9 (Print)

ISBN 978-3-1234-5678-9 (ePub)

Inhalt

Wichtige AbkürzungenPrologWissenswertes zum Chronischen SchmerzsyndromAlle Lebensbereiche betroffenExistenzieller CharakterAnnahme und AkzeptanzTeil I | Chronische Schmerzen verstehen1 Schmerz1.1 Akuter Schmerz1.2 Nozizeptiver Schmerz1.3 Neuropathischer Schmerz1.4 Noziplastischer Schmerz1.5 Chronischer Schmerz1.6 Sensibilisierung1.7 Schmerzspiralen➲ Take-Home-Message2 Rückenschmerz2.1 Wirbelsäule2.2 Rückenleiden2.3 Schmerzskalen2.4 Chronischer Rückenschmerz2.5 Schmerzmittel2.6 Cannabis2.7 Injektionstherapie2.8 Rückenmarkstimulation2.9 Wirbelsäulenchirurgie➲ Take-Home-MessageTeil II | Die sozialmedizinische Dimension erkennen3 Biopsychosoziales Krankheitsmodell3.1 Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit3.2 ICF-Konzept in der Endoprothetik3.3 Relevanz der Fähigkeiten➲ Take-Home-Message4 Erschöpfung4.1 Müdigkeit, Fatigue und Erschöpfung4.2 Physische Ausdauer4.3 Burn-out4.4 Borderline4.5 Zeitmanagement4.6 Entschleunigung➲ Take-Home-Message5 Schlaf5.1 Physiologie5.2 Schichtarbeit5.3 Kognitive Verhaltenstherapie5.4 Medikamentöse Therapie5.5 Tagesschläfrigkeit➲ Take-Home-Message6 Einsamkeit6.1 Begriffsbestimmung6.2 Forschungsstand6.3 Auswirkungen6.4 Handlungsfelder➲ Take-Home-Message7 Leistungsbeurteilung7.1 Arbeitswelt7.2 Belastung und Beanspruchung7.3 Arbeitsunfähigkeit7.4 Arbeitsschwere7.5 Wegefähigkeit7.6 Leistungsvermögen7.7 Ergotherapeutisches Assessment7.8 Erwerbsminderung7.9 Return to life➲ Take-Home-MessageTeil III | Mit chronischen Schmerzen leben8 Orthopädische Rehabilitation8.1 Zuweisung zur medizinischen Rehabilitation8.2 Faktencheck8.3 Soziale Ungleichheiten8.4 Placeboeffekt8.5 Erkrankungsmuster8.6 Multimodale Schmerztherapie8.7 Schmerzprävention8.8 Anschlussrehabilitation8.9 Medizinisch-berufliche Rehabilitation➲ Take-Home-Message9 Rehabilitation9.1 Sozialmedizinischer Kontext9.2 Prinzipien9.3 Voraussetzungen9.4 Gesundheitsökonomische Aspekte9.5 Gesellschaftliche Bedeutung➲ Take-Home-Message10 Perspektiven10.1 Assistenzsysteme10.2 Individuelle Herausforderung10.3 Gesellschaftliche Aufgabe➲ Take-Home-MessageEpilogRegister

Wichtige Abkürzungen

ABMR

Arbeitsplatzbezogene Muskuloskelettale Rehabilitation

AHB

Anschlussrehabilitation

AU

Arbeitsunfähigkeit

AWMF

Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften

BBPL

besondere berufliche Problemlagen

BEM

Betriebliches Eingliederungsmanagement

BGSW

Berufsgenossenschaftliche Stationäre Weiterbehandlung

BPD

Borderline-Persönlichkeitsstörung

BTM

Betäubungsmittelgesetz

DRV

Deutsche Rentenversicherung

FAC

Facetteninfiltration

G-BA

Gemeinsamer Bundesausschuss

ICD

Internationale Klassifikation der Krankheiten

ICF

Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit

IMBA

Integration von Menschen mit Behinderungen in die Arbeitswelt

KBV

Kassenärztliche Bundesvereinigung

KVT-I

Kognitive Verhaltenstherapie-Intensiv

LTA

Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben

MBI

Maslach Burnout Inventory

MBOR

Medizinisch-beruflich orientierte Rehabilitation

MELBA

Merkmalprofil zur Eingliederung Leistungsgeminderter und Behinderter in der Arbeit

MET

Metabolisches Äquivalent

NAS

Numerische Analogskala

NSAR

Nonsteroidale Antirheumatika

PRT

Periradikuläre Therapie

PSPS

Persistent Spinal Pain Syndrome

SCS

Spinal Cord Stimulation (epidurale Rückenmarkstimulation)

SES

Sozioökonomischer Status

SGB

Sozialgesetzbuch

TENS

transkutane elektrische Nervenstimulation

VAS

Visuelle Analogskala

WHO

Weltgesundheitsorganisation

Prolog

Man kann es kaum glauben. Etwa ein Fünftel, bis ein Viertel der Bevölkerung leidet unter langanhaltenden oder chronischen Schmerzen. Schmerzen können im Alltag zermürben. Schmerzen können einsam machen, wer oder was hilft in solch einer Situation? Schmerz lass nach … Leben mit dem Leiden, das ist unser Thema in diesem Buch.

Fall | Alexander S. (43) hat seit der Leistenbruchoperation vor 3 Jahren Schmerzen im Unterbauch, die es ihm nicht mehr möglich machen, seinem Beruf als Hausmeister einer Grundschule nachzugehen. Er habe viele Ärzte konsultiert und glaubt inzwischen, dass er nicht mehr ernst genommen werde. Bei Erika P. (63) schlug das Schicksal bitter zu. Bei einem Fahrradausflug in Holland mit den Enkelkindern wurde sie von einem Auto erfasst und zu Boden geschleudert. Sie erlitt mehrere Knochenbrüche am linken Arm und am linken Bein. Es traten Komplikationen auf und sie musste mehrmals operiert werden. Sie leidet weiterhin unter ihren höllischen Schmerzen. Sven K. (45) hat einen chronischen Rückenschmerz im unteren Rücken, ausgehend von einem Wirbelkörpergleiten und Verschleißerscheinungen der Wirbelgelenke. Seiner Arbeit als Lagerist kann er nicht mehr nachgehen.

Schmerz ist von der Definition her ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserleben. Also nichts, was sich fassen lässt, wie ein Blutdruck- oder einen Blutzuckerwert. Auch die internationale Schmerzgesellschaft sagt: Schmerz ist subjektiv. Diese Abhandlung soll ein Verständnis dafür geben, wie Chronischer Schmerz zu verstehen, einzusortieren und zu verorten ist. Schmerzen sind häufig komplex.

Chronischer Schmerz unterscheidet sich vom akuten Schmerz. Rückenschmerz zählt hinsichtlich Arbeitsunfähigkeit zu den Rekordhaltern. Die orthopädische Rehabilitation orientiert sich am biopsychosozialen Modell (→ S.30 und → S.57) und arbeitet multimodal. Schmerz hat Einfluss auf Arbeits- und Leistungsfähigkeit. Erschöpfung und Schlaflosigkeit stellen relevante Begleitfaktoren dar. Rehabilitation ist ein Modul, um bei chronischem Schmerz eine Verbesserung zu erfahren.

Aufbau des Buches | In drei großen Abschnitten widmen wir uns diesem komplexen Thema. Zunächst wird auf das Chronische Schmerzsyndrom und dessen Entstehung eingegangen (→Teil I). Des Weiteren sind das individuelle Erleben, das damit verbundene Krankheitsleiden und die entsprechende Krankheitslast sozialmedizinisch kritisch zu reflektieren. Chronischer Schmerz hat Folgen zur Teilhabe am Leben und an der Arbeitswelt (→Teil II). Zuletzt stellt die medizinische Rehabilitation in diesem Kontext ein wichtiges Element dar, um eine Verbesserung im individuellen Krankheitserleben zu erzielen und gleichzeitig eine möglichst realistische Bewertung und Einschätzung abgeben zu können (→Teil III). Die entsprechenden Quellenangaben dienen zur intensivierten Auseinandersetzung und zur Vertiefung zum angesprochenen Thema.

Das Buch richtet sich an alle, die sich mit Fragen um den Chronischen Schmerz beschäftigen. Es dient dazu, ein Verständnis für die Patientinnen und Patienten zu erlangen und zugleich im sozialmedizinischen und im sozialrechtlichen Kontext den damit verbundenen Aspekten kompetent begegnen zu können. Betroffene und Angehörige können mehr Verständnis für dieses komplexe Krankheitsleiden erlangen. In diesem narrativen Review wird ein Grundwissen über den Chronischen Schmerz aus orthopädischer Sicht vermittelt, ohne vollständig sein zu können. Chronischer Schmerz stellt eine individuelle aber auch eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung dar.

 

Idstein, im März 2025

Prof. Dr. med. Thomas Stockhausen

 

Wissenswertes zum Chronischen Schmerzsyndrom

Der Schmerz ist der große Lehrer der Menschen. Unter seinem Hauche entfalten sich die Seelen.

Marie von Ebner-Eschenbach (1830–1916)

 

Wenn die Schmerzen wiederkehrend sind oder dauerhaft anhalten, sprechen wir vom chronischen Schmerz. Schmerz ist dabei eine mehrdimensionale Erfahrung, die sensorische, affektive, motorische und vegetative Aspekte beinhaltet und neben den physiologischen Variablen auch durch psychologische, soziale und kulturelle Aspekte beeinflusst wird. Patientinnen und Patienten möchten das Gefühl haben, in ihrer Schmerzwahrnehmung verstanden zu werden.

Alle Lebensbereiche betroffen

Schmerz ist ein individuelles Erleben und zugleich findet sich chronischer Schmerz im gesellschaftlichen Kontext. Chronischer Schmerz hat eine gesamtgesellschaftliche Relevanz. Er hat Einfluss auf die Teilhabe am Leben und die Teilhabe an der Arbeitswelt. Vielfach fühlen sich Menschen mit Chronischem Schmerz ausgegrenzt und unverstanden. Um helfen zu können, ist es wichtig, den anderen zu verstehen.

Das multimodale Therapiekonzept nach dem biopsychosozialen Modell (→ S.30 und → S.57) stellt gegenwärtig die geeignetste Methode dar, Menschen mit chronischen Schmerzen und ihrer existenziellen Verzweiflung am Schmerz wirkungsvoll zu begegnen. Chronischer Schmerz ist in diesem Kontext als eine eigenständige Krankheit zu verstehen, wie dies auch in dem aktuellen internationalen Klassifikationssystem (ICD-11) hinterlegt ist.

Wissen | Die Abkürzung ICDICD steht für International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems. Es handelt sich dabei um eine internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Sie hilft dabei Krankheiten und Gesundheitsprobleme weltweit systematisch zu klassifizieren bzw. zuzuodnen. Die Zahl 11 verweist auf die 11. Version der Klassifikation.

Angestrebt ist ein größtmögliches Verständnis des chronischen Schmerzes. Studien belegen, dass dieses Verständnis, um das elementare Dasein zu ergänzen ist. Der existenzielle Charakter verdeutlicht sich dadurch, dass alle Bereiche des Lebens betroffen sind.

Chronischer Schmerz durchdringt das gesamte Leben und ist allgegenwärtig. Es kann beschrieben werden als „ultima cura vitae“, als die letzte Sorge des Lebens, zu denen Isolation, Freiheit, Sinnlosigkeit und nahender Tod gehören. Menschen mit chronischen Schmerzen sind deswegen auch von Einsamkeit und Autonomieverlust betroffen.

Der Umgang mit Schmerz wird zur lebenslangen Aufgabe. Prägende Merkmale sind Verzweiflung und die Frage der Sinnhaftigkeit des Seins. Diesem existenziellen Leiden der Menschen mit chronischem Schmerz vermag man als Behandelnder kaum etwas entgegenzusetzen.

Existenzieller Charakter

Schmerz ist ein individuelles Erleben mit existenziellem Charakter. Existenzielle Lebenserfahrungen betreffen den inneren Kern eines Menschen. Es ist das Klagelied des Leidens, was es zu respektieren gilt, ohne in psychiatrische Diagnosen zu pathologisieren. Das Leid wird weder erklärt noch bewertet. Das Leid ist der Schmerz. Es gibt ein Recht zur Klage und zur Verzweiflung. Aus dieser Offenlegung der Klage vermag sich ein Impuls der Neuausrichtung ergeben.

Die multimodale Schmerztherapie erlaubt es, den individuellen Bedürfnissen und Beeinträchtigungen von Menschen mit chronischen Schmerzen effektiv und in einem ganzheitlichen Aspekt zu begegnen. Das biopsychosoziale Konzept ist ein etablierter Weg, der Komplexität des Chronischen Schmerzsyndroms zu begegnen. Angesichts institutioneller Vorgaben und Erwartungen an objektiv darstellbare und möglichst schnelle Behandlungserfolge mag es jedoch schwerfallen, auch der Verzweiflung Zeit und Raum zu geben.1

Annahme und Akzeptanz

Leben mit Schmerz bedeutet Annahme und Akzeptanz der damit verbundenen Einschränkungen. Es ergeben sich Konsequenzen zur Teilhabe am Leben und an der Arbeitswelt. Es ist ein multidimensionales Geschehen, dem ganzheitlich zu begegnen ist. Menschen mit chronischen Schmerzen bedürfen der Unterstützung in ihrer Verzweiflung. Das individuelle Erleben findet sich im gesamtgesellschaftlichen Kontext und will gewürdigt sein. Die an diesem Prozess beteiligten Akteure stehen vor einer besonderen Herausforderung.

 

Chronischer Schmerz ist ein ganzheitliches Geschehen.

Teil I | Chronische Schmerzen verstehen

1Schmerz

Schmerz ist ein individuelles Erleben. Schmerz ist immer eine persönliche Erfahrung, die in unterschiedlichem Maße von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren beeinflusst ist. Berichte von Schmerz sind zu respektieren. Sie stellen im Leben des Individuums eine absolute Realität dar und sind nicht relativierbar. Schmerzintensität und die damit verbundene Schmerzbeeinträchtigung sind für die Betroffenen tatsächlich. Das damit verbundene emotionale Erleben ist bestehend und wahrhaftig gefühlt.

Die International Association for the Study of Pain hat ihre ursprünglich 1979 aufgestellte Definition 2020 revidiert und definiert Schmerz als eine „unangenehme sensorische und emotionale Erfahrung, die mit einer tatsächlichen oder potenziellen Gewebeschädigung in Zusammenhang steht oder einer solchen ähnelt“.1,2 Schmerzen können mitunter nicht nur durch die Aktivierung von Nerven abgeleitet werden, Lebenserfahrungen tragen zum Erleben bei. Erfahrungen von Schmerz können dabei verbal kommuniziert werden. Die Unfähigkeit, sich zu äußern, schließt ein Schmerzerleben nicht aus.

1.1Akuter Schmerz

Fall | Eine kleine Familie wandert durch den Wald und findet eine Lichtung. Dort lässt es sich gut rasten und die Decke zum Picknick ist bereits ausgelegt. Rohkost und Dips, Äpfel, Birnen und Trauben liegen bereit. Wein, Käse und etwas Schinken sind ausgebreitet. Das Baguette riecht noch frisch und wird sorgfältig gebrochen. Die Kinder spielen im Wiesengrund. Alles ist hell und freundlich. Es ist Spätsommer und plötzlich kommt es zum Aufschrei. Eine Wespe sticht zu. Schreiend kommt die kleine Eva P. (5) gerannt. Sie ist in den Fuß gestochen worden. Glücklicherweise sind Cool-packs und Salbe eingepackt. Die Tränen fließen, bald ist der Schmerz vergessen.

Fall | Sedar S. (38) geht es anders. Er betreibt ein Café in der Burgstraße. Die Wespen in der Theke ist er an diesem Spätsommerabend gewöhnt. Er hat vielerlei Leckereien in seinem Sortiment. Allerlei Blätterteig mit Honig und Pistazien. Seine kleine Bäckerei befindet sich an der Ecke eines Stadtviertels. Schräg gegenüber befindet sich ein Park. Als er die Polster für den Außenbereich auslegen wollte, wird er von einer Hornisse an seinem Fuß gestochen. Der Schmerz ist heftig. Schnell holt er sich Coolpacks und versucht mit Salbe die Reaktion zu mildern. Es geht aber weiter … er fühlt sich erschöpft. Es entwickeln sich Ängste, der Blutdruck steigt, die Atmung wird heftiger … er bekommt Panik.

Fall | Christoph A. (21) arbeitet als Schweißer und stellt tonnenschwere Druckbehälter her. Für ihn ist Schweißen Meditation. Wenn man den Lichtbogen sieht, dann ist alles für ihn Beruhigung. Bei der Pandemie ging er ins Impfzentrum. Er war da ganz pragmatisch: „Hauen Sie mir das Ding rein. Muss doch sein.“ sagte er anlässlich der COVID-19 Impfung.

Fall | Janine K. (46) ging es da anders und erinnert sich genau, wie schrecklich das für sie war. Sie fühlte sich gedungen von ihrem Umfeld und wollte nicht wirklich geimpft werden. Sie ist sich auch heute nicht sicher, ob es ihr guttut und weiß auch nicht einzuschätzen, was die Impfung mit ihr macht. Ihr Mann und die Kinder wünschen sich so sehr, dass sie sich impfen lässt. Zugleich hat sie immer noch so viele Ängste darüber, was es mit ihr machen wird.

Die Schmerzsignalgebung ist mit Empfindungen verknüpft, denen vor der jeweiligen individuellen Biografie im jeweiligen kulturellen Kontext ein Wert zugeordnet wird. Affekt und Bedeutung bilden das emotionale Erleben.1 Jede und jeder empfindet Schmerz individuell und weist diesem eine jeweilig unterschiedliche Bedeutung zu. Es zeigen sich unterschiedliche Fähigkeiten im Erkennen und Ausdrücken von Emotionen sowie zu einem angemessenen Umgang mit Gefühlen. Der Aufbau einer emotionalen Kompetenz scheint eines der zentralen Entwicklungsaufgaben im Kindesalter zu sein und ein Mangel an emotionaler Kompetenz scheint ein Prädiktor für schwerwiegende Folgen im Entwicklungsverlauf zu sein.2 Diese Erkenntnisse bedingen aber nicht, dass fehlende erlernte Kompetenz Prädiktor für ein verstärktes Schmerzerleben darstellt. Bio-psychosoziale Aspekte treten hinzu und können zu Veränderungen bis zum hohen adulten Alter führen.

Bei den oben aufgeführten Verletzungsmustern – dem Wespenstich und der Injektionsnadel – sind die Gewebeschädigungen vergleichbar. Es ist ein kleiner Stich, der unterschiedlich erlebt wird, dessen Folgen unterschiedlich zum Ausdruck gebracht werden. Findet sich das Kind wohlbehütet bei den Eltern geschützt, vermag der Schlosser einen hohen Grad an Resilienz aufzuweisen. Dies ist aber im Laufe des Lebens veränderbar und kann sich unterschiedlich ausgestalten. Zu unterscheiden sind hier aber die Stimmung, die diffuse, aber längerfristige Gemütszustände beschreiben oder die biologische Reaktion, wie die des allergischen Schocks mit vegetativen und affektiven Reaktionen. Es kommt zu einer Rötung an Gesicht und Oberkörper. Schwellungen und Sympathikusaktivierung kommen hinzu. Die Schleimhäute schwellen an und es kommt zu Luftnot.

Fall | Eine Stunde später findet sich Sedar S. in der Notaufnahme einer Klinik. Er bekommt Kortison und Antihistaminika. Es zeigt sich eine schwere allergische Reaktion. Über das Schmerzerleben hinaus entwickelt sich eine eigenständige lebensbedrohende Erkrankung.

Schmerz kann unterschiedlich erlebt und erfahren werden. Das Kind findet schnell Trost und Schutz bei den Eltern. In einer Bäckerei gehört es zum Berufsbild, von Wespen gestochen zu werden. Viele Menschen kommen mit Injektionsnadeln gut zurecht und andere empfinden höchste Angst und reagieren mit Kaltschweiß.

Schmerz ist ein individuelles Sinnes- und Gefühlserlebnis und stellt sich für die Betroffenen als Realität dar. Dies gilt es zu akzeptieren und zu würdigen. Schmerz ist vielfältig in seiner Entstehung und Ausprägung. Die zugrunde liegenden Mechanismen sind komplex und die Behandlung stellt die Beteiligten vor Herausforderungen. Vieles ist noch nicht verstanden und dennoch braucht es Verständnis um die Betroffenen.

1.2Nozizeptiver Schmerz

Fall | Alex S. (24) hat es heute wieder eilig. Schnell rennt sie von der Küche ins Bad und prompt ist es geschehen. Mit der kleinen Zehe stößt sie an die Kante der Türzarge. Plötzlich schießt ein heller Schmerz durch ihren ganzen Körper. Sie reibt über die Stelle und pustet, dass es weniger weh tut.

So wie Sehen oder Hören ist Schmerz eine eigene Sinneswahrnehmung. Sind es im Auge die Sehzellen oder im Ohr die Hörzellen, so hat der Schmerz ein eigenes System der Wahrnehmung, das sog. nozizeptive Systemnozizeptives System. Schmerz ist immer ein lebenswichtiges Warnsignal. Wenn Schmerz erfahren wird, sagt der Körper, dass etwas nicht in Ordnung ist und es sich lohnt, sich darum zu kümmern. Schmerz ist immer subjektiv. Wenn sich zwei Personen jeweils das Bein gebrochen haben, dann werden beide wahrscheinlich den Schmerz unterschiedlich intensiv für sich erleben und erfahren. Schmerz entsteht im Kopf und ist somit nicht objektiv messbar. „Bei der Schmerzbeurteilung sind wir auf die Aussagen der Probanden angewiesen“ berichten Schmerzmediziner. Eine Messung wie etwa die der Körpertemperatur steht nicht zur Verfügung. Schmerz ist auch immer multidimensional. Der Schmerz wird sensorisch erfahren und in das Bewusstsein weitergeleitet. Er geht mit einer vegetativen oder autonomen Begleitreaktion einher, wie ein tiefer Seufzer, eine beschleunigte Atmung oder Erhöhung der Herzschlagfolge. Kognitiv wird nach der Ursache des Schmerzes gefragt, während die emotionale Komponente, dies in Kategorien wie Wut, Trauer, Scham, Angst und andere Gefühle verortet.

Wissen | René Descartes (1596–1650) gilt als Begründer des frühzeitlichen Rationalismus. Vor dem Hintergrund des dualistischen Menschenbildes entwickelte sich ein stark naturwissenschaftlich orientiertes Verständnis von Schmerz, das bis heute noch anhält. Die Sichtweise, dass Schmerz als Ganzes, als körperlich-psychische Einheit zu verstehen ist, entwickelte sich im 20. Jahrhundert und hat zum Verständnis der Schmerzerfahrung beigetragen.1

Morphologisch werden durch einen Stich, Schlag oder Stoß an der Zehe SchmerzrezeptorenSchmerzrezeptoren angeregt, die zum Rückenmark gelangen und von dort weiter an das Gehirn geleitet werden. Es beginnt also bei den Schmerzrezeptoren, den sog. Nozizeptoren. Das sind Nervenzellen, die in oder unter der Haut sitzen und auf ganz unterschiedliche Reize wie Druck oder Verletzung, Kälte oder Hitze als auch chemische Reizung und Entzündung reagieren. Schmerzrezeptoren gibt es nicht nur an der Haut, sondern auch in Muskeln, Gelenken und Eingeweide. Dabei spielt die Dichte der Schmerzrezeptoren in der Verortung des Schmerzes eine wichtige Rolle.

Bei einer Schnittverletzung etwa kommt es zu einem hellen, spitzen Schmerz, der dann von einem brennenden, eher stumpfen Schmerz abgelöst wird. Einerseits gibt es die schnellen A-Delta-Fasern, die die Signale schnell weiterleiten. Sie vermitteln die Botschaft der akuten Gefahr, aus der man sich etwaig zu entfernen habe. Die langsameren C-Fasern, die eher einen dumpfen Charakter vermitteln, teilen mit, dass eine Verletzung entstanden ist, um die man sich zu kümmern habe. Von der Zehe ausgehend wird im Rückenmark der Schmerz weitergeleitet. Hier kann bereits der Schmerz verstärkt oder auch vermindert weitergeleitet werden, es ist das erste Filterorgan für das Schmerzerleben. Einerseits wird der elektrische Impuls des Nervs über Synapsen über eine chemische Reaktion weitergeleitet. Hierbei muss ein Schwellenwert überschritten werden, um als Schmerzreiz fortgeleitet zu werden. Andererseits steuern Interneurone die Schmerzweitergabe an das Zentrale Nervensystem. Reiben, Drücken oder auch kaltes Wasser können Interneurone beeinflussen und der Schmerz schlägt dann nicht mehr so durch.

Wird der Schmerzreiz über das Rückenmark zum Gehirn weitergeleitet, kommt es zu einer komplexen Verarbeitung innerhalb des Gehirns. Der Schmerz kommt ins Bewusstsein, wird spürbar. Im sog. somatosensorischen Cortex, einer Hirnwindung des Großhirns wird der Schmerz lokalisiert. Zugleich kommt es zur Rückschaltungen, die Gefühle und Emotionen, Schmerzintensität und Schmerzbeeinträchtigung hervorrufen bzw. steuern. Schmerzerfahrungen und auch Zukunftserwartungen verknüpfen sich und tragen zum individuellen Erlebnis von Schmerz bei. Es werden dann vegetative Begleitreaktionen, wie Übelkeit, veränderter Herzschlag, intensivierte Atemtätigkeit über das vegetative Nervensystem in den Körper zurückgegeben, was wiederum Veränderungen hervorruft. Dieses Schmerzerleben kann dann auch mit Gefühlen wie Angst, Trauer, Verzweiflung, Depression und Einsamkeit oder auch Freude, Hoffnung, Genuss, Schlaf, sogar Verständnis konnotiert werden.

Neben den aufsteigenden Bahnen zum Gehirn gibt es absteigende Bahnen, die zur Gegenregulation dienen. So können Endorphine – körpereigene Schmerzmittel – ausgeschüttet werden, die dem Schmerz begegnen und ihn lindern. Psychologische Co-Faktoren wie Ablenkung, Stimmung, Erwartung, Aufmerksamkeit, wahrgenommene Gefahr sowie Umwelteinflüsse modulieren den Schmerz sowohl in die Schmerzlinderung als auch in die andere Richtung, der Schmerzverstärkung.

Diese bewusst einfach gehaltene Darstellung der biologischen Vorgänge des Schmerzerlebens verdeutlicht, wie komplex sich die Schmerzverarbeitung gestaltet, wie das Sinnesorgan der Schmerzempfindung und -verarbeitung funktioniert.

Zum nozizeptivem Schmerz gehört auch das Schmerzerleben bei einer Entzündungsreaktion. Hier bei wird Gewebe geschädigt und es folgt eine Entzündungsreaktion. Diese Entzündungsreaktion kann bakteriell bedingt sein oder auch ohne Bakterien entstehen. Eine Verbrennung stellt in der Regel eine nicht bakterielle Entzündung dar. Die mildeste Verbrennung ist der Sonnenbrand. Da ist es normal, dass es zu Schmerzen kommt, die andauern. Später kommt es zur Heilung und der Schmerz verschwindet. Bei einer akuten Blinddarmentzündung zeigt sich ein akuter Schmerz, der auch anhält, weil es auch zu einer Begleitreaktion des Bauchfells kommt. Unbehandelt schreitet die Erkrankung fort. Nach einer Behandlung, die auch eine operative Entfernung des Wurmfortsatzes beinhalten kann, kommt es zu einer Aufhebung der Gewebeschädigung und der Schmerzausbildung. Eine Aufhebung eines sog. inflammatorischen Schmerzes ist in der Regel mit einer Heilung verbunden.

Abb. 1:

Formen des Schmerzerlebens vom nozizeptiven Schmerz zum noziplastischen Schmerz. Die Übergänge sind überlappend und teils schwer zu trennen (eigene Darstellung).

1.3Neuropathischer Schmerz

Beim neuropathischen Schmerz findet sich eine Schädigung (Läsion) oder Erkrankung des somatosensorischen Nervensystemsomatosensorisches Nervensystems.1 In der Summe kommt es zu einer Schädigung der Nervenbahnen selbst, bei denen es zu Schmerzsensationen des nozizeptiven Schmerzes kommt, das Schmerzerleben von dem des akuten Schmerzes sich jedoch unterscheidet. Dieser Schmerz hat typischerweise eher einen grellen, brennenden, stechenden und zumeist vom Anlass unabhängigen, einschießenden Charakter. Oft ist der Schmerz symmetrisch lokalisiert, wie etwa an beiden Händen. Er kann aber auch das Versorgungsgebiet eines Nervs betreffen. Die Schädigung kann sich traumatisch oder entzündlich entwickeln. Ein klassischer neuropathischer Schmerz ist die Gürtelrose als Folge einer Nervenschädigung durch Varizella-Zoster-Viren.

Schmerzen entstehen etwa durch einen Bruch eines Knochens. Im Verlauf der Knochenbrucherkrankung können sich infolge der nozizeptiven Stimulation funktionelle Veränderungen des Nervensystems entwickeln, ohne dass strukturelle Veränderungen der Nervenleitsysteme vorliegen. Es zeigen sich viele Symptome, wie Brennen, Nadelstiche, Taubheit, ein einschießender Schmerz oder Ameisenlaufen und anderes mehr. Man kann sich das so vorstellen, als dass die Nervenscheide, die komplex aufgebaut ist, sich in ihrer Funktion verändert hat, bei der es zu plötzlichen und unerwarteten Schmerzbildungen kommt. Selbst leichte Berührungen können den Schmerz auslösen. Er kann aber auch spontan auftreten, ohne dass tatsächlich etwas passiert ist. Die Abgrenzung zum nozizeptiven Schmerz kann mitunter schwierig sein.

Die Angaben zum Vorkommen schwanken zwischen 1 % und 8 % in der Gesamtbevölkerung. Herpes Zoster oder diabetische Polyneuropathie zeigen häufig einen neuropathischen Schmerz. Auch stattgehabte Operationen oder Verletzungen können einen neuropathischen Schmerz verursachen und sind auch ziemlich häufig. Der neuropathische Schmerz hat einen signifikanten negativen Einfluss auf die Lebensqualität.

Neuropathischer Schmerz ist Folge von komplexen Prozessen in der Verarbeitung der peripheren und zentralnervösen Signalverarbeitung. Evidenzbasiert stehen verschiedene Arzneimittel zur Verfügung. Bestimmte Antidepressiva, Antiepileptika und auch Opioide bis hin zu Cannabinoide können gezielt eingesetzt werden. Neben einer systemischen und/oder lokalen medikamentösen Therapie stehen auch nichtmedikamentöse Ansätze wie z. B. eine sensorisch-perzeptive oder motorisch-funktionelle Therapie, Entspannungstechniken, Achtsamkeitsübungen, die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) und supportiv eine kognitive Verhaltenstherapie zur Verfügung. Es bedarf einer langfristigen Begleitung und Ausdauer, dem neuropathischen Schmerz erfolgreich zu begegnen.

1.4Noziplastischer Schmerz

Der noziplastische Schmerz ergänzt die mechanistischen Schmerzkategorien nozizeptiv und neuropathisch. Der noziplastische Schmerz entsteht aus einer veränderten Nozizeption, einem sich anders herleitendem Schmerzempfindens, obwohl keine eindeutigen Hinweise auf die tatsächliche oder drohende Gewebeschädigung vorliegen. Dieser Schmerz beruht eben nicht auf einer Aktivierung peripherer Nozizeptoren (nozizeptiv) oder einer Erkrankung oder Läsion des somatosensorischen Systems (neurpathisch). Klinische und psychologische Befunde weisen auf eine veränderte Schmerzverarbeitung hin. Kennzeichen ist ein chronischer Schmerz in einer oder mehreren anatomischen Regionen, die durch erheblichen emotionalen StressStress oder funktionelle Behinderung begleitet sind. Funktionelle und strukturelle Plastizitätsprozesse treten maladaptiv ein, die zu einer zentralen Sensibilisierung führen und sich klinisch in einer HyperalgesieHyperalgesie (gesteigerte Schmerzempfindlichkeit) oder einer AllodynieAllodynie (Schmerz durch nicht schmerzhafte Reize) darstellen. Die Sensibilisierung steht im Vordergrund des pathophysiologischen Konzepts noziplastischer Schmerzen.1

Merkmal

Nozizeptiver Schmerz

Neuropathischer Schmerz

Noziplastischer Schmerz

Ursprung

Schädigung oder Reizung von Gewebe wie Haut, Muskel, Knochen, Gelenke oder Organe

Schädigung oder Fehlfunktion des Nervensystems

Veränderungen im zentralen Nervensystem ohne direkte Schädigung oder Reizung von Gewebe

Art des Schmerzes

typischerweise als akuter, scharfer oder heller Schmerz empfunden, aber auch dumpf und drückend

Kann sich als brennender, stechender, elektrisierender oder tauber Schmerz darstellen.

vielfältige und oft schwer zu beschreibende Schmerzempfindungen, die nicht immer mit einer spezifischen Gewebeschädigung korrelieren

Mechanismus

Nozizeptoren im Gewebe reagieren auf schädliche Reize und senden Signale an das Gehirn.

Störungen des Nervensystems führen zu Abnormen Schmerzspiralen, die oft ohne klaren Auslöser auftreten.

Veränderungen im Gehirn und im Nervensystem führen zu einer gesteigerten Schmerzempfindlichkeit und -verarbeitung.

Beispiele

Schnittwunde, Verbrennung, Verstauchung, Zerrung, Arthritis

diabetische Neuropathie, Trigeminusneuralgie, Gürtelrose, Phantomschmerz

primärer und sekundärer chronischer Schmerz, komplexe regionale Schmerzsyndrome, Schmerzen nach Traumatisierung oder Operation

Behandlung

Behandlung der zugrunde liegenden Ursache und Schmerzlinderung durch Medikamente wie NSAR und Opioide

Behandlung der neuropathischen Grunderkrankung, Schmerzmittel sowie ergänzende Medikamente wie Antidepressiva, Antikonvulsiva oder Lokalanästhetika

die Behandlung konzentriert sich auf die Reduzierung der Schmerzverarbeitung im Gehirn durch eine multimodale Schmerztherapie (biopsychosoziales Modell) sowie Resilienzförderung

Tab. 1:

Übersicht der unterschiedlichen Schmerzformen (eigene Darstellung)

1.5Chronischer Schmerz

Fall | Rudolph H. (62) war sich früher für nichts zu schade. Geackert wie blöd, auch schwarzgearbeitet, Fußball gespielt und auch richtig reingegangen. Ihm war nichts zu schwer und niemals zu lang. Gut Kohle habe er dabei verdient. Manchmal war’s zu viel und es hat auch echt weh getan. „Mit einer Ibu ging das immer ganz gut.“ Hätte man ihm damals gesagt, dass der Schmerz immer da sein wird und auch nicht mit Schmerzmitteln weg ginge … er hätte es damals nicht geglaubt. Seit dem Bandscheibenvorfall vor zwei Jahren, den folgenden Operationen hat er dauerhaft Schmerzen. Trotz aller Versuche ist es nicht besser geworden.

Wenn der Schmerz über Monate oder Jahre nicht mehr weggeht, spricht man von einem chronischen Schmerz. Die Warnfunktion, wie wir sie vom akuten Schmerz kennen, geht gänzlich verloren. Der Schmerz ist lang andauernd oder auch wiederkehrend. Die Ursachen sind unbekannt bzw. vielschichtig oder sie sind bekannt, aber nicht therapierbar. Etwa jede fünfte Person der Bevölkerung beklagt einen chronischen Rückenschmerz. Sind es in den jungen Jahren nur wenige, so steigt der Anteil im Laufe der Lebensjahrzehnte auf knapp 30 % an.1

Bei chronischen Schmerzen unterscheidet man primär chronische Schmerzenchronischer Schmerzprimär und sekundär chronische Schmerzenchronischer Schmerzsekundär. Das Gehirn ist nicht nur ein Sinnesorgan, dass sich auf Reizreaktion beschränkt. Es generiert Vorhersagungen und Hypothesen von Sensationen. Alle Erfahrungen und Einflussfaktoren, individuelle Prägungen und die persönlichen Lebensgeschichten werden neurobiologisch integriert. Erwarteter Reiz und realer Stimulus müssen hier neu verhandelt werden und es kommt zum Kompromiss mit der Schaffung einer eigenen, subjektiven Wirklichkeit innerhalb des Irrtumsbereiches. Die Adaptation an Herausforderung durch physiologische und psychologische Verhaltensänderungen erscheint auch energetisch für das Gehirn deutlich ökonomischer. Kontrollierbarer Stress führt zu einer Stabilisierung, unkontrollierbarer Stress zur Überlastung. Aufgrund solcher oder anderer kontextueller Verknüpfungen wird Schmerz zentral generiert, was als noziplastischer Schmerz bezeichnet wird.2 Primär chronischer Schmerz wird als Schmerz in einer oder mehreren anatomischen Regionen bezeichnet, der durch erheblichen emotionalen Stress oder funktionelle Behinderung gekennzeichnet ist.3 Chronischer Schmerz ist eine eigenständige Erkrankung. Der Schmerz stellt das Hauptproblem dar.

Sekundär chronischer Schmerz kann Folge einer anderen Erkrankung sein, wie Tumorerkrankung, DiabetesDiabetes mellitus oder Post-Covid-SyndromPost-Covid-Syndrom. Der viszerale Schmerz, also der Schmerz des Bauchraumes nach Operationen oder Erkrankungen als sekundär chronisches SchmerzsyndromChronisches Schmerzsyndrom, stellt eine besondere Herausforderung dar.4 Es gibt viele andere Erkrankungen, die einen sekundären chronischen Schmerz verursachen können. Dem zentralen SchmerzSchmerz, zentraler liegt eine Erkrankung des Gehirns selbst vor, wie Gefäßerkrankungen, Multiple Sklerose, Parkinsonsyndrom, Tumore des Gehirns oder Schädel-Hirn-Traumata und ist zu unterscheiden.

Bei chronischem Schmerz kommen biologische, psychologische und soziale Faktoren so zusammen, dass sie den Schmerz untereinander unterhalten. Für diese Interpretation wird das biopsychosoziale ModellBiopsychosoziales Modell verwendet, um den komplexen Zusammenhängen zu begegnen. Das biopsychosoziale Modell geht davon aus, dass Schmerz nicht nur durch eine Dimension beeinflusst wird, sondern durch ganz viele unterschiedliche Faktoren. Auf der biologischen Ebene findet man bei Menschen, die chronische Schmerzen haben, strukturelle Veränderungen im Gehirn. Die Reize werden anders verarbeitet, man findet aber auch Besonderheiten im psychologischen Bereich, Schmerzen werden intensiver wahrgenommen, besonders in Phasen hoch ausgeprägter Traurigkeit oder Ängstlichkeit. Der soziale Input ist bei chronischen Schmerzen dadurch gegeben, als dass die Umgebung massiven Einfluss darauf haben kann. In welcher Rolle befindet sich der Mensch, der Schmerzen hat? Wie wird es von der Umgebung wahrgenommen? Findet Unterstützung statt oder ist der Mensch in seinem sozialen Kontext mit seinen Problemen allein?

Bei primär chronischen Schmerzen ist es oft so, dass die Patientinnen und Patienten die Rückmeldung durch die Ärzte bekommen, dass man keinen erklärlichen Befund für die beklagten Beschwerden habe. Es ist keine schlimme Erkrankung, kein Tumor. Das ist zunächst eine gute Nachricht und trotzdem stehen Patientinnen und Patienten mit ihren Schmerzen immer noch da und wissen nicht, woher diese kommen. Kriterien für einen chronischen Schmerz sind zum einen die lange Dauer von drei oder sechs Monaten oder sogar mehr. Die Schmerzen stellen zum anderen eine emotionale Belastung dar, wie Frustration, depressive Verstimmung oder Angst und führen zu einer erheblichen Einschränkung des Alltags. Ein wichtiges Kriterium stellt dar, dass der Schmerz nicht durch eine andere Diagnose zu erklären ist.

Formen des Chronischen SchmerzsyndromsChronisches Schmerzsyndrom sind ein Ganzkörperschmerz, ein komplexes regionales Schmerzsyndrom, chronische Kopfschmerzen aber auch der viszerale Schmerz auch ohne Voroperation oder der chronisch muskuloskelettale Schmerz.

Chronischer Schmerz geht mit unterschiedlich erheblichen Belastungen im Alltag einher. Es zeigt sich in Ruhe oder auch unter Belastung ein Ganzkörperschmerz. Physikalische Reize, wie Kälte oder Wärme, können Schmerzen auslösen. Es zeigt sich eine Überempfindlichkeit gegenüber Berührung, Druck oder Bewegung oder gegenüber Licht, Lärm oder Gerüchen. Es kommt zu einer verfrühten Erschöpfung sowie zu signifikanten Schlafproblemen. Außerdem zeigen sich kognitive Einschränkungen bei Konzentration und Gedächtnisleistung.

Da der Wirkmechanismus bei chronischen Schmerzen ein anderer ist als bei akuten Schmerzen, helfen SchmerzmittelSchmerzmittel nur bedingt. Anders als bei akuten Schmerzen, die häufig mit Schmerzmitteln behandelt werden, werden chronische Schmerzen mithilfe einer multimodalen Schmerztherapiemultimodale Schmerztherapie therapiert. Da biologische, soziale und psychologische Faktoren bei chronischen Schmerzen eine Rolle spielen, werden die verschiedenen Bereiche bei der Behandlung angesprochen. In diesen Feldern liegen die entsprechenden Ressourcen, dem Schmerzerleben zu begegnen. Ein ganzes Team aus Psychologie, Physiotherapie, Ergotherapie, Sozialpädagogik, Medizin, Ethik und vielen anderen Disziplinen arbeiten eng zusammen. In der Psychotherapie lernen Betroffene zum Beispiel so, den Fokus von den Schmerzen wegzuschieben. Außerdem lernen sie, die Gefühle, die mit den Schmerzen einhergehen, ein bisschen besser in den Griff zu bekommen. Das primäre Ziel der Therapie ist nicht, dass Betroffene komplett schmerzfrei werden, sondern dass sie wieder aktiv ihren Alltag leben können, also zum Beispiel ganz normal aufstehen, zur Schule, zur Uni, zur Arbeit gehen und dann abends mit Freundinnen und Freunden unterwegs sein können. Je mehr man wieder in den Alltag integriert ist und sich so verhält, wie man sich auch ohne Schmerzen verhalten würde, desto besser ist man auch von den Schmerzen abgelenkt.

Dabei ist es aber auch wichtig, sich nicht zu überlasten. Patientenverbände beschreiben es so, dass Bewegung und Entspannung ausgeglichen zu halten sind. Bewegung heißt da nicht Leistungssport und Entspannung meint auch nicht das Rumliegen auf der Couch. Es geht nicht um das intensive Ausdauertraining, sondern um die Bewegung und Beweglichkeit, die Erlangung von Kraft, Ausdauer und Kondition. Andererseits ist es auch wichtig zur Ruhe zu kommen und sich von den Schmerzgedanken und den Belastungen des Alltags lösen zu können. Aber auch das will geübt sein. Patientinnen und Patienten haben eine für sie selbst passende individuelle Dosis zu finden.

Dem sozialen Umfeld kommt für die Bewältigung der schweren Erkrankung des chronischen Schmerzes eine wichtige Aufgabe zu. Es ist wichtig, keinen Erwartungsdruck an die betroffene Person auszuüben. Viele Erkrankte ziehen sich ob des Erwartungsdruckes zurück, auch aus Angst davor, dass andere ihre Schmerzen nicht ernst nehmen. Eine Ablenkung zu gemeinsamen Unternehmungen stellt eine gute und wichtige Unterstützung dar. Wenn es nicht angenommen werden kann, ist es nicht persönlich zu nehmen. Hat man selbst Schmerzen ist man auch nicht so gut drauf. Wichtig ist es, Verständnis zu zeigen und auch zu fühlen. Eine besondere Herausforderung stellt die Arbeitswelt dar.

1.6Sensibilisierung

Bei chronischen Schmerzen gibt es Phänomene der SensibilisierungSensibilisierung. Schmerzsensoren werden erregt und geben ihren Reiz an das Rückenmark. Neben der Schmerzaktivierung kann eine begleitende Kaskade mit anderen Botenstoffen entstehen, die wiederum Veränderungen des Gewebes, wie Entzündungsreaktionen, hervorrufen oder Einfluss auf die Gefäße ausüben. Bei chronifiziertem Schmerz kann bei den Schmerzsensoren, den Nozizeptoren, die Erregbarkeit verstärkt sein. Sensorproteine sind leichter aktivierbar und das elektrische Signal wird schneller erzeugt und weitergeleitet.

Ähnliche Sensibilisierungsvorgänge finden sich auch im zentralen Nervensystemzentrales Nervensystem, also im Rückenmark und Gehirn. Wir sehen dies an der Umschaltstelle des nozizeptiven Nervs im Rückenmark, bevor der Reiz an das Gehirn weitergeleitet wird, den Synapsen. Hierbei wird der elektrische Impuls der Nervenzelle über einen chemischen Prozess in der Synapse durch Botenstoffe weitergeleitet. Zur Schmerzübertragung ist ein gewisses Potential zu erreichen, bevor das Signal weitergeleitet wird. Beim Chronischen Schmerzsyndrom kommt es zur Hochregulation von Botenstoffen, zu einer Aktivierung bisher stiller Rezeptoren und es kommt zu einer genetischen und metabolischen Veränderung der Neurone, die eine Ausweitung und eine generalisierte ÜberempfindlichkeitÜberempfindlichkeit auslösen.