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Günter Grass E-Book

Dieter Stolz

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Beschreibung

Die erste Gesamtdarstellung zum literarischen Werk on der »Blechtrommel« (1959) über »Das Treffen in Telgte«  (1979) bis hin zu »Vonne Endlichkait« (2015) − in der aktualisierten und erweiterten Neuausgabe bespricht Dieter Stolz das literarische Gesamtwerk von Günter Grass. Detailreich analysiert er das Œuvre des Nobelpreisträgers und zeigt auf, dass es sich als gattungsübergreifende Fortsetzungsgeschichte lesen lässt. Von Lyrik, Drama über Prosa bis hin zu autofiktionalen Texten führt Stolz durch Grass' abgeschlossenes Lebenswerk. Abgerundet wird seine Quintessenz aus jahrzehntelanger Forschung und Zusammenarbeit mit dem Autor von einem ganz persönlichen Erfahrungsbericht, Lektüresumme und Begegnungsbilanz in einem.

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Dieter Stolz

Günter Grass

Der Schriftsteller

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

 

 

 

Für Manfred Bissinger

Prolog: Günter Grass – ein (un-)zeitgemäßes Porträt

»Il faut imaginer Sisyphe heureux.«

Albert Camus

Günter Grass polarisiert vom Beginn seiner steilen Karriere an und reizt über seinen Tod hinaus zum Widerspruch.[1] Mehr noch, er hat es in seiner Doppelrolle als erfolgreicher Autor und engagierter Staatsbürger mit internationaler Reputation sehr schnell geschafft, »allgegenwärtig« zu sein und das zu bleiben, »was man in Deutschland mit dem kreuzbraven Euphemismus ›umstritten‹ bezeichnet«: »Bei keinem anderen Künstler hierzulande ist der Spannungsbogen der Wertschätzung so groß«[2]. Und so wird eine jahrzehntealte Geschichte in Zeitgeistvariationen immer wieder neu aufgelegt, das medial inszenierte Grass-Symptom und kein Ende. Bis heute sorgt Der Unbequeme, so der Titel eines Dokumentarfilms über den Arbeitsalltag des Dichters aus dem Jahr 2007, für oft unerbittlich geführte, aber nur selten von profunden Textkenntnissen zeugende Kontroversen. Für die einen ist der streitbare Sozialdemokrat schon immer ein »rotes Tuch«, andere stecken ihn kurzerhand in die aschgraue Kutte des unfehlbaren Moralpredigers. Für die einen ist sein Besserwisser-Gehabe als omnipräsenter Politikberater ohne Mandat eine Zumutung, der Gestus des Oberlehrers unerträglich, für die anderen gilt die unermüdliche Aufklärungsarbeit des Homo politicus als geradezu beispielhaft. Für die einen ist er seit seinem Erinnerungsbuch Beim Häuten der Zwiebel (2006) nur noch der endgültig diskreditierte, zum verbalen Abschuss freigegebene »SS-Mann«[3], für die anderen wird er gerade aufgrund des in aller Öffentlichkeit erst spät, allerdings aus eigenem Antrieb eingestandenen »Makels« zum selbstkritischen Verfechter einer Erinnerungskultur, die den Namen verdient.

Gestreute Respektlosigkeiten und gezielte Kampagnen hin, sachkundige Apologien und gut gemeinte Ehrenrettungsversuche her, die Tatsache, dass es sich beim 2015 gestorbenen Literaturnobelpreisträger Günter Grass, geboren 1927 in Danzig, um einen der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftsteller der Nachkriegszeit handelt, scheint angesichts der bisweilen hysterisch anmutenden Debatten seines letzten Lebensjahrzehnts in Vergessenheit zu geraten. Über mögliche Gründe für dieses Phänomen lässt sich nicht nur aus ostwestdeutscher Perspektive unendlich lange streiten. Doch mit dem einzigartigen Wortkünstler – vom Zeichner, Graphiker, Buchgestalter und gelernten Bildhauer ganz zu schweigen[4] – haben diese sehr unterschiedlich motivierten Auseinandersetzungen in der Feuilletonregel nur wenig zu tun.

Zurück: Ein Stein des Anstoßes, Attraktion und Ärgernis war der selbsternannte Gegengeschichtenerzähler von seinem Debütroman an.[5] Für die wahlverwandten Geister aus dem Kreis der nun schon legendären »Gruppe 47« repräsentierte er nach der weltweit Aufsehen erregenden Publikation der Blechtrommel (1959) den enthusiastisch gefeierten, produktive Unruhe stiftenden Störenfried. Seine Widersacher stempelten den »heidnischen Katholiken« (20, 482) demgegenüber fix zum Nihilisten bzw. zum Gotteslästerer, so das von mangelndem Kunstverstand zeugende Urteil konservativer West-Kritiker, oder zum kleinbürgerlichen »Highbrow-Pornographen«[6], so Heiner Müller als einer der wenigen Rezensenten aus der DDR. Der wegweisende Dramatiker, der zu Lebzeiten selbstkritisch genug war, um über seine anregenden Zynismen gewinnend zu lächeln, beendete den Verriss der ersten Grass’schen Gedichtsammlung, Die Vorzüge der Windhühner (1956), mit den Worten: »Leute wie Grass haben uns und wir haben ihnen nichts zu sagen«. Versteinerungstendenzen über die Grenzen hinweg.

Seitdem sind fast sieben Jahrzehnte vergangen. Aber der über die Landesgrenzen hinaus wohl prominenteste deutschsprachige Autor steht noch immer im Kreuzfeuer der Kritik. Insbesondere im plötzlich – trotz der vehementen Widerrede des vom Einheitsprozess enttäuschten Bürgers – wiedervereinigten »Novemberland« ist man auch Jahrzehnte nach der sogenannten Wende geteilter Meinung über die provokativ zugespitzten Kassandra- bzw. Unkenrufe des geschichtsbewussten Mahners. Alles wie gehabt: Für die einen war und ist Grass ein wirklichkeitsferner Schwarzseher, für die anderen ein von den Realitäten mittlerweile sogar weit übertroffener Hellseher.

Jenseits dieser undifferenzierten Polarisierungen stehen die erst seit dem Mauerfall in beiden Teilen des Landes zugänglichen, von Zwischentönen und Widersprüchen lebenden Texte des nachdenklichen Skeptikers und sinnenfrohen Ästheten. Auch weniger bekannte Werke, etwa die wegweisende Lyriksammlung Gleisdreieck (1960), die Hans Werner Richter gewidmete Barockerzählung mit Gegenwartsbezug Das Treffen in Telgte (1979), die besten Episoden aus Mein Jahrhundert (1999) oder Grimms Wörter (2010), eine »Liebeserklärung« an die deutsche Sprache, wollen erst noch entdeckt werden. Sie warten – neben herausragenden Gedichten, bemerkenswerten Theaterspielen und den epischen Welterfindungen des Romanciers – auf neugierige Rezipienten, die noch immer oder wieder bereit sind, genau hinzusehen. Sie warten auf Leserinnen und Leser, die sich lustvoll in Zeichenlabyrinthen verlaufen, ohne dabei ihre Vernunft oder ihre Reflexionsfähigkeit preiszugeben. Erkenntnisgewinn verspricht die Einsicht, dass eindimensionale Interpretationsansätze oder starre Rezeptionsmodelle dem vielschichtigen Œuvre des kunstvoll lügenden Dichters nicht gerecht werden. Selbst weniger komplexe Nebenwerke aus seiner Werkstatt verlangen nach mehr.

Doch wie verhält es sich mit den ungezählten, oft weniger subtilen Verlautbarungen des zur gezielten Polemik neigenden Wahlredners, Laudators und Essayisten, in denen sich 60 Jahre bundesrepublikanische Gesellschaftsgeschichte spiegeln?[7] Natürlich waren Günter Grass die durchaus ernst zu nehmenden Einwände gegen seine Doppeltätigkeit als Autor und zeitgeistkritischer Trommler – etwa für wechselnde Regierungskoalitionen in Bonn oder gegen den Niedergang der politischen Kultur in der »Berliner Republik« – jederzeit bekannt. In seiner Frankfurter Poetikvorlesung unter dem programmatisch lastenden Titel Schreiben nach Auschwitz aus dem Jahr 1990 räumt er in diesem Zusammenhang ein: »Die dem Schriftsteller gemäße Distanz droht verlorenzugehen; seine Sprache sieht sich versucht, von der Hand in den Mund zu leben; die Enge jeweils gegenwärtiger Verhältnisse kann auch ihn und seine auf Freilauf trainierte Vorstellungskraft einengen, er läuft Gefahr, in Kurzatmigkeit zu geraten« (22, 437).

Trotzdem hielt Grass es als Bürger für selbstverständlich, sich einzumischen, d. h. in beiden Bereichen aktiv zu sein, ohne dadurch die (sicher nicht in allen literarischen Werken ganz eindeutige) Trennlinie zwischen Kunst und Politik aufheben zu wollen: »Seien wir uns dessen bewußt: Das Gedicht kennt keine Kompromisse; wir aber leben von Kompromissen. Wer diese Spannung tätig aushält, ist ein Narr und ändert die Welt.« (20,  200 f.) Nur so schien es dem widerständigen Verfechter »dritter Wege« möglich zu sein, der Ohnmacht »ein leises ›dennoch‹ abzunötigen« (10, 77), nach Enttäuschungen nicht aufzugeben, sondern stets neue, von zwiespältigen Gefühlen begleitete Anläufe zu nehmen. Hin- und hergerissen zwischen seiner keinesfalls euphorisch stimmenden Geschichtsphilosophie – »Ich glaube, daß die Geschichte ein absurder Prozeß ist, aus dem zu lernen schwerfällt«[8] – und den Intentionen eines am Gedankengut der europäischen Aufklärung geschulten Citoyens, hat demnach auch Günter Grass sich den oft vergeblich anmutenden Bemühungen der schöpferisch tätigen Menschen vom Stamme Sisyphos verschrieben: »Ich las den ›Mythos von Sisyphos‹ Anfang der fünfziger Jahre. Doch vorher schon, ohne Kenntnis des sogenannten Absurden, dumm wie mich der Krieg entlassen hatte, war ich, der Zwanzigjährige, mit allen Seinsfragen und also mit dem Existentialismus auf du.« (11, 82)

Die sich unermüdlich abrackernde Gestalt der antiken Mythologie und ähnlich absurde Narren avancierten für den Überzeugungstäter, »dem Melancholie und Utopie Zahl und Adler der gleichen Münze sind« (8, 293), zu Leitfiguren seines künstlerischen und politischen Handelns. Vertraut mit der Komik des Scheiterns, »angeekelt vom christlich-marxistischen Hoffnungsquark« (11, 82 f.), hat der nach Camus’ Interpretation vorbildliche Steinewälzer seinen Marmorblock, der nicht zu verwechseln ist mit dem Stein der Weisen, gesucht und gefunden: »Kein himmlisch Jerusalem kann sein Tauschwert sein, kein irdisches Paradies ihn unnütz machen.« (11, 83) Für den scharfzüngigen und im besten Fall durchaus selbstironischen »Wanderprediger« (11, 17) gibt es demnach keine erlösenden Endziele. Er legt es vielmehr darauf an, jedem Prinzipiendenken mit fragendem Zweifel zu begegnen, rein abstrakte Entwürfe an sinnlich erfahrbaren Realitäten zu überprüfen.

Mit alleinseligmachenden Heilslehren und Säuberungsprozessen im Zeichen barbarischer Vorstellungen von Rassen- oder Geisteshygiene hat das frühzeitig »gebrannte Kind« (20, 160) – der verblendete Hitlerjunge und siebzehnjährige Rekrut der Waffen-SS-Division »Jörg von Frundsberg« dachte bis 1945, »daß unser Krieg richtig war«[9] – nichts mehr im Sinn. Idealistische Ideologien jeglicher Couleur, totalitäre Staatssysteme und politisch-religiösen Extremismus jeder Ausprägung lehnt der Kriegstraumatisierte im Vollbesitz seiner künstlerischen Talente nach einem leidvollen Lernprozess ab. Als undogmatischer »Revisionist« (20, 496) und erklärter Gegner gewaltsamer Revolutionen setzt er sich seitdem ganz konkret als tatsächlich besorgter und durchaus strategischer Kopf ausdauernd für die Flexibilität garantierende Position der permanenten Revolte ein. Der traditionsbewusste Moderne steht im hier skizzierten Kontext demnach für eine in jeder Beziehung bewegliche Position: »Vorbehalten bleibt Irrtum.« (1, 159) Denn der selbsternannte »Ketzer« (8, 37) verlacht jede Idee, die ihm »die letzte Ankunft, die endliche Ruhe des Steins auf dem Gipfel verspricht« (11, 83). Er bleibt sein Leben lang dem bewährten Überlebensprinzip der »Firma Sisyphos« und also der Erde augenzwinkernd treu: »Das hört nicht auf. Nie, sag ich dir, nie wird das aufhören. Immer wartet unten der Stein.« (11, 82)

Ein griechischer Mythos in der Auslegung eines nicht zuletzt an Friedrich Nietzsches Diagnosen anknüpfenden Franzosen, aktualisiert durch einen weltoffenen Bürger, der sich über die Drittrangigkeit der deutschen Fragen im von grenzüberschreitenden Umwelt- und globalen Wirtschaftsproblemen bestimmten Maßstab im Klaren ist; ein wohltuend internationaler Standpunkt. Kurzum, wir dürfen uns Günter Grass im Nachhinein selbst in einer Epoche allgegenwärtiger Kriege, Krisen und Katastrophen als einen im Camus’schen Sinne glücklichen Menschen vorstellen.

Vom privaten Motivkomplex zum poetischen Weltentwurf

»Ever tried. Ever failed. No matter. Try again. Fail again. Fail better.«

Samuel Beckett

»Anfangen heißt Auswählen.« (6, 457) Von den mit spitzen Federzeichnungen überprüften Vorzügen der Windhühner (1956) bis zu den farbenfroh zerfließenden »Aquadichten« in der Sammlung Fundsachen für Nichtleser (1997), von dem mit Fettkreidezeichnungen durchsetzten Lyrikband Gleisdreieck (1960) bis hin zu den »letzten«, durch ausdrucksstarke Zeichnungen ins Bild gesetzten Liebesspiel-Tänzen (2003), von schonungslosen Selbstbefragungen (1967) bis zum Vorabdruck des umstrittenen Prosagedichts Was gesagt werden muß (2012): Die Lyrik stellt neben den bildkünstlerischen Arbeiten des Multitalents eine durchgehende Konstante im Opus von Günter Grass dar. Mehr noch, alle seine literarischen Werke sind nach vielfach belegten Angaben aus »lyrischen Momenten« (24, 198) entstanden, gelegentlich mit dramatischen Ausweitungen bis zur vielseitigen Romanform. Denn die Arbeit an Gedichten ist für den Schriftsteller gleichzeitig eine Möglichkeit der »Bestandsaufnahme« (24, 46) und eine Art Experimentierfeld angesichts der zunächst noch amorphen Stoffmassen. Sie bietet ihm immer wieder Gelegenheit, sich selbst in Frage zu stellen, erste Orientierungsmarken zu suchen, die Spielräume »neu zu vermessen« (24, 657), ohne das lyrische Abfall-, Zwischen- oder Endprodukt gering zu schätzen.

Dennoch erkennt der an Sekundärliteratur interessierte Leser schon mit einem flüchtigen Blick in die beharrlich verlängerten Grass-Bibliographien, dass sich die mehr oder weniger »fröhlichen Wissenschaftler« nach wie vor mit Vorliebe auf seine Prosawerke einlassen. Die nicht minder bemerkenswerte Lyrik findet nur zurückhaltende Aufnahme, von den nahezu unbekannten, aber keineswegs reizlosen Theaterstücken und aufschlussreichen Wechselbeziehungen zwischen den Textsorten ganz zu schweigen. Der damit angesprochenen Tendenz soll hier ein etwas anders gewichtetes Korrektiv an die Seite gestellt werden, das sich nur aus heuristischen Gründen scheinbar streng an die Gattungsgrenzen hält, ein Lesemodell mit grenzüberschreitendem Charakter, das hoffentlich überraschende Ein-, Durch- und Ausblicke eröffnet.

Denn gerade die flexibler umzugestaltenden Werke haben eine äußerst wichtige Funktion im Arbeitsprozess und damit entscheidende Bedeutung für die künstlerische Entwicklung des die Gattungen auf seine Art verschmelzenden Dichters. Alle Publikationen des Schriftstellers Günter Grass bestätigen diesen Eindruck: »Die unterirdische Kommunikation zwischen den verschiedenen Werken Grassens – unabhängig von den Gattungsgrenzen – zeigt sich in Selbstzitaten, werkübergreifenden Themen und Konzepten, verkappten Fortsetzungen und einem konstanten Motivreservoir.«[10]

Der Sprachkünstler bezieht sein Zeichenmaterial im Laufe der Zeit offensichtlich sogar zunehmend aus eigenen Beständen. Doch die letztlich unberechenbare, nie abgeschlossene Werkstattwelt zeigt – trotz der meist parodistischen Übernahme traditioneller Muster, trotz vieler Rückgriffe auf zeitlose Topoi – nicht die Konsistenz allgemeinverständlicher Aussagen und erfährt keine Auflösung im Horizont verbindlicher Kategorien. Denn auch die von Buch zu Buch neu gesetzten, in ihrem Bedeutungsgehalt nie restlos zu fixierenden Bilder aus dem eigenen Reservoir können wiederum Bedeutungsverschiebungen auf allen Bezugsebenen durchlaufen oder durch ironisierte Variationen der alten Chiffren ausgetauscht werden. Die arbiträren Motivverknüpfungen machen einerseits ständig Metamorphosen durch, sie können andererseits aber auch »eigentümlich starr und schematisch sein. Der Interpret, verführt, ein Bezugssystem zu sehen, muß im nächsten Moment seine Ratlosigkeit eingestehen«.[11] Eine bequeme Lesart der vom flexiblen Umgang mit ambivalenten Zeichen geprägten, mit festgefahrenen Erwartungshaltungen spielenden Werke kann also auch hier nicht angeboten werden.

Es besteht jedoch kein Grund zur philologischen Resignation; jedenfalls davon, dass die den beweglichen Gesetzen der Ästhetik verpflichteten Grass-Texte »prinzipiell interpretationsfeindlich«[12] sind, kann auch angesichts der produktiven Widerstände nicht gesprochen werden. Dem durch das Verfahren ästhetischer Selbstausbeutung zunächst irritierten Leser erschließt sich die durch viele bewusst inszenierte Querverweise verknüpfte Motivik in dem Maße, in dem er bereit ist, sich auf weitere Spielarten des Autors sowie auf mögliche Quellen und Vorbilder für seine vieldeutigen Allegorien einzulassen. Diese Chiffren sind dann weit entfernt davon, interpretationsfeindlich zu sein, wenn man sie synchron im Rahmen des Gesamtwerks und seiner Bildstereotypen aufschlüsselt und diachron aus der Bildwelt der Tradition zu verstehen versucht.[13] Ohne zu große Erwartungen an die Leistungsfähigkeit eines solchen Projekts wecken zu wollen – ein poetischer Mikrokosmos wird nie zum abgeschlossenen System –, lässt sich festhalten: Sowohl die Ausarbeitung einer »Ikonographie zum Werk von Grass«[14] als auch das Studium der ästhetischen Strukturmechanismen, die seine nie ganz losgelöst vom geschichtlich-gesellschaftlichen Bereich zu betrachtenden Spielwelten im Innersten zusammenhalten, erscheinen gerade im Rahmen einer fragmentarischen Gesamtdarstellung angemessen und sinnvoll.

In dieser bewusst textnah angelegten Einführung in das literarische Werk von Günter Grass, die selbstverständlich keinen Anspruch auf die vollständige Erfassung aller interpretationsrelevanten Aspekte erheben kann, geht es demnach nicht um den streng systematisch konzipierten Versuch, alles sofort auf die gängigen Begriffe nachmoderner Provenienz zu bringen. Es dreht sich vielmehr darum, möglichst aufmerksam zu lesen, d. h., den Schriftsteller – jenseits von biographisch-psychologischen Deutungsmustern – beim Wort zu nehmen und dadurch zum besseren Verständnis der ästhetischen Ordnungsprinzipien seiner Textwelten beizutragen. Dieser Ansatz läuft auf einen zwischen dem Selbstverständnis des »fragwürdigen Zeugen« in eigener Sache (vgl. 21,  375) und den Spielregeln eigendynamischer Kunstwerke changierenden Lektürevorschlag hinaus; in der Gewissheit, dass ein gewichtiger Rest ungesagt bleibt.

Der sich im Titel dieses Kapitels spiegelnde Argumentationsgang – von der »privatmythologischen« Bildwelt zum poetischen Weltbild – wird durch die sukzessive Annäherung an Konstanten und Entwicklungen im jetzt abgeschlossenen Gesamtwerk des Autors und durch die partielle Durchleuchtung der poetologischen bzw. philosophischen Hintergründe seiner Texte bestimmt. Auf dem hier vorgeschlagenen, um Anschaulichkeit und um angemessene Differenzierungen bemühten Weg soll, unter Berücksichtigung bereits erarbeiteter Forschungsergebnisse, versucht werden, detailgetreu zu argumentieren, ohne die Einheit in der Vielfalt der Einzelwerke aus dem Auge zu verlieren.

Und somit fange ich endlich an mit dem »Hauptvergnügen der Germanisten, also der Interpretation« (22,  423), und zwar in der auch vom Erzähler der Blechtrommel einleitend beschworenen Hoffnung, dass dem Bedeuter alles einfallen möge, »was an Nebensächlichkeiten nötig ist, um die Hauptsache aufs Papier bringen zu können« (4, 22). Das Ziel wäre allerdings schon dann erreicht, wenn die sieben Lektüreanläufe oder auch der ganz persönliche Ausklang dieses Buches einige Leserinnen und Leser dazu verführen könnten, sich erstmals bzw. erneut auf das Primäre, auf die nicht wegzuinterpretierenden Werke des vielseitigen Sprachkünstlers einzulassen.

Lyrik: Von den ersten »Gelegenheitsgedichten« zu den letzten »Eintagsfliegen«

»Jedes legt noch schnell ein Ei. – Und dann kommt der Tod herbei.«

Wilhelm Busch

Die Vorzüge der Windhühner

Auch wenn Günter Grass im Titel seines ersten Buches ausdrücklich die Vorzüge seiner »zeichnend geprüften Gebilde« (21, 379) in den Vordergrund stellt, aus Sicht des erstmalig mit der Vorstellungswelt des Debütanten konfrontierten Lesers bleibt zunächst ein vermeintlicher Nachteil festzuhalten: Die der Phantasie des Dichters entschlüpften Geschöpfe – der vom Begriff »Windei« abgeleitete Neologismus steht hier offensichtlich als Metapher für das lyrische Kunstwerk – machen es dem Rezipienten nicht leicht, zum Verständnis ihres eigenwilligen Wesens vorzudringen. Zumindest auf den ersten Blick scheint der direkte Zugang zu den mit kaum nachvollziehbaren Assoziationen, rätselhaften Reminiszenzen und dunklen Bildern gespickten Texten versperrt zu sein. Selbst Grass-Interpreten, die sich intensiv auf seine »ersten lockeren Gelegenheitsgedichte« (21, 379) eingelassen haben[15], sprechen vom Verzicht auf sprachlich erkennbare Beziehungen zwischen den Zeichen, vom idiolektischen Charakter der Metaphern, der rein persönlichen Bildwelt des Verfassers bzw. von fehlenden Wegweisern zum Sinn der Gedichte, die im Grunde nur von ihrem Autor adäquat verstanden werden können. Diese Schlussfolgerung aus den durchaus zutreffenden Einzelbeobachtungen soll im Folgenden relativiert werden. Denn wer es sich zur Aufgabe macht, den zentralen Themen- und Motivkomplexen dieser Sammlung nachzugehen, wird durchaus in die Lage versetzt, »mehr Licht« in das Dunkel zu bringen, ohne dass dabei alle Räume ausgeleuchtet werden können.

Bereits im Klappentext der Erstausgabe der Windhühner steht das für den dichtungstheoretischen Ansatz des jungen Lyrikers programmatische Titelgedicht. Es vermittelt einen ersten, metaphernreichen Eindruck vom Selbstverständnis des wenig theoriefreundlichen Künstlers, gibt Rechenschaft über seine lyrische Grundhaltung und eröffnet eine bis zu seinem letzten Buch fortgeführte Reihe von Texten zur immanent-poetologischen Selbstreflexion des Schreibens:

»Weil sie kaum Platz einnehmen

auf ihrer Stange aus Zugluft

und nicht nach meinen zahmen Stühlen picken.

Weil sie die harten Traumrinden nicht verschmähen,

nicht den Buchstaben nachlaufen,

die der Briefträger jeden Morgen vor meiner Tür verliert.

Weil sie stehen bleiben,

von der Brust bis zur Fahne

eine duldsame Fläche, ganz klein beschrieben,

keine Feder vergessen, kein Apostroph …

Weil sie die Tür offen lassen,

der Schlüssel die Allegorie bleibt,

die dann und wann kräht.

Weil ihre Eier so leicht sind

und bekömmlich, durchsichtig.

Wer sah diesen Augenblick schon,

da das Gelb genug hat, die Ohren anlegt und verstummt.

Weil diese Stille so weich ist,

das Fleisch am Kinn einer Venus

nähre ich sie. –

 

Oft bei Ostwind,

wenn die Zwischenwände umblättern,

ein neues Kapitel sich auftut,

lehne ich glücklich am Zaun,

ohne die Hühner zählen zu müssen –

weil sie zahllos sind und sich ständig vermehren.« (1, 9)

Den in diesem Schlüsseltext umschriebenen Kunstgebilden ist die Sympathie ihres Erfinders gewiss. Die luftigen Geschöpfe der Grass’schen Einbildungskraft scheinen ständig in Bewegung, auf jeden Fall nicht eindeutig fixierbar zu sein. Sie beziehen keinen festen Standpunkt, beflügeln im besten Fall die Phantasie und sind in einer Art Schwebezustand zwischen den unterschiedlichen Realitätsebenen anzusiedeln. Immer dann, wenn der Leser glaubt, das zwischen den Extremen vermittelnde Wesen dieser unruhigen Zugvögel erfasst zu haben, verflüchtigen sie sich bereits wieder, denn »Windhühner« können nicht stillsitzen. Ihr Element ist nicht etwa die Ewigkeit, sondern der in Allegorien erfasste Augenblick und die flüchtige, stets mehrdeutige Welt des von erotischen Bildern durchwobenen Traums.

Diese Gedichte haben nichts mit den zielstrebigen Postsendungen oder den eindimensionalen Zeitschrifteninformationen zu tun, die der Briefträger – als Vermittlungsinstanz zwischen Ich und Welt – jeden Tag vor der Tür zu ihrer von der Außenwelt abgezäunten Innenwelt verliert. Sie gehören einer künstlich geschaffenen Sphäre an, sie existieren in einem Raum jenseits der in Kalendertage eingeteilten Zeit, jenseits jeder menschlichen Zeitrechnung. Der sich bewusst abschirmende Schöpfer der lyrischen Kunstwerke scheint mit sich und der begrenzten Werkstattwelt ganz zufrieden zu sein. Denn hier, in der selbstgeschaffenen Metaphernidylle, erlebt der Melancholiker Momente der Ruhe, der Geborgenheit, des Glücks. Im geräumigen Innenraum seiner Vorstellungen bleibt dem Dichter-Züchter offenbar genügend Platz für phantastische Wirklichkeiten. Niemand bedroht seine dort durch nichts in Frage gestellte Position.

Kunst als zeitloses Phänomen wird im optimistischen Titelgedicht dieser Sammlung demnach ebenso wie im säkularisierten Credo (1, 43) zum Zufluchtsort des lyrischen Ich, das sich aus dem gesellschaftlichen Leben in eine windstille, gegen alle Störfaktoren abgeschottete Kammer, in eine Art Elfenbeinturm zurückgezogen zu haben scheint. In diesem fiktiven »Zimmer« steigt der Zigarettenrauch unbehelligt in die Höhe; die Spinne kann sich in diesem Text ungehindert herablassen, jede Untiefe ausloten, den Dingen auf den Grund, den Abgründen nachgehen. Von der Gefahr, dass ein starker Luftzug oder eine Schicksalsgöttin diesen seidenen Faden, von dem in dieser Welt aus Sprache sehr viel abzuhängen scheint, zerreißen könnte, ist mit keinem Wort die Rede. In der heilen Welt des Arbeitsraums gibt es keine bedrohlichen Widerstände, keine etwa durch eiskalten Wind heraufbeschworenen Erkältungsgefahren; hier muss kein Mensch stolpern, sich das Knie aufschlagen, weil alles dem allmächtigen Willen des Autors nachgibt.

Diese zeitlosen Wunschgedichte sind demnach ein naiv-selbstbewusstes Plädoyer für die scheinbar grenzenlose Freiheit des Dichters, die unbedingte Souveränität seiner Phantasie, die es ihm erlaubt, ein privates Universum nach seinen eigenen, wandelbaren, von ästhetischen Kriterien bestimmten Gesetzen aufzubauen, denn hier geht es um lebendige Bilder, nicht um erstarrte Begriffe.

Der Lyriker erschafft imaginäre Kunstgebilde, in deren Rahmen die räumlichen, zeitlichen und kausalen Zusammenhänge relativiert werden, wenn es ihm, dem in seinem Bereich gottähnlichen Schöpfer, beliebt.

Viele Versgruppen dieser Sammlung können trotz der durch die Außenwelt vorgegebenen Grenzen als verspielte Apologie der subversiven Möglichkeiten dichterischer Einbildungskraft gelesen werden. Der Autor abstrahiert weitestgehend von historischen Perspektiven und direkten politischen Bezügen. Spielerische Artistik und skurrile, traumnahe Metaphern bestimmen die Atmosphäre. Das poetische Spiel als wesentliches Gestaltungsprinzip entrückt diese Gedichte in eine sehr persönliche Sphäre. Das weiße Papier, »eine duldsame Fläche« (1, 9), macht alles möglich; erlaubt dem Künstler Gleichzeitigkeit auf den verschiedensten Zeit- und Bedeutungsebenen: »niemals werden wir stranden« (1, 43).

Parallel dazu gilt es allerdings, die Ambivalenz des zuletzt zitierten Satzes zu beachten. Denn die zunächst uneingeschränkte Zuversicht dokumentierende Behauptung deutet bereits an, dass die verspielte Künstlichkeit der bislang analysierten Texte nur den einen Pol des Bandes umschreibt. Obwohl das lyrische Ich bei paradiesischem Ostwind (vgl. Gen 2,8) manchmal »glücklich am Zaun« (1, 9) lehnt, weiß es um die Durchlässigkeit der willkürlich gezogenen Grenzen. Der Schriftsteller im selbstgewählten Exil ist sich über die Widersprüche, denen auch er nicht entgehen kann, im Klaren. Der Kunstschaffende ahnt, dass sein nur kurzzeitig aufrechtzuerhaltendes Refugium permanent in Frage gestellt wird. Die Tür zu seiner Werkstatt steht immer einen Spalt breit offen. Das autonome Paradies existiert nur in der Sehnsucht, im Wünschen, im Hoffen. Der vermeintliche Elfenbeinturm – »in abgestecktem, windstillem Revier« (1, 30) – wird von ihm selbst als Teil einer kafkaesken Wirklichkeit entlarvt, die nie als überschaubare Einheit, sondern als ein in Einzelteile zersplitterter Mikrokosmos erfahren wird. Alle gegen die Realitäten errichteten Zäune und Gitter bieten keinen langfristigen Schutz: In den »von Hecken und Mäuerchen begrenzten Hotelgarten« (2, 292) dringen schon bald Stürme ein, die jede empfindliche Kartenhausidylle zusammenknicken lassen.

Eingeleitet werden Die Vorzüge der Windhühner mit dem Wunschbild einer künstlichen Enklave der Stille, am Ende ertönt lärmende Blechmusik:

»Damals schliefen wir in einer Trompete.

Es war sehr still dort,

wir träumten von keinem Signal,

lagen, wie zum Beweis,

mit offenem Mund in der Schlucht –

damals, ehe wir ausgestoßen.

 

War es ein Kind, auf dem Kopf

einen Helm aus gelesener Zeitung,

war es ein irrer Husar,

der auf Befehl aus dem Bild trat,

war es schon damals der Tod,

der so seinen Stempel behauchte?

 

Heute, ich weiß nicht, wer uns geweckt hat,

vermummt als Blumen in Vasen oder in Zuckerdosen,

von jedem bedroht, der Kaffee trinkt

und sein Gewissen befragt:

ein oder zwei Stückchen oder gar drei.

 

Nun fliehen wir und mit uns unser Gepäck.

Alle halbleeren Tüten, jeden Trichter im Bier,

kaum verlassene Mäntel, stehengebliebene Uhren,

Gräber, die andre bezahlten,

und Frauen, die sehr wenig Zeit haben,

füllen wir kurzfristig aus.

 

In Schubladen voller Wäsche und Liebe,

in einem Ofen, der nein sagt

und nur seinen Standpunkt erwärmt,

in einem Telefon blieben unsere Ohren zurück

und hören, nun schon versöhnlich,

dem neuen Zeichen Besetzt zu.

 

Damals schliefen wir in einer Trompete.

Hin und zurück träumten wir,

Alleen gleichmäßig bepflanzt.

Auf ruhigem, endlosem Rücken

lagen wir jenem Gewölbe an

und träumten von keinem Signal.« (1, 55 f.)

Dieses Gedicht gestaltet einen exemplarischen Lebenslauf des Menschen, der gegen seinen Willen aus dem zeitlosen Schutzraum in eine ihm fremde, feindlich gesinnte Welt gestoßen wird. »Damals, ehe wir ausgestoßen«, im pränatalen Sein, ruhten »wir« im Gefühl der absoluten Geborgenheit in einem Hohlraum, der mit dem Innenraum einer Trompete in Verbindung gebracht wird: »Es war sehr still dort«. Abgeschirmt von allen störenden Einflüssen der Außenwelt schlummert der Embryo vertrauensvoll im Schutz bietenden Mutterleib: »Auf ruhigem, endlosem Rücken lagen wir jenem Gewölbe an.«

Doch die paradiesische Ruhe im stillen Schoß der Mütter wird durch ein unüberhörbares Signal gestört. Wer diesen Ton erzeugt, bleibt offen. Das lyrische Ich weiß nicht, es ahnt, wer die Bewohner des dunklen Höhlengewölbes geweckt hat, verzichtet aber auf eine dezidierte Festlegung. Entscheidend ist die unwiderrufliche Tatsache, dass nunmehr Blechmusik zu hören ist, die vom aus der Muttermundtrompete ausgestoßenen Ich wohl lieber nie gehört worden wäre, da sie den Schlussakkord bzw. den unheilvollen Klang der Totentrompete bereits erahnen lässt.

Mit diesem Weckruf beginnt die von Vergänglichkeit geprägte Existenz in der Zeit, d. h. im unumkehrbaren, nicht wiederholbaren Nacheinander. Angst und ein grenzenloses Bedürfnis nach Unterschlupf bestimmen von nun an das Leben, das sich als vergebliche Suche nach Erlösung darstellt. »Nun fliehen wir« vor dieser Gewissheit, ohne Aussicht auf ein rettendes Ziel. Nur »kurzfristig« bieten sich Pausen, trügerische Augenblicke der Ruhe auf der Flucht, denn selbst stehengebliebene Uhren können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ohnehin kurz bemessene Lebenszeit nun unaufhaltsam abläuft. Die Ruhe des vorgeburtlichen Seins ist verloren, ein gleichwertiger Ersatz nicht zu finden.

Sowohl in der auf Sexualität reduzierten »Liebe«, die als Erinnerung an »die vielen behaarten Dreiecke« (vgl. 1,  21) aufbewahrt wird, als auch in allen anderen Beziehungen zur Welt wird der hier ins Bild gesetzte Mensch mit seiner durch nichts zu durchbrechenden Einsamkeit konfrontiert. Was schlägt zu Buche? – »Frauen, die sehr wenig Zeit haben,/ füllen wir kurzfristig aus«, ein wenig Befriedigung bringendes Geschäft. Selbst der Ofen erwärmt in diesem von Gefühlskälte geprägten Bilderkosmos nur seinen eigenen Standpunkt; und auch eine gewünschte Telefonverbindung, die das noch immer vorhandene Verlangen nach zwischenmenschlichem Kontakt dokumentiert, kommt nicht zustande. In Bezug auf den Bewusstseinszustand vergleichbar mit dem ähnlich wie Kafkas Gregor Samsa hilflos auf dem Rücken liegenden Käfer K. (1, 48 f.), der kurz vor dem Exitus seine letzten Stunden zu zählen beginnt, hört der isolierte Mensch in dieser Elegie »nun schon versöhnlich,/ dem neuen Zeichen Besetzt zu«.

Desillusioniert, müde und einsam, alleine »unter der windigen Glocke« (1, 14), bleibt ihm am Ende eines unruhigen Lebens nur noch die unerfüllbare Sehnsucht nach dem zum paradiesischen Zustand verklärten »Damals«, solange es zumindest in der Erinnerung noch möglich ist, im Schutz bietenden Phantasieraum, entgegen der Chronologie, hin und zurück auf das grenzenlose Meer des Unbewusstseins und der erträumten Unendlichkeit hinauszuschaukeln, während die Bewegungsrichtung in der Horizontalen durch die gnadenlos vorwärts schreitende, zum Endpunkt führende Lebenslinie vorgegeben ist. Kein Weg führt in den idealisierten Mutterschoß zurück. Die Rückkehr ins verlorene, als wohlgeordnet vorgestellte Paradies – »Alleen gleichmäßig bepflanzt« –, das in der letzten Strophe der Blechmusik noch einmal beschworen wird, bleibt für den in diese absurde Welt Geworfenen – die Beziehungen dieses Gedichts zum Existentialismus in seiner absurdistischen Ausprägung der fünfziger Jahre sind nicht zu übersehen – ein unrealistischer Wunschtraum.

Am Anfang steht das Gefühl der Absurdität, am Ende erwartet den auch nach Camus’ Interpretation von der Zeit gejagten Menschen unwiderruflich ein völlig humorloser Spielverderber: »La mort est là comme seule réalité. Après elle, les jeux sont faits.«[16] Der sich bereits frühzeitig ankündigende, in wechselnden Erscheinungen auftretende Halbbruder des Schlafes hat den jederzeit bedrohten Menschen seinen Stempel bereits mit der Geburt, dem unausweichlichen Anfang vom sicheren Ende, aufgedrückt. Die existentielle Bedeutung der hier lyrisch verarbeiteten Grunderfahrung wird durch viele Variationen des gleichen Themas in zahlreichen anderen Werken dieser an den Regeln moderner Lyrik seit Baudelaire orientierten Sammlung unterstrichen.

Das Bewusstsein für das von unauflösbaren Antinomien geprägte Leben in der Zeit als ein von unheilbaren Krankheiten überschattetes Dasein hin zum Tode wurde geweckt, die Sehnsucht nach Rückkehr in einen vorbewussten Zustand oder die Aussicht auf eine zukünftige Erleuchtung bleibt lebenslang unbefriedigt. So nimmt das keinesfalls mit dem biblischen Auferweckungswunder oder dem Begehen des buddhistischen Heilsweges zu verwechselnde Geschehen seinen Lauf. Einmal in Unruhe versetzt, scheint der verunsicherte Mensch zum permanenten Aufbruch, zur ziellosen Bewegung gezwungen. Der Liegende wird genötigt, sich aus der Schlafstellung in die Senkrechte zu bewegen, das behaglich warme, Schutz bietende Bett zu verlassen. Der solchermaßen Auferstandene sucht vergeblich nach einem ruhigen Sitzplatz: »Sitzen, sitzen, fast Buddha« (1, 13), doch eben nur fast, denn vom Eingang des Erwachten ins vollkommene, den Willen zum Leben überwindende »Nirwana der Buddhaisten«[17] kann in diesem Textzusammenhang keine Rede sein. Es ist nichts mehr zu machen. Selbst wer immer strebend sich bemüht, kommt weder aus eigener Kraft ans ersehnte Ziel noch wird er von unbekannten Göttergewalten aus seiner Zwangslage befreit. Der »heiße, immerwährende Wunsch, Klarheit zu bekommen« (2, 274), bleibt in der schlechtesten aller Menschenwelten unerfüllt. Ein zwischen den Extremen vermittelnder Erlöser, der zudem »Auferstehungsgewißheit« vermitteln könnte (zum »Leben aus der Auferstehung« vgl. 1 Kor 15,29 ff.), ist nicht zu erwarten, denn »sichere Ruhe« bzw. »Rettung« gibt es nur »beim Herrn« (Jon 2,10), und der spielt in der entzauberten Textwelt ihres ungläubigen Schöpfers offensichtlich keine wegweisende Rolle. Die Protagonisten dieser Gedichte haben wohl oder übel gelernt, sich in der absurden, an Ersatzstoffen reichen Welt einzurichten und nach je eigener Fasson der »Blasmusik« (4, 35) zu entfliehen, ohne Aussicht auf paradiesische Stille, von der geschrieben steht, dass sie zumindest am allerersten Tag, der für die mit Regressionsgelüsten ausgestatteten Grass-Figuren dem letzten – der ewigen Waagerechten – entspricht, geherrscht haben soll.

Wo man auch hinschaut, überall finden sich Bilder der Vergeblichkeit und aussichtslose Versuche, der immer wieder umschriebenen Tragik des menschlichen Lebens – komische Kapriolen schlagend – zu entgehen. Doch selbst die Geburt Immanuels (Jes 7,14), die auf Jesu Geburt gedeutete Prophezeiung, bringt keine Auflösung des Dilemmas mit sich, selbst sie kann in diesem antibiblischen Kontext keinen traumlosen Schlaf bedeuten. Das alljährlich angekündigte Wunder bleibt aus. Adventslieder erklingen, aber die gemeinhin gnadenbringende Weihnachtszeit vergeht, ohne dass Gottes Sohn geboren wird. Am Ende, so lautet der Grundtenor dieser Textgruppe, erwartet die Menschen vermutlich keine Wiedergeburt, keine Metamorphose und schon gar keine Auferstehung zum ewigen Leben, sondern das diesseitige Grab, der viereckige Sarg. Erst auf dem Friedhof werden alle zur letzten Ruhe gebettet, wobei niemand mit Gewissheit sagen kann, ob sie auf dem totenstillen Gottesacker dann tatsächlich in Frieden ruhen oder zum Jüngsten Gericht erneut mit blechernem Posaunenschall geweckt werden.

Diese hier komprimiert zusammengefasste Motivkette verweist paradigmatisch auf den kritischen Umgang des Autors mit seiner unverkennbar christlichen Erblast. Die Intensität der Auseinandersetzung mit dem Christentum manifestiert sich insbesondere in impliziten und expliziten Anspielungen auf religiöse Motive und christliche Allegorien, in Hinweisen auf die zentralen Feiertage des Kirchenkalenderjahres, in mannigfaltigen Bibelreferenzen und nicht zuletzt in der Präsenz liturgischer Formen und Formeln aus dem reichen Fundus des Katholizismus. Sein solides theologisches Wissen dient dem Autor, bei aller Sympathie für die ethischen Grundwerte des ursprünglichen Christentums (vgl. 20, 484; 21, 416 ff.) und für die sinnlich-heidnischen, schillernd-erotischen Elemente der katholischen Glaubenslehre (vgl. 24, 104 und 277 ff.), in erster Linie dazu, sich sowohl von der Institution Kirche, bzw. ihren beamteten Vertretern,[18] als auch vom auf den »Falschmünzer« Paulus zurückgehenden Erlösungsgedanken zu distanzieren.[19]

Dem aufgeklärten Skeptiker geht es in diesem Zusammenhang allerdings nicht nur darum, durch die satirische Säkularisierung religiöser Sprachformen oder eschatologischer Begriffe, bzw. durch eine ironische Umkehr der Perspektiven, diese Grundpfeiler des Glaubens zu parodieren. Grass rückt vielmehr rigoros vom ursprünglich metaphysischen Gehalt der zitierten Bilder und Zeremonien ab. Die von ihm aufgegriffenen Glaubenssätze des Evangeliums werden ad absurdum geführt, um die gepredigte Botschaft zu annullieren, jede heilsgeschichtliche Erwartung in Frage und ihre fatale Wirkungsgeschichte ins aufklärende Licht zu stellen.

Bilder des Todes, gashaltige Atemluft und bittere Erfahrungen determinieren demzufolge die in der Krönung lyrisch konzentrierte Entwicklung, die sich als von Menschenhänden initiierte Fehlentwicklung zu erkennen gibt:

»Blaue Flammen in den Zweigen.

Atmen noch im Gasometer

bittre Kiemen ohne Fisch.

Immer älter wird die Kröte,

lebt von Nelken, lebt von Düften

aus des Todes linkem Ohr.

Niemand folgte, kaum der Mörtel.

Ohne Segel und Gebärde,

in der grünen Truhe Pfingsten

trugen sie die Taube fort.

Glatt und aufgerollt die Kabel,

zwölf Lakaien und Beamte

führt die Schnur aus jedem Nabel

nur zur Wochenendpotenz.

 

Freitags krönten sie den König.

Von Geburt her blinde Nelken,

mit dem Atem einer Kröte,

mit dem blauen Gasometer,

Mitternacht und Mandelscheitel,

Vorstadt um Jerusalem.« (1, 33)

»Niemand folgte« dem schon historischen Jesus von Nazareth. In der »grünen Truhe Pfingsten« wird eine längst tote Taube fortgetragen, die, so die biblische Überlieferung, bei der Einführung Jesu in das Messiasamt auf den erst von seinen Predigern zum Sohn Gottes verklärten Menschensohn herabkam (Mk 1,10). Die vergeblich grün gefärbte Holzkiste wird hier zum Sarg für den Heiligen Geist. Als überlebensfähig erweisen sich dagegen das fragwürdige Werk der »zwölf Lakaien«, die Amtskirche und die Staatsreligionen. Wohin diese »falschen Propheten« ihre Gemeinden mit rhetorisch geschliffenen Sonntagsreden von Kanzeln und politischen Tribünen führen werden, scheint in diesem Gedicht bereits angedeutet zu sein. Die Liebesbotschaft, das ethische, insbesondere in der Bergpredigt verkündete, Programm, wurde – so ist also schon 1956 zwischen den Grass-Zeilen nachzulesen – durch den katastrophalen Verlauf der von systematischer Gewaltausübung geprägten (Ideologie-)Geschichte als »Menschenwerk« pervertiert.

Unschuldig an dieser kirchenpolitischen Entwicklung mit weltgeschichtlichen Folgen bis heute ist die eigentliche Zentralfigur des Gedichts, der dornengekrönte König der Juden (Mt 27,37), der gekreuzigte Menschensohn, nicht zu verwechseln mit dem nach Paulus’ Interpretation wiederauferstandenen Erlöser Jesus Christus. Die Dornenkrone besiegelt den Tod Jesu, der bereits vom Moment seiner Geburt in Bethlehem an dazu verurteilt war, unwiderruflich zu sterben. Das messianische Fest findet nach dem Grass’schen Kalender nicht statt. »Karfreitag ist Schluß mit ihm« (4, 176), behauptet auch Oskar Matzerath in der Blechtrommel und beklagt – wie Schopenhauer – die Langeweile der Sonntage. Denn es gilt diesen wenig feierlichen Texten zufolge, lebenslang mit der Vorstadt des himmlischen Jerusalem vorliebzunehmen und eines Tages ohne die Aussicht auf ein Erweckungswunder das Zeitliche zu segnen.

Vor diesem wenig lebensfroh stimmenden Hintergrund stellt sich auch das vorletzte Gedicht der Sammlung, Möbel im Freien (1, 54), als eine lyrische Momentaufnahme zum unwiederbringlichen Verlust der (Selbst-)Sicherheit des menschlichen Individuums im Allgemeinen und seiner Glaubensgewissheit im Besonderen dar. Eine »umgestürzte Gartenbank« wird dort zur poetischen Chiffre der nachmythischen Existenz im postchristlichen Zeitalter.[20] Die daraus resultierende Freiheit, die von den freien Geistern par excellence – etwa im Sinne Zarathustras – verherrlicht werden mag, wird vom hier ins Bild gesetzten Ich als Last empfunden. Selbst der »liebe Gott«, den die Menschen sich gerne warmhalten würden (1, 42), kann es in dieser heillos-verkehrten Welt – in den Monstranzen liegen profane Kekse, keine geweihten Hostien (1, 54) – nicht verhindern, dass er langsam zu kaltem Kaffee, d. h. zur Sprachfloskel und also »böse« wird. Die Vertreibung aus dem Garten Eden ist unwiderruflich vollzogen, die Erlösung nach der Tortur im Garten Gethsemane bleibt aus. Es kann sich nur noch darum handeln, im Zustand des fragenden Zweifels zu verharren, das Weltlabyrinth offenen Auges zu durchirren.

Umfassender hätte die an Nietzsche und seinem Anwalt Camus geschulte Kritik des Christentums in der Sammlung Die Vorzüge der Windhühner kaum ausfallen können: Gott ist tot, der dornengekrönte Mittler Jesus Christus (1 Tim 2, 5) starb, ohne am Ostersonntag wiederaufzuerstehen, und auch der Heilige Geist wird in den Gedichten des Religionskritikers, der offensichtlich nicht viel vom gepredigten Bild des dreieinigen Gottes bzw. von der Idee der metaphysischen Trinität hält, zu Grabe getragen.

Hier geht es also ganz menschlich, gewissermaßen allzumenschlich zu. Doch auch dieser Interpretationsansatz, der darauf hinausläuft, dass es vielleicht das Beste wäre, nie geboren worden zu sein, bzw. dass es das Zweitbeste wäre, sich schleunigst wieder zu verflüchtigen, behandelt freilich nur eine Seite der in poetischen Metaphern eingekreisten, von Venus (1, 9), Mars (1, 45) und Saturn (2, 199) beherrschten Vorstellungswelt.

In anderen Texten des Bandes liegt der Akzent weniger auf dem schwermütigen »Lamento« (1, 36) als auf dem trotzigen Appell, die Lebenszeit nicht lethargisch verstreichen zu lassen, sondern neugierig zu bleiben, den vielfältigen Reizen mit allen Sinnesorganen zu folgen. Denn das Bewusstsein von der Hinfälligkeit der irdischen Erscheinungen – traditionelle Herbstmotive zuhauf – bringt für den gegen »die Pervertierung des Sinneslebens durch moralischen Überbau« (24, 184) anschreibenden Autor keineswegs von vornherein ihre Entwertung mit sich. Natürlich werden die kühlen Herbststürme den warmen Sommer hinwegfegen, der nur noch an wenigen goldenen Altweibersommerfäden hängt, die schon bald von der nahenden »Zugluft« (1, 11) zerrissen werden; denn es gibt niemanden, der sie abstellen kann, also kein ewiges Leben. Aber gerade deshalb kommt es darauf an, zuvor noch, im besten Fall »jetzt gleich« (1, 11), ein rauschendes Fest der Sinne zu feiern, beispielsweise ein deftiges, gut gewürztes Mahl zu genießen:

»Bevor die grünen Dotter welken –

die Hennen brüten einen frühen Herbst –,

jetzt gleich, bevor die Scherenschleifer

den Mond mit hartem Daumen prüfen,

der Sommer hängt noch an drei Fäden,

den Frost verschließt ein Medaillon,

noch eh der Schmuck, verwandt dem Regen, wandert,

noch eh die Hälse nackt, vom Nebel halb begriffen,

bevor die Feuerwehr die Astern löscht

und Spinnen in die Gläser fallen,

um so der Zugluft zu entgehen,

vorher, bevor wir uns verkleiden,

in ärmliche Romane wickeln,

laßt uns noch grüne Bohnen brechen.

Mit gelben Birnen, einer Nelke,

mit Hammelfleisch laßt uns die grünen Bohnen,

mit schwarzer Nelke und mit gelben Birnen,

so wollen wir die grünen Bohnen essen,

mit Hammelfleisch, mit Nelke und mit Birnen.« (1, 11)

Carpe diem: Bevor das lyrische Ich sich in todessehnsüchtiger Erwartung des grauen, trostlosen Winters verliert, »in ärmliche Romane wickelt« und damit der rein geistigen, oft trübsinnig stimmenden Lust verfällt, kommt es ihm darauf an, die weniger abstrakten, d. h. die fleischlichen Bedürfnisse zu befriedigen. Sein Credo lautet: Neben dem selbstgenügsamen Geist muss auch dem Körper, der sich nicht mit der salzlosen Diätküche der Magenkranken abspeisen lässt, eine ihm genehme Nahrung zukommen. Zumindest der in Bohnen und Birnendas Wort führende Genießer, dem nichts Irdisches fremd zu sein scheint, lebt ganz offensichtlich nicht vom himmlischen Brot allein. Er pocht im Gegensatz zu den an christlich-ethischen Idealen ausgerichteten »Verächtern des Leibes« in Gottes grüner Gärtnerschürze (vgl. 1, 12) auf die sinnlich erfahrbaren Wahrheiten ohne Ewigkeitsanspruch, singt also nicht das alte Entsagungslied und pfeift wie Heine auf das einlullende »Eiapopeia vom Himmel«.

Doch der bittersüße Nachgeschmack, die Nähe des Todes bleibt trotz der vehementen Verteidigung der Befriedigung körperlicher Gelüste in jeder der in diesem Themenzusammenhang relevanten Bildkonstellationen präsent: »Der Duft um Kerne/ aufgetan, das Bittre deutlich« (1, 36). Memento mori: Aber damit ist nicht ausgesagt, dass der Blausäure enthaltende Kern in diesem Beispiel den Beweis dafür liefert, »daß Obst schon Sünde« (1, 36) sei. Die Erbsündenlehre wird in der Nachfolge des auf dem geraden Weg nach Damaskus bekehrten Paulus, der den Tod der Sünde Sold nennt (Röm 6,23), verworfen. Unwidersprochen bleibt dagegen die unauflösbare Verflechtung von Eros und Thanatos, allerdings jenseits jeder moralischen Bewertung. Der Begriff »Sünde« spielt in diesen Textzusammenhängen dementsprechend keine Rolle. Das Dogma der christlich-paulinischen Glaubenslehre, nach der alle Menschen mit der Erbschuld des sogenannten Sündenfalls belastet seien, der in diesem Kontext mit Schopenhauer als Befriedigung der Geschlechtslust verstanden werden kann, wird hier ins Reich der biblischen Legenden verwiesen.[21] Zumindest all denen, die wie das oft hilflose Ich dieser Gedichte nur den eigenen Tisch übersehen, fehlt jede Hoffnung auf einen wohlwollenden Gott, der den sterblichen Menschen das ewige Leben in Christus schenkt: »Immer wenn jemand Christkindchen sagt,/ muß ich mir eine Zigarette anzünden./ Der Heiland dieser Welt/ ruiniert meine Gesundheit.« (2, 202)

Der Phönix steigt in Grass-Inszenierungen nie ohne Ironie aus der Asche. In seinen Kunstwerken ist nicht von endlosen Verwandlungs- bzw. Verjüngungsmöglichkeiten, sondern vom irdischen Leben bis zum endlichen Untergang die Rede. Hier wird also nicht etwa an das ewige Licht, sondern an nur begrenzt haltbare Glühbirnen geglaubt. Doch bis es zum endgültigen Kurzschluss kommt, wird den zwischen der Sehnsucht nach Totalität und den Grenzen der Erkenntnis, zwischen Lebensfreude und Todesangst, Sinnenlust und Seelenfrieden hin- und hergeworfenen Zeitgenossen zweierlei empfohlen (vgl. 1, 47): zum einen die Gedankentürme zu vergraben, deren Spitzen bis in den Himmel reichen sollen, zum anderen das Bergwerk, d. h. die nicht zu verleugnenden Untiefen des Bewusstseins, an die Oberfläche zu bringen. Diesem skeptischen, gegen alle Existenzlügen gerichteten »Ratten«-Credo folgend, kommt es immer wieder darauf an, an betonharten »Fundamenten« zu »knabbern« (1, 47) – die fleißigen Nagetiere sind also bereits in der ersten Textsammlung des Autors präsent –, sich von der Tragfähigkeit der medial vermittelten und technisch reproduzierbaren Scheinwirklichkeiten zu überzeugen – »Mater dolorosa in technicolor« (1, 47) –, um allen unrealistischen Heilsprophezeiungen die Grundlage zu entziehen.

Eine erste Zwischenbilanz: »Le climat de l’absurdité est au commencement.«[22]

Die gefährdete Idylle erweist sich vor diesem alle Formen der Entfremdung spiegelnden Hintergrund als zentrales Motiv der frühen Grass-Gedichte. Oft sieht es zunächst so aus, als sollte der Leser mit einer heilen Weltordnung bekannt gemacht werden. Doch schon nach wenigen Zeilen folgt mittels ironischer Brechung die verunsichernde Ernüchterung. Die vermeintliche Harmonie wird als Teil einer absurden Wirklichkeit entlarvt. Die Position des Menschen, der sich bislang als Maßstab aller Dinge verstand, wird dadurch radikal verändert. Er ist ein Produkt des Zufalls und als solches aus dem Zentrum des lyrischen Universums verschwunden. Der Anspruch des Subjekts, über die Dingwelt bestimmen oder Endgültiges über die es überlebenden Objekte aussagen zu können, erweist sich jenseits der »besitzanzeigenden Fürwörter« (1, 110) als Illusion.

Das unerschütterliche Sprachvertrauen des jungen Lyrikers wird von diesen Einsichten allerdings nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Dem Zeichenkünstler geht es um grotesk-surrealistische Verfremdungseffekte: Redensarten werden beim Wort genommen, Sprachklischees ad absurdum geführt, abstrakte Gedanken in konkrete Bilder umgesetzt, und dieses Material wird aus ungewohnten Blickwinkeln neu zusammengesetzt. Grass bemüht sich darum, erstarrte Formeln und hohle Phrasen wieder in eine phantasieanregende Schwebe zu bringen. Einschläfernd vertraute Sinngebungen und Bezugsordnungen werden durch paradoxe Sentenzen und die witzige Verknüpfung des scheinbar Heterogenen zu ungewöhnlichen, alogischen, vom raum-zeitlichen Kontinuum gelösten Beziehungsnetzen bewusst zerstört. Der ironische Ansatz des Dichters ist in diesem frühromantischen Sinne destruktiv und schöpferisch zugleich, da sich seine eine artifizielle Gegenwelt gegen die Welt aufbauenden Werke nicht im reinen Zerstörungsakt erschöpfen, sondern einander im freien Spiel entgegengesetzter Kräfte stets zu neuen Perspektiven führen, die sich wiederum gegenseitig in Frage stellen.

Fest steht, Grass schreibt in dieser Phase keine politischen Lehrgedichte, seinen Windhühnern fehlt jede plakativ moralische oder didaktische Tendenz. In einer für die deutschsprachige Nachkriegslyrik ungewöhnlich realitätsnahen Tonlage wird hier vielmehr die Situation des verunsicherten Menschen der Moderne mit avanciertem Kunstanspruch aus einer radikal subjektivierten Perspektive beschrieben. Es werden künstlerische Wahrheiten umkreist. Das erst vor diesem Hintergrund verständliche, für seine lyrischen Texte lebenslang charakteristische Spiel mit traditionellen Formen – Balladen, Kinderreimen, Dinggedichten, Naturlyrik, Jahreszeitendichtung, Hymnen, Klage- und Lobgesängen – kennt keine Grenzen. Der Autor strebt jederzeit an, seine Leser durch einen »überscharfen Realismus« (20, 26) auf der Höhe der jeweiligen Zeit mit dem irritierenden Abbild nur scheinbar vertrauter Realitäten zu konfrontieren und dadurch die Fragwürdigkeit jeder vermeintlich sicheren Lebensgrundlage zu enthüllen: »Glaube hin, Glaube her, hier wird gezweifelt. Hier wird der Finger in die Luft gestreckt oder sonstwohin.« (2, 261)

Seine unverbesserlichen Helden sind in der Regel gottlos und humorvoll genug, um auch ohne Eintrittskarte zum Himmelreich auf der harten Spötterbank zu sitzen. Ihnen und dem in jeder Beziehung standhaften Finger – er ist in diesem phantastisch-realistischen Bilderkosmos sowohl der kurzfristigen Bedürfnisbefriedigung als auch dem permanenten Prinzip Zweifel verpflichtet – gehört die uneingeschränkte Vorliebe ihres Erfinders. Sein skeptisches Dichten bzw. Philosophieren dreht sich um mögliche Fragen und Antworten, nicht um feststehende Glaubenssätze, denn: »Von Eiern, die als weich gekocht serviert wurden, überzeugt man sich am besten mit dem Löffel« (20, 23).

Gleisdreieck

Die zweite Lyriksammlung des Autors ist ein Dokument des Übergangs. Es handelt sich bei diesem herausragenden Band um eine Zusammenstellung von »Gelegenheitsgedichten« aus den für die Entwicklung des Schriftstellers so bedeutenden Jahren 1956 bis 1960. Grass hatte in Paris inzwischen seinen ersten Roman, Die Blechtrommel (1959), vollendet, einen weiteren – nun wieder zurückgekehrt nach Berlin – unter dem Arbeitstitel »Kartoffelschalen« bereits in Angriff genommen. Dieses Werk wurde nach der Auskopplung der Episoden-Novelle Katz und Maus (1961) als Hundejahre (1963) abgeschlossen. Jene mit diesen ersten Hinweisen auf die erst sehr viel später so genannte Danziger Trilogie angedeuteten Veränderungen sind auch an der Arbeit des Lyrikers nicht spurlos vorbeigegangen. Die verstärkte Hinwendung zu prosanahen Strukturen in den nach wie vor betont rhythmischen Gedichten, die genauere zeitliche und örtliche Lokalisierung einzelner Werke, die zunehmende Berücksichtigung gesellschaftlich vermittelter Wirklichkeiten, die Thematisierung pragmatisch gelöster Konflikte zwischen privater und öffentlicher Sphäre, die Behandlung von Ehe- und Generationsproblemen und nicht zuletzt der wiederholte Versuch, die von Menschen gemachte Geschichte mit lyrischen Mitteln zu entdämonisieren – das sind die zumindest in Ansätzen unübersehbaren Folgen der hier skizzierten Entwicklung.

Bereits die Sammlung Gleisdreieck ist in diesem Sinne ein Plädoyer dafür, jenen mit den Verbrennungsöfen der Konzentrationslager assoziierten Gestank, »jene Fäulnis« (vgl. 1, 114), zu benennen. Geschichtliche Tatsachen, insbesondere die mit kollektiven Schuldbekenntnissen, den sogenannten Persilscheinen, und die mit der fragwürdigen Gnade der späten Geburt bis heute oft verdrängten Gräueltaten der Hitlerzeit, werden hier poetisch benannt: »Wir wollen nun den Mund aufmachen,/ die schlimmen Goldzähne,/ die wir den Toten brachen und pflückten,/ auf Ämtern abliefern« (1, 114). Das in späteren Texten wiederholt in Stellvertreterfunktion genannte Konzentrationslager Auschwitz ist für Grass der »Maßstab« (21, 56), der zumindest im Nachhinein nicht nur an die eigenen Werke angelegt wird.

Im Mittelpunkt der Bestandsaufnahmen steht erneut die sinnliche Erscheinungsweise der für den Menschen letztlich unüberschaubaren Welt. Unverkennbar ist der daraus resultierende »triomphe du charnel«[23] im subjektiven Akt der Anschauung, der die sprachlichen Zeichen durch die Andeutung einer Vielzahl möglicher Perspektiven bewusst in der Schwebe hält. Gegen die Sphäre des reinen Geistes, gegen die Flucht in substanzlose Abstraktionen und idealistisch fundierte Welterklärungs- bzw. globale Weltverbesserungskonzepte setzt der detailverliebte Lyriker willentlich die nur perspektivisch zu erfassenden Erscheinungen des alltäglichen Lebens. Paradoxe Argumentationsschemata, das Spiel mit Erwartungshaltungen und der kreative Rückgriff auf geschichtliche, mythische bzw. religiöse Muster dienen ihm zur Charakterisierung der durch unaufhebbare Widersprüche gekennzeichneten Wirklichkeit. Eine besondere Rolle spielen in diesem Zusammenhang wiederum die als sinnlich-konkrete Phänomene eingeführten Dinge des Alltags, die zu mehrdimensionalen Bedeutungsträgern avancieren. Viele der bereits in den Windhühnern verwendeten Motive, die vom Besonderen ausgehenden, sich zunehmend zum Allgemeinen hin öffnenden Spielmaterialien des Autors, werden erneut aufgegriffen und variiert. Das Sammelsurium seiner privatmythologischen Chiffren ist erneut zur Stelle.

Doch während in der sorgfältig abgegrenzten Traumwelt seines Debüts auf den ersten Blick keine Stolper- bzw. Verletzungsgefahr für den Bewohner der künstlich ausgepolsterten Innenwelt des Ateliers besteht – »weil alles nachgibt« (1, 43) –, scheint das einige Jahre später auftretende Ich keineswegs gegen Blessuren gefeit zu sein: »Zumeist sind es ruhende Gegenstände,/ an denen sich montags/ mein Knie aufschlägt.« (1, 106) Der Dichter hat sein Reservat, seine sonntäglich-windstille Werkstatt auch auf die Gefahr hin verlassen, sich nunmehr außerhalb des Windschattens an alltäglichen Realitäten wundzustoßen, sich die Augen an der in dieser Sammlung sogar titelgebenden Zugluft (1, 109) zu entzünden. Unverkennbar ist der Wille, sich stärker als bisher den kantigen Wirklichkeiten, den harten Gegenständen der Außenwelt zu stellen, um den luftigen, himmlisch leichten Geschöpfen seiner Einbildungskraft die Flügel ein wenig zu stutzen. Seine Phantasie hat sich nunmehr verstärkt an dem zu erproben, was der Dichter gemeinhin die »stinkenden Realitäten« (vgl. 20, 188) nennt. Auf diesem Weg versucht er offenbar bewusster als zuvor, rein abstrakten bzw. völlig störungsfrei verlaufenden Höhenflügen, d. h. der »bodenlosen Phantasterei« (24, 256), vorzubeugen: »Immer lehnte ich ab,/ von einer schattenlosen Idee/ meinen schattenwerfenden Körper verletzen zu lassen.« (1, 106)

Die Phantasie-Hühner dieses Bandes fallen konsequenterweise etwas bodenständiger aus, damit sie nicht in himmlische Höhen entweichen, sich nicht einfach in Luft auflösen. Denn der ansonsten zu befürchtende Absturz aus den ideologischen Sphären des Geistes auf den harten Boden der Realität würde zweifellos ihr unrühmliches Ende bedeuten. Daraus ergibt sich für den Verfasser dieser Gedichte die Aufgabe, das Phantastische so exakt wie möglich zu beschreiben bzw. es mit nicht zu verleugnenden Tatsachen zu konfrontieren: »Je phantastischer der Einfall ist, um so genauer muß er belegt sein.« (24, 52) Seinem artistischen Talent verordnet der gereifte Poet – ein an begrifflich eindeutigen Erörterungen aber nach wie vor weitgehend uninteressierter, jederzeit verspielt-ironischer Zeuge in Sachen Dichtungstheorie – schwere »Bleigewichte« (22, 424). Der an jeder Patentlösung grundsätzlich zweifelnde Autor wettert dementsprechend gegen »Formverächter«, »inhaltsfeindliche Künstler« und modische Phrasendrescher im Kunstbetrieb. Er macht sich sowohl über die Zettelkastenmethoden epigonaler Pseudopoeten lustig als auch über die sterile Traumlaborästhetik marktgerechter, aufgesetzt schwermütiger oder klangverliebter Dekorateure. Und er setzt seinen »mißtrauischen Dialog« (20, 20) gegen die allwissenden Dichterpriester im Dienste des metaphysisch bedürftigen, bisweilen systematisch verdummten Volkes. Mit anderen Worten, Grass bemüht sich auch in seinem hier zitierten Grundsatzessay Der Inhalt als Widerstand (1957) darum – seine eigenen Anfänge als Lyriker karikierend –, paradoxe, auf ein undefinierbares Drittes zielende Argumentationsschemata zu entwickeln, Skepsis zu verbreiten und Misstrauen zu säen. Seine Helden legen im besten Fall noch immer den Finger in die Wunden, ohne dadurch bekehrt zu werden; sie bemühen sich durch das mürrische Abklopfen der geweißelten Außenwände eines jeden Mysteriums darum, allen dunklen Geheimnissen auf die Spur zu kommen; sie versuchen, alle vermeintlichen Wunder in geduldiger Handarbeit ins rechte Licht zu rücken, jede unaufgeklärte Idylle radikal zu entzaubern: »Wir wollen uns eine neue Muse stricken.« (20, 22)

Eine der elementaren Grundvoraussetzungen eines Künstlers, der diese Bezeichnung nach Grass tatsächlich verdient, ist die Bereitschaft zur permanenten Revision des einmal Geschaffenen. Der Radiergummi (2,  206 ff.) wird demzufolge zum Attribut seiner Arbeit als Zeichner und Lyriker: »Ich und mein Radiergummi, wir sind sehr fleißig,/ arbeiten Hand in Hand.« (2, 207) Von diesem »Teamwork« (2, 207) zwischen dem unternehmungslustigen Gummi und seinem Besitzer, das die produktive Bewegung zwischen Zerstörung und Aufbau garantiert, lebt jedes unter die Haut gehende Kunstwerk.

In Racine läßt sein Wappen ändern (1, 93 f.) wird dieses im Selbstverständnis des Schriftstellers notwendige Wechselspiel von »Schwan« und »Ratte«, von reiner Kunst und unreiner Wirklichkeit zum zentralen Thema. Für Grass sind die handfesten Realitäten nunmehr »der unvermeidliche Widerstand, der Vorwand für die Form« (20, 18 f.). Auch in anderen Texten der zweiten Lyriksammlung ist die hier zum Ausdruck kommende Akzentverschiebung im Programm des Autors deutlich zu erkennen. Diese Schwerpunktverlagerung könnte man pointiert als Entwicklung vom freien Spiel der dichterischen Einbildungskraft zum asketischen Spiel mit dem Inhalt als Widerstand (20, 18 ff.) umschreiben. Es ist jedoch zu betonen, dass es dem Schriftsteller in beiden antimetaphysischen Spielarten auf die »Entideologisierung« (vgl. 20, 26) des Weltbezugs ankommt.

Die Interdependenz von formal-ästhetischen und inhaltlichen Gesichtspunkten kommt besonders deutlich im nicht nur für viele Interpreten, sondern auch für den Dichter selbst programmatischen Gedicht Askese (1, 92) zum Ausdruck:

»Die Katze spricht.

Was spricht die Katze denn?

Du sollst mit einem spitzen Blei

die Bräute und den Schnee schattieren,

du sollst die graue Farbe lieben,

unter bewölktem Himmel sein.

 

Die Katze spricht.

Was spricht die Katze denn?

Du sollst dich mit dem Abendblatt,

in Sacktuch wie Kartoffeln kleiden

und diesen Anzug immer wieder wenden

und nie in neuem Anzug sein.

 

Die Katze spricht.

Was spricht die Katze denn?

Du solltest die Marine streichen,

die Kirschen, Mohn und Nasenbluten,

auch jene Fahne sollst du streichen

und Asche auf Geranien streun.

 

Du sollst, so spricht die Katze weiter,

nur noch von Nieren, Milz und Leber,

von atemloser saurer Lunge,

vom Seich der Nieren, ungewässert,

von alter Milz und zäher Leber,

aus grauem Topf: So sollst du leben.

 

Und an die Wand, wo früher pausenlos

das grüne Bild das Grüne wiederkäute,

sollst du mit deinem spitzen Blei

Askese schreiben, schreib: Askese.

So spricht die Katze: Schreib Askese.«

Es ist im Grunde von sekundärer Bedeutung, welche konkreten Assoziationen sich zu den in fünf Strophen referierten »Geboten« der gottvaterähnlichen Katze im Einzelnen einstellen. Denkbar sind Beziehungen zwischen übertriebenem Nationalgefühl und militärischer Gewalt, die Flucht in private Liebesabenteuer, besinnungslose Rauschzustände, biedermeierliche Scheinidyllen oder religiös inspirierte Ekstasen jeder Art. Die Überlagerung verschiedener Bedeutungsebenen macht eine genaue Festlegung unmöglich. Doch in der Farbmetaphorik des Textes versteckt sich ein alle Anspielungen bündelnder Aspekt: die Verführbarkeit der Menschen, ihre Sehnsucht nach bunten, d. h. attraktiven Erlösungsmodellen, denen es nach Ansicht der hier das Wort führenden »Katze Erinnerung« zu widerstehen gilt: »aus grauem Topf: so sollst du leben«. Die Protagonistin des Gedichts misstraut ebenso wie ihr Erfinder – der in seiner rückblickend Zusammenhänge knüpfenden Rede Schreiben nach Auschwitz betont, dass er ihre Gebote ausdrücklich als die seinen verstanden wissen möchte (22, 422 ff.) – allen verführerischen Heilsangeboten jeglicher Couleur und jeder Schwarzweißmalerei, wenn diese fatale Folgen zeitigenden Versprechen nicht zugleich mit dem Grauschleier des Zweifels überzogen werden. Die Katze schlägt damit den für Grass »bestimmenden Grundwert Grau an« (22, 422), der angesichts der Asche, die an die Toten aus den KZ-Krematorien gemahnt, den Verzicht auf alle farbenfrohen Paradiesversprechungen impliziert:

 

»Und obendrein verlangte dieses Gebot Reichtum neuer Art: Mit den Mitteln beschädigter Sprache sollte die erbärmliche Schönheit aller erkennbaren Graustufungen gefeiert werden. […] Also raus aus der blaustichigen Innerlichkeit. Weg mit den sich blumig plusternden Genitivmetaphern, Verzicht auf angerilkte Irgendwie-Stimmungen und den gepflegten literarischen Kammerton. Askese, das hieß Mißtrauen allem Klingklang gegenüber, jenen lyrischen Zeitlosigkeiten der Naturmystiker, die in den fünfziger Jahren ihre Kleingärten bestellten und – gereimt wie ungereimt – den Schullesebüchern zu wertneutraler Sinngebung verhalfen. Askese hieß aber auch, seinen Standort zu bestimmen.« (22, 424 f.)

 

»Ascèse«[24], die tägliche Anstrengung des schöpferischen Menschen im Bewusstsein um die Absurdität des Daseins, ist nicht nur die zentrale Losung im Umgang mit der Sprache, also nicht nur ein Schreib-, sondern zugleich ein Denk- und Lebensstil. Mit anderen Worten, erst wenn man diese Zielsetzung des Autors mit dem omnipräsenten Ideologieverdacht von der formal-ästhetischen Ebene auf das hier zum Ausdruck kommende Weltverständnis ausweitet, ist das Grundmotiv seines lyrischen Sprechens genannt. Das mit dem Sprachkunstwerk anvisierte Lebensgefühl verweist damit keineswegs nur auf die poetologische Diskussion der fünfziger Jahre, es evoziert gleichzeitig die hinter diesen Fragen stehenden philosophisch-weltanschaulichen Implikationen, in diesem Kontext insbesondere Theodor W. Adornos kritische Maximen und seine Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951) sowie den für viele Intellektuelle der Nachkriegszeit richtungsweisenden Streit zwischen Albert Camus und Jean-Paul Sartre.

Grass stellt sich in dieser Auseinandersetzung um philosophische, ästhetische und politische Grundsatzfragen unmissverständlich auf die Seite Camus’. Er wählt das poetische Verfahren der künstlerischen Askese, um gegen das (Un-)Veränderbare zu revoltieren. Der Autor, der sich schon frühzeitig den vermeintlich sinnlosen Tätigkeiten, die er als eigentlich menschliche Tugenden schätzt (vgl. 20, 18), verschrieben hat, lässt dementsprechend die welterfahrene und darum prinzipiell skeptische »Katze« sein bis zuletzt aktuelles Glaubensbekenntnis verkünden. Sie wendet sich sowohl gegen die trügerischen Hoffnungen ihrer heilsversessenen und erlösungshungrigen Adressaten als auch implizit gegen alle absolut gesetzten Welterklärungssysteme. Ihre Maßstäbe setzenden Gebotstafeln, die jede Transzendierung des Irdischen durch christliche Sublimierungsaskese oder andere Vergewaltigungen der menschlichen Natur ausschließen, dienen in diesem Kontext als Regulative der poetischen Einbildungskraft: »Es galt, den absoluten Größen, dem ideologischen Weiß oder Schwarz abzuschwören, dem Glauben Platzverweis zu erteilen und nur noch auf Zweifel zu setzen, der alles und selbst den Regenbogen graustichig werden ließ.« (22, 424)

Im Gegensatz zu Kant, der sich mit seinen »Postulaten« trotz aller Erkenntniskritik ein Hintertürchen in Glaubensfragen offenhält, ist Grass nicht bereit, seine antidogmatisch-ironische Position bzw. sein universell zu begreifendes »Prinzip Zweifel« aufzugeben. Er setzt dagegen, ganz im Sinne des trotzigen Steinewälzers – die philosophische Figur, die der Schriftsteller bis zu seinem Tod immer wieder beschwört –, auf »la raison lucide qui constate ses limites«[25]. Dort, wo dem Glauben die rote Karte gezeigt und selbst das farbenfrohe Zeichen des Bundes zwischen Himmel und Erde in Frage gestellt wird, kann kein Gefühl der Geborgenheit mehr aufkommen. Im Gegenteil: Den Menschen im Zeitalter der transzendentalen Obdachlosigkeit fehlt ein Sicherheit spendendes Dach über dem Kopf. Hinweise auf einen messianischen Lebenswegbegleiter fehlen: »Es ist ein Loch, das uns begleitet,/ ein Amboß ohne Widerspruch,/ ein Papagei, der am Karfreitag schrie« (1, 129). Das »Loch in der Schöpfung« (3, 7), ein für viele Grass-Texte zentrales Motiv, ist demnach auch in der Sammlung Gleisdreieck nicht zu stopfen. Der perspektivische Charakter jeder Wahrnehmung und die damit implizierte Relativität scheinbar feststehender Einschätzungen und Wertsetzungen machen vielmehr deutlich: Misstrauen gegen apodiktische Urteile, auch gegen solche, die in diesen Texten ausgesprochen werden, ist jederzeit angebracht. Die Ungewissheit über verlässliche Antworten stellt eine notwendige Konsequenz aus der mittlerweile auch erkenntnistheoretisch fundierten Skepsis des Autors dar, der den existentiell zu denkenden Zweifel zum Strukturprinzip seiner Dichtung erhebt.

Denn die guten alten Zeiten, in denen jedermann noch zuverlässig davon ausgehen konnte, unter der Obhut eines gerechten Gottes zu stehen, bei dem er jederzeit »Zuflucht« finden kann (Ps 62,8), sind offensichtlich vorbei. Hier herrscht der von Menschen erfundene Mythos vom bösen Demiurgen-Gott, der seine Kinder frisst. Das aus existentiellen Verunsicherungsprozessen resultierende, plötzlich alle Lebensbereiche erfassende Fremdheitserlebnis hat Grass zum Thema des in diesem Kontext zentralen Gedichts mit dem Titel Saturn (1, 123 f.) erhoben. Seine zentrale Botschaft lautet: Für den Menschen, der aus der Routine des Alltags heraustritt, werden die banalsten Tätigkeiten wie das Aufschließen einer Tür oder das Ausziehen der Schuhe zu Zeichen für die absurde Dimension des Daseins und damit zum Anfang einer Bewusstseinsregung. Mit der radikalen Verunsicherung kommt gleichzeitig ein Gefühl der Bedrohung auf, ein nicht mehr rückgängig zu machender Prozess. Dem lebenslustigen Melancholiker bleibt offenbar nichts anderes übrig, als rauchend darauf zu warten, dass der saure, jenseits von Gut und Böse agierende »Himmelsathlet« (2, 211) sich seiner von saturnischen Bleigewichten bedrückten Seele schließlich erbarmt. Den vielen, auch in diesem Text nicht endgültig zu klärenden Fragen steht nur eine einzige Gewissheit gegenüber: Am Ende erwartet alle Menschen der Tod. Bis dahin sind zumindest die in diesen Gedichten auftretenden Protagonisten gezwungen, mit unaufhebbaren Widersprüchen zu leben, das absurde Dasein in der Zeit auf sich zu nehmen, ein ruheloses Leben im geschlossenen Weltenei zu führen, ohne jemals zu wissen, ob und von wem sie in welcher Absicht behütet bzw. gebrütet, be- bzw. gekocht werden:

»Wir leben im Ei.

Die Innenseite der Schale

haben wir mit unanständigen Zeichnungen

und den Vornamen unserer Feinde bekritzelt.

Wir werden gebrütet.

 

Wer uns auch brütet,

unseren Bleistift brütet er mit.

Ausgeschlüpft eines Tages,

werden wir uns sofort

ein Bildnis des Brütenden machen.

 

Wir nehmen an, daß wir gebrütet werden.

Wir stellen uns ein gutmütiges Geflügel vor

und schreiben Schulaufsätze

über Farbe und Rasse

der uns brütenden Henne.

 

Wann schlüpfen wir aus?

Unsere Propheten im Ei

streiten sich für mittelmäßige Bezahlung

über die Dauer der Brutzeit.

Sie nehmen einen Tag X an.

 

Aus Langeweile und echtem Bedürfnis

haben wir Brutkästen erfunden.

Wir sorgen uns sehr um unseren Nachwuchs im Ei.

Gerne würden wir jener, die über uns wacht,

unser Patent empfehlen.

 

Wir aber haben ein Dach überm Kopf.

Senile Küken,

Embryos mit Sprachkenntnissen

reden den ganzen Tag

und besprechen noch ihre Träume.

 

Und wenn wir nun nicht gebrütet werden?

Wenn diese Schale niemals ein Loch bekommt?

Wenn unser Horizont nur der Horizont

unserer Kritzeleien ist und auch bleiben wird?

Wir hoffen, daß wir gebrütet werden.

 

Wenn wir auch nur noch vom Brüten reden,

bleibt doch zu befürchten, daß jemand,

außerhalb unserer Schale, Hunger verspürt,

uns in die Pfanne haut und mit Salz bestreut. –

Was machen wir dann, ihr Brüder im Ei?« (1, 78 f.)

Der in seiner Aussagekraft über die weltanschauliche, geschichtsphilosophische und ästhetische Position des Autors Günter Grass kaum zu überschätzende Text – Im Ei war zunächst als Titelgedicht vorgesehen und knüpft motivisch unter anderem an das Ringelnatz-Gedicht O Welt in einem Ei an