Gruppen und Teams professionell beraten und leiten - Rosa Budziat - E-Book

Gruppen und Teams professionell beraten und leiten E-Book

Rosa Budziat

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Beschreibung

Wer in und mit Gruppen arbeitet, erlebt Gruppendynamik – mal erfreulich, mal erschreckend. Welche Kräfte wirken in Gruppen und Teams? Und wie können sie konstruktiv gesteuert werden? Rosa Budziat und Hubert Kuhn unterstützen mit ihrem Wissen aus der gruppendynamischen Forschung und Praxis diejenigen, die mit Gruppen arbeiten – seien es Coaches, Berater/ -innen, Gruppenleiter/ -innen von Ausbildungsgruppen oder Mitglieder beziehungsweise Führungskräfte eines Teams. Sie erläutern, wie man Dynamiken in einer Gruppe leichter erkennen und besser verstehen kann – getreu einem Leitsatz von Kurt Lewin, dass nichts praktischer als eine gute Theorie ist. Und sie zeigen, dass es zahlreiche Möglichkeiten gibt, in und mit Gruppen und Teams effektiv und rundum zufriedenstellend zusammenzuarbeiten. Rosa Budziat und Hubert Kuhn gewähren einen Blick in ihren umfangreichen Methodenkoffer, außerdem verdeutlichen viele Fallbeispiele, wie die gruppendynamische Sicht auf Gruppen und Teams in der systemischen Praxis angewandt werden kann.

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Seitenzahl: 513

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Rosa Budziat/Hubert R. Kuhn

Gruppen und Teams professionell beraten und leiten

Handbuch Gruppendynamik für die systemische Praxis

Mit einem Vorwort von Peter Martin Thomas

Mit 28 Abbildungen und 21 Tabellen

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2021 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe

(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)

Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Arkadiy54321/shutterstock.com

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

ISBN 978-3-647-99356-0

1 Inhalt

Vorwort

1 Einführung: Keine Angst vor Gruppendynamik!

1.1 Warum dieses Buch?

1.2 Ein Überblick über das Buch

2 Die Sicht auf Gruppen

2.1 Systemisches Verständnis der Gruppe

2.1.1 Personorientierte Systemtheorie: Systeme handelnder Personen

2.1.2 Kommunikationsorientierte Systemtheorie: System aus Kommunikationen

2.1.3 Narrative Systemtheorie: System aus Geschichten

2.1.4 Synergetische Systemtheorie: System als Selbstorganisation

2.2 Gruppendynamik im Alltag, in der Wissenschaft und Erwachsenenbildung

2.3 Wie ist die Gruppendynamik als Verfahren entstanden?

2.3.1 Persönlichkeiten der sozialpsychologisch-humanistischen Gruppenverfahren

2.3.2 Die Geschichte der Gruppendynamik in Deutschland

2.4 Verständnis von Gruppen und Teams

2.4.1 Wie Gruppen entstehen

2.4.2 Kräfte in Gruppen: Das gruppendynamische Feld

2.4.3 Unterschiede zwischen Gruppe und Team

2.5 Gemeinsamkeiten in systemischer und gruppendynamischer Denkweise

3 Unser Modell systemischer Gruppendynamik

3.1 Theoretischer Hintergrund zum Modell systemischer Gruppendynamik

3.2 Zwei Fallbeispiele und verschiedene Dynamiken

3.2.1 Individuelle Dynamiken

3.2.2 Soziale Dynamiken

3.2.3 Kontextdynamiken

3.2.4 Innere und äußere Umwelt der Gruppe und des Teams

4 Gruppendynamische Prozesse erkennen und verstehen

4.1 Vertikale Ausrichtung – Tiefendimensionen und Strukturen in Gruppen und Teams

4.1.1 Das soziodynamische Eisbergmodell und der gruppendynamische Raum

4.1.2 Normen, Rollen und Status

4.1.3 Schindler: Soziodynamische Positionen in Gruppen

4.1.4 Bion: Grundannahmen für Gruppen

4.1.5 Heigl-Evers: Das Göttinger Modell und Foulkes’ Gruppenmatrix

4.2 Horizontale Ausrichtung – Entwicklungsphasen von Gruppen

4.2.1 Sandner: Analytisches Gruppenphasenmodell

4.2.2 Bennis und Shepard: Dependenzmodell

4.2.3 Miles, Milowitz und Käfer: Das Mikado-Modell mit pädagogischen Lernschleifen

4.2.4 Kuhn: Pendelmodell – Zwischen Ich und Wir

4.2.5 Tuckman: Phasenmodell

4.2.6 König, Schattenhofer, Volmerg: Gruppenphasen in der gruppendynamischen Praxis

4.3 Horizontale Ausrichtung – Entwicklungsphasen von Teams

4.3.1 Phasen von Teams

4.3.2 Teamphasen nach Reddy mit Interventionen

4.3.3 Team-Performance nach Drexler und Sibbet

4.4 Der Kontext – Äußere Einflüsse auf Gruppen und Teams

4.4.1 Organisationsdynamik

4.4.2 Die Teamaufgabe, der Kontext und ihre Wirkungen

4.4.3 Größe und Zusammensetzung von Teams

4.4.4 Großgruppe

4.4.5 Multikulturell zusammengesetzte Gruppen oder Diversity-Gruppen

4.4.6 Arbeitsweise und Arbeitsmittel des Teams

4.4.7 Faktoren erfolgreicher Teamarbeit

5 Gruppendynamische Diagnosekompetenz

5.1 Die gruppendynamische Diagnose als gemeinsamer Prozess der Erkenntnis

5.2 Diagnose von Gruppe

5.2.1 Statik und Dynamik von Gruppe

5.2.2 Beobachtungskriterien für Gruppen

5.2.3 Stranger-Lab und Family-Lab

5.3 Diagnose des Teams

5.3.1 Anlässe für eine Teamentwicklung oder Teamberatung

5.3.2 Der Einfluss der Arbeitsaufgabe auf die Teamdynamik

5.3.3 Der Einfluss von Kontext und Organisation auf das Team

6 Gruppendynamische Prozesse steuern

6.1 Gruppendynamische Haltung und Leitlinien

6.2 Struktur und Design, Prozess und Intervention

6.2.1 Struktur und Design

6.2.2 Prozess

6.2.3 Intervention

6.2.4 Interventionen in Konfliktsituationen

6.3 Feedback: Ein zentrales Instrument gruppendynamischer Intervention

6.3.1 Feedback in Organisationen

6.3.2 Feedbackregeln

6.4 Von Selbstorganisation zu Selbststeuerung in Gruppen

6.5 Die Paradoxie gruppendynamischer Leitung

6.6 Unterschiede zwischen systemischer und gruppendynamischer Intervention

6.7 Wie man lernen kann, anspruchsvolle gruppendynamische Prozesse zu steuern

6.7.1 Die kleine Qualifizierung zur gruppendynamischen Leitung von Gruppen und Teams

6.7.2 Die große Ausbildung: Trainerin und Trainer für Gruppendynamik

7 Gruppendynamisch mit Prozessen arbeiten

7.1 Auftragsklärung

7.2 Rolle Beratung

7.2.1 Einzelne beraten – Fachkraft Frau P. und der Platz am Tisch

7.2.2 Einzelne beraten – Die neue Führungskraft und ihr Team

7.2.3 Gruppen beraten – Eine Elterninitiative lernt sich kennen

7.2.4 Teams beraten – Der missglückte Teamstart

7.2.5 Teams beraten – Der Betrug

7.2.6 Teams beraten – Auf Spurensuche im gruppendynamischen Raum

7.2.7 Kollegiale Intervision – Konkurrenz und Kollegialität

7.3 Rolle Erwachsenenbildung und Personalentwicklung

7.3.1 Erwachsenenbildung in der VHS –Ein ganz besonderer Teilnehmer

7.3.2 Gruppendynamische Trainings – Bis Mittwoch dachte ich, ich reise ab

7.3.3 Seminare leiten – Meta war nicht eingeladen

7.3.4 Seminare leiten – Die Führungskräftefortbildung und die Kugelbahn

7.3.5 Workshops und Teamentwicklung – Beziehungsklärung in der Werkstatt

7.4 Rolle Moderation XXL-Gruppe und Projekt- und Changemanagement

7.4.1 XL-Workshop – Ein Leitbild von uns allen

7.4.2 XXL-Event und Kick-off – Unsere Organisation als ein Körper

7.4.3 Prozessbegleitung – Der begrabene Hund

7.5 In der Rolle als Teammitglied oder als Teamleitung

7.5.1 Gruppendynamische Checkliste für Gruppen- und Teammitglieder

7.5.2 Mitglied im Team – »Seht Ihr mich?« und die Videodynamik im Homeoffice

7.5.3 Führungskraft im Team – Das Team im Konflikt begleiten

8 Methoden für die gruppendynamische Arbeit mit Gruppen

8.1 Anwärmen und Aktivieren von Gruppen

8.1.1 Durchreiche

8.1.2 Zauberstab

8.1.3 Kippstuhl

8.1.4 Verflixte Projekte – Gruppenjonglage

8.2 Anfänge mit Gruppen gestalten

8.2.1 Der erste Eindruck

8.2.2 Kennenlern-Dreieck

8.2.3 Unterschiede und Gemeinsamkeiten

8.2.4 Aufstellungen – Soziometrie

8.2.5 Meine Stärken und Qualitäten

8.2.6 Die Auftragsklärung

8.2.7 Die Gruppen meines Lebens

8.3 Thematisch mit Gruppen arbeiten

8.3.1 Teamdiagnose

8.3.2 Eine Metapher für diese Gruppe

8.3.3 Pro- und Kontraaufstellung

8.3.4 Zeitzeugnisse – Die Geschichte(n) des Teams

8.3.5 Kollegiale Beratung – Intervision

8.3.6 Die Kugelbahn

8.4 Prozesse reflektieren und Feedback in Gruppen

8.4.1 Mit soziodynamischen Rollen den Gruppen- oder Projektverlauf reflektieren

8.4.2 Lebendiger Eisberg

8.4.3 Jahreskreislauf der Gruppenentwicklung

8.4.4 Voll in den Seilen

8.4.5 Gruppe beobachtet Gruppe

8.4.6 Tuckman’sche Teamuhr als Instrument zur Prozessreflexion

8.4.7 Forschen im gruppendynamischen Raum

8.4.8 Feedback zu Einfluss und Vertrauen

8.5 Gruppen abschließen und beenden

8.5.1 Schreibgespräch

8.5.2 Transferpartnerschaft

8.5.3 Transfer in Szene gesetzt

8.5.4 Lebenslinie der Gruppe – Den Gruppenprozess auswerten

9 Schlusswort: Mut zur Gruppe!

9.1 Dank

9.2 Über die Autorin und den Autor

9.3 Literatur

10 Anhang

10.1 Personen

10.2 Glossar

10.3 Stichwortverzeichnis

Vorwort

Wer sich Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts in der Jugendarbeit engagierte, hatte gute Chancen, eine Hochphase der von den gruppendynamischen Theorien, Haltungen und Methoden geprägten selbstorganisierten Gruppen zu erleben. Entschied man sich – inspiriert von diesen Erfahrungen – für ein (sozial-)pädagogisches Studium, wurde der Horizont durch lebenswelt- und sozialraumorientierte Ansätze erweitert. Wollte man sich schließlich Anfang der 2000er nach dem Studium weiterbilden, war es kaum möglich, an den systemischen Ansätzen vorbeizukommen.

Ob und wie die verschiedenen Sichtweisen miteinander verbunden wurden, blieb durch die Jahrzehnte eher den Einzelnen überlassen. In der Praxis haben engagierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gruppendynamische, lebensweltorientierte und systemische Ansätze häufig kombiniert und integriert. In Weiterbildungen, auf Fachveranstaltungen und in Publikationen stehen sie oft unverbunden nebeneinander.

Junge Menschen, die heute Schule, Ausbildung und Hochschule durchlaufen, haben durch die zeitliche Ausdehnung der formalen Bildung im Alltag und die Verdichtung der Bildungsverläufe weniger Gelegenheiten, das Potenzial und die Faszination selbstorganisierter Gruppen zu entdecken. Das breit angelegte Studium der Sozialen Arbeit oder der Sozialpädagogik wurde durch eine unübersichtliche Anzahl spezialisierter Studiengänge verdrängt. Man kann es Berufseinsteigerinnen und -einsteigern vor diesem Hintergrund nicht übelnehmen, wenn sie in Weiterbildungen eher Interesse an anwendungsorientierten Theorien und Methoden als an offenen Reflexions- und Erfahrungsräumen zeigen. Zu viel (unvorhersehbare) Dynamik in der Gruppe soll meist eher vermieden werden.

Zugleich stehen wir – ähnlich wie in den Entstehungsjahren des gruppendynamischen Denkens und Forschens – vor enormen sozialen und politischen Herausforderungen. Wir erleben das Auseinanderdriften gesellschaftlicher Gruppen, fehlende Dialogbereitschaft und -fähigkeit und sehen, wie sich Menschen wieder von Stimmungen und Meinungen mitreißen lassen, die sich kaum noch an verhandelbaren Tatsachen orientieren. Es sind vielfältige neue Lebenswelten entstanden. Der soziale Raum hat sich in die digitale Welt ausgedehnt. Nicht nur analoge, sondern auch digitale Netzwerke gewinnen neue Bedeutung. Und trotz der großen Präsenz systemischer Denk- und Handlungsansätze werden soziale Probleme weiter individualisiert und pathologisiert.

Vor diesem Hintergrund bin ich – vor allem in meiner Rolle als Leiter eines systemischen Weiterbildungsinstituts – Rosa Budziat (mit der ich viele Jahre intensiver Arbeit in und mit Gruppen teile) und Hubert Kuhn sehr dankbar, dass sie die Herausforderung angenommen haben, Gruppendynamik und systemisches Arbeiten wieder näher zusammenzubringen und ihr Modell systemischer Gruppendynamik zur Diskussion zu stellen.

In ihrem Buch wird deutlich, dass sich systemisches Arbeiten und Gruppendynamik nicht nur auf zahlreiche gemeinsame Wegbereiterinnen und Wegbereiter berufen, viele Grundlagen, Haltungen und Methoden teilen. Es lässt sich darüber hinaus erkennen, dass manche Erkenntnisse der Gruppendynamik auf dem Weg der differenzierten Weiterentwicklung des systemischen Arbeitens aus dem Blickfeld geraten sind, die für die Bewältigung der Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft hilfreich und wertvoll sein könnten. Und sie zeigen in der zweiten Hälfte ihres Buches, wie sich gruppendynamische Haltung und die Anwendung prozessorientierter Methoden einfach und zielorientiert in das systemische Arbeiten integrieren lassen.

Es ist noch nicht allzu lange her, dass die systemische Therapie als Heilverfahren anerkannt wurde. Die systemisch orientierte Psychotherapie wird dadurch sehr an Bedeutung gewinnen. Zugleich gilt es darauf zu achten, dass nicht die – im therapeutischen Bereich oft dominierende – Individualisierung der Sichtweisen und Modelle ein zu starkes Gewicht bekommt.

Entsprechend wird es dem systemischen Arbeiten insgesamt gut tun, gruppendynamische Theorien, Haltungen und Methoden gleichzeitig im Blick zu behalten: die Arbeit mit dem Prozess der Gruppe gleichberechtigt neben der Arbeit mit dem Individuum, die Dynamik wie die Diagnose und manchmal etwas mehr Kontext, Lebenswelt und Sozialraum und etwas weniger Beratungszimmer könnten eine gute Mischung ergeben und letztlich sogar Impulse für positive Veränderungen in der Gesellschaft setzen.

Peter Martin Thomas, Leiter des praxis-instituts für systemische beratung süd

1 Einführung: Keine Angst vor Gruppendynamik!

Viele Menschen, die mit Gruppen arbeiten, kennen Gruppendynamik nur als etwas, das sich zeigt, wenn es in Gruppen anstrengend wird. Wenn die Arbeit an der Sache stockt, Konflikte auftauchen, die einzelnen Gruppenmitglieder sich in die Haare kriegen und vermeintlich nichts mehr geht, heißt es oft: »Da war aber mal ordentlich Gruppendynamik!«

Gruppendynamik ist jedoch viel mehr als Stress und Konflikte in Gruppen und Teams. Sie ist immer da, sobald drei oder mehr Menschen über eine längere Zeit und mit einem gemeinsamen Ziel zusammen sind. Gruppendynamik sind all die Beziehungen zwischen den Menschen, ihre Kommunikation, die (unausgesprochenen) Regeln und Rituale und die Art und Weise, wie die Menschen in der Gruppe miteinander umgehen. In der heutigen Arbeitswelt gewinnt gruppendynamische Kompetenz nach Amy Edmondson an Bedeutung: »Die Mitarbeiter auf allen Hierarchieebenen verbringen heute 50 % mehr Zeit damit, mit anderen zusammenzuarbeiten als noch vor 20 Jahren« (2020, S. XIV). Daher braucht es die professionelle Kompetenz, Gruppen und Teams zu beraten oder zu leiten.

Gruppendynamik ist auch eine Forschungsrichtung der Sozialpsychologie, der sich seit Anfang des letzten Jahrhunderts viele Praktiker und Wissenschaftlerinnen1 angenommen haben. Als Pioniere und Pionierin der Gruppendynamik und Gruppentherapie gelten Kurt Lewin, Jacob Levy Moreno und Ruth Cohn. Kurt Lewin kann auch als früher Systemiker gesehen werden (vgl. Kriz, 2015).

Die systemische Therapie hat sich seit den 1950er Jahren einen ernstzunehmenden Platz in der Psychotherapielandschaft erobert – mit einer wissenschaftlich nachweisbaren Wirkung und der formalen Anerkennung als Psychotherapieverfahren. In der klassischen Familientherapie standen anfangs, wie der Name bereits verrät, Familien im Zentrum. Daraus entwickelte sich die systemische Familientherapie mit einem deutlich weiteren Fokus. Mit ihrem Instrumentarium will die systemische Familientherapie auch für andere soziale Systeme hilfreich sein, in denen Menschen intensivere Beziehungen entwickelt haben (vgl. von Schlippe u. Schweitzer, 2019, S. 21).

Der systemische Ansatz hat entscheidend dazu beigetragen, soziale Systeme besser zu verstehen, und viele nützliche ressourcen- und lösungsorientierte Methoden hervorgebracht. Gleichzeitig wird der Gruppe als eigenständiges soziales System aus unserer Sicht im systemischen Denken zu wenig Beachtung geschenkt. Ähnliches erlebten wir in unseren eigenen Ausbildungen in systemischer Therapie und Beratung und bis heute wird dieses Thema in entsprechenden Weiterbildungen eher am Rande behandelt. Systemische Beratung und Gruppendynamik haben sich – leider – auseinanderentwickelt.

1.1 Warum dieses Buch?

Dieses Buch will diese Lücke schließen und plädiert für eine Annäherung der beiden Arbeitsfelder. Sowohl die Gruppendynamik kann von einer systemischen Sichtweise und Haltung profitieren als auch die systemische Beratung von der Gruppendynamik. Gruppendynamik sehen wir als »angewandte systemische Praxis« in Gruppen und Teams (vgl. Schattenhofer, 1992). Wenn Sie also Lust haben, Ihre Kompetenzen in diesem Bereich auszubauen, liegen Sie mit diesem Lehr- und Praxishandbuch genau richtig.

Als Lehrbuch stellt es wichtige Modelle, Konzepte und Erkenntnisse gruppendynamischer Forschung vor. Als theoretisch interessierte, praxisorientierte Fachmenschen bieten wir ein Modell an, wie Gruppen und Teams systemisch verstanden werden können, ohne den Anspruch zu erheben, eine ausgearbeitete systemische Theorie der Gruppendynamik vorzulegen. Vielmehr wollen wir mit dem Wissen aus der gruppendynamischen Forschung und Praxis diejenigen unterstützen, die mit Gruppen arbeiten – seien es Coaches, Berater, (Ausbildungs-)Leiterinnen von Gruppen oder Mitglieder beziehungsweise Führungskräfte von Teams. Wir stellen vor, wie man die Kräfte in einer Gruppe leichter erkennen und besser verstehen kann, getreu einem Leitsatz Kurt Lewins: »Nichts ist praktischer als eine gute Theorie!« (vgl. Marrow, 2002, S. 145). Und wir erläutern, wie es gelingt, Gruppen und Teams in eine konstruktive Richtung zu steuern.

Als Praxishandbuch illustriert unser Buch anhand zahlreicher Fallbeispiele, wie eine gruppendynamische Sicht auf Gruppen und Teams angewendet werden kann. Es bietet außerdem einen Blick in unseren Methodenkoffer. Wir beraten, trainieren und leiten seit über dreißig Jahren professionell Gruppen und Teams in unterschiedlichen Organisationen. Mit unseren – meist – erfreulichen Erfahrungen wollen wir nicht nur die Theoriemodelle veranschaulichen, sondern auch zeigen, wie wir mit Fragen wie folgenden umgehen:

• Wie kann ich in einem Teamcoaching, einer Teamsupervision die Dynamik in der Gruppe konstruktiv thematisieren, ohne dass das Team auseinanderfliegt?

• Wie kann ich Konflikte im Team als Chance für Kontakt und Klärung verstehen und nutzen?

• Wie kann ich jenseits strukturierter Methoden das Hier und Jetzt in der Zusammenarbeit ansprechen und die Gruppe befähigen, sich selbst zu steuern und den eigenen Gruppenprozess mitzugestalten?

• Was erleichtert Spontaneität und macht Lust, sich in Gruppen miteinander auseinanderzusetzen und auch heikle Themen anzugehen?

• Wie kann ich meine Gefühle und Ambivalenzen gegenüber einer Gruppe auch für die Arbeit mit dieser Gruppe diagnostisch nutzen?

Um herausfordernde Situationen in Gruppen mit weniger Angst aushalten und gestalten zu können, ist ein gutes Auge für und Wissen um Gruppenprozesse aus unserer Sicht eine wesentliche Kompetenz für Menschen, die mit Gruppen und Teams arbeiten.

Für uns war es neben unseren mehrjährigen systemischen Ausbildungen ein großer Gewinn, uns intensiv und professionell zum Trainer bzw. Trainerin für Gruppendynamik nach den Standards der Deutschen Gesellschaft für Gruppendynamik und Organisationsdynamik weiterzubilden.

Gruppendynamik ist das Interessanteste, das wir erleben, wenn wir in Gemeinschaft oder Gruppen leben und/oder arbeiten. Ohne die dynamischen, sich ständig verändernden Prozesse zwischen mehreren Menschen wäre nichts lebendig.

Gern machen wir allen, die professionell mit Gruppen arbeiten, Mut, sich mehr als bisher der Gruppendynamik zu widmen und das Potenzial der Gruppe zu erkennen und auszuschöpfen.

1.2 Ein Überblick über das Buch

Unser Buch entfaltet sich in neun Kapiteln. In Kapitel 2 Die Sicht auf Gruppen, erläutern wir unterschiedliche Sichtweisen auf Gruppen. Dazu wenden wir uns zunächst dem systemischen Verständnis von Gruppen zu. Wir untersuchen vier einflussreiche Richtungen der Systemtheorie und der darauf aufbauenden systemischen Beratung. Je nachdem, ob Systeme aus handelnden Personen, Kommunikationen, Geschichten oder als Selbstorganisationsprozesse verstanden werden, wird eine Gruppe oder ein Team unterschiedlich definiert.

Nach der systemischen Perspektive beleuchten wir, wie Gruppendynamik im Alltag, in Literatur und Film, in der Wissenschaft und in der Erwachsenenbildung verstanden wird. In einem kleinen historischen Exkurs stellen wir wichtige Persönlichkeiten humanistischer Gruppenverfahren vor und skizzieren, wie sich das Verständnis von Gruppendynamik in Deutschland entwickelt hat. Nach unserer Sicht auf Gruppen und Teams als Grundlage für die weiteren Ausführungen beschreiben wir die Gemeinsamkeiten in der systemischen und gruppendynamischen Denkweise.

Unser Modell systemischer Gruppendynamik stellen wir in Kapitel 3 vor. Aufbauend auf deutsch- und aktueller englischsprachiger Forschung zeigen wir, wie die Komplexität einer Gruppe konzeptionell schlüssig erfasst werden kann. Wir verbinden darin die Tiefendimension, das, was unter der Oberfläche des Sachthemas in Gruppen und Team geschieht, mit der horizontalen Dimension, wie sich Gruppen und Teams entwickeln. Zusätzlich wollen wir die Einflüsse des Kontexts erfassen, da es zu kurz greift, nur auf das Beziehungsgeschehen, auf die Gefühle Einzelner oder eine Entwicklungsphase zu rekurrieren.

Kapitel 4 Gruppendynamische Prozesse erkennen und verstehen, wendet sich den wichtigsten gruppendynamischen Konzepten und Modellen zu. Wir zeigen, welche sozialpsychologischen Erkenntnisse für das Verständnis unserer systemischen Gruppendynamik hilfreich sind. Um den Blick dafür zu schärfen, welche Prozesse in Gruppen und Teams unterhalb der Sachebene ablaufen können, beschreiben wir den soziodynamischen Eisberg, den gruppendynamischen Raum sowie Strukturen in Gruppen und Teams. Bezüglich der Phänomene auf der unbewussten Ebene wird es um Alpha- und Omega-Positionen, Grundannahmen für Gruppen und eine alle verbindende Gruppenmatrix gehen, die das sichtbare Geschehen beeinflusst.

Die Frage, wie sich Gruppen und Teams entwickeln, wird in der sozialpsychologischen Forschung unterschiedlich beantwortet. Am bekanntesten ist das Gruppenmodell von Bruce Tuckman mit den Phasen forming, storming, norming und performing. Diese Entwicklungsphasen von Gruppen können jedoch nicht einfach auf Teams übertragen werden. Hier zeigen neuere Forschungen, wie Teamprozesse besser zu erkennen und zu verstehen sind.

Neben der vertikalen und horizontalen Betrachtung spielen schließlich auch die Wirkungen des Kontexts eine Rolle, sowohl für Gruppen als auch insbesondere für Teams. Es gilt, die Einflüsse der Organisationsdynamik, von Aufgabe, Kontext und (agilen) Arbeitsweisen angemessen zu berücksichtigen.

Nachdem wir eine fundierte theoretische Basis gelegt haben, wenden wir uns der Praxis gruppendynamischen Arbeitens zu. In Kapitel 5 Gruppendynamische Diagnosekompetenz: Worauf achten wir?, zeigen wir, mit welchen Brillen wir auf Gruppen und Teams blicken. Dabei verstehen wir Diagnose nicht medizinisch, im Sinne der Feststellung einer Krankheit, sondern im ursprünglichen Wortsinn, das Wesentliche zu erkennen und zu beurteilen. Gemäß Daniel Kahnemans Ansatz des schnellen und langsamen Denkens bieten wir durch die Forschung bestätigte Verständnishilfen und Heuristiken an, um irreführende Kurzschlüsse in der Diagnose zu verhindern (2012).

Nach dem Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln (CAJ, 2018) untersucht das Kapitel 6 Gruppendynamische Prozesse steuern: Die Rolle der Leitung in der Gruppendynamik, woran sich gruppendynamische Leitung in ihrem Handeln orientiert. Unser Ziel ist es, Leitplanken für gruppendynamische Interventionen zu geben, um die Dynamik in einer Gruppe oder einem Team hin zu mehr Selbststeuerung lenken zu können. In der Intervention sehen wir die wesentlichen Unterschiede zwischen systemischer und gruppendynamischer Kompetenz. Wer lernen will, anspruchsvolle gruppendynamische Prozesse zu steuern, findet hierzu Hinweise.

Einen Blick in unsere gruppendynamisch orientierte Beratungs- und Trainingspraxis gewährt Kapitel 7 Gruppendynamisch mit Prozessen und mit gruppendynamischen Prozessen arbeiten. Nach einem Blick auf die Auftragsklärung als wichtige Basis der weiteren Arbeit beleuchten wir das Vorgehen in verschiedenen Feldern: Es wird um die Beratung von Einzelnen, Gruppen oder Teams, Erwachsenenbildung und Personalentwicklung, Moderationen, Projekt- und Changemanagement gehen. Wie gruppendynamisches Wissen für ein Teammitglied oder eine Führungskraft hilfreich sein kann, wird ebenfalls skizziert.

Auch wenn schon das eine oder andere Buch zu Gruppenmethoden auf dem Markt ist, wollen wir in Kapitel 8 Methoden für die systemische Arbeit mit Gruppen, unsere persönlich erprobten Lieblingsmethoden vorstellen. Sie zeigen, wie wir Anfang, Diagnose, Prozessreflexion, Feedback und Abschluss handwerklich gestalten, und sollen damit auch zur eigenen Kreativität anregen.

Mit dem Schlusswort in Kapitel 9 sowie einem Glossar der wichtigsten Begriffe, weiteren Literaturhinweisen, Stichwort- und Literaturverzeichnis runden wir das Buch ab.

1 Anmerkung zur gendergerechten Sprache: Wir nutzen in diesem Band die weibliche und männliche Form im Wechsel. Wir wollen einer sinnvollen Gendersensitivität Respekt erweisen und gleichzeitig die Lesbarkeit nicht beeinträchtigen. Unsere Leserinnen und Leser sind eingeladen, diesen beständigen Perspektivwechsel zwischen weiblichen und männlichen Akteuren mitzuvollziehen.

2 Die Sicht auf Gruppen

2.1 Systemisches Verständnis der Gruppe

Ein System mit der griechischen Wurzel »sýstēma (σύστημα)« wird vom Deutschen Wörterbuch als ein in sich geschlossenes, geordnetes und gegliedertes Ganzes definiert, als ein Gefüge von Teilen, die voneinander abhängig sind, ineinandergreifen oder zusammenwirken (vgl. Wahrig, 1986).

Wie geht nun die Theorie systemischer Therapie oder Beratung mit Gruppe um? Aus der anfänglichen Konzentration der Familientherapie auf Familien entwickelte sich der Anspruch, auch für weitreichendere soziale Systeme wie Gruppen und Organisationen hilfreich zu sein.

Im Folgenden werden vier bedeutende systemische Theorierichtungen2 skizziert:

• die personorientierte Systemtheorie,

• die kommunikationsorientierte Systemtheorie,

• die narrative Systemtheorie und

• die synergetische Systemtheorie.

Und diese Fragen werden wir dabei genauer betrachten:

• Was sind die Grundaussagen dieser systemischen Denkrichtung?

• Wie wird aus dieser Sicht ein soziales System definiert?

• Wie ist damit eine Gruppe zu verstehen?

2.1.1 Personorientierte Systemtheorie: Systeme handelnder Personen

Ausgehend von der »Allgemeinen Systemtheorie«, die der Biologe Ludwig von Bertalanffy als universale Erkenntnistheorie entwickelte (1972), wollte der Anthropologe Gregory Bateson den universalen Systembegriff auf soziale Systeme übertragen. Zusammen mit dem Psychiater Don D. Jackson formulierte er die erste systemtheoretische Darstellung von Kommunikation (Watzlawick, Beavin u. Jackson, 1996; Bateson, 1994).

In der Familientherapie wurde die Theorie Batesons ausführlich rezipiert und darauf aufbauend unterschiedliche therapeutische Richtungen entwickelt:

•strategische Familientherapie nach Jay Haley,

•entwicklungsorientierte Familientherapie nach Virginia Satir,

•Kurzzeittherapie nach Steve de Shazer.

Einen geringeren Einfluss hatte Bateson unter anderem auf die Mailänder Schule (Selvini Palazzoli, 1996; Tomm, 1994), die strukturelle Familientherapie (Minuchin, 1977) und die stärker psychoanalytisch ausgerichtete Heidelberger Schule (Simon u. Stierlin, 1995).

Neben der expliziten systemischen Familientherapie beeinflusste Bateson Kommunikationsmodelle, wie zum Beispiel das vielleicht bekannteste von Friedemann Schulz von Thun (1981) und auch viele Coachingkonzepte. Nach der »personzentrierten Systemtheorie« von Jürgen Kriz sind »Regelmäßigkeiten und Muster in sozialen Systemen stets auch persönlicher Ausdruck der beteiligten Individuen« (Kriz, 2016, zit. n. König u. Volmer, 2016, S. 250). Auf dieser Basis entstand die »Systemtheorie für Coaches und Führungskräfte« (Kriz, 2016; 2020).

König und Volmer stützen sich in der systemischen Organisationsberatung explizit auf den Systembegriff in der Tradition von Bateson (vgl. König u. Volmer, 1996, S. 35; 2016, S. 251).

Bateson definiert soziale Systeme mit den Standardbegriffen der allgemeinen Systemtheorie und Kybernetik: Element, Regelkreis und Rückkoppelung. Das System Familie war für ihn das Standardbeispiel für soziale Systeme, die er als »kybernetische Systeme« bezeichnete (vgl. Bolbrügge, 1997, S. 70).

In der neueren Literatur der personorientierten Systemtheorie wird ein soziales System wie die Gruppe so beschrieben:

• Die relevanten Personen bestimmen das Verhalten in einem sozialen System.

• Sie handeln auf der Basis ihrer subjektiven Deutungen, Gedanken und Empfindungen hinsichtlich ihrer Wirklichkeit.

• Offene oder verdeckte soziale Regeln begrenzen das Verhalten in einem sozialen System.

• Aus subjektiven Deutungen und sozialen Regeln entwickeln sich wiederkehrende Verhaltensmuster (Regelkreise).

• Die materielle und soziale System-Umwelt beeinflusst das soziale System.

• Wie sich das System entwickelt, hat eine Bedeutung für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (vgl. Simon, 2014, S. 113; König u. Volmer, 2016, S. 14 ff., 220 ff.).

Personorientierte Systemtheorie und Gruppe: Aus der personorientierten Systemtheorie nach Bateson entsteht eine Gruppe aus wiederkehrenden Interaktionen der Gruppenmitglieder. Diese Interaktionen richten sich nach offenen oder verdeckten sozialen Regeln und sind Ergebnisse der jeweils subjektiven Wirklichkeitsbilder und Deutungen. Die Gruppe lässt sich von ihrer Umwelt abgrenzen, beeinflusst diese, wird von dieser beeinflusst und entwickelt sich.

2.1.2 Kommunikationsorientierte Systemtheorie: System aus Kommunikationen

Der zweite Ansatz von wesentlicher Bedeutung für die Systemtheorie, insbesondere im deutschsprachigen Raum, ist die Theorie des Soziologen Niklas Luhmann (1927–1998).

Luhmann will das systemische Denken nicht auf biologische Systeme, sondern auch auf psychische und soziale Systeme anwenden. Die drei Systembereiche Leben, Bewusstsein und Kommunikation versteht er als eigenständige, sich selbst organisierende Systeme, die jeweils füreinander bedeutsam sind (vgl. Luhmann, 2002; Schlippe u. Schweitzer, 2019, S. 28 ff.; Simon, 2014, S. 40 f.).

Durch folgende Merkmale werden soziale Systeme definiert:

• Systeme entstehen durch die »Differenz von System und Umwelt« (Luhmann 1987, S. 35). Die Figur (System) wird erst auf dem Hintergrund (Umwelt) unterscheidbar. Diese Unterscheidung trifft eine Beobachterin nach subjektiven Kriterien. Zentraler Fokus hier ist die Abgrenzungsleistung von System und Umwelt (vgl. Barthelmeß, 1999, S. 17).

•Kommunikationen sind die kleinsten Einheiten in einem sozialen System. Ein Team, eine Familie konstituiert sich aus sprachlichen und nichtsprachlichen Kommunikationsereignissen von kurzer Dauer, die von anderen Kommunikationen abgelöst werden (vgl. Luhmann 1987, S. 240; Kneer u. Nassehi, 1997, S. 91 ff.).

• Soziale Systeme sind selbstreferenziell. Das heißt, die Elemente des Systems werden durch das System selbst erzeugt (vgl. Luhmann, 1987, S. 57 ff.).

• Luhmann setzt diese Selbstreferenzialität gleich mit Autopoiese, was auch mit der Fähigkeit zur Selbsterzeugung und Selbsterhaltung übersetzt werden kann (vgl. Barthelmeß, 1999, S. 25 ff.).

• Jedes soziale System reduziert Komplexität, um sich selbst zu erhalten.

• Aus der Vielzahl möglicher Kommunikationen werden in einem System nur bestimmte Kombinationen zugelassen (vgl. Luhmann, 1987, S. 45 ff.; Kneer u. Nassehi, 1997, S. 40 ff.).

Sowohl für die interne Auswahl relevanter Kommunikationen als auch für die Grenzziehung zur Systemumwelt orientieren sich soziale Systeme an Sinn (vgl. Luhmann, 1987, S. 94 f.). Ein Wirtschaftsunternehmen orientiert sich zum Beispiel an der Sinnstruktur Maximierung des Gewinns. Die Bearbeitung kann innerhalb der Organisation an unterschiedliche Subsysteme delegiert und unterschiedlich gehandhabt werden, wie zum Beispiel die Kosten zu minimieren oder die Einnahmen zu maximieren sind.

Wie Sinn im System bearbeitet wird, orientiert sich an drei Dimensionen:

• der Sachdimension: relevant – irrelevant,

• der Zeitdimension: vorher – nachher und

• der sozialen Dimension: Konsens – Dissens.

Sie können zwar getrennt analysiert, jedoch nicht voneinander isoliert werden. Das soziale System knüpft an die jeweiligen Ergebnisse in diesen Dimensionen selbstreferenziell an, das heißt selbsterzeugend und selbsterhaltend (vgl. Luhmann, 1987, S. 114 ff.).

Luhmann unterscheidet weiterhin drei Typen von Sozialsystemen:

• Interaktion unter Anwesenden,

• Organisation als Kommunikation unter Mitgliedern und

• Gesellschaft als Kommunikation unter Abwesenden (vgl. Baecker, 2012, S. 387 ff.).

Die Interaktion unter Anwesenden entspricht dem Sozialsystem Gruppe, wobei der Gruppenbegriff bei Luhmann stets unscharf blieb (vgl. Wimmer, 2012, S. 146).

Die Theorie Luhmanns wurde neben der Soziologie auch in der Pädagogik und Betriebswirtschaftslehre ausführlich diskutiert. Ihre Stärke liegt darin, den Fokus auf Kommunikationsprozesse und Interaktionsstrukturen zu legen. Damit erschwert es dieses Modell, Probleme zu individualisieren und zu psychologisieren, wie es beispielsweise in der Aussage »Herr Müller ist schuld, wenn er nur nicht so schwierig wäre, hätten wir kein Problem!« zum Ausdruck kommt.

Vor allem systemische Praktikerinnen kritisieren an Luhmanns kommunikationsorientierter Systemtheorie, dass die handelnden Subjekte fehlen, es sozusagen eine »abstrakte Theorie ohne Menschen« ist (vgl. Harramach, Köttritsch u. Velickovic, 2019, S. 8). Dies trifft jedoch nur teilweise zu.

Personen sind für Luhmann »psychische Systeme« (vgl. Luhmann, 1987, S. 155), die eine relevante Umwelt des sozialen Systems bilden. Treffend wird dies hier formuliert: »Wir sprechen nicht von ›Psychisierung‹, sondern von ›Personalisierung‹ sozialer Systeme, wenn es darum geht, die Abhängigkeit der Reproduktion des kommunikativen Sozialsystems von den personalen Attributionen der Beteiligten zum Ausdruck zu bringen« (Luhmann, 1987, S. 155). Etwas einfacher ausgedrückt heißt dies, dass die Personen die Kommunikationen im Sozialsystem aufrechterhalten oder auch ändern.

Die Psyche eines Menschen und die Kommunikationsmuster in seiner Familie oder seinem Team stehen in einer mehr oder weniger freud- oder leidvollen Beziehung zueinander, sie haben Einfluss aufeinander und sind doch getrennt. Dies meint der Begriff der strukturellen Kopplung: Das psychische und das soziale System stellen beide eigenständige, autopoietische Systeme dar, die sich wechselseitig beeinflussen und irritieren können (vgl. Simon, 2014, S. 41 f.).

Kommunikationsorientierte Systemtheorie und Gruppe: Nach der Sichtweise der kommunikationsorientierten Systemtheorie entsteht eine Gruppe aus den wiederkehrenden Kommunikationen der Mitglieder der Gruppe. Über die Dauerhaftigkeit und einen kommunikativ erzeugten gemeinsamen Existenzgrund, der weiteres Zusammenwirken erforderlich macht, werden feste Zugehörigkeitsgrenzen ausgeprägt, die das »Emergenzniveau Gruppe« entstehen lassen (vgl. Wimmer, 2012, S. 146). Das heißt, die Gruppe besteht nicht aus den Mitgliedern an sich, sondern entsteht emergent aus den sich wiederholenden Kommunikationen unter diesen Mitgliedern.

Interessant sind aktuelle Forschungen, die den Versuch unternehmen, Gruppe als soziales System soziologisch zu definieren und dafür auch bisher unveröffentlichtes Material Luhmanns3 zu verwenden (vgl. Kühl, 2020). Das Ziel ist, die Renaissance der Gruppe in der systemtheoretisch orientierten Soziologie theoretisch und konzeptionell zu begründen.

Gruppe wurde in der Soziologie bisher eher weit und unscharf als Oberbegriff für soziale Beziehungen gefasst. Unterschieden wird nach der Größe, Dauer und Struktur von Gruppen. In der engsten Fassung wird Gruppe als ein System gesehen, dessen Mitglieder eine persönliche Beziehung zueinander haben (vgl. Kühl, 2020, S. 2). George C. Homans formuliert es so: »Unter einer Gruppe verstehen wir eine Reihe von Personen, die in einer bestimmten Zeitspanne häufig miteinander Umgang haben und deren Anzahl so gering ist, dass jede Person mit allen anderen in Verbindung treten kann, und zwar nicht nur mittelbar über andere Menschen, sondern von Angesicht zu Angesicht« (1968, S. 29). Aus dieser Notwendigkeit von Face-to-face-Interaktionen kann auch ein Rückschluss auf die maximale Zahl von Gruppenmitgliedern gezogen werden.

Nach Luhmann ist das Grundmerkmal der Kommunikation in einer Gruppe die »personale Orientierung«. Im Unterschied zu flüchtigen sozialen Begegnungen etablieren Gruppen dauerhafte Kommunikationen, um die Bedürfnisse der Gruppenmitglieder zu erfüllen.

Die persönlichen Bedürfnisse bezeichnet Luhmann als »Selbstdarstellung«: als Person wahrgenommen zu werden und nicht nur als Funktionseinheit, zum Beispiel in einer Organisation (vgl. 2008). Ein konstitutives Merkmal von Gruppe ist die sich wiederholende Interaktion, Kommunikation ihrer Mitglieder: »Eine Gruppe ist also definiert durch die Interaktion der Teilnehmer« (Homans, 1968, S. 102).

In dieser Kommunikation bilden sich für diese Gruppe spezifische Normen und Muster aus (→ 4.1.2 Normen, Rollen und Status), das »normative Erwartungssystem« (vgl. Neidhardt, 1983). Diese Normen ermöglichen und begrenzen gleichzeitig die individuelle Selbstdarstellung der Mitglieder. Bestimmte Themen können, ja sollen innerhalb der Gruppe thematisiert werden, andere Themen gehören wiederum nicht zu den besprechbaren Themen der Gruppe. Arbeitsbezogene Teams können von Gruppen abgegrenzt werden, da in einem Team formale Themen und in einer Gruppe persönliche Themen dominieren. Eine ähnlich persönliche Orientierung wie Gruppen haben Familien, allerdings ist hier der Rekrutierungsmechanismus deutlich anders.

Aufgrund ihrer personalen Orientierung sind Gruppen durch den Wechsel eines Mitglieds stärker betroffen oder auch bedroht als ein auf funktionale Erfordernisse bezogenes Team. Gerade bei dieser Gegenüberstellung der persönlichen Gruppe und des funktionalen Teams lässt sich fragen, ob ein Team nicht gerade dann besonders arbeitsfähig und erfolgreich wird, wenn eben interpersonales Vertrauen entsteht, sozusagen das Team zur Gruppe wird.

2.1.3 Narrative Systemtheorie: System aus Geschichten

Anders als die naturwissenschaftlich-biologischen oder soziologischen Wurzeln der bisher genannten systemischen Theorien knüpft die narrativ orientierte systemische Theorie und Therapie an die Wurzeln der Psychotherapie an: den Geschichten der Patienten.

Schon Sigmund Freud ließ sich in seiner »Redekur«, wie die Psychoanalyse in den Anfängen auch genannt wurde, ausführlich die Geschichten seiner Patientinnen erzählen. Wie schildert der Patient seine Biografie, welchen Ereignissen wird welche Bedeutung beigemessen, welchen Sinn ergibt die Geschichte für die Patientin? Die sogenannte »narrative Psychologie« entwickelte sich in den 1980er Jahren aus dem Blick auf die psychoanalytischen Anfänge und die geisteswissenschaftlichen Bezüge der Psychotherapie. Hinzu kamen die Arbeiten von Kenneth Gergen zum sozialen Konstruktivismus (vgl. 2002).

In einer narrativen Paartherapie steht zum Beispiel im Zentrum, jeweils die Geschichten des Partners oder der Partnerin in der Tiefe zu verstehen und eine gemeinsamePaargeschichte zu entwickeln.

Folgende Therapeutinnen und Therapeuten prägten diese systemischen Therapierichtung: Michael White, australischer Sozialarbeiter und Psychotherapeut (1948–2008) galt als einer der Wegbereiter des narrativen Ansatzes in der systemischen Therapie. In den Mittelpunkt seiner Arbeit stellte er die »Problem-Geschichte« und die darin enthaltene Perspektive auf die Identität des Klienten. Zusammen mit David Epston entwarf er unterschiedliche Methoden und »Sprachspiel-Angebote«, um die bisherige problemerhaltende Struktur der Identitätserzählung hinsichtlich des Problems zu verändern (vgl. White, 2007; Epston u. White, 1990). Viele dieser Methoden wie die, »das Problem zu externalisieren«, oder Ausnahmen von der dominanten Problemgeschichte zu finden, sind fest im heutigen systemischen Methodenrepertoire verankert.

Einen vielleicht noch größeren methodischen Stellenwert errang die lösungsfokussierte Therapie von Steve de Shazer und Insoo Kim Berg. In sehr radikaler Weise betonten sie »Lösungsgeschichten statt Problemgeschichten« und entwickelten daraus ihren Ansatz der Kurzzeittherapie (vgl. De Shazer, 1985, Berg u. Szabo, 2005). Die bekanntesten Methoden der lösungsorientierten Kurzzeittherapie, wie die Wunderfrage oder Skalierungen, haben große Verbreitung gefunden und werden in unterschiedlichen Beratungsformen verwendet (vgl. Bannik, 2010).

Narrative Systemtheorie und Gruppe: Direkt wird das Thema Gruppe in Beratung oder Therapie nicht angesprochen, daher stellt sich die Frage, was lässt sich von diesem Ansatz übertragen?

Familien werden durch Familienmythen (vgl. Simon u. Stierlin, 1995, S. 98 f.) beeinflusst, sie übernehmen Abwehr- und Schutzfunktionen und konstruieren gemeinsam eine eigene Familienidentität. Ähnlich können auch in bestehenden Teams gemeinsam geteilte Geschichten die Teamidentität beeinflussen. Im Sinne Luhmanns organisieren Teammythen nicht nur den Inhalt der Geschichten, welche Kommunikationen das soziale System immer wieder erzeugt, sondern auch die Struktur der Geschichten.

Wie diese Geschichten erzählt werden, zum Beispiel als Opfer-, Heldinnen- oder Entwicklungsgeschichten, zeigt die gefühlte Sicht der Dinge, wie die Realität emotional (immer wieder) erlebt wird. Diese sogenannten Tiefengeschichten können auch interessante Erklärungsmuster für politische Phänomene bieten. So zeigen die Tiefengeschichten von Donald Trump und seiner Wählerschaft bei aller Differenz der jeweiligen sozioökonomischen Position eine erstaunliche Übereinstimmung, wie Hochschild (2017) darlegt. Interessant sind hier auch Erkenntnisse der sozialpsychologischen Forschungen zu Radikalisierung. Einerseits liefert die gemeinsam geteilte Gruppengeschichte den Gruppenmitgliedern Interpretationen der Situation ihrer Gruppe im Sinne von Ungerechtigkeit. Anderseits vermittelt das Gruppennarrativ auch Informationen über gemeinsame Feinde, die für die Ungerechtigkeit, das Leid verantwortlich sind. Ein dritter Aspekt liegt in der handlungsleitenden Funktion dieser Geschichten. Sie zeigen eine bestimmte Lösung für das Problem der Eigengruppe auf und legitimieren bestimmtes, ansonsten eventuell unmoralisches Verhalten, zum Beispiel Gewalt (vgl. Stürmer u. Siem, 2020, S. 98 ff.).

Bemerkenswert ist, dass in der systemischen Familientherapie die Beratung durch ein Therapeutinnenteam sehr empfohlen wird. Damit können die vielfältigen Übertragungs- und Gegenübertragungsprozesse besser wahrgenommen und genutzt werden, wie Simon und Stierlin (1995) betonen.

Das vom norwegischen Psychiater Tom Andersen erfundene Beratungsformat »reflecting team« lässt den in der systemischen Familientherapie lange üblichen Einwegspiegel weg. Die beiden Therapeuten besprechen ihre Gefühle, Einschätzungen und Ideen direkt vor der Familie (vgl. Caby, 2014, S. 250 ff.). Dies hat eine frappierende Ähnlichkeit mit der Geburtsstunde der Gruppendynamik (→ Kapitel 2.3 Wie ist die Gruppendynamik als Verfahren entstanden?).

Eine Gruppe oder ein Team kann in dieser systemischen Richtung verstanden werden als

• mehrere Personen, die sich eine bestimmte Auswahl an Geschichten über die eigene Gruppe erzählen.

• Diese Geschichten vermitteln, transportieren und erhalten eine Identität oder ein Bild dieser Gruppe, dieses Teams.

• Diese Identität stabilisiert, ermöglicht die Abgrenzung zur Umwelt und hat handlungsrelevante Auswirkungen.

2.1.4 Synergetische Systemtheorie: System als Selbstorganisation

Die Synergetik versteht sich als Theorie und Wissenschaft der Selbstorganisation und sieht sich als die am weitesten ausgearbeitete Theorie sich selbst organisierender Prozesse (vgl. Schiepek, 1999; 2014, S. 82). Der Begriff Synergetik leitet sich aus dem Griechischen ab und bedeutet sinngemäß Lehre vom Zusammenwirken.

Die Wurzeln der Synergetik liegen in der Physik. Der Physiker Hermann Haken untersuchte in den 1960er Jahren die selbstorganisierte Synchronisation von Lichtwellen (vgl. 1990). Unter bestimmten Anregungsbedingungen und mit vielen lichtaktiven Atomen entsteht in einem selbstorganisierenden Prozess ein hochkohärenter Strahl – der Laser.

Diese Anregungsbedingungen können auch als Ordner oder Attraktoren bezeichnet werden. Haken formulierte nun eine formalwissenschaftliche, mathematische Metatheorie, die Selbstorganisationsprozesse in ganz unterschiedlichen Disziplinen wie Chemie, Physik, Computerwissenschaft, Psychologie und Neurologie erklären will. Wenn eine nichtlineare Wechselwirkung mehrerer Elemente und eine energetische oder thermodynamische Offenheit vorliegen, »kann von der Möglichkeit spontaner Ordnungsbildung ausgegangen werden« (Schiepek et al., 2000, S. 169).

Besonders in der Psychotherapieforschung wurde die Hypothese der (synergetischen) Selbstorganisation mit empirischen Befunden belegt. Ebenso konnte die Wirksamkeit systemischer Psychotherapie wissenschaftlich nachgewiesen werden (vgl. Schiepek, 2014, S. 83). Psychotherapie wird als kooperative Zusammenarbeit zwischen Therapeutin und Klient verstanden. Hier ist die zentrale Frage, wie sich in verschiedenen Lebenswelten Ordnungsmuster, Attraktoren entwickeln, die eine stabile, dynamische Ordnung bewirken (vgl. Kriz, 2014, S. 88).

Synergetische Systemtheorie und Gruppe: Die Synergetik wendet sich entschieden gegen eine Auffassung, selbstorganisierende Systeme wie Menschen oder Gruppen seien direkt oder linear zu beeinflussen.

Gruppendynamik und sozialpsychologische Phänomene, zum Beispiel werden die Entstehung und Verbreitung von Einstellungen in Kollektiven auch als selbstorganisierende Prozesse verstanden, die mit dem Instrumentarium der Synergetik untersucht werden können (vgl. Schiepek, 2014, S. 85).

Eine Gruppe oder ein Team kann vor diesem Hintergrund analysiert werden:

• Es handelt sich um eine wiederkehrende Zusammenkunft von Personen, bei der sich Ordnungsmuster, Attraktoren, bilden, um die Komplexität zu reduzieren. Ein einfaches Beispiel ist die Sitzordnung, die sich in Seminaren meist recht schnell bildet und die oft auch bei mehrjährigen Weiterbildungen erstaunlich stabil ist.

• Die Selbstorganisation dieser spezifischen Ordnungsmuster beeinflusst auch, welche Themen im formellen System besprochen werden, wenn alle, auch die Leitung, anwesend sind und welche Themen nur im informellen System relevant sind.

• Die Attraktoren, die sich in dieser Gruppe, diesem Team selbstorganisierend entwickeln, bewirken eine stabile, dynamische Ordnung.

Zusammenfassung: Die systemische Sicht auf Gruppen

Hinsichtlich ihres Verständnisses von Gruppe ist diesen skizzierten systemischen Theorien gemeinsam:

• Eine Gruppe grenzt sich von ihrer Umwelt ab.

• Es entsteht eine gemeinsame, spezifische Kommunikation in der Gruppe, die sich an Mustern oder Regeln orientiert und über gemeinsame Geschichten eine Identität entwickelt.

• Die Gruppe entwickelt eine gemeinsame Geschichte, die auf die Gegenwart wirkt.

• Die Gruppe wird von niemandem gemacht, sie ist ein sich selbst organisierendes Gebilde.

2.2 Gruppendynamik im Alltag, in der Wissenschaft und Erwachsenenbildung

Wenn wir das Wort Gruppendynamik auf seine inhärente Bedeutung hin untersuchen, dann lohnt sich ein Blick auf die sprachliche Entstehung seiner Bestandteile. Das Wort Gruppe lässt sich zurückführen auf das italienische »gruppo«, das eine Ansammlung mehrerer Individuen oder Gegenstände bezeichnet, die durch gleich geartete Interessen oder Zwecke und durch gemeinsame Merkmale oder Ähnliches miteinander verbunden sind. Das ebenfalls erstmals im 18. Jahrhundert verwendete Wort »Dynamik« meint die »Lehre von der Bewegung beziehungsweise Kraft«. Zugrunde liegt das griechische »δυναμικός«, das mit »mächtig, kräftig, stark, wirksam« übersetzt werden kann.

In dieser Herkunft des Wortes Gruppendynamik zeigen sich drei unterschiedliche Formen, wie Gruppendynamik verstanden wird (vgl. König u. Schattenhofer, 2020, S. 12 f.):

• Gruppendynamik geschieht alltäglich in Gruppen:

Das Kräftespiel in einer Gruppe wird alltagssprachlich vor allem dann benannt, wenn es in Gruppen schwierig wird. Deshalb wird es oft als Bedrohung wahrgenommen.

• Gruppendynamik ist eine wissenschaftliche Disziplin:

Im wissenschaftlichen Kontext steht hier die Lehre von der Bewegung oder Kraft in einer Ansammlung mehrerer Individuen im Vordergrund, die zu zahlreichen Erkenntnissen vor allem der sozialpsychologischen (Kleingruppen-)Forschung führte.

• Gruppendynamik als angewandte Gruppendynamik ist eine besondere Form des Lernens in der Erwachsenenbildung: Dies ist die dritte Form, bei der es um eine Möglichkeit des sozialen Lernens für Erwachsene geht, die deren emotionale und soziale Kompetenz in Gruppen erweitern soll.

Im Alltag wird meist dann von Gruppendynamik gesprochen, wenn es in Gruppen hoch hergeht. Treffend formuliert dies Klaus Antons, der sich intensiv mit der »dunklen Seite von Gruppen« befasst hat: »Viele Menschen verstehen unter Gruppendynamik ausschließlich das, was abgeht, wenn es Zoff gibt oder, nach dem Muster Big Brother, eine Ausschlussdynamik läuft« (Antons, 2020, S. 13). Gruppen können eine erheblich destruktive Kraft entfalten, wie viele aus eigenen biografischen Erfahrungen mit hohem Konformitätsdruck, Außenseiterbis hin zu Sündenbock- und Mobbingphänomenen in Schulklassen, Freundschafts-, Ausbildungs- oder Arbeitsgruppen erzählen können.

Phantasiereise

In der ersten Sitzung einer Gruppen-Lehrsupervision wird eine Phantasiereise (→ Kapitel 8.2.7 Die Gruppen meines Lebens) durchgeführt. In einem entspannten Zustand erinnern sich die vier Teilnehmenden, welche Gruppen ihnen aus ihrer Kindheit, Jugend- und Erwachsenenzeit einfallen. Ebenso wird gefragt, wie es ihnen in diesen Gruppen ging und welche Rollen sie damals innehatten. In der anschließenden Auswertung ist auffällig, dass alle eher am Rande der Gruppen standen, es oft in einer Außenseiterrolle schwer hatten. Interessant ist in der Reflexion, wie sich diese unbewusste Gemeinsamkeit auswirkte, als sich diese Lehrsupervisionsgruppe gebildet hatte.

Auch literarisch und künstlerisch wurden Phänomene destruktiver Gruppendynamik vielfach bearbeitet. Als Beispiele seien hier nur der Roman von William Golding »Herr der Fliegen« (1954/1983), dessen Verfilmung (»Lord of the Flies«, 1963, Peter Brook) und das instruktive Filmdrama »Die Welle« (2008, Peter Gansel) genannt. Golding beschreibt in seinem Roman eine Gruppe von sechs- bis zwölfjährigen Kindern, die aufgrund eines Flugzeugabsturzes auf einer Südseeinsel stranden. Die unterschiedlichen Vorstellungen, wie sie auf der Insel überleben können, führen zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Jägern und Nichtjägern, die schließlich zu extremer Gewalt und Todesfällen führen. Das Buch wird als literarisches Beispiel dafür gesehen, wie schnell aus Angst und Hilflosigkeit eine äußerst aggressive Gruppendynamik entstehen kann (vgl. Meitcke, 1995).

Der Film »Die Welle« zeigt, wie ein Lehrer an einem gutsituierten deutschen Gymnasium innerhalb einer Projektwoche eine autoritäre Bewegung gründet, die einen hohen Gruppenzwang und eine hohe Gewaltbereitschaft gegen Außenstehende hervorbringt. Vorlage für diesen Stoff war ein ähnliches Experiment, »The Third Wave«, das Ron Jones 1967 an einer kalifornischen Schule durchführte (vgl. Hanetseder, 2008). Dieses Experiment diente auch als Vorlage für den Film »Das Experiment« von Oliver Hirschbiegel (2001).

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gruppendynamik, der Lehre von der Bewegung oder Kraft in einer Ansammlung mehrerer Individuen wird heute in unterschiedlichen Teildisziplinen der Soziologie, Betriebswirtschaftslehre, Pädagogik und Psychologie geführt. Hinsichtlich der Leistung von Gruppen in Unternehmen waren die sogenannten Hawthorne-Experimente von Elton Mayo (1933) und Fritz J. Roethlisberger und William J. Dickson (1939) in den Hawthorne-Werken der Western Electric Company wegweisend. Untersucht wurde der Zusammenhang von Arbeitsbedingungen, wie zum Beispiel der Arbeitsplatzbeleuchtung, auf die Gruppenleistung. Es überraschte die Forscher, dass trotz schlechterer Lichtverhältnisse die Produktivität stieg. Dieser Hawthorne-Effekt wurde damit erklärt, »dass nicht die Arbeitsbedingungen den wesentlichen Einfluss auf die Produktivität ausüben; vielmehr seien es die sozialen Beziehungen, die Aufmerksamkeit, die den Beschäftigten entgegengebracht wird, die deren Produktivität zu steigern vermag«. (Jatzek, 2001, S. 119). Die Bedeutung sozialer Beziehungen in Unternehmen ist seither eine Grundannahme der Personalentwicklung.

Für die Psychologie konstatiert Sader, dass meistens der einzelne Mensch thematisiert und als einzelnes und isoliertes Wesen gesehen werde. Dabei werde in den meisten Teilgebieten der Psychologie vernachlässigt, dass der Mensch wesentlich in Gruppen lebt und handelt. Auch der Bezug auf eine gedachte oder vorgestellte Gruppe ist häufig von entscheidender Bedeutung (vgl. 1994, S. 19). Auch Bennis und Biederman wenden sich gegen eine Überschätzung und Überhöhung des Individuums. Sie sehen die moderne Welt, das 20. Jahrhundert, als das »goldene Zeitalter der kollektiven Errungenschaften«, ohne die das heutige Leben kaum mehr denkbar wäre (1998, S. 14 ff.).

Zu einer Relativierung des (autonomen) Individuums trugen auch frühe und seitdem weltberühmte Experimente der Sozialpsychologie bei: das sogenannte Asch-Experiment zum Gruppendruck im Jahr 1951 sowie das Milgram-Experiment zum Gehorsam im Jahr 1963 und die Untersuchung zu Führungsstilen von Lewin, Lippitt und White, die 1939 erschien.

Salomon Asch untersuchte den Einfluss von Konformitätsdruck auf die individuelle, autonome Entscheidung. Wie sah sein Experiment aus? Die Untersuchungspersonen waren aufgefordert zu entscheiden, welche von drei Vergleichslinien die gleiche Länge wie die Referenzlinie aufwies. Wurden die Personen dazu allein befragt, gaben 95 % der Untersuchungspersonen die richtige Antwort. In der Experimentalgruppe wurden die Untersuchungspersonen erst befragt, nachdem vorher mehrere, andere Personen – die dazu instruiert waren – öffentlich eine falsche Einschätzung abgaben. Jetzt waren 37 % der abgegebenen Einschätzungen falsch. Das heißt, die Untersuchungspersonen änderten wider besseres Wissen ihre eigene Einschätzung und passten sich der wahrgenommenen Mehrheit an. Nur etwa ein Viertel der Untersuchten blieben trotz der (falschen) Mehrheitsmeinung bei ihrer eigenen Einschätzung. Interessant ist hier auch, dass schon zwei andere Personen, die sich einig sind, ausreichen, um sich normenkonform zu verhalten (vgl. Stürmer u. Siem, 2020, S. 25 ff.; Sader, 1994, S. 160 ff).

Eine noch wesentlich größere Wirkung auf die Sozialpsychologie und gesellschaftliche Wahrnehmung hatten die Milgram-Experimente Anfang der 1960er Jahre. Nach der ersten Veröffentlichung »Eine Verhaltensstudie über Gehorsam« im Jahr 1963 folgten weitere Veröffentlichungen über insgesamt 17 Versuchsreihen. In diesen wie auch in späteren ähnlichen Untersuchungen stand die Frage im Fokus, inwieweit Personen ihre Meinungen und Verhaltensweisen durch andere Personen beeinflussen lassen, die Autoritäten mit hohem formellem oder informellem Status sind.

Im ursprünglichen Experiment von Stanley Milgram wurden in einer als Lernexperiment getarnten Versuchsanordnung zufällig ausgewählte, psychisch nicht auffällige Erwachsene in die Rollen Lehrer und Schülerin zugeteilt. Die Lehrerin sollte falsche Antworten des Schülers mit Elektroschocks bestrafen, um die Wirkung dieser Bestrafungsmethode herauszufinden. Die angenommene Schülerin war in Wirklichkeit eine Assistentin und befand sich nicht sicht-, aber hörbar in einem Nebenraum, angeschnallt an einen Stuhl mit applizierten Elektroden für die Elektroschocks. Auf die Anweisung des Versuchsleiters gaben die Lehrerinnen bei Fehlern Elektroschocks mit immer höherer Dosis, trotz der Schreie und Bitte des Schülers aufzuhören. Über 60 % der Teilnehmenden waren bereit die Maximaldosis von 450 Volt anzuwenden (vgl. Stürmer u. Siem, 2020; S. 31 ff., Sader, 1994, S. 165 ff.).

Diese eindrücklichen Ergebnisse Milgrams erschütterten die damalige Auffassung, dass besonders obrigkeitshörige Personen, der sogenannte autoritäre Charakter, anfällig wären für destruktiven Gehorsam. Diese Experimente wurden intensiv wissenschaftlich diskutiert und auf ihre Voraussetzungen hin geprüft. Auch in einer neueren ähnlichen Versuchsanordnung, die den heutigen wissenschaftlichen Standards entspricht, kam es zu sehr ähnlichen Ergebnissen wie bei Milgram in den 1960er Jahren. Stürmer und Siem drücken das folgendermaßen aus: »Die Rate für Gehorsamkeit im Experiment aus dem Jahr 2009 lag nur geringfügig unter der von Milgram 45 Jahre zuvor berichteten Rate« (Stürmer u. Siem, 2020, S. 34).

Wie sich Autorität und Führungsverhalten auf eine Gruppe auswirkt, stand im Mittelpunkt des Experiments von Lewin, Lippitt und White im Jahr 1938 an der Universität von Iowa.

Zwanzig Schulkinder im Alter von 10 Jahren wurden in vier Gruppen aufgeteilt und jeweils sieben Wochen mit einem unterschiedlichen Führungsstil – autokratisch, demokratisch und laissez faire – unterrichtet. Nach den sieben Wochen wechselte die Lehrkraft und auch der Führungsstil, was noch einmal wiederholt wurde. Die Gruppen wurden während des insgesamt 21-wöchigen Experiments beobachtet und jeweils beim Wechsel befragt. Die Ergebnisse sprachen insgesamt deutlich für die Überlegenheit des demokratischen gegenüber dem autokratischen Führungsstil. Lewin drückt es so aus: »Wenige Erfahrungen haben mich so beeindruckt wie der Ausdruck in den kindlichen Gesichtern am ersten Tag unter einem autokratischen Führer. Die Gruppe, die zuvor freundlich, offen, kooperativ und voller Leben gewesen war, wurde in einer knappen halben Stunde eine sehr apathisch wirkende Versammlung ohne Initiative.« (Marrow, 2020, S. 144).

Laut Manfred Sader hatte kein anderes einzelnes Experiment eine so starke Wirkung auf die Sozialpsychologie wie dieses (vgl. 1994, S. 271). Auch heute sind die autokratischen,demokratischen oder Laisser-faire-Führungsstile noch in vielen Managementbüchern zu finden (→ Kapitel 6 Gruppendynamische Prozesse steuern)

Nun zum dritten Verständnis von Gruppendynamik, der sogenannten angewandten Gruppendynamik. Gruppendynamik wird hier als Methode des sozialen Lernens für Erwachsene gesehen. Damit lässt sich erleben und verstehen, wie Gruppen funktionieren, welchen Einfluss das eigene Verhalten auf Gruppenprozesse hat und wie Gruppen gesteuert werden können. Insbesondere in der speziellen Lernform des gruppendynamischen Trainings kann sowohl die persönliche soziale und emotionale Kompetenz in der Zusammenarbeit mit Menschen als auch die Führungsfähigkeit in Gruppen und Teams reflektiert und erweitert werden.

Die fachlichen und professionellen Standards für diese angewandte Gruppendynamik setzen die gruppendynamischen Fachverbände im deutschsprachigen Raum wie die DGGO, Deutsche Gesellschaft für Gruppendynamik und Organisationdynamik oder ÖAGG und ÖGGO für Österreich.

2.3 Wie ist die Gruppendynamik als Verfahren entstanden?

Die Geschichte der Gruppendynamik in Deutschland zu beschreiben ist für Personen, die in Jugendgruppen ihre ersten gruppendynamischen Feedbackrunden erlebt haben, auch eine subjektive Angelegenheit.

Es gab viel Euphorie, viele mutige Experimente und auch viel Kritik an diesem in den 1970ern entstandenen neuen Verfahren, das dazu dienen sollte, die demokratische Gesinnung der Menschen zu fördern, Vorurteile abzubauen und Arbeitsbedingungen zu verbessern.

Viele der Ideen und Methoden der Gruppendynamik in Deutschland und im deutschsprachigen Raum haben sich im Alltag von Fort- und Weiterbildung, Wirtschaft, Teamarbeit, Schule und auch im Alltagswissen von Menschen so weit durchgesetzt, dass teilweise gar nicht mehr klar ist, wer es erfunden hat. Wer und was alles zur »gruppendynamischen Familie« gehört, wird in der folgenden Abbildung sichtbar:

Abbildung 1: Gruppendynamik und ihre »Familienangehörigen« (eigene Darstellung)

Nachfolgend stellen wir hier außer Kurt Lewin noch weitere wesentliche Gründungspersönlichkeiten, Vordenkerinnen verschiedener Verfahren und Konzepte vor und werfen anschließend einen Blick in die Geschichte der Gruppendynamik in Deutschland.

2.3.1 Persönlichkeiten der sozialpsychologisch-humanistischen Gruppenverfahren

Ausgehend von der Entdeckung des Unbewussten und der Erfindung der Psychoanalyse durch Sigmund Freud entstanden Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts unterschiedliche Verfahren zur Heilung des Menschen und seiner Seele. Neben dem Blick auf den Einzelnen und dessen individuellen Entwicklung rückte mehr und mehr die Perspektive des Individuums im sozialen Kontext, seiner Familie, der Gruppe, der Gesellschaft in den Fokus.

Die Begründerinnen von unterschiedlichen sozialpsychologisch-humanistischen Gruppenkonzepten oder Therapieverfahren lebten alle in etwa zur gleichen Zeit, kannten sich teilweise persönlich und inspirierten sich gegenseitig.4 Moreno und Lewin standen eng in Kontakt und vereinbarten noch kurz vor dem Tod Lewins eine Zusammenarbeit. Virginia Satir arbeitete als eine der ersten Lehrkräfte am Esalen-Institut in Kalifornien in USA, wo auch besagter Jacob L. Moreno, Fritz Perls und Paul Goodman lehrten. Ruth Cohn orientierte sich ebenfalls an den Erkenntnissen Morenos, Lewins und Perls. Michael Bálint war inspiriert durch Lewin und forschte am Tavistock Institute in London.

Gemeinsam war ihnen, aufgrund ihrer Erfahrungen mit dem menschenfeindlichen Nationalsozialismus und mindestens einem erlebten Weltkrieg zu einer besseren und demokratischeren Welt beizutragen zu wollen. Sie haben als Pioniere und Pionierinnen erforscht und begründet, wie lebendiger, gerechter und angstfreier in Teams und Gruppen zusammengearbeitet oder in Schulklassen gelernt werden kann. Sie beschrieben, wie Menschen miteinander in Interaktion gehen können, um zum Beispiel politische Ziele zu erreichen oder ihre Freizeit zu gestalten, und entwickelten vor diesem Hintergrund verschiedene Ansätze, wie psychische Krankheiten besser geheilt werden können.

Sie alle haben mit ihrem Lebenswerk unsere heutige Welt entscheidend mitgeprägt. Allen gemeinsam ist der Weg, über die Arbeit mit Einzelnen hinauszugehen und sich von einer individuumzentrierten Psychoanalyse abzugrenzen. Ihre Sichtweise des Menschen als soziales Wesen und ihre Überzeugung, dass jede und jeder kreativ sein und beteiligt werden möchte, bestimmten die Entwicklung ihrer Konzepte: Menschen lernen in Familien, in Gruppen voneinander und können, wenn sie sich selbst und die anderen ernst nehmen, auch wirksam die Welt gestalten.

Viele ihrer Konzepte sind mittlerweile Allgemeinwissen geworden, jedoch ist es im Alltag oft nicht einfach, dieses Wissen über Kommunikation zwischen Menschen und in Gruppen anzuwenden. Kenntnisse über die Dynamik in Gruppen und ein souveräner Umgang damit helfen allen, die mit Teams, Gruppen, Klassen, Organisationen zu tun haben. Gerade in einer zunehmenden Komplexität der uns umgebenden Strukturen ist es notwendig, sich als Einzelne in Gruppen, Organisationen und der Welt verorten und als kompetent erleben zu können.

Jacob Levy Moreno und das Psychodrama

Jacob Levy Moreno arbeitete als Arzt und Psychologe. Er wurde 1889 in Bukarest/Rumänien geboren und starb 1974 in Beacon, New York/USA. Moreno gilt als der Begründer des Psychodramas, der Soziometrie und der Gruppenpsychotherapie.

Moreno wuchs als Sohn einer sephardischen Kaufmannsfamilie in Bukarest, Wien, Berlin und Chemnitz auf. Bereits während seines Medizinstudiums von 1910 bis 1914 in Wien führte er erste soziometrische Experimente in einem Geflüchtetenlager durch und arbeitete mit Kindergruppen und Prostituierten (vgl. Ameln, Gerstmann u. Kramer, 2004, S. 197 ff.). Als ausgebildeter praktischer Arzt entwickelte er seine ersten Ansätze zur Soziometrie weiter.

1925 wanderte Moreno in die USA aus. Nach ersten Schwierigkeiten, dort Fuß zu fassen, veröffentlichte er 1932 einen Vortrag über sein Konzept von Gruppenpsychotherapie (vgl. Ameln, Gerstmann, u. Kramer, 2004, S. 200). 1934 erschien sein Werk »Die Grundlagen der Soziometrie«. Im Jahr 1935 gründete er in Beacon, New York, das Beacon Hill Sanatorium, in dem er auf der ersten Psychodramabühne, die genau für diesen Zweck entwickelt worden war, psychodramatisch arbeitete. 1942 eröffnete er in New York das erste Psychodrama-Institut weltweit. Nach dem Zweiten Weltkrieg verbreitete sich das Psychodrama auf allen Kontinenten (vgl. Hutter u. Schwehm, 2012, S. 71 ff.).

Für seine Idee therapeutischen Handelns ließ er sich durch das Spiel von Kindern anregen. Spontaneität und Kreativität waren ihm sehr wichtig. Auch deshalb gründete er in seiner Wiener Zeit ein Stegreiftheater. Die Idee der Rollenübernahme im Schauspiel beeinflussten seine Rollentheorie. Er beobachtete außerdem, dass Geflüchtete in den damaligen Lagern weniger krank wurden und sich insgesamt wohler fühlten, wenn sie sich ihre Mitbewohner frei aussuchen konnten. Unter anderem aus diesen Erfahrungen heraus und seiner Hypothese von sozialen Anziehungs- und Abstoßungskräften legte er die Grundsteine der Soziometrie.

Moreno verstand sich als Sozialpsychologe und den Menschen als Gemeinschaftswesen. Damit grenzte er sich von Sigmund Freuds Individualpsychologie sowohl theoretisch als auch methodisch ab. »Das erste Instrument psychodramatischer und soziometrischer Arbeit ist unumstritten die Gruppe. Sie stellt den primären Handlungsraum dar, in dem sowohl die gruppenprozessorientierte Arbeit wie auch die szenische Arbeit ihren Ort haben. Auf der Suche nach einem Raum, der möglichst lebensnah strukturiert ist, ist Moreno stets auf die Gruppe als Handlungsrahmen zurückgekommen« (Hutter u. Schwehm, 2012, S. 31).

Die Gruppe ist laut Moreno also der Ort, an dem der Einzelne gemeinsam mit anderen lernt, neue Verhaltensweisen auszuprobieren und einzuüben. »Moreno verwirklicht im Psychodrama die Idee einer ›Therapie in der Gruppe, durch die Gruppe, für die Gruppe und der Gruppe‹« (Moreno in Leutz, 1974, S. 92).

Ein herausragender Persönlichkeitszug Morenos war sein Humor. Auf seinem Grabstein auf dem Wiener Zentralfriedhof steht: »Hier ruht der, der das Lachen in die Psychiatrie gebracht hat« (Ameln, Gerstmann u. Kramer, 2004, S. 203 und eigene Anschauung).

Kurt Lewin und die Gruppendynamik

Kurt Lewin, geboren 1890 in Mogilno/Polen, gestorben 1947 in Newtonville/USA, gilt als Begründer der Gruppendynamik und ist einer der einflussreichsten Pioniere der Sozialpsychologie. Darüber hinaus hat er die Gestaltpsychologie beziehungsweise die Gestalttheorie entscheidend beeinflusst.

Lewin wuchs in einem jüdischen Elternhaus auf und begann 1909 ein Medizinstudium in Freiburg und München. Von 1914 bis 1918 diente Kurt Lewin als Soldat im Ersten Weltkrieg. Lewin promovierte über Assoziationstheorie und forschte von 1918 bis 1920 über Gestaltpsychologie in Berlin (vgl. Stützle-Hebel u. Antons, 2017, S. 111). Inspiriert von Albert Einsteins Relativitätstheorie suchte Lewin »auch in sozialen und psychologischen Bereichen die Relationen zwischen den Teilen« (Hege, 1998, S. 41). Mit seinem Modell des Lebensraums beschrieb Lewin Verhalten im Zusammenhang von Person und Umwelt und deren wechselseitige Abhängigkeit. Hege drückt es so aus: »Mit der Bezeichnung des Lebensraumes als Spannungsfeld wird die Dynamik zu einem wesentlichen Merkmal« (1998, S. 48). Hieraus entsteht seine Feldtheorie (Kräfte in Gruppen: Das gruppendynamische Feld). Lewins frühe Arbeiten fließen auch in die Systemtheorie ein.

Als die Nationalsozialisten 1933 in Deutschland die Macht übernahmen, deutete Lewin die Zeichen der Zeit so, dass er in Deutschland weder als Jude noch als Feldtheoretiker eine Zukunft haben würde (vgl. Hege, 1998, S. 51). Auf einer Reise in die USA entschied er sich, nicht nach Deutschland zurückzukehren. Er übernahm eine Professur an der Cornell University in Ithaca, wo er sich entwicklungs- und erziehungspsychologischen Fragen widmete. Als Mitbegründer der experimentellen Sozialforschung gab er Anstöße und Ideen zum Geschehen in Gruppen. Lewin selbst prägte dafür 1939 den Begriff Gruppendynamik.

Kurt Lewins Forschungen standen sehr unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland. Auch vor diesem Hintergrund forschte er zu unterschiedlichen Erziehungs- und Führungsstilen. Seine Unterscheidung zwischen dem autoritären,dem Laisser-faire- und dem demokratischen Stil wird heute noch verwendet (vgl. Lück, 2006). Lewin befasste sich auch mit der Frage, wie Nachkriegsdeutschland mit seinem konservativen Schulsystem und immer noch autoritären Erziehungsstil durch Umerziehung (»Re-Education«) demokratisiert werden könnte. Seine Forschungen dienten dazu, Vorurteile abzubauen, Konflikte zu lösen und eine liberalere, tolerantere Haltung zu fördern.

Das gruppendynamische Training wurde im Sommer 1946 während einer zweiwöchigen Schulung für 41 ausgewählte Studierende am Teachers College in New Britain, Connecticut/USA, eher zufällig erfunden. Die meisten waren in sozialen Bereichen tätig, die Hälfte mit afroamerikanischem oder jüdischem Migrationshintergrund. Tagsüber wurde miteinander gearbeitet, es ging unter anderem um Widerstand gegen Veränderung und um die Ursachen von Vorurteilen. Abends traf sich das Forschungsteam zur Besprechung seiner Beobachtungen. Die Teilnehmerinnen äußerten ihr Interesse, an den abendlichen Auswertungen teilzunehmen, und erfuhren so von dem, was die Beobachter von ihnen und ihrem Verhalten wahrgenommen hatten. Die Teilnehmerinnen und die Forscher rund um Lewin waren begeistert von den positiven Auswirkungen des abendlichen Feedbacks. Die Wirksamkeit dieser Art zu arbeiten, wurde ein halbes Jahr später erfolgreich überprüft. Über die Einrichtung der National Training Laboratories (NTL) und deren Arbeit verbreitete sich das Sensitivity-Training weltweit (vgl. Marrow, 2002, S. 305 ff.).

Ruth Cohn und die Themenzentrierte Interaktion (TZI)

Ruth Charlotte Cohn, geboren 1912 in Berlin, gestorben 2010 in Düsseldorf, gilt als die Begründerin der Themenzentrierten Interaktion (TZI) und ist eine der großen Vertreterinnen der humanistischen und der psychodynamischen Psychologie.

Cohn begann mit dem Studium der Nationalökonomie und Psychologie in Heidelberg und Berlin. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 flüchtete die deutsch-jüdische Studentin von Berlin nach Zürich, wo sie Psychologie, Pädagogik, Theologie, Literatur und Philosophie studierte und sich als Psychoanalytikerin ausbilden ließ. 1941 wanderte sie in die USA aus. Man erlaubte ihr dort zunächst nur die Arbeit mit Kindern und eine Anstellung als Assistant Teacher an den Bankstreet Schools. Schließlich begann sie mit ihrer Arbeit als Psychotherapeutin in privater Praxis und entfernte sich immer weiter von der klassischen Psychoanalyse (vgl. Greving, 2009, S. 18 f.).

In den 1950er Jahren entwickelte Ruth Cohn zusammen mit anderen Vertreterinnen der Humanistischen Psychologie die Themenzentrierte Interaktion (TZI), in der sie Erfahrungen aus Psychoanalyse, Gestalttherapie und der Gruppendynamik verarbeitete. Ihre konzeptionelle Idee war das lebendige Lernen. Dies bedeutete für Ruth Cohn ein ganzheitliches Lernen und Arbeiten, »das gleichermaßen Intellekt und Emotionalität, Geist und Körper, Denken und Fühlen, Handeln und Reflektieren berücksichtigt«, so Spielmann (2009, S. 15). Die Begegnung mit Jacob Levy Morenos Psychodrama in einem Theater in New York begeisterte sie (vgl. Greving, 2009, S. 20).

Ruth Cohns zutiefst humanistische Einstellung wird anhand der drei Axiome der Themenzentrierten Interaktion deutlich (1975, S. 120 ff.):

1. »Der Mensch ist eine psycho-biologische Einheit. Er ist auch Teil des Universums. Er ist darum autonom und interdependent. Autonomie (Eigenständigkeit) wächst mit dem Bewusstsein der Interdependenz (Allverbundenheit). […]

2. Ehrfurcht gebührt allem Lebendigen und seinem Wachstum. […] Das Humane ist wertvoll; Inhumanes ist wertbedrohend.

3. Freie Entscheidung geschieht innerhalb bedingender innerer und äußerer Grenzen. Erweiterung dieser Grenzen ist möglich. […] Bewusstsein unserer universellen Interdependenz ist die Grundlage humaner Verantwortung« (Hervorhebungen durch Ruth Cohn).

Für die Arbeit in Gruppen ist das »runde TZI-Dreieck« sehr bekannt (vgl. Langmaack u. Braune-Krickau, 2010, S. 78 ff.; Abb. 2): Es besteht aus den Faktoren Ich, Wir und Thema/Es, umrahmt vom Globe. Das Ich meint die Individuen mit all ihren persönlichen Geschichten. Das Wir steht für die Interaktionen in der Gruppe. Es ist das Anliegen oder Ziel der Gruppe, weshalb die Gruppe zusammenkommt (vgl. Kügler, 2009, S. 107), wobei sowohl die einzelnen Personen als auch die Beziehungen untereinander das Thema der Gruppe sein können. Das Dreieck wird umrahmt vom Globe, dem Kontext: Gemeint sind alle äußeren Einflüsse, die auf die Gruppe, ihr Ziel und ihre Zusammenarbeit einwirken. 1974 kehrte Ruth Cohn nach Europa zurück und lebte und arbeitete zunächst in der Schweiz und dann in Deutschland, wo sie 2010 starb.

Abbildung 2: Das runde TZI-Dreieck (vgl. Langmaack u. Braune-Krickau, 2010, S. 78 ff.)

Virginia Satir und die systemische Familientherapie

Virginia Satir, geboren 1916 in Neillsville/USA, gestorben 1988 in Kalifornien, war eine der Pionierinnen der Familientherapie und gilt als eine der bedeutendsten Familientherapeutinnen. Sie arbeitete zunächst als Lehrerin und studierte nebenher Soziale Arbeit in Chicago. Zusätzlich begann sie mit einer psychoanalytischen Ausbildung. Sie kam in den 1950er Jahren auf die Idee, in der Therapie nicht nur mit den einzelnen Patienten zu arbeiten, sondern die Therapie für die ganze Familie anzubieten. Mit ihrer Überzeugung, dass sich jeder Mensch seelisch entwickeln kann, war sie Wegbereiterin dafür, dass die Behandlung von psychisch erkrankten Menschen völlig neu betrachtet wurde (vgl. Müller, 2018).

Virginia Satir lehrte am Illinois State Psychiatric Institute Familiendynamik, ab 1963 auch am Esalen-Institut, wo sie Kontakt mit Jacob Levy Moreno und Fritz Perls hatte. Ihr systemisches Verständnis und die von ihr entwickelte Familienskulptur beeinflussten auch andere Therapieformen. Satir selbst übernahm Rollenspielmethoden aus Psychodrama und Gestalttherapie. Die interaktionelle Familienskulptur, um die familieneigenen und systemimmanenten Muster und Problematiken sichtbar und begreifbar zu machen, wurde von Satir eingeführt (vgl. Schweitzer, Beher, Sydow u. Retzlaff, 2007). Unter ihrer Leitung entstand in den 1960er Jahren das erste familientherapeutische Ausbildungsprogramm der USA. Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre reiste sie auch häufiger nach Deutschland und trug zur Verbreitung ihres Arbeitsansatzes bei.

Satir versteht die Familie als ein sich selbst organisierendes System mit eigenen Kräften zur Selbsterhaltung und spezifischen Reaktionen auf Veränderungen innerhalb und außerhalb des Systems. Dies versuchte sie im Rahmen von Familienrekonstruktionen sichtbar und bewusst zu machen.

Ihr systemisches Wachstumsmodell von Familienentwicklung fußt darauf, »die Einzigartigkeit eines jeden Menschen im Kontext [der Familie] zu würdigen. Das Wachstumsmodell bezieht sich auf die Prinzipien Gleichwertigkeit (equality) von Menschen, Wertschätzung und einer lebenslang währenden Fähigkeit zur Veränderung: Menschen können ihren Selbstwert aus dem Vertrauen in den Prozess der stetigen Veränderung und des persönlichen Wachstums gewinnen. Auch wenn äußerer Wandel durch ungünstige Umstände begrenzt ist, gibt es die Möglichkeit zur inneren Veränderung. Jeder Mensch besitzt bereits alle Ressourcen, die er benötigt, um sich zu entwickeln und zu wachsen« (Moskauu. Müller, 1992).

Die systemische Familientherapie hat sich in den Folgejahren weiter ausdifferenziert. Selbststeuerung, Selbstorganisation und strukturelle Autonomie sind wichtige Perspektiven, die im therapeutischen Vorgehen mit Familien eine große Rolle spielen (vgl. Schweitzer, Beher, Sydow u. Retzlaff, 2007) und auch für die Arbeit mit Gruppen Relevanz haben.

Fritz Perls, Laura Perls und die Gestalttherapie