Gut gelaufen - Eva Masel - E-Book

Gut gelaufen E-Book

Eva Masel

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  • Herausgeber: edition a
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Der Abschied von dieser Welt kann auf wundervolle Weise gelingen. Eva Masel hat das oft erlebt. Die Leiterin der Palliativmedizin am Wiener Allgemeinen Krankenhaus erzählt in diesem Buch von solchen Abschieden, von Liebe, Hoffnung, Vergebung und Dankbarkeit. Dabei gibt sie Hinweise, was wir tun können, damit auch unser Leben bis zu unserer letzten Stunde glückt.

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Seitenzahl: 203

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GUT GELAUFEN

Eva Masel

Gut gelaufen

Alle Rechte vorbehalten

© 2023 edition a, Wien

www.edition-a.at

Cover: Anna-Mariya Rakhmankina

Satz: Bastian Welzer

Gesetzt in der Premiera

Gedruckt in Deutschland

12345—26252423

ISBN 978-3-99001-708-1

eISBN 978-3-99001-709-8

EVA MASEL

Gut gelaufen

Schöne Abschiede vom Leben

edition a

Für Lilith und Romy

Inhalt

Der Tod geht uns alle an

Was ist Palliativmedizin?

Mein persönlicher Weg

Wir sind sterblich

Vorstellungen von Sterben und Tod

Über Sterben und Tod sprechen

Trauer

Was ist ein schöner Tod?

Wie ich als Ärztin mit dem Tod umgehe

Die Zeit, die bleibt: Vorausschauende Planung

Sterben, wie geht das?

Lebens- und Sterbeamme

Zehn Dinge, die für Menschen am Lebensende wichtig sind

Sehnsüchte

Die Seelsorgerin Christiane

Die Macht der Gewohnheit

Jeder Mensch ist einzigartig

Was Sie für Sterbende tun können

Die großen Fragen

Das letzte Weihnachten

Wann und wie sprechen wir mit den Patienten über den Tod?

Kommunikation

Wie können Sie am Lebensende mit Krisen umgehen?

Jeder Mensch ist einem anderen Menschen zumutbar

Gedanken zur Sterbehilfe

Palliative Sedierung

Das Team

Ehrenamtliche Mitarbeitende

Die diplomierte Krankenschwester Alexandra erzählt von ihrer Arbeit

Die richtigen Worte finden

Mit Kindern über den Tod sprechen

Sterben im Wandel der Zeit

Was bleibt?

Sterben zulassen

Sag mir Beschauer, wer war König, wer war Bettler, wer war Bauer

Gemeinschaft

Brauchtum

Ins Gespräch gehen

Welche Erinnerungen haben Sie?

Wie ist Palliativmedizin in Österreich organisiert?

Die Betreuung auf der Palliativstation

Danke an …

Der Tod geht uns alle an

Die Welt ist voller Erzählungen über den Tod. Sterben und Tod sind – in abstrakter Form – gern gesehene Gäste in unserem Leben. Krimis, Thriller und True Crime sind beliebt, Dramen auf der Bühne faszinieren. In kaum einer Opernvorstellung gibt es keine Sterbeszene. Solange der Tod nicht in unser Privatleben dringt, ist er noch weit genug entfernt. Sobald sich Drama einschleicht und wir uns mit unerwarteten Situationen konfrontiert sehen, blocken wir ab.

Der Tod ist eine Tragödie, verstärkt Emotionen, verdeutlicht Konflikte, löst Knoten. Ist das Lebensende gekommen, führt kein Weg zurück. Der Tod ist kein Nebenschauplatz. Unser Verhältnis zu ihm ist gespalten und voller Geheimnisse. Sterben ist Begegnung, Identität, Realität, Mysterium, Verlust. Die Vorstellung vom Tod kann bedrohlicher sein als die Wirklichkeit.

Es liegt Poesie im Lebensende, da das Leben dadurch bedeutend wird. Einen Toten können wir nichts mehr fragen. Wie wird es einmal sein, wenn es zu Ende geht? Fragen wir uns das nicht alle zu einem bestimmten Zeitpunkt unseres Lebens?

Ein Maler, der vor seinem Tod ein schwarzes Bild noch weiß übermalen will. Eine Familie, die sich mit kleinen Gießkannen aufmacht, um das Grab einer verstorbenen Gartenliebhaberin zu pflegen. Eine verstaubte Schallplattensammlung, die durch den Tod eines Menschen an Kostbarkeit gewinnt. Den Klang der Stimme eines Menschen einzufangen, ein letztes Glas Champagner, ein Ausflug zu einem Fußballmatch, eine letzte Reise ans Meer, das Verfassen von Abschiedsbriefen. All das erleben wir in der Begegnung mit sterbenden Menschen.

Dass jemand eine Steuererklärung abgeben oder den Arbeitsplatz aufräumen möchte, erleben wir eher selten. Sterben ist emotional und entzieht sich einer klaren Logik. Alles, was lebt, ist vergänglich.

Es liegt eine große Verantwortung darin, in die Leben sterbender Menschen einzutauchen. Schöne Momente finden sich abseits jeder Vernunft und entstehen dadurch, dass wir einander auf Augenhöhe begegnen. Am Lebensende findet Austausch statt. Einander zu begegnen, kann bedeuten, dass die Zeit stillsteht, dass das Hier und Jetzt gegenwärtiger ist als das Gestern oder Morgen. »Aus der Wanduhr tropft die Zeit«, bemerkte Erich Kästner. Es gibt keine allgemein gültige Wahrheit, was den Tod betrifft.

Sterben können wir nicht in Kursen erlernen oder üben, was nicht bedeutet, dass wir uns nicht vorbereiten können. Wir können, was den Tod betrifft, nicht sagen: »Ich kenne das nächste Kapitel, denn ich bin der Autor.« Wir sterben alle zum ersten Mal. Doch wer sich mit dem Tod auseinandersetzt, endet nicht in einer Sackgasse. Es gibt mehrere Wege des Sterbens und zum Sterben hin. Über den Tod ist viel gesagt. »Philosophieren heißt Sterben lernen und Sterben lernen heißt Leben lernen«, behauptete etwa der Philosoph Michel de Montaigne.

Der Tod ist ein schwer zu vertonendes Lied. Der Begriff »Memento mori« stammt aus dem antiken Rom und bedeutet wörtlich übersetzt »Bedenke, dass du sterben musst«. Bei Triumphzügen musste ein Sklave hinter dem siegreichen Feldherrn sitzen. Der Sklave hielt einen Gold- oder Lorbeerkranz über den Kopf des Siegers und mahnte ihn ununterbrochen mit den folgenden Worten: »Bedenke, dass du sterben wirst.« (Memento mori.) und »Bedenke, dass du ein Mensch bist.« (Memento te hominem esse.)

Dennoch bleiben Sterben und Tod abstrakt. Wir begleiten in unserem Leben wenige Menschen beim Sterben, persönliche Erfahrungen lassen sich für gewöhnlich an einer Hand abzählen. Die menschliche Mortalität liegt bei hundert Prozent. Wir sind sterblich und werden sterblich bleiben.

Die folgenden Erzählungen sind keine Beschönigungen oder Romantisierungen von Sterben und Tod. Sie sollen zeigen, dass das Lebensende häufig friedlich verläuft. Das Sterben ist ein Prozess, nicht immer verläuft es ruhig und unaufgeregt. Mehr darüber zu erfahren, kann Angst nehmen. Die Schilderungen sollen dem Tod ein wenig von seiner Bedrohlichkeit nehmen.

Nicht jeder Mensch macht schöne Erfahrungen und es gibt keine allgemeingültige Wahrheit, was das Lebensende betrifft. Dass Schmerz und Trauer bleiben, daran ändert auch ein »schöner« Tod nichts. Die Endgültigkeit des Todes schmerzt. Auch ein schöner Tod hat kein Happy End. Jeder Mensch ist einzigartig, in jedem Leben und in der Vergänglichkeit selbst liegt Bedeutung.

Der Tod kann uns in die Enge und in Verzweiflung treiben, er kann uns ebenso sensibilisieren und weich und aufnahmefähig machen. Sterben und Tod sind vieles, Übergang, Verlust, Geschenk, Schmerz, Erlösung. Der Tod kann auch Errungenschaft sein. Auf den Tod können wir zählen, er kommt bestimmt.

Was ist Palliativmedizin?

Erfahrungsgemäß verbinden sowohl die Gesellschaft als auch medizinische Fachleute die Palliativmedizin in erster Linie mit der Betreuung am Lebensende. Viele nehmen Palliativmedizin als eine Disziplin wahr, die erst zum Zug kommt, wenn alles andere versagt hat. Für die meisten ist es unmittelbar mit dem Sterben assoziiert, wenn jemand »palliativ« ist.

Der Ausdruck »palliativ« stammt von den lateinischen Wörtern »pallium« (Umhang, Mantel) beziehungsweise »palliare« (mit einem Mantel umhüllen) ab, was auf eine schützende und umfassende Fürsorge hinweist. Die Definition der Weltgesundheitsorganisation für »Palliative Care« lautet wie folgt: »Palliative Care ist ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patientinnen und Patienten und deren Familien, die mit Problemen konfrontiert sind, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen: durch Vorbeugen und Lindern von Leiden, durch frühzeitiges Erkennen, untadelige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen belastenden Beschwerden körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art.«

Im Rahmen einer schweren Erkrankung lässt sich viel an Lebensqualität gewinnen, indem wir neben der Erkrankung auch Begleiterkrankungen und Lebensumstände berücksichtigen, in einem Team aus unterschiedlichen Berufsgruppen zusammenarbeiten, die Betroffenen umfassend betreuen und ihre Symptome exzellent behandeln, auch wenn keine Heilung möglich ist. Lebensqualität bedeutet für jeden Menschen etwas anderes.

Lebensqualität bis zum letzten Moment meint, dass wir die Möglichkeit haben, unsere individuellen Bedürfnisse zu äußern. Dass wir die Freiheit haben, das zu erleben, was uns selbst wichtig ist. Es ist ein Teil von »Palliative Care«, dass das Palliativteam sich »kümmert«. Das passt zu dem häufig verwendeten Begriff »Palliative Care« anstatt »Palliativmedizin«, was darauf hinweist, dass eine solche Betreuung über rein medizinische Aspekte hinausreicht.

Durch die Zusammenarbeit unterschiedlicher Berufsgruppen können wir viel erreichen. Neben Pflegepersonen und dem ärztlichen Personal arbeiten in einem Palliativteam Psychologen beziehungsweise Psychotherapeuten, Sozialarbeiter, Diätologen, Physiotherapeuten und Ergotherapeuten, Seelsorgende und Ehrenamtliche. In dieser Zusammenarbeit liegt viel Potential. Wir nutzen die Intelligenz der Gruppe. Das Miteinander unterschiedlicher Berufsgruppen und ein individueller Plan erzielen erfahrungsgemäß das beste Ergebnis. Zugleich sind wir offen für die schwierigen Fragen des Lebens, wozu auch Sterben und Tod zählen, aber zentral ist das Leben selbst.

Mein persönlicher Weg

Es ist viele Jahre her, dass ich die Palliativstation des »Allgemeinen Krankenhauses Wien« (kurz: AKH) zum ersten Mal betrat. Ich war eingeschüchtert und auch ein wenig besorgt. Das Allgemeine Krankenhaus Wien ist ein großer architektonischer Klotz mitten in der Stadt mit etwa 1.700 Betten. Es ist in Bezug auf die Größe sehr eindrucksvoll und mit Spitzenmedizin verbunden, und zugleich mutet der Gedanke widersprüchlich an, dass auch hier, wo alles auf das Überleben ausgerichtet ist, die letzten Dinge anklopfen. Sollte man dem Tod an einem Ort, wo alle Möglichkeiten zur Verfügung stehen, nicht ein Schnippchen schlagen?

Mit einer Palliativstation verband ich Natur, Ruhe, eine Lichtung, einen faszinierenden Ort. Andersartigkeit, die mich neugierig machte. War so etwas hier möglich? Beworben hatte ich mich während der Zeit, als ich als junge Turnusärztin im Operationssaal beim orthopädischen Hüftersatz assistierte, eine eher monotone Tätigkeit, bei der meine Aufgabe primär darin bestand, ein Bein zu halten. Unter der Maske fühlte ich mich unsichtbar. Ich spürte, dass ich hier nicht richtig war. Ich war voller Neugierde und meine Sehnsucht lag in der Umsetzung all der Ideale, derentwegen ich Medizin studiert hatte. Anamnese, Untersuchung, Diagnose, Zuwendung, Menschlichkeit, Abwechslung, Spannung.

So überlegte ich, was mich im Rahmen des Medizinstudiums berührt hatte, was mir nahe gegangen und in Erinnerung geblieben war. Mir fiel die Palliativ-Vorlesung im fünften von sechs Studienjahren ein. Im Rahmen dieser Vorlesung wurden die Patienten zu Menschen und ihre Geschichten waren so prägend und lebendig, dass es still im Hörsaal wurde. So versuchte ich es, bewarb mich bei der Abteilung für Palliativmedizin am Allgemeinen Krankenhaus Wien und bekam die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch. Der Leiter der Abteilung, dessen Vorlesung es war, die mich so beeindruckt hatte, war groß gewachsen, freundlich und zugewandt. Später vertraute er mir an: »Ich hatte Bedenken bei jenen, die sich wegen der eigenen privaten Sterbegeschichten in der Familie bewarben, ob sie das Fach auf Dauer aushalten.«

Ich erzählte ihm von meiner Abschlussarbeit über den Umgang mit Sterben und Tod im Buddhismus und einem damit verbundenen Forschungsaufenthalt in Nepal, das zwischen Indien und Tibet liegt. Außerdem berichtete ich von meinem Eindruck, dass in Medizinsystemen im Osten, wo weniger moderne technische Möglichkeiten zur Verfügung stehen, der philosophische Zugang zu Sterben und Tod präsenter ist als in Medizinsystemen im Westen. Und ich berichtete von den im Lehrbuch für tibetische Medizin beschriebenen sechs ärztlichen Tugenden: Großzügigkeit, Geduld, Disziplin, Enthusiasmus, Konzentration, Weisheit.

Auch ich hatte eine private Geschichte, die mich prägte. Als ich neunzehn Jahre alt war, starb meine Mutter in einem steirischen Krankenhaus an Bauchspeicheldrüsenkrebs. Wir beide waren allein in ihrem Krankenzimmer. Als die Ärztin das Zimmer betrat, um den Tod meiner Mutter festzustellen, sagte sie im tiefsten steirischen Dialekt zu mir: »Und? Gsturbn?«

Die Unbeholfenheit der Ärztin ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Wenn ein geliebter Mensch stirbt, sollte jemand da sein, der das aushält. Ich hätte mir jemanden gewünscht, der mir das Seil reicht, ohne dass wir gemeinsam in den Abgrund stürzen.

Ich wollte keine Ärztin werden, der das Sterben fremd ist.

Als ich mich zum ersten Mal auf den Weg zur Palliativstation des AKH machte, fuhr der Lift zügig in den 17. Stock. Ich hatte als eher rational geprägte Ärztin die Gedanken: Was erwartet mich dort? Weinende Menschen? Trauernde Angehörige? Ein besonders heiliges Team? Wut auf den Tod? Besonnenheit? Überforderung? Banalität? All diese Gedanken liefen ungeordnet ab und schon war der Aufzug angekommen.

Die Station war freundlich gestaltet, der Boden glänzte hell, die Türen waren verglast. Es kehrte schlagartig ein Gefühl von Ruhe ein. Die Aussicht aus dem Ärztezimmer bot einen Blick über Wien, wie er aus einer anständigen Arztserie zu erwarten wäre. Manchmal reiche die Sicht bis zum Schneeberg in Niederösterreich, sagte mir das Team.

Sie teilten mir mit, dass es hier zwölf Betten gebe, vier Doppelzimmer und vier Einzelzimmer. Das schien mir eine geringe Anzahl an Betten zu sein. Jahre später weiß ich, dass es angemessen ist, dass eine Palliativstation klein ist. Das Leben der Menschen und ihre Biografien breiten sich hier in einer Weise aus, die Intimität braucht.

Verschiedene Berufsgruppen waren vertreten. Die Physiotherapeutin führte eine Patientin mit dem Rollator über den Gang, der Psychologe saß in einem auffällig bunten Hemd mit Familienangehörigen in einer Ecke. »Das ist unser Dorfplatz«, erfuhr ich. Ein interessanter Name, klingt gesellig, dachte ich.

Im Nachhinein erzählte mir die Seelsorgerin, ich sei einen Schritt zurückgetreten, als sie mir bei der Begrüßung mitteilte: »Ich bin hier die Seelsorgerin«. Universitätsklinik und Spiritualität, ist das möglich? Was sie nicht wusste, war, dass ich das »Vaterunser« nach acht Jahren Klosterschule wohl ein Leben lang auf Latein aufsagen werde können.

Die Pflegenden eilten schnellen Schrittes über den Gang. Hier jagte das Leben den Tod. Es wirkte, als gäbe es keine Zeit zu verlieren, und doch ging es nicht hektisch zu. Die Stationsschwester Anna begrüßte mich, sie hatte kurze graue Haare, leuchtend blaue Augen und strahlte Gemütlichkeit und Warmherzigkeit aus.

»Bei uns wird einem nicht fad!«, versprach sie. Die Stimmung gefiel mir, ich konnte mir vorstellen, von nun an hier zu arbeiten. Die einzelnen Persönlichkeiten strahlten in ihrer Unterschiedlichkeit eine Atmosphäre aus, als befände ich mich in einem Film. »Wissen die hier alle, wie das Sterben funktioniert?«, dachte ich. »Die schauen eigentlich ganz fröhlich aus«, war ebenso mein Empfinden. Ich trat die Stelle an.

Wir sind sterblich

Pro Jahr sterben in Österreich etwa 90.000 Menschen. Etwa zehn bis zwanzig Prozent jener 90.000, folglich zwischen 9.000 und 18.000 Menschen, brauchen eine spezialisierte palliativmedizinische Betreuung. Derzeit stehen in Österreich etwa 500 Hospiz- und Palliativbetten zur Verfügung.

Leider ist der Tod noch immer ein Tabuthema. Das legt nahe, dass wir mehr darüber sprechen sollten, denn wir kommen hier nicht lebend raus. Diese Erkenntnis ist wichtig, um auch in den letzten Tagen die Lebensqualität so hoch wie möglich zu halten und das eigene Lebensende nicht dem Zufall zu überlassen.

Jeder, der selbst mit dem Sterben eines Angehörigen oder Freundes konfrontiert war, weiß, wie bedeutend Information ist. Nicht umsonst nennen wir sie »An- und Zugehörige«. Wichtig sind auch jene, die zum Umfeld eines Menschen zählen. Eine solche Situation überfordert, das Thema ist so überbordend, dass wir nicht wissen, wo wir beginnen sollen. An wen sollen wir uns wenden? Wer kennt sich aus? Wer hilft? Wer unterstützt? Daher ist es von großer Bedeutung, schwer kranke Menschen und ihr Umfeld rechtzeitig darüber aufzuklären, dass sie Hilfe benötigen werden und dass es Unterstützung gibt.

Wo positionieren wir Hoffnung? Wie treffen wir Entscheidungen? Stecken wir in einer fachlichen oder medizinischen Rolle fest? Sind wir zu betroffen, um authentisch zu bleiben? Wie kommunizieren wir über Sterben und Tod? Wie ermöglichen wir Vorbereitung?

Wer anderen Halt geben möchte, braucht selbst Halt. Es ist von Vorteil, mit beiden Beinen auf der Erde zu stehen und nicht Träumereien nachzuhängen, wenn man sterbende Menschen begleitet. Zugleich ist ein einfühlsames Wesen von Bedeutung, um Menschen am Lebensende ein Gefühl von Geborgenheit zu vermitteln. Es ist maßgeblich, die eigene Verletzlichkeit zuzulassen, ohne dabei selbst zu sehr verletzt zu werden. Denn verletzte Helfer halten nicht lange durch. Mitgefühl stimuliert, während Mitleid eher lähmt.

Zur Begleitung Sterbender gehören Mut und Wissen. Professionalität und Gespür schließen einander hierbei nicht aus. Das Besondere bei der Betreuung von Menschen am Lebensende ist, dass immer wieder bedeutende Momente zustande kommen und Unerwartetes geschieht.

Menschen sterben weltweit an unterschiedlichen Orten, unter verschiedenen Umständen und Bedingungen in anderen Umgebungen. Die Betroffenen, von denen ich hier erzähle, waren in palliativer Betreuung. Das bildet nur einen kleinen Teil von Leben und Sterben ab, umfasst aber den Bereich, in dem wir uns intensiv schwer kranken Menschen und ihrem Erleben widmen.

Das französische Sprichwort »Guérir quelquefois, soulager souvent, consoler toujours« (Heilen manchmal, lindern oft, trösten immer) weist darauf hin, dass die Medizin ihre Grenzen hat und wir die Tatsache akzeptieren müssen, dass nicht alle Krankheiten geheilt werden können.

Zugleich verdanken wir mit Blick auf die Geschichte viele Fortschritte einem humanistischen Zugang und die Medizin konnte sich unter anderem durch die detaillierte Auseinandersetzung mit Einzelschicksalen weiterentwickeln. Prägende Momente stehen für sich. Einige möchte ich hier erzählen.

Vorstellungen von Sterben und Tod

Sterben und Tod betreffen uns alle, gleichzeitig gibt es aber kaum Erfahrungsberichte, sondern in erster Linie Beobachtungen von außen. Wir Menschen haben unterschiedliche Vorstellungen von Sterben und Tod. Somit sind vorgefertigte Weisheiten nicht allgemeingültig, da verschiedene Erfahrungen und Konzepte mit Bezug auf das Sterben und den Tod existieren. Es kann hilfreich sein, dass wir uns Gedanken machen oder andere auf deren Vorstellungen ansprechen. Was kommt nach dem Tod? Gibt es ein Jenseits? Was geht? Was bleibt?

Patienten sind nicht ausschließlich Patienten, sie sind Menschen, Familie, Freunde, Verwandte, Vertraute, Geliebte und mehr. Im Laufe der folgenden Geschichten werde ich sie wiederholt als Patienten bezeichnen, da das aus medizinischer Perspektive eine geläufige und alltägliche Formulierung ist. Ich möchte betonen, dass jeder einzelne Mensch mehr ist als »nur« ein Patient. Das macht unsere Welt vielfältig. Auch die zwei Quadratmeter eines Spitalszimmers berauben einen Menschen nicht seiner individuellen Lebensgeschichte. Die folgenden Erzählungen sollen dazu inspirieren, sich mit etwas zu konfrontieren, das unfassbar oder unaussprechbar erscheint. Sterben und Tod sind real und passieren jeden Tag. Es lohnt sich, vorbereitet zu sein!

ein baum werden

vögel zu gast haben

das wär was

worauf man sich freuen könnte

schöner tot sein,Elfriede Gerstl

Laura

Kurt Cobain, Jimi Hendrix, Janis Joplin, Amy Winehouse, Jean-Michel Basquiat, sie alle gehören dem sogenannten »Club 27« an und sind mit 27 Jahren gestorben.

Es gibt Menschen, die auf ewig im Herzen bleiben.

Der Visitenwagen, in dem die Fieberkurven aller Patienten mitgeführt werden, rollte über den Gang in Richtung der vier Einzelzimmer der Palliativstation.

Laura lag in einem dieser Einzelzimmer. Als wir im Team das Zimmer der jungen Frau zum ersten Mal betraten, hatten wir bereits einige Vorinformationen. Das kann zwar einerseits medizinisch wertvoll sein, andererseits aber Distanz schaffen, da wir dazu geneigt sind, uns auf medizinische Fakten zu konzentrieren, auch wenn andere Dinge im Vordergrund stehen. Die Ziele und Bedürfnisse der Patienten können vielmehr persönlicher als medizinischer Natur sein.

Beim Betreten eines Zimmers besteht immer eine gewisse Grundstimmung. In diesem Fall war es Betroffenheit. Der Grund, dass Laura auf die Palliativstation kam, war zunehmende Luftnot. Die junge Frau war mit 27 Jahren an Lungenkrebs erkrankt.

Lungenkrebs ist in Österreich mit etwa 5.000 Neuerkrankungen pro Jahr bei Frauen und Männern die zweithäufigste Krebserkrankung. Zigarettenkonsum ist der wichtigste Faktor zur Entstehung, aber auch Nichtraucher können betroffen sein. Laura hatte nie geraucht. Im Tumorgewebe fand sich eine genetische Mutation, die junge Patientin erhielt eine zielgerichtete Behandlung unter Ausschöpfung aller Möglichkeiten der modernen Medizin. Dennoch schritt die Krebserkrankung fort und bildete Metastasen.

Die Visite auf einer Palliativstation unterscheidet sich von der klassischen medizinischen Visite in erster Linie dadurch, dass die begrenzte Lebenszeit mitschwingt. Das macht einen anderen Zugang erforderlich. Die großen Fragen des Lebens sind spürbar, selbst wenn sie nicht zur Sprache kommen.

Nicht selten verfolgen wir in der Medizin der Grundsatz »Patients don’t ask, doctors don’t tell.« (Patienten fragen nicht, Ärzte sagen nichts.) Wenn schwer kranke Menschen nicht nach ihrer Prognose oder ihrer Lebenserwartung fragen, bedeutet das aber nicht unbedingt, dass wir von ärztlicher Seite aus darüber schweigen sollen. Erfahrungsgemäß hilft die Einladung zu einem Gespräch und eröffnet neuen Raum für Betroffene und Betreuende. Wir können die Plattform der Wahrheit anbieten, hinaufsteigen müssen die Menschen selbst.

Laura saß aufrecht im Bett, sie war blass und machte aufgrund ihrer Atemnot immer wieder Sprechpausen. Auch ihr Herzbeutel war von der Erkrankung befallen, wodurch sie Wassereinlagerungen in den Beinen hatte. Lauras Freund Oliver saß am Rand des Besucherbettes, das wir in ihr Zimmer geschoben hatten, damit er bei ihr übernachten konnte. Die beiden sahen jung und verliebt aus.

Ihre erste Frage war: »Wann bekomme ich meine nächste Chemotherapie?« Das kam nicht unerwartet, da Betroffene meist in Etappen denken und im Rahmen einer onkologischen Therapie darauf eingestellt sind, dass sie einige Zyklen an Therapie erhalten und es darauffolgende Untersuchungen gibt, ob die Therapie gewirkt hat. Bei Laura war der Lungenkrebs unter Therapie fortgeschritten, weswegen sie bereits mehrere unterschiedliche Therapielinien erhalten hatte.

»Wollen Sie darüber sprechen, wie es weitergehen kann?« Sie willigte ein.

Ihr behandelnder Onkologe teilte ihr mit, dass es kaum mehr eine therapeutische Option geben würde. Natürlich fällt ein Gespräch über eine Beendigung der gegen den Krebs gerichteten Therapie schwer, insbesondere bei einer so jungen Frau. Es fühlt sich leichter an, weiterhin etwas gegen die Erkrankung zu tun, dazu gibt es den Ausdruck »mit wehenden Fahnen untergehen«.

Die medizinische Sprache ist hierbei nicht schonend, wir sprechen von einem »Kampf gegen die Erkrankung«, von »aggressiver Therapie«, von einem »galoppierenden Verlauf«, von »austherapiert sein«. Eine renommierte Onkologin sagt stets zu ihren Patienten: »Onkologie ist Krieg!« Ein Kampf, der im eigenen Körper ausgetragen wird, betrifft nie ausschließlich den Körper, sondern hat Auswirkungen auf Körper, Geist und Seele. Jenseits des Kampfes liegt das zutiefst private Empfinden eines Menschen.

Vielleicht ist es wie auf dem Fußballplatz und es gibt für einen Betroffenen unterschiedliche Positionen: Stürmer mit offensivem Umgang, vorbereitender Mittelfeldspieler, abwartender und kontrollierter Tormann. Frieden kann bedeuten, dass jemand geheilt wird. Frieden kann aber auch bedeuten, dass jemand, auch wenn keine Heilung möglich ist, gut aufgehoben ist. Laura war bereits sehr geschwächt und ihre Krebserkrankung war weit fortgeschritten.

Sie hatte die angebotene Plattform der Wahrheit betreten und stellte die Frage aller Fragen: »Wie lange werde ich noch leben?«

Diese Frage lässt sich nicht exakt beantworten, wir können darauf nur ehrlich reagieren, indem wir von Wochen, Monaten oder Jahren sprechen. Bei Laura waren es aus medizinischer Perspektive aller Voraussicht nach Tage bis wenige Wochen. »Was sagt denn Ihr Bauchgefühl, wie es weiter geht?«, fragte ich sie.

»Ich weiß, dass ich nicht mehr viel Zeit habe, eigentlich möchte ich nach Hause«, antwortete sie.

»Sie haben den Eindruck, dass Ihre Zeit kostbar ist und Sie sie in Ihrem häuslichen Umfeld verbringen möchten. Wollen Sie wissen, was wir denken? Dürfen wir offen und ehrlich sprechen?«

»Ja!«, sagte sie. Ein klarer Auftrag.

»Aus unserer Sicht handelt es sich wahrscheinlich um wenige Wochen.« Das war eine eher optimistische Aussage, da es auch mir schwer fiel, diese Annahme auszusprechen.

Sie antwortete: »Ich hätte mit weniger gerechnet!«

Daran ist erkennbar, dass die Betroffenen selbst oft viel mehr wissen, als wir glauben. Selten werden diese Gedanken in Worte umgewandelt und ausgesprochen. Passiert es, führt es meist zu Klarheit und Entlastung. Unser Gespräch näherte sich dem Ende. »Nach dem, was Sie uns mitgeteilt haben, planen wir Ihre Entlassung nach Hause. Wie klingt das für Sie?«

Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht und im Laufe des nächsten Tages war ihre Erleichterung darüber spürbar, dass nun ausgesprochen war, was so lange ungesagt geblieben war. Die begrenzte Zeit kann wie ein großer Elefant im Raum sein, der kaum zu ignorieren ist. Am nächsten Tag erhielt sie einen Heiratsantrag von ihrem Freund Oliver.

Die Medizin sollte wieder lernen, den Patienten die Möglichkeit zu geben, ihre Wünsche zu äußern.

Bestimmen wir in der Medizin zu hundert Prozent, was zu geschehen hat, bleibt den Betroffenen selbst wenig Raum. Das bedeutet selbstverständlich nicht, die medizinische Betreuung zu überantworten. Anstatt eines Therapierückzuges erfolgte bei Laura eine Therapiezieländerung, die ihrem Wunsch entsprach. Sie sagte: »Ich möchte nach Hause und keine Chemotherapie mehr machen. Bitte erklären Sie das meinen Eltern, die tun sich wahrscheinlich schwer damit!«

Viele schwer kranke Menschen nehmen gegen den Tumor gerichtete Therapien in Anspruch, um ihren Angehörigen das Gefühl zu vermitteln, nicht aufzugeben. Eine solche Behandlung bedeutet, es geht weiter, das Umfeld darf hoffen.

Umso wichtiger ist die Aufklärung darüber, was realistisch von einer gegen den Tumor gerichteten Therapie zu erwarten ist und was geschehen kann, wenn Patienten eine Therapie beenden. Sinnvoll ist es, sich dafür gemeinsam an einen Tisch zu setzen.

Im Beisein der Eltern von Laura veranstalteten wir eine sogenannte »Familienkonferenz«, wo das ärztliche und pflegerische Team, Laura, ihre Eltern und ihr Freund zusammenkamen, damit wir auf Fragen eingehen und gemeinsam besprechen konnten, wie es weitergehen sollte.

Das war ihr wichtig, da sie befürchtete, ihre Eltern könnten ihren Entschluss, keine gegen den Tumor gerichtete Therapie mehr machen zu wollen, bedauern. Aus dem Gespräch ging hervor, dass es der Wunsch der jungen Frau war, dass ein mobiles Palliativteam sie zu Hause betreute und dass sie ihre Hochzeit planen konnte, zugleich mit der Möglichkeit, auf die Palliativstation zurückkommen zu können, sollte das erforderlich sein.

Ihre Eltern sprachen nicht viel, sie hatten Tränen in den Augen, respektierten ihren Wunsch und sagten: »Es soll so sein, wie Laura es möchte.«

Im Rahmen des Gespräches äußerte Laura: »Ich glaube zwar nicht an den Himmel. Aber wenn es einen Himmel gibt, ist er hier.« Daraufhin mussten drei Mitglieder aus dem Palliativteam weinen, wohingegen Laura diesen Satz völlig ohne Tränen aussprach. Sie wirkte in sich ruhend und ausgeglichen. Nach dem Gespräch meinte Lauras Mutter: »Das Gespräch hat mir sehr geholfen, weil ich Laura in ihren letzten Tagen zur Seite stehen kann und wir über so vieles noch reden konnten.«