Gusto auf Grado - Andreas Schwarz - E-Book

Gusto auf Grado E-Book

Andreas Schwarz

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Beschreibung

Geschichten aus dem Süden Enge Gässchen und schattige Plätze, eine pittoreske Altstadt und ein Hauch von k. u. k. Flair erschaffen die besondere Magie Grados. Wunderschöne alte Villen und Pensionen zeugen noch heute von den glanzvollen Gästen vergangener Tage und der Bedeutung des Seebads in der Habsburgermonarchie. Andreas Schwarz und Martha Brinek erzählen von den berühmten Ville Bianchi, der Villa Reale und der Villa Erica, von Grados starken Frauen und seiner Geschichte. Mit Urgradesern und Grado-Liebhabern wie Peter Matić, Trixi Schuba oder Erwin Steinhauer entdecken sie, was den Sehnsuchtsort an der Adria so anziehend macht. Warum Grado, seine Villen und deren Küche sich so sehr nach "Zuhause" anfühlen. Und warum man immer wieder Gusto auf Grado bekommt. Mit zahlreichen Abbildungen in Farbe Mit zahlreichen Originalrezepten, illustriert von Künstler Gianni Maran aus Grado

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Andreas SchwarzMartha Brinek

Gusto auf

GRADO

Eine Spurensuche zwischen Villen,Geschichte und Küche

Mit 66 Abbildungen

Für Valentin

1. AuflageFebruar 2019

2. AuflageApril 2019

Besuchen Sie uns im Internet unter: amalthea.at

© 2019 by Amalthea Signum Verlag, Wien

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Elisabeth Pirker/OFFBEAT

Umschlagabbildungen: Cover: Café Secession, Grado (links), Seebad Grado (rechts)/Archive Scaramuzza, © iStock.com (Hintergrund);

Rückseite: Werbung Pension Villa Reale/Archiv Villa Reale,

Foto: Andreas Schwarz

Rezepthintergrund: cardboard_04 von raduluchian.com

Lektorat: Helene Breisach

Herstellung und Satz: VerlagsService Dietmar Schmitz GmbH, Heimstetten

Gesetzt aus der 11,25/14,25 pt Minion Pro

Designed in Austria, printed in the EU

ISBN 978-3-99050-129-0

eISBN 978-3-903217-33-1

Inhalt

1Die Magie Grados

Auf Spurensuche – eine Annäherung

2Die Tür, durch die kein Kaiser ging

Flanieren in die Vergangenheit: Über den »vollsten Beifall« der Gäste aus dem Hause Habsburg, verruchte Begegnungen am dunklen Strand und eine kleine Schwindelei.

3»Für die Haut gibt’s nur die Adria«

Warum Grado gesund ist, selbst wenn man stundenlang bis zu den Knien im Meer steht und plaudert. Und wie aus dem Fischerdorf überhaupt erst ein See- und Kurbad wurde.

4Alpenfloh und Butterstizzi

Zwei Schwestern machen die Villen des Baron Bianchi zum Sommerziel für Adel und Bürgertum. Ein Stammhalter wird mit blauen Handtüchern gefeiert. Und in einen alten VW passen 45 Koffer.

5Eine »Naturgewalt« entdeckt Grado

Eine Wiener Unternehmerstochter setzt sich ein Hotel in den Kopf, ihr Mann opfert seine Künstlerkarriere und die Pension Fortino wird zu einem der Flaggschiffe des Seebades.

6»Das Meer ist auf Dauer auch nicht abendfüllend«

Der Schriftsteller Egyd Gstättner über die Entdeckung des vergessenen Secessionisten Josef Maria Auchentaller und die Entstehung seines historischen Grado-Romans.

7Schlafen in der Badewanne

Karl Bianchi erzählt – vor fast 100 Jahren – über das 13-mal zerstörte Grado, über 23-jährige Ehen ohne Streit (+ 30 Tage) und über verrückt tanzende Kurgäste. Er hofft auch, dass »Grados Boden dereinst wieder zu Österreich gehören möge«.

8»Bin angekommen«

Yves Saint Laurent schätzte die Villa Reale, Marc Chagall schickte Zeichnungen. Das Kochbuch der Hanni Schöffmann ist heilig. Gegen schlechtes Wetter gibt es eine Garantie. Und Scherentiere schreiben Zettel, ehe sie verspeist werden.

9Der Fischerbub und das Eis

Einem kleinen Dorf im Friaul verdankt Grado gleich mehrere seiner Villen. Von denen es die meisten nicht mehr gibt. Wäre die Nichte Adele Bloch-Bauers nicht kränklich gewesen, gäbe es auch viele Kinderbücher nicht.

10Rückzugsort

Was die Villa Erica mit der idyllischen Lagune zu tun hat, in der nicht nur Pier Paolo Pasolini einen Film drehte, guter Fisch serviert wird und kleine casoni vom früheren Haupterwerb der Gradeser zeugen.

11Ohrringe und andere Beweise

Über bekannte und heimliche Affären, tragische Liebschaften und erheiternde Gspusis in Grados Villen. Und über ein Buch, das zum gefragten Strand-Utensil wurde und ein Sittenbild seiner Zeit zeichnete.

12Feiern im »Saint Tropez« der Adria

Grado war nicht nur nach der vorletzten Jahrhundertwende mondän – von der Callas bis zu großen Fußballstars verstanden es Gäste auch später, in der Villa Bernt gut zu essen und zu tanzen.

13»Beim dritten Kamin links«

Warum Straßennamen und Hausnummern in Grado Nebensache sind. Wieso der Erzengel Michael Lilien trägt. Und in welcher Villa »Madonnina del Mare« auch schon zu hören war. Ein kleiner Rundgang.

14»Die Gradeser hassen Papier«

Was wurde am 7. Juli 1897 eröffnet, und wenn wir schon dabei sind: Wie war an diesem Tag das Wetter? Es gibt vermutlich nichts, was Bruno Scaramuzza über Grado nicht weiß.

15»Die Schaukel steht immer noch«

Wieso ein ebenso grandioser wie tröstlicher Eislauf-Olympiasieg auf Rollschuhen in Grado begann. Warum ein Formel-1-Weltmeister sich nicht erinnern will. Und weshalb ein Erzkomödiant nur Genuss und Glück verspürte.

16Rezepte aus dem Gradeser Zuhause

Der Reisende, der an die Adria kam, hat nicht immer die italienische Küche gesucht – aber als er sie in Grado gefunden hat, wuchs sie ihm vor allem in den Villen an Herz und Magen.

17Villa Reale: Gesetztes Essen statt beliebigem Buffet

Die Küche der Villa Reale hat einen weithin guten Ruf, die Rezepte sind ein wohlgehütetes Geheimnis. Aber für dieses Buch verrät Sabine Vianello einige besonders köstliche wie den Branzino in der Folie oder das Orangen-Tiramisu.

18Villa Erica: Der Klassiker auf dem Tisch

Unbedingt ohne Tomaten zubereiten, aber vor allem: Sagen Sie nie Fischsuppe zu einem Gradeser Boreto. Auch wenn der Fisch auf dem Teller schwimmt. Fisch kommt auch noch in einigen anderen Erica-Varianten vor.

19Ville Bianchi: Die Vorfreude auf dem Menüständer

Über Jahrzehnte Fixpunkt: Die abwechslungsreiche Küche und das Salat- und Nachspeisenbuffet. Matschkerer wussten schon am Morgen, worüber sie mittags und abends matschkern – und es doch genießen wollten.

20Ein bisschen Grado am Burgring

Was ein Szegediner Hummerkrautfleisch mit Grado zu tun hat, und wie Starkoch Christian Domschitz im Wiener »Vestibül« auch für Gradeser Gäste Saltimbocca alla romana und grüne Minestrone zaubert.

Die Villen in Grado – Chronologie

Quellen und weiterführende Literatur

Bildnachweis

Dank

Namenregister

1Die Magie Grados

Auf Spurensuche – eine Annäherung

Der Burgschauspieler mit der markanten Stimme hat als Kind Sommer für Sommer bei Verwandten in Triest verbracht. Später wurde er Publikumsliebling im Haus am Ring oder bei den Festspielen in Reichenau. Als Synchronstimme von Ben Kingsley kennt ihn jeder, auch der größte Theatermuffel. Damals, in den 1950er-Jahren, war das für den kleinen Peter Matić noch weit weg. Für den Knaben aus dem Norden gab es im Sommer nur Sonne, Wind und Meeresluft im Süden. Und zwar am äußersten Zipfel der Adria, wo Italien auch heute noch so österreichisch ist. Ferienhöhepunkt war stets: Wenn der Triestiner Onkel den frisch geputzten Fiat Topolino anwarf und mit den Kindern für einen Tag zum Baden von Triest nach Grado fuhr – zwei Stunden Fahrt. Aber was für ein Ziel!

Was der Bühnenstar in spe beim Planschen im seichten Wasser der oberen Adria nicht wissen konnte: Dass er Jahrzehnte später in den fünf gelben herrschaftlichen Villen, die den Strand von Grado damals schon überschauten, Urlaub machen würde. Was er zudem nicht wusste: Dass er mit der Urenkelin des Barons, der diese Ville Bianchi zur Jahrhundertwende bauen ließ, verwandt sein würde.

Es ist eine typisch österreichische Geschichte. Und wer heute Grado besucht, reist in die österreichische Geschichte. Auch wenn die nicht Hauptzweck der Reise ist.

Die meisten kommen mit Kind und Kegel zu Sonne und Sand. Der flach abfallende Strand, die »Cocco bello!«-Rufe der fliegenden Händler, die zur Labung Obstspieße verkaufen, das unvergleichliche Gelato auf der Promenade – Generationen verbinden damit Sommer pur. Später besuchen sie Grado oft auch dann noch, wenn die Kinder längst aus dem Haus und auf eigenen Urlaubswegen sind. Wege, die die groß gewordenen Kinder nicht selten wieder zurück an die obere Adria und in »ihr« Grado führen – der Bub, der dem Fiat Topolino seines Onkels entwuchs und Schauspieler sowie Grado-Reisender wurde, ist nur ein Beispiel von vielen.

Was ist es aber, das diesen Kreislauf antreibt wie ein Perpetuum mobile? Was macht den Badeort für viele zu einem fast magischen Platz? Zu einem Immer-wiederkommen-Müssen? Zu einer Art Zuhause im Urlaub, nein: zum Zuhause? Oder, wie es ein anderer Schauspieler formuliert, Erwin Steinhauer, mit fast schnalzender Zunge: »Für mich waren das Friaul und Grado eine Zeit der Genüsse. Nur Genuss und Glück! Ich muss bald wieder hin.«

Der Gradeser Künstler Gianni Maran spricht tatsächlich von der »Magie Grados«. Sie bestehe, sagt er, aus zumindest dreierlei: Da ist zum einen der Duft, der den Reisenden schon auf der kilometerlangen Brücke von Belvedere hinüber nach Grado einfängt. Dort, wo sich das flache Land mit seinen Pinien auftut für den ersten Blick über die breite Lagune hinüber zur Insel und der Silhouette der Stadt. Tief einatmen, und die Magie ist schon da, zaubert augenblicklich ein Stimmungstuch, in das man sich wohlig hüllt. Der zweite Stoff, aus dem die Magie Grados gewebt ist, das ist die ganz eigene Atmosphäre in den engen Gassen und winkeligen Durchgängen der Altstadt, dem centro storico mit seinen alten Steinhäusern, ebenso wie auf den schattigen Plätzen und den breiten Promenaden, entlang des Hafens und auf dem Weg zum Strand. Und zum Dritten besteht die Magie Grados aus etwas, das man zuerst vielleicht nur unbewusst wahrnimmt, dann langsam begreift und schließlich freudig-staunend spürt und erwidert: aus dem Lächeln, das überall in Grado wartet – »nicht Lachen, es ist das Lächeln«, sagt der Künstler.

Die Atmosphäre hat, da sind wir wieder beim Beginn, viel mit der österreichischen Geschichte des Badeortes zu tun. Und die wird nirgendwo sichtbarer als in den Villen, die um die Wende zum 20. Jahrhundert gebaut wurden. Einer Zeit, als Grado Teil des österreichischen Küstenlandes war – und das Mekka der Erholungsuchenden aus der Monarchie. Ihre Herberge waren vor allem die Villen. Die erwähnten Ville Bianchi nächst dem Strand, die verspielte Villa Reale oder die Villa Erica schräg gegenüber sind heute noch höchst lebendige Zeitzeugen der vergangenen Epoche, die in Grado in vielen Geschichten und Anekdoten weiterlebt. Und die viel zu diesem Zuhause-Gefühl im Urlaub beitragen.

Grado verdankt seine Geburt übrigens Frauen. Und seiner guten Luft. Jetzt könnte man natürlich sagen, das ist banal, weil: Geht nicht alles auf der Welt kraft des Gebärens auf Frauen zurück? Und ein Seebad ohne gute Luft, wie soll das gehen? In Grado aber verhält es sich so: Das Fischerdorf auf der kleinen Insel gibt es schon ewig, und Fischerdörfer waren traditionell von Männern dominiert. Von Fischern eben. Aber dass Grado vor mehr als einem Jahrhundert zum Seebad erblühte, zu einer Perle mit besagten Villen und mondänen Hotels, zu einem Kurort der Heilung und einem Badeort des Familienvergnügens – das ist vornehmlich auf Frauen zurückzuführen.

Gewiss, es haben auch Männer das Zepter in der Hand gehabt. Männer aus Familien mit so klingenden Namen wie Scaramuzza, Degrassi, Marchesini und Marocco. Sie haben um die Wende zum vergangenen Jahrhundert als Bürgermeister Land aufschütten lassen und Straßen gebaut, Bäume gepflanzt und Badeordnungen erlassen. Und der wichtigste Mann natürlich, der Kaiser in Wien, hat sowieso das Zepter in der Hand gehabt. Insofern nämlich, als er wohlwollend und großzügig das Werden des Seebades förderte. Nicht zu vergessen all die wohlhabenden Adeligen und Fabrikanten, die wunderschöne Häuser auf das immer größer werdende Land in der Lagune setzten – allen voran Baron Leonard Bianchi, der als Urvater Grados gelten kann (für die Geburt braucht es halt doch auch einen Vater). Aber auch er tat das für seine Frau, die an der Gradeser Luft genesen sollte, und für seine Kinder. Manch andere wiederum taten es für ihre kränkelnden Kinder, die an ebendieser Luft tatsächlich gesundeten.

Aber es waren starke Frauen, die in der Folge nicht nur in den Villen, sondern darüber hinaus in Grado den Laden schupften, wie man in Österreich sagen würde. Und zutiefst österreichisch, k. u. k.-österreichisch, das war Grado zu seiner Blütezeit. Die Geschichte der Wiener Fabrikantentochter Emma Scheid, verheiratet mit dem Secessionisten Josef Maria Auchenthaller, die mit ihrer kranken Tochter Maria nach Grado zog und die Pension Fortino bauen ließ, ist schon vor einiger Zeit aus der Versenkung geholt worden. Andere Geschichten belegen, dass nicht allein das Fortino am Beginn von Grados Aufstieg stand, sondern dass es davor und danach viele Villen – und viele Frauen – waren, die Grado zu dem machten, was es heute noch ist. Diese Geschichten sind Schätze, die kaum wo niedergeschrieben sind, sondern nur erzählt und weitergegeben werden, wenn man sich auf Spurensuche begibt.

So wird die Rede sein von den beiden Schwestern, die, stets in Schwarz gekleidet, vom Beginn bis weit in die zweite Hälfte des vergangenen Jahrhunderts mit dem Rad durch Grado und Umgebung fuhren, um ihre Ville Bianchi und das Seebad voranzubringen. Es wird die Rede sein von Emma Scheid natürlich, die, wie die Schwestern, tagein, tagaus für ihr Hotel und ihr Grado kämpfte. Es wird erzählt vom handgeschriebenen Kochbuch der Hanni Schöffmann – ja, auch die Küche spielt eine entscheidende Rolle in der Geschichte Grados –, das wie ein wertvoller Schatz geheim gehalten wird bis heute. Sein manchmal üppiger (die Zutaten!) und immer geschmackvoller Inhalt eröffnete und eröffnet sich bis heute nur den Gästen der Villa Reale, deren aus Kärnten eingeheiratete Seele die Schöffmann war. Von der großen Maria Callas wird die Rede sein, die in den späten 1960er-Jahren mit dem ebenso großen Pier Paolo Pasolini in Grado einen Film drehte und dem Seebad einen neuen Aufschwung zum »St. Tropez der Adria« bescherte – die beiden waren nur zwei von zahllosen prominenten Gästen, die seit Sigmund Freud, Arthur Schnitzler und Otto Wagner dem Adria-Ort gesellschaftlichen Glanz verliehen. Von einer Baroness ist zu lesen, die die Familiengeschichte der Bianchi hütet und die von keinem Geringeren als vom Teenager Niki Lauda auf den Straßen in und um Grado Autofahren gelernt haben will – wer kann das schon von sich sagen? Zeitungszaren und internationale Fußballer – weil auch von Männern die Rede sein wird –, Wirtschaftsbosse, Filmschaffende, Schauspieler und Literaten, sie alle haben in Grado ihr zweites Zuhause gefunden.

Und weil das alles nicht ohne Küche ging und geht, oder anders: Weil auch die Liebe zur Sommerfrische und zum Urlaubsort durch den Magen geht, wird auch von gutem Essen die Rede sein. In Grado wurde zu Zeiten des Österreichischen Küstenlandes vorwiegend österreichisch, ungarisch und böhmisch gekocht. Der saftige Schweinsbraten und das Pilsner Bier waren nebst den Süßspeisen aus der Monarchie die kulinarischen Höhepunkte eines Tages in der Badeanstalt. Viel später kamen die Pasta und der Riso dazu, der Fisch, wie er an der Küste bereitet wird, die Muscheln und andere Meeresfrüchte. Heute wird dagegen vor allem in den Villen die italienische Küche serviert, nach der sich der Italien-Reisende so sehnt. Jene Küche also, die er in angeblich »typischen« italienischen Restaurants so selten bekommt, es sei denn, er sucht lange und vermeidet die ausgetretenen touristischen Pfade: Unaufgeregte, beständige, wirklich italienische Gerichte, die wohlfühlen lassen und Lust machen, sie zu Hause auszuprobieren. Wenn man nur das Rezept hätte! Ein paar dieser Rezepte werden wir vorstellen – denn wenn man Grado mit nach Hause nehmen kann, bleibt das Zuhause-Gefühl wach, das man an Grado so schätzt. Auch wenn man gerade nicht dort ist.

Da sind wir dann doch wieder am Anfang: Das vorliegende Buch liefert keine chronologische Darstellung der Villen, ihrer Bewohner oder ihrer Gäste. Es ist keine lexikalische Auflistung und kein Who’s who in Grado. Und der kulinarische Teil ist kein Register der Gradeser Küche. Das Buch versucht nur eines: In einer bunten Aneinanderreihung von Geschichten und Geschichte, von Erinnerungen und Anekdoten, von Erzählungen und verstaubten Dokumenten aus längst vergessenen Kartons und Kisten ein Bild zu malen. Dieses Bild soll nicht in Nostalgie ertrinken. Es will ein Gefühl und einen Zustand vermitteln oder wachrufen, je nachdem: Die Magie Grados, die den Besucher einfängt. Eine Magie, die den Gast spätestens beim zweiten Mal nicht mehr Besucher, sondern Heimkehrer sein lässt. Nach zu Hause, in sein Grado.

2Die Tür, durch die kein Kaiser ging

Flanieren in die Vergangenheit: Über den »vollsten Beifall« der Gäste aus dem Hause Habsburg, verruchte Begegnungen am dunklen Strand und eine kleine Schwindelei.

Am Viale Europa Unita, auf dem Weg zum Hafen, liegt die libreria moderna. Es ist eine Buch-, Zeitungs- und Schreibwarenhandlung wie aus dem italienischen Bilderbuch – vor 50 Jahren. Mit den aktuellen Gazetten im Zeitungsständer davor, mit Postkarten, diversen Heftchen, ein paar Büchern, Zuckerln, Schreibgeräten und sonst noch allerlei. Vor dem Geschäft stehen drei Männer mittleren Alters mit der neuesten Gazetta dello sport. Auch wenn sie die Fußballergebnisse vom Vortag längst kennen, ist die Spielkritik im blassrosa Blatt Thema einer ausführlichen Diskussion. »L’arbitro è stato un disastro …«, grollt einer. Der Schiedsrichter, wer sonst, ist halt wirklich überall schuld.

Vor der Gelateria Antoniazzi lehnen zwei Gradeserinnen an ihren Fahrrädern. Die Einkäufe aus dem supermercato baumeln am Lenker. Die Frauen schlecken Eis, das sie sich auf dem Heimweg noch genehmigen. Sie plaudern über mindestens die Welt, so lange dauert das Gespräch. »Ciao Ornella«, ruft eine hinüber auf die andere Straßenseite, und schon sind die Damen zu dritt. Die Gelateria am Viale Dante Alighieri ist übrigens eine der besten der Stadt.

Der breite Viale Dante Alighieri nach Osten hinaus, dorthin, wo vor eineinhalb Jahrhunderten nur ein Weg durch den Sumpf war, rechts das Meer und links die Lagune, ist unbestritten die Flaniermeile der Stadt. Nach weniger als 200 Metern auf dem Viale tut sich ein weiter Platz auf: die Giardini Marchesan mit Brunnen und Wasserspielen und viel Grün. Von rechts ist das Meer zu hören und geradeaus am Ende des Platzes bietet sich ein einmaliger Blick: fünf lichtgelbe Villen, wie hingemalt. Zwei Stockwerke hoch, mit Balkonen und weißen Geländern und blaugrünen Fensterläden. Sie könnten, jede für sich, genauso im Cottage der Wiener Nobelbezirke Hietzing und Währing oder im Salzkammergut stehen. Links gegenüber eine dreistöckige Villa, die auch nicht von dieser Welt scheint, mit früher roten, jetzt wieder blauen Markisen und einer verspielten Terrasse. Sie wirkt auf den ersten Blick moderner und ist doch mehr als 100 Jahre alt. Und im Hintergrund, am Viale linkerhand erahnbar, eine weitere Villa, im schönsten Jugendstil, streng und leicht zugleich, mit roten Backsteinen im zweiten Stock, mit Terrassen und Bögen und Türmchen, efeubewachsen. Und ginge man dort ums Eck, stieße man gleich auf eine weitere beeindruckende Villa. Sie sind die Ville Bianchi, die Villa Erica, die Villa Reale und dahinter die Villa Bernt. Sie sind das Herzstück der Gradeser Geschichte, in die wir hineinflanieren.

Die Monarchie ging, die Villen blieben: Werbung für die »Baron Bianchischen Villen«, schon unter italienischer »Herrschaft«

Die Ville Bianchi heute – so etwas wie das Wahrzeichen Grados am langen Strand

Vor der Villa Erica sitzt an einem der kleinen Tischchen Gabriella und wartet schon. Die Nachmittagssonne taucht die Ville Bianchi gegenüber in ein strahlendes Gelb. Gabriella ist eine Institution im Dreieck der Villen. In den Ville Bianchi hat sie ein halbes Leben gearbeitet, viele Jahre davon als Chefin des Personals in der Küche und im Restaurant. Die Stammgäste haben sie geschätzt und geliebt – Gabriella wusste über die Jahre, wo die Gäste am liebsten saßen, was die Lieblingsspeise der Kinder war (nicht schwer: Spaghetti) und welcher der Lieblingswein der Eltern. Als die Besitzer wechselten, war das nicht mehr ihre Welt. Sie fand Unterschlupf in der Villa Reale schräg gegenüber. Auch dort gibt es Stammgäste seit ewig, und auch dort wird eine umsichtige Hand stets gebraucht. »Das war immer schon so in den Villen. Die Leute kommen einmal, und dann kommen sie wieder und immer wieder. Oder sie waren als Kinder schon da. Und das Schönste für sie ist, wenn jedes Mal alles so ist, wie sie es kennen und gewohnt sind – und dazu gehört auch das Personal.«

Das war vor 100 und mehr Jahren, als die Villen die ersten Besucher empfingen, nicht anders. Außer dass sich so mancher Gast – sicher ist sicher – sein Personal gleich selbst mitgebracht hat. »Zu Kaisers Zeiten reiste zumindest der Adel mit dem halben Hofstaat, wenigstens aber mit Köchin und Kindermädchen.« Nicht selten belegten Gäste samt Entourage dann über Wochen ein ganzes Stockwerk. Apropos Kaiser: Ob wir schon bei dem Tor waren, durch das der Kaiser einst geschritten ist, wie erzählt wird?

Und das ist der eigentliche Beginn der Geschichte. Es handelt sich um ein kleines, schmiedeeisernes Tor. Ein Türl eher, wie man in Österreich sagen würde. Beige-braun und im feinsten Wiener Jugendstil gewoben, unterbricht es einen schlichten Zaun zu Strand und Meer hin. Von den Spaziergängern, die auf der Promenade zwischen den Ville Bianchi und dem Strand wandeln, wird es kaum je beachtet, so unscheinbar ist es. Von den Initialen F. J. an der Front des Türls und dem bronzenen Doppeladler darunter nehmen die Passanten daher kaum Notiz.

Dabei sind diese Initialen Ausweis einer der vielen Geschichten, die Grado und seine altösterreichischen Villen heute noch zu erzählen haben: Als irgendwann vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Kunde geht, dass Kaiser Franz Joseph die Hafenstadt Triest bereisen werde, da sollte er auch nach Grado kommen. Jedenfalls setzen die Gradeser alles daran, dass der Monarch auch das ehemalige Fischerdorf auf der Halbinsel an der nördlichen Adria besucht. Schließlich hat seine Majestät es 1892 per Dekret zur »Kur- und Badeanstalt Grado« geadelt. Und die ist inzwischen dank des Aufstiegs in den Olymp der Sommerbäder das Dorado für Gäste aus der Monarchie geworden. Man ist dem Kaiser unendlich dankbar.

Aber ob er dann auch wirklich kommt? Zur Überraschung aller kündigt Seine Hoheit tatsächlich ihren Besuch an. Die Freude und die Aufregung in Grado sind grenzenlos.

Das viel zitierte »Kaisertürl« zum Strand – da soll Kaiser Franz Joseph durchgegangen sein?

Ob der Kaiser dann in einer der fünf Ville Bianchi nächst dem Strandbad und seinem ausladenden Holzbau im Wasser abgestiegen ist oder, wie kolportiert, in der Villa Erica gleich dahinter, ist nirgendwo niedergeschrieben. Auch was er speiste in den Villen – wahrscheinlich Tafelspitz, weil der damals natürlich zur Gradeser Küche zählte –, ist nicht dokumentiert. Aber dass zu Ehren des Kaisers in aller Eile ein kleines Tor geschaffen wurde, das dem Monarchen den schnellen Zugang zum Strand ermöglichen sollte, das weiß man heute, mehr als ein Jahrhundert danach.

Kurzum: Seine Majestät durchschritt es – und seit Franz Joseph tat das niemand mehr. Das Türl ist seit Kaisers Zeiten zu. Versperrt. Nicht mehr aufzukriegen. Denn der Verbleib des Schlüssels ist ein wohlgehütetes Geheimnis …

So und in variantenreichen Abwandlungen steht die Geschichte in Reiseführern und auf Webseiten über Grado zu lesen. Immer und immer wieder wird abgeschrieben. So wird sie erzählt, von einem Besucher dem anderen, selten von Gradesern selbst, aber immer umweht vom Hauch des Geheimnisvollen, des Verschwörerischen: Pssst!, der Kaiser war hier, und, man glaubt es kaum, durch dieses Tor ist er gegangen.

Es ist eine hübsche Geschichte, die nur einen kleinen Schönheitsfehler hat: Kaiser Franz Joseph war zeit seines langen Lebens nie in Grado.

Das klingt jetzt auch fast unglaublich. Denn seine Hoheit soll von Grado beziehungsweise seinem Ruf als Heilbad so begeistert gewesen sein, dass er sogar Sand von der Adriaküste ins Strandbad Edlach bei Reichenau an der Rax bringen hat lassen – das liegt nicht am Meer, sondern an der eiskalten Schwarza in Niederösterreich, war aber seinerzeit auch Treffpunkt der feineren Wiener Gesellschaft. Nur nach Grado und in den Sand dort setzte Franz Joseph tatsächlich nie einen Fuß.

Der Kaiser zwar nicht, andere Mitglieder der Habsburgerfamilie allerdings bereisten das Seebad sehr wohl. Was in Zeitungen wie dem Neuen Wiener Tagblatt zu der Zeit gebührend vermerkt wird: »Aus Grado wird uns telegraphiert: Bei herrlichem Wetter kamen gestern Nachmittag Erzherzog Franz Ferdinand und Gemahlin, Herzogin Sophie von Hohenberg, mit ihren Kindern an Bord ihrer Yacht … nach Grado. Am Hafen wurden die Gäste von Bürgermeister Dr. Marchesini, dem Stadtpfarrer …« und so fort empfangen. Sie besuchten den Dom, das Museum, den Bau der neuen Seepromenade, und »von dort begaben sich die Gäste zum Badeetablissement … Die rasche Entwicklung Grados, die schönen Bauten und Gartenanlagen fanden den vollsten Beifall der Gäste«, heißt es weiter. »Unter den Ovationen der gesamten Bevölkerung« verabschiedete sich der hohe Besuch nach einem Tag auch schon wieder und versprach, zur Badesaison wiederzukommen.

Das war im April 1914. Der Mord am Thronfolgerpaar in Sarajewo zwei Monate später machte vieles und auch dieses Versprechen zunichte.

Andere Mitglieder des Adelsstandes blieben hingegen wochenlang zur Sommerfrische am Meer, selbst im Juli 1914 noch: »Unter den Neuankommenden befinden sich: Prinzessin Windischgrätz, Erz. Gräfin Attems, Erz. Friedrich Graf Beck, Gräfin Degenfeld, Graf Starhemberg, Marie Gräfin von Bellegarde u. a. m.«, rapportiert die Reichspost noch, als sich die dunklen Wolken des großen Krieges schon über Europa zusammenbrauten. Die Monarchie war in Grado aber vor allem durch den höheren Mittelstand vertreten: Bedienstete des Hofstaates kamen zur Erholung an die Küste, Offiziere, Rechtsanwälte, Ärzte und Architekten, Beamte, Kaufmannsfamilien und Industrielle. Zudem gaben einander Künstler die Sommerfrische-Türen in die Hand, von Arthur Schnitzler über Otto Wagner bis Stefan Zweig – nur der Kaiser selbst ist nie dagewesen. Auch wenn es ihn vermutlich »sehr gefreut« hätte.

Besagte Tür ist übrigens immer nur einfach ein Zugang zum Strand gewesen, der des Nachts abgesperrt wurde. Als Grado um die Jahrhundertwende endgültig zum beliebten Seebad aufgestiegen war, war der lange Sandstrand zunächst noch ohne Umzäunung frei zugänglich. Wobei »frei« natürlich relativ war. In Wahrheit gab es ein strenges Reglement. Die große Attraktion stellte die langgestreckte hölzerne Badeanstalt dar, die auf Eichenpfählen im seichten Meer ruhte. Davor reihten sich die Kabanen im Sand, das waren jeweils vier Stangen und ein großes Tuch darum. Sie dienten dem Umkleiden. Das »Badeetablissement« mit seinen Kabinen und Duschen war streng in eine Abteilung für Männer und eine für Frauen getrennt. Im Meer zu baden, war für beiderlei Geschlecht nur im Badekostüm gestattet, das Sonnenbad ohne Kostümvorschrift fand wieder nur in getrennten Bereichen statt. Lediglich die Kinder waren tatsächlich frei, sich in Badehose überall aufzuhalten. Voraussetzung: Sie mussten unter zehn Jahre alt sein.

Nach dem Badevergnügen, am späteren Nachmittag, verlagerten sich die Attraktionen auf die Promenaden. Dort flanierten die Herren im feinen Anzug und die Damen in eleganten Kleidern mit Hut und Schirm. Man begegnete und grüßte halb Wien, und man lauschte in den Parks, den Grünanlagen oder dem einen oder anderen Hotel den Konzerten des Kurorchesters. Besonders beliebt: Das Hotel Fonzari, eines der ersten großen Kurhotels in Grado, und das Café Secession am Largo San Grisogono, der Hauptstraße entlang des Strandes. Dort saß man im Freien in der Abendsonne, sah und wurde gesehen.

Am Abend verlagerte sich ein Teil des Lebens wieder zurück zum Wasser. Aber nun besuchte man die Badeanstalt nicht des Badens wegen, sondern wegen des dortigen Restaurants. Die Musik spielte für die Kur- und Badegäste auf, es gab Wein, Pilsener-Bier, österreichische Küche und Tanz – und der dunkle Strand links und rechts der Lokalität war vor allem für Burschen und Mädchen die – sagen wir es einmal so: allergrößte Attraktion. Wo sonst konnte man einander so ungestört und so uneingesehen näherkommen als abseits des lukullischen Treibens, am weiten, finsteren Strand? Nur dem Pfarrer des Städtchens, so wird erzählt, stieß das unmoralische Treiben im Gradeser Sand schon länger sauer auf, bis es ihm eines Tages zu viel wurde. Er setzte 1905 den Bau eines Zaunes durch, der bis heute den Strand mit seinen Liegen und den inzwischen hölzernen Kabanen nach Einbruch der Dunkelheit unzugänglich macht. Über viele Jahrzehnte war der Strand in Grado übrigens der einzige abgesperrte Strand in ganz Italien.

Der Strand vor den Ville Bianchi mit den Badezelten und der alten Badeanstalt

Damals sorgte der neue Zaun bei vielen Gradesern und bei Gästen auch für Empörung. Nicht, weil er den nächtlichen Zugang zum Strand unterband, sondern weil er auch das Flanieren oberhalb des Strandes unmöglich machte: Die Promenade war ja noch nicht gebaut. Und für den Zugang zum abgezäunten Bereich wurde plötzlich Eintritt verlangt.

Die Geschichte vom Kaisertürl hat übrigens ein Gradeser Schlitzohr erfunden, das sich angeblich bis heute darüber freut, dass sie so munter weitererzählt wird.

Bis zu den Knien im Wasser stehen, stundenlang – seit jeher Freude vieler Grado-Reisender

3»Für die Haut gibt’s nur die Adria«

Warum Grado gesund ist, selbst wenn man stundenlang bis zu den Knien im Meer steht und plaudert. Und wie aus dem Fischerdorf überhaupt erst ein See- und Kurbad wurde.

Aber geh, woher denn! Der Zaun zum Strand wurde erst im Ersten Weltkrieg gebaut.« Die ältere Dame, die auf der Couch sitzt und in ihrem Kaffee rührt, will die Geschichte mit dem Pfarrer und den unzüchtigen Kurgästen nicht so ganz glauben. Wenn ihr schon der Glaube ans Kaisertürl zerstört worden ist, durch das in Wahrheit kein Kaiser je gegangen ist. Aber dass der Pfarrer den Zaun errichten ließ, damit nur ja keine Burschen und Mädchen am unbeobachteten Strand in Versuchung kämen …! – »Den Zaun haben sie hingestellt, weil kein Treiben am Strand sein durfte«, sagt sie – die Freundin neben ihr kichert –, »nein, du weißt schon, weil keine Bewegung und kein Licht sein durfte im Krieg und kein, na, kein Treiben halt. Wegen der Schiffe draußen, der feindlichen. Also aus kriegerischen Gründen steht der Zaun da.« Punktum, der Pfarrer ist aus Sicht der alten Dame entlastet, was die Abriegelung des Strandes und die Verhinderung allfälliger Sünden betrifft.

Schräg gegenüber der Villa Erica und der kleinen Bar davor liegt die Villa Stella Maris, das Hauptgebäude der fünf Bianchi-Villen. Mitte Juli ist es auch am späten Nachmittag noch heiß, selbst unter dem Sonnenschirm eines Cafés oder einer Bar. Also haben wir uns mit den vier Damen aus Österreich im Lesezimmer der Villa Stella Maris verabredet. Dort, wo die Gäste üblicherweise Platz nehmen, bevor der Speisesaal geöffnet wird, wo man zwischen alten Schiffsmodellen und Büchern nach dem opulenten Mahl noch einen Grappa nimmt, ehe man zur Ruh’ geht. »Der Eingang, wo Sie reingekommen sind, das wissen Sie eh: Der war früher nicht dort. Der war auf der anderen Seite zum Garten hin, die geschwungene Doppeltreppe. Weil dort, wo er jetzt ist, da war nur Wasser – die Lagune«, sagt eine der Damen zur Begrüßung. Auch das duldet keinen Widerspruch. Und schon sind wir mittendrin in den Erinnerungen. Obwohl: An die Lagune vor der Nicht-Tür können sich auch die Damen nicht erinnern.

Das Haupthaus der Ville Bianchi mit dem früheren Haupteingang zum Garten hin. Heute betritt man das Haus auf der Rückrespektive Vorderseite.

Andrea und Christine Fabrizii, Dorothea Kiesling und Gräfin Susanne Hardegg verbringen seit gefühlt einem halben Jahrhundert Jahr für Jahr ein paar Sommerwochen in Grado. In Wahrheit schon länger, seit ihrer Kindheit und Jugend. Und immer wenn sie auf Sommerfrische an die nördliche Adria gereist sind, haben sich ihre Eltern und später sie selbst in den Ville Bianchi einquartiert. Wie kommt oder kam man auf Grado? »Meine Mutter stammt aus Görz«, sagt eine der Fabrizii-Schwestern. Görz, die ehemals Gefürstete Grafschaft, das Zentrum des Friaul, Kronland und österreichisches Küstenland: In der Monarchie war Görz verwaltungstechnisch auch für Grado zuständig. Görz ist zudem zufällig die Heimat des Barons Leonard Bianchi, des Erbauers der Bianchi-Villen, in denen wir sitzen. »Meine Mutter war schon im Jahr der Eröffnung, 1901 oder 1902, hier bei den Bianchi. Schon als Kind. Ich bin seit 1966 da. Immer im Juli, weil da immer dieselben Leut’ da waren.«

Bei Dorothea Kiesling reicht die Grado-Erinnerung bis 1955 zurück. Damals war sie mit ihren Eltern das erste Mal hier. »Da ist man im September gekommen, ist manchmal im Kaschmirmantel draußen gesessen und hat Eis gegessen. Andere waren immer im Juni da. Nur Juli und August war damals zu heiß.« Die vier Freundinnen waren jedenfalls schon zu Zeiten hier, als die Villen zwar auf ihre Art mondän, aber noch kein Vier-Sterne-Hotel waren. »Eine Tante von mir hat immer gesagt, wenn sie hier angekommen ist: ›Also, Susi, jetzt sind wir wieder im Gasthaus zur 15er-Birn‹«, erinnert sich Gräfin Hardegg – eine Anspielung auf das trübe Licht der 15-Watt-Birnen in den Lampenfassungen auf den Zimmern. »Da konnte man nicht einmal lesen. Alles war eine Improvisation, die Möbel, die Matratzen, wo man nicht wusste, ob man nicht doch lieber auf dem Boden liegt, alles sehr antik …«. Dennoch sind sie immer und immer wiedergekommen, um im Garten zu sitzen und bei einer Flasche Wein Bridge zu spielen. Um »am Corso spazieren zu gehen«. Und um tagsüber dem Badevergnügen zu frönen: »Da waren wir am Strand, jede Familie hatte ihre Kabane, das waren vier Pfeiler mit einem Leinentuch rundherum. Und mein Vater sagte: ›Schau, der Holzhausen geht ins Wasser, da geh’ ich auch.‹ Dann gingen die beiden Herren los und haben sich bis zu den Knien im Wasser stehend unterhalten, uns kam vor, stundenlang, bis sie halb erfroren waren.« Ein Bild, das man heute noch aus dem flachen Wasser am Strand der Adria kennt.

Dabei waren nicht Erfrieren oder Erkranken ein Zweck des Aufenthalts an der Adria, sondern Gesunden. »Grado hat immer schon den Ruf gehabt, zur Heilung aller möglicher Wehwehchen und Leiden beizutragen. Die Luft war gesund, vor allem für die Kinder, und die Sandbäder waren gesund«, sagt Gräfin Hardegg. »Eine Cousine von mir war viel hier, auch deswegen, und dann bin auch ich hier gelandet. Ein Arzt hat damals zu mir gesagt: ›Für die Haut gibt’s nur die Adria.‹«

Sonne, Luft, Meer, Gesundheit – dem Streben danach verdankt Grado überhaupt erst den Aufschwung zum Seebad Ende des 19. Jahrhunderts. Zunächst einmal war die Insel, die nach dem Ende der Republik Venedig (1797) und einer kurzen Herrschaft Napoleons ins Habsburgerreich eingegliedert wurde, ein kleines Fischerdorf. Keine vier Hektar groß, hatte Grado nur einen Bruchteil seiner heutigen Fläche, der Rest waren Lagune und Sumpfland.

Aber Grado hatte vor allem etwas: Sand, nahe dem Dorf mit seinen Steinhäusern und winkeligen Gassen ebenso wie auf schier unendlichen Sandinseln entlang der Lagune. Der Sand wurde zum Teil weggetragen und zum Bauen in Triest verwendet. Er lockte jedoch schon Mitte des 19. Jahrhunderts Einheimische, aber auch bereits erste Gäste an, die am adriatischen Meer Erholung suchten. »Schon vor 1848 und bis zum Jahre 1868 errichteten die Bürger von Grado, mit der Genehmigung der Stadtbehörden, Bade- und Umkleidekabinen auf dem Strand«, heißt es in einer lokalen Aufzeichnung. Den Stadtbehörden stand damals Bürgermeister Giacomo Scaramuzza vor, der selbst die erste Kabine auf den Strand gesetzt und damit so etwas wie ein erstes Seebad-Gefühl begründet haben soll. Kleine Herbergen, locande, mit ein, zwei Zimmern folgten. Schon 1868 wurde die erste echte Badeanstalt errichtet.

Zwei Jahre zuvor hatte Venedig nach 70 Jahren das Haus Habsburg verlassen und war dem neu gegründeten Königreich Italien beigetreten. Venetien und die Strände im Westen waren damit für die Monarchie verloren, Badegäste begannen, sich nach neuen Sonnenflecken umzusehen. Auch wenn Grado damals noch keinen überzeugenden Ruf hatte: »Heute ist Grado ein Ort mit verstreuten, schlecht gebauten und schlecht gelüfteten Fischerhütten, die gegen die Sturmwellen durch einen vor 30 Jahren begonnenen und nur zur Hälfte aufgebauten Damm geschützt werden; dahinter ein schäbiger Kirchturm, auf dessen Spitze ein Bronzeengel steht, der mal eine Feder, mal einen Finger verliert und daher zu einer Gefahr für die Vorübergehenden geworden ist. Das ist das heutige Grado, das arme Grado, das mit Wassermelonen und Fischgeräten erfüllte Grado, das sich rühmt, den Sand für die Zementierung des Mauerwerks von Triest zu liefern«, schrieb der Schriftsteller Ippolito Nievo 1856 in seiner Novelle Die Zauberinnen von Grado. Gewidmet hat er sie den Badenixen der Badekabine Nr. 5, wie Marino De Grassi, Historiker und Autor, in einem feinen Essay in dem Buch Ritorno a Grado erzählt.

Die Stefaniestraße in der Altstadt um die Jahrhundertwende

Ein halbes Jahrhundert später sollte der Sand, der »für das Mauerwerk in Triest« aus Grado fortgeschafft wurde, übrigens zu einer kleinen Revolution führen. Die Gradeser beanspruchten seit jeher das Recht, Sand zu »schürfen« – für sich selbst. Die Regierung sah das seit jeher anders. Sie schickte Schiffe aus Triest, Piran und sonstwo, um den wertvollen Sand abzuholen. Als eine Segelbarke aus Piran im Auftrag der k. u. k. Seebehörde wieder einmal Sand von einer der Bänke vor Grado lud, reichte es einigen aufgebrachten Gradesern. Sie kaperten das Schiff der Sandräuber, die flüchten konnten, und brachten deren Barke in den Hafen von Grado, wo sie die Zufahrt mit schweren Ketten versperrten.

Der Streit um den Sand sollte über Jahrzehnte fortdauern. Das schlechte Bild Grados, wie es besagter Schriftsteller zeichnete, änderte sich aber sehr bald. Vor allem dank einer Entdeckung: der Heilkraft der Gradeser Seeluft.