Gut geschienen, Mond! - Louise M. Moran - E-Book

Gut geschienen, Mond! E-Book

Louise M. Moran

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Beschreibung

Die Studienabbrecherin Helena tritt nach dem Verlust ihres Übergangsjobs eine Stelle bei zwei alten Damen an und zieht zu ihnen aufs Land. Gerade als sie sich an die Ruhe des Dorfidylls und die gepflegte Langeweile gewöhnt hat, verschwindet in der Nachbarschaft ein junges Mädchen. Blinder Aktionismus bricht unter den Anwohnern aus, und infame Verdächtigungen erschweren das Zusammenleben. Ein humorvoller, melancholischer Roman, in dem eigentlich nicht viel passiert. Eigentlich ...

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Inhalt

Die Törin sucht das Tor

Emilie

Alltag

Das Seidentuch

Froschprinz gesucht

Rosenknospe

Schnürsenkel und Polterabend

Luftiges Lungern

Elisabeth

Verschwunden

Nachlese

Märchenstunde

Auf der Bettkante

Geständnisse

Wandmalerei

Einen an der Waffel

1. Die Törin sucht das Tor

L uisenstraße 76. Die Adresse klang hübsch – ein wenig altmodisch, solide. Es war die Anschrift von zwei alten Damen. Wenn ich das Haus gefunden hätte, wäre ich restlos begeistert gewesen. Ich stand jedoch vor der Nummer 74, neben der lediglich eine teilweise mit undefinierbarem Gebüsch überwachsene Mauer von beachtlicher Länge und Höhe zu sehen war. Eine Pforte konnte ich nirgendwo entdecken. Das Ganze sah eher nach Friedhof statt nach Privatgrundstück aus. Ich hatte keine Lust, meinen schweren Koffer weiter über die holprigen Gehwegplatten zu ziehen. Denn die Erfahrungen des Tages hatten mich bereits gelehrt, dass die Ortsplaner dieses beschaulichen Dörfchens irgendwann in den Fünfziger- oder Sechzigerjahren einen ordentlichen Knall gehabt haben mussten.

Ich hatte mir nämlich vorher den Haustürschlüssel bei der Putzfrau abgeholt, unter der scheinbar simplen Adresse: Hauptstraße 107. Mir war zwar der Weg von der Bushaltestelle zu diesem Haus von Alexandra beschrieben worden. Da die Nummern aber in der angegebenen Richtung absteigend waren, nahm ich an, dass sie sich bei der Fahrtrichtung des Busses geirrt hatte. Ich rollte daher meinen Koffer über die Gehwegplatten – rödde, rödde, rödde – und sah mir die Gebäude an. Der Anteil der Häuser mit sich verstohlen bewegenden Gardinen lag bei geschätzten vierzig Prozent. Ich nahm sicher zu Recht an, dass mein Koffer und ich für die betagteren Anwohner das Ereignis des Tages waren.

Mein Gesicht beim Anblick der blühenden Landschaften, die hinter der Nummer 87 lagen, war circa fünf Euro wert. Zum Glück gehörte die schwankende Gardine dieses Gebäudes einer sehr resoluten und hilfsbereiten Dame, die mich wortreich in die Geheimnisse der baulichen Tätigkeiten in der Nachkriegszeit und die dadurch für mich entstandenen Konsequenzen einweihte.

Man hatte damals beschlossen, neue Häuser an der Hauptstraße zu errichten. Da der Ortskern wesentlich näher an der Nummer eins lag, hatte man nicht hinter der Nummer 87 sondern am Anfang weitergebaut und weitergezählt. Nun hätte ein kluger Kopf für den neuen Abschnitt einen eigenen Straßennamen vergeben. Aber kluge Köpfe waren in der Politik leider Mangelware.

Ich konnte daher, nachdem ich die nette Dame endlich auf höfliche Art losgeworden war, den ganzen Weg zurückrollern – rödde, rödde, rödde – und mich am anderen Ende der Hauptstraße nach der Nummer 107 umsehen. Man sollte grundsätzlich weder die Worte einer Freundin noch den aus dem Internet ausgedruckten Plan anzweifeln. Vor allem dann, wenn beide zufällig einmal einer Meinung waren.

Auf dem Weg fragte ich mich, was geschehen würde, wenn irgendwann der Beschluss gefasst werden würde, auf der Seite der Nummer 87 weiterzubauen. Die Chancen für das Auftauchen eines klugen Kopfes standen heutzutage auch nicht gerade sehr gut, wenn man sich die Kommunalpolitiker ansah. Man konnte für die Zukunft dieser Hauptstraße nur das Schlimmste befürchten.

Frau Bauer, die Putzfrau meiner neuen Arbeitgeberinnen, war eine schweigsame Frau, die mir ohne viel Getue den Schlüssel aushändigte und mir einen guten Arbeitsbeginn wünschte. Obwohl ich sie verglichen mit der Bewohnerin der Nummer 87 sympathischer fand, hätte ich mir im Nachhinein etwas mehr Geschwätzigkeit gewünscht, als ich vor der Nummer 74 in der Luisenstraße stand.

Eigentlich war ich weder zur Hauswirtschafterin noch zur Pflegerin ausgebildet und hatte, nachdem ich mein Betriebswirtschaftsstudium wegen Mutlosigkeit abgebrochen hatte, bis vor fünf Wochen als Empfangsdame, Telefonistin, Buchhalterin und Mädchen für alles bei einer kleinen Softwarefirma gearbeitet. Aber eines Morgens hatten wir Mitarbeiter auf unseren Schreibtischen jeder ein Kündigungsschreiben, ein hervorragendes Zeugnis und eine Tafel Merci-Schokolade vorgefunden. Der Eigentümer hatte sich über Nacht mit den Firmengeldern davongemacht. Sogar an die Portokasse hatte er gedacht.

Wir hatten uns alle eine Weile ratlos angesehen. Ein paar der Softwareentwickler hatten Hardware mitgehenlassen. Ich hingegen hatte mich mit meinem Lieblingsdruckbleistift begnügt, da ich kein Auto besaß und mir mit Rechner und Bildschirm unter den Armen in der S-Bahn komisch vorgekommen wäre. In gewisser Weise hatte ich Hemmungen gehabt. Denn schließlich gehörte das alles zur Insolvenzmasse, die man auch bei einer verschleppten Insolvenz nicht einfach wegschleppen durfte. Sogar der Druckbleistift verursachte mir Gewissensbisse. Dabei wäre für mich ein Computer viel wichtiger gewesen als für die Jungs, die garantiert alle sofort wieder neue Arbeit fanden und bei den Gehältern bestimmt sowieso die neusten Geräte daheim herumstehen hatten.

Zum Ausgleich für mein mieses Einkommen hatte ich während der Arbeitszeit eine zweite Tätigkeit ausüben dürfen. Meine Vorgängerin hatte die Buchhaltung für ein Porzellangeschäft geführt, und ich verdiente mir mit Schicksalsgeschichten für drittklassige Frauenzeitschriften ein kleines Zubrot. Den Job hatte mir eine Internetbekanntschaft vermittelt, die bei einem Zeitschriftenverlag arbeitete. Ohne Computer war ich mit einem Schlag beide Einnahmequellen los.

Zum Glück wohnte ich bei Alexandra, einer entfernten Urgroßcousine oder etwas Ähnlichem, zur Untermiete, die mich sehr bedauerte, mir stundenweise ihren Laptop zur Verfügung stellte und mir sogar anbot, die Miete eine Weile zu stunden. Das konnte ich jedoch nicht annehmen und wollte erst meine bescheidenen Ersparnisse aufbrauchen.

Mein Leben bestand hauptsächlich aus merkwürdigen, positiven beziehungsweise negativen Zufällen.

Dass Alexandra und ich entfernte Verwandte waren – ihr Ururgroßvater war der Halbbruder meines Urgroßvaters gewesen – fanden wir heraus, weil mein Nachname Tibbo eine sehr ulkige, eingedeutschte Version eines französischen Nachnamens und alles andere als häufig war. Daher fragte Alexandras Urgroßmutter, deren Mädchenname ebenfalls so lautete, so lange neugierig nach, bis wir den ganzen Familienstammbaum beisammenhatten.

Allerdings durfte ich von da an am Telefon die alte Dame mit Tante Emmy und Alexandras Großmutter mit Tante Betty anreden. Doch beim Sie blieb ich weiterhin, da mir das Du nicht explizit angeboten worden war. Emilie und Elisabeth klangen in meinen Ohren zwar passender für ältere Damen mit starker Persönlichkeit als albernen Verniedlichungen dieser hübschen Namen, aber des Menschen Wille war sein Himmelreich, und ich musste ohnehin nehmen, was kam.

Weder reichten mir die kargen Einkünfte aus meinen Schicksalsgeschichten zum Leben, noch wollte ich die Verwandtschaft mit meiner Vermieterin ausnutzen. Deshalb war ich verzweifelt auf Arbeitssuche gewesen, bevor sich für mich überraschend eine neue Möglichkeit ergeben hatte. Ob ich es einen positiven oder negativen Zufall nennen sollte, war eine interessante Frage. Denn für Tante Betty war der Schlaganfall, der sie ereilt hatte, eindeutig negativ. Dass ihre Familie sie und Tante Emmy nicht weiterhin allein in der Obhut wechselnder Sprachschülerinnen aus dem Ausland lassen wollte, war für mich jedoch durchaus positiv.

Eine vertrauenswürdige Angestellte, die für wenig Geld Tag und Nacht zur Verfügung stand, musste her. Als ich vorsichtig nachfragte, welche Qualifikationen diese Person haben sollte, schilderte mir Alexandra mit leuchtenden Augen diese Tätigkeit in den allerschönsten Farben. Da sie für mich ohnehin die einzige Rettung darstellte, hätte man mir gar nicht so viel versprechen müssen. Die Familie war offenbar zu großen Zugeständnissen bereit, da niemand den Mut hatte, mit den beiden willensstarken Damen über die Möglichkeit eines dauerhaften Aufenthaltes im Betreuten Wohnen mit angeschlossenem Pflegeheim zu sprechen.

Tante Betty musste nach ihrem Krankenhausaufenthalt noch ein paar Wochen in eine Rehabilitationsklinik, und Tante Emmy, die bis zur Rückkehr ihrer Tochter in einem nahegelegenen Pflegeheim untergebracht war, machte so viele Zicken, dass die Familie, die ohnehin hauptsächlich von Alexandra repräsentiert wurde, auf eine schnelle Einigung drängte.

Ich bekam ein großes Zimmer und ein separates Bad versprochen, die Hausarbeit sollte weiterhin von einer jobbenden Sprachschülerin und einer Putzfrau, die einmal in der Woche die grobe Reinigung vornahm, erledigt werden, und man sicherte mir viel Freizeit zu für meine zweifelhafte Autorentätigkeit. Mir oblag die eigentliche Betreuung der beiden alten Damen, die von meiner Seite wohl heimlich als Kontrolle verstanden werden sollte. Zudem war der mobile Pflegedienst engagiert worden, der meine Arbeitgeberinnen einmal täglich abbrausen sollte, wie Alexandra es salopp formulierte.

Mir war dennoch von Anfang an klar, dass alle Arbeiten, die bisher von Tante Betty erledigt worden waren, an mir hängen blieben. Die Dame hatte garantiert nicht den ganzen Tag die Hände in den Schoß gelegt. Ich sah die Sache deshalb weniger rosig, als Alexandra sie mir schilderte.

Wir hatten ausgemacht, dass ich am Samstag mit dem Nötigsten in einem Koffer anreisen sollte. Da die polnische Sprachschülerin Beata ihren freien Tag hatte, musste ich mir den Schlüssel bei der Putzfrau abholen und sollte das blaue Zimmer im ersten Obergeschoss beziehen.

Am Sonntag wollte Alexandra sich von einem Freund einen Van leihen, meine restlichen Sachen bringen und Tante Emmy vom Altersheim abholen. Deren Umzug war sicherlich keine große Sache, denn sie hatte sich gegenüber ihrer Urenkelin mit dem Argument »Ich bleibe nur ein paar Tage!« strikt geweigert, mehr als das Allernötigste mitzunehmen. Sie schien mir daher von der allermisstrauischsten Sorte zu sein. Der Gedanke verursachte mir leichte Bauchschmerzen.

Alexandra hatte kurzerhand heimlich mehr Kleidung hingebracht, die die Pfleger in den Schrank geschmuggelt hatten, aber Tante Emmy hatte das sofort bemerkt und ihre Urenkelin beim nächsten Besuch ausführlich darauf aufmerksam gemacht, dass sie nicht völlig verkalkt sei und darum auch nicht so behandelt werden wolle. Noch nie hatte ich meine lebenslustige und stets unbekümmerte Mitbewohnerin so kleinlaut erlebt wie an diesem Abend. In Gedanken machte ich mir die Notiz: Übertölpeln zwecklos – immer hübsch bei der Wahrheit bleiben – notfalls alles ausdiskutieren bis zum Umfallen – meinem oder ihrem!

Deshalb verstärkte sich das ohnehin bereits reichlich merkwürdige Gefühl in der Magengegend durch meine eigenartigen Erlebnisse bei der Ankunft in dem kleinen Ort.

Ich stand wie eine Salzsäule vor der Nummer 74, hypnotisierte die angrenzende Mauer und schwelgte in einem mentalen Blackout, als neben mir ein alter Vectra auf das Grundstück einbog. Die Fahrerin, eine ältere Dame mit unnatürlich dunkel gefärbtem Pagenkopf, stieg aus und kam eifrig auf mich zu.

»Sie sind bestimmt die neue Gesellschafterin für nebenan!«, begrüßte sie mich strahlend.

Mein aktuell wenig intelligenter Gesichtsausdruck wurde wahrscheinlich noch eine Spur dämlicher. »Bitte?«

Sie ignorierte meinen halbherzigen Einwand mit der Selbstsicherheit eines Menschen, der es gewöhnt war, im Zweifelsfall recht zu haben. »Beata ist extra daheimgeblieben und hat sogar einen Kuchen gebacken. Sie hat mich um Hilfe gebeten, weil sie sich bei den Beschriftungen der deutschen Lebensmittel unsicher ist. Sie ist so ein liebes Ding! Backen kann sie gut. Beim Kochen hapert es allerdings. Viel zu fett, sagt Emmy. Sie hat es ein bisschen an der Galle, müssen Sie wissen. Man isst heute ohnehin nicht mehr so gehaltvoll wie früher. Ganz merkwürdige Zusammenstellungen von Zutaten! Bei Beata, meine ich. Das liegt wohl nicht nur an den mangelnden Sprachkenntnissen. Betty hat bisher das Kochen besorgt, aber damit ist es vorerst vorbei. Die rechte Seite ist noch etwas schwach, und das Sprechen fällt ihr schwer. Emmy will deshalb selber kochen. Nicht wahr, Sie reden ihr das aus? Sie ist so energisch und lässt sich selbst von Betty kaum etwas sagen. Wenn ich mir vorstelle, dass sie auf ihre alten Tage mit Kochtöpfen herumhantieren will, wird mir ganz schwach. Wissen Sie, ich kaufe momentan für nebenan ein. Früher ist Betty mitgefahren und hat das selbst erledigt. Es macht Spaß zu zweit einzukaufen. Man kann sich all die neuen Produkte ansehen. Man kennt sich fast nicht mehr aus.« Sie hielt überraschend inne und sah mich für einen Sekundenbruchteil erwartungsvoll an.

Ich versuchte, schnell einen Gesichtsausdruck von hausfraulichem Interesse anzunehmen. Wahrscheinlich sah ich stattdessen aus wie ein Schaf vor dem Backzutatenregal im Supermarkt. Was zum Teufel wollte diese Frau mir sagen?

Da sprach sie schon weiter: »Jetzt nehme ich Beata mit, damit sie ihr Deutsch verfeinert. Denn dazu ist sie eigentlich hier. Oft werden Hausangestellte ausgenutzt. Aber das gibt es nebenan nicht! Eine Gesellschafterin muss eingestellt werden, hat Emmy gesagt. Das hat die liebe Heidi am Ende eingesehen. Allerdings hätte sie sich doch mal herbemühen können, statt alles von Mallorca aus telefonisch anzuordnen. Mit ihrem Studium hat die kleine Alexandra schließlich genug am Hals. Sie sind eine entfernte Verwandte?«

»Ja, sehr entfernt.«

»Und zufällig Alexandras Mitbewohnerin?«

»Eigentlich bisher ihre Untermieterin.«

»Ja, natürlich bisher, denn ab jetzt wohnen Sie nebenan. Im blauen Zimmer – hat Emmy mir erzählt. Blau beruhigt, sagt man. Das ist nur eine Redensart. Ich bezweifle das Zeug mit dem Mondkalender. Meine Mutter hat gern das Horoskop gelesen. Zum Schluss war sie so vergesslich, dass sie nicht überprüfen konnte, ob es wirklich eingetroffen ist. Bitte halten Sie die liebe Emmy von den Töpfen fern, ja? Sie ist neunundachtzig und gehbehindert. Kaum zu glauben, da war meine Mutter bereits elf Jahre unter der Erde. Soll ich Ihren Koffer nehmen? Sie haben hier sicher verschnaufen müssen bei dem großen Ding und dem langen Weg.«

Eine interessante Art, mich zu fragen, warum ich dort so blöd herumstand. Ich beeilte mich, ihr Angebot abzulehnen und auf die Rollen an meinem Koffer hinzuweisen. Das wäre das Allerletzte gewesen, mir von einer schätzungsweise Siebzigjährigen den Koffer abnehmen zu lassen. Allerdings hätte ich zu gern eingewilligt und ihr Gesicht gesehen. Da ich zu müde zum Lügen war, sagte ich schlicht die Wahrheit: »Ich habe mich gefragt, wo der Eingang zum Grundstück ist.« Okay, das war gelogen, kam der Wahrheit aber erstaunlich nahe.

»Ach ja, von hier aus sieht man den nicht. Warten Sie, ich komme mit.«

Sie machte sich tatsächlich mit mir auf den Weg. Ich fühlte mich ein wenig wie ein ABC-Schütze, der vor dem ersten Schultag mit der Oma den Schulweg abgeht, obwohl man das Schulhaus vom Kinderzimmerfenster aus sehen kann. Des Rätsels Lösung war einfach: Die Einfahrt befand sich schräg an der Ecke des Grundstücks am Ende der Mauer. Die Nachbarin lieferte mich mit ernsthafter Miene am Schultor – Pardon – am Hoftor ab und verabschiedete sich, ohne dass wir uns einander vorgestellt hatten.

Ich ging durch die großzügige Einfahrt auf einen großen, fürchterlich kitschigen Jugendstilbau zu, der nicht wie die anderen Häuser in der Straße an die vordere Grundstücksgrenze gebaut, sondern einige Meter zurückversetzt war, sodass er zu einer Parallelstraße zu gehören schien.

Mir drängte sich der Verdacht auf, dass ich vor der Altersvorsorge sämtlicher Handwerker der Umgebung stand. Denn während ich klingelte, weil ich aus Höflichkeit gegenüber Beata keinen Schlüssel benutzen wollte, fiel mir ein nagelneu blinkendes Regenrohr aus Kupfer neben dem Eingang auf. Wahrscheinlich gehörte das Beaufsichtigen der Handwerker ebenfalls zu meinem alles andere als klar umrissenen Aufgabengebiet.

In der Tür erschien prompt ein junges Mädchen, mittelgroß, schlank, mit langen, braunen Haaren, die ordentlich zu einem Pferdeschwanz gebunden waren. »Guten Tag!«, sagte es mit einem leichten Akzent.

Ich hatte an diesem Tag wortkarge Menschen lieben gelernt und genoss die eineinhalb Sekunden, die ich mir Zeit lassen konnte, einen halbwegs vernünftigen Satz zu formulieren. »Hallo! Mein Name ist Helena Tibbo. Ich trete heute meine Stelle als Haushaltshilfe an.« Ich streckte ihr die Hand hin, die sie mit leicht irritiertem Gesichtsausdruck kräftig drückte.

»Sie sind Gesellschafterin?«, erkundigte sie sich.

Dies war bereits das zweite Mal, dass ich so genannt wurde. Ich fragte mich, wie überkandidelt die zwei Ladys wohl sein mochten, wenn sie sich meine Anwesenheit auf solch merkwürdige Weise schönreden mussten.

»Ja, ich werde den beiden Damen hier Gesellschaft leisten und den Haushalt organisieren.«

Sie lächelte mich an, überlegte kurz und sagte mit etwas willkürlicher Betonung: »Willkommen! Kommen Sie! Ich bin Beata.«

Womit sie mehr über moderne Rhetorik zu wissen schien als ich, denn mir fiel spontan ein, was mir ein früherer Kollege über eine Rhetorikschulung erzählt hatte. Man solle sich nicht mit mein Name ist, sondern mit ich bin vorstellen. Wobei mir noch immer unklar war, wie man das bewerkstelligen konnte, ohne den Vornamen zu verraten, der die Leute für gewöhnlich einen Dreck anging und nur zu überzogenen Vertraulichkeiten verleiten konnte. Mein Name ist Tibbo klang in meinen Ohren flüssiger als ich bin Tibbo.

Allerdings hatte ich eine gestörte Einstellung zu meinem Vornamen. Helena klang nach einer verführerischen Dunkelhaarigen. Ich hatte diese allerweltsbraune Zottelmatte, die ein recht langweiliges Allerweltsgesicht umrahmte. Meine Eltern, die einem gewaltigen Skandinavientick frönten, hatten mich ursprünglich Solveig nennen wollen. Da ich mit pechschwarzen Haaren das Licht der Welt erblickte, warf man offenbar schlagartig die Planung über den Haufen und kam auf diese merkwürdige Idee. Nachdem die Haare nach ein paar Tagen ausgefallen waren und blondem Flaum Platz gemacht hatten, war es zu spät für eine Namensänderung. Ich hieß Helena, obwohl niemand jemals auf den Gedanken kommen würde, mich wie Paris freiwillig zu entführen. Meine Abwesenheit würde zudem unbemerkt bleiben und keinen Trojanischen Krieg auslösen. Alles hatte eben auch sein Gutes.

Beata führte mich durch die mit Möbeln vollgestopften Räume des Erdgeschosses, zeigte mir im ersten Stock mein Zimmer und gleich nebenan ein winziges, erstaunlich modernes Duschbad, das wir beide uns teilten. Danach ließ sie mich allein.

Ich stand vor dem Badezimmerspiegel, betrachtete gedankenverloren mein Gesicht und fragte mich nicht zum ersten Mal an diesem Tag, was ich hier eigentlich machte.

Bisher war mir stets gesagt worden, was zu tun war. Meine Eltern, meine Lehrer, meine Professoren, mein Arbeitgeber, meine Kollegen und selbst meine Freunde hatten mir Anweisungen gegeben, die ich grundsätzlich widerspruchslos ausgeführt hatte – bis zu dem Tag, an dem ich kurzerhand gegangen war. Natürlich war solch ein Verhalten mehr als unfair. Man musste sich den Konflikten stellen, auch wenn das enorme Kraft forderte.

Aber ich hatte in meinem Leben immer den einfacheren Weg gewählt und entweder alle Anweisungen brav erfüllt oder war gegangen. Selbst meine sogenannte kreative Arbeit hatte in Wirklichkeit nichts Kreatives an sich. Die Zeitschriftenredaktion wollte eine Doppelseite voller Schicksal, das den Publikumsgeschmack traf. Innerhalb dieser engen, sicheren Grenzen versuchte ich, tausendundeinen Weg zu finden, wie man in Kürze die Story der Durchschnittsfrau erzählte, mit der sich die Leserinnen identifizieren sollten und die am Ende sich mit irgendjemandem versöhnte, auf wunderbare Weise ihr trostloses Dasein über Bord warf oder gleich ganz simpel den Traumtypen abbekam. Bisher war mir das achtzehnmal geglückt. In diesem neuen Heim wollte ich die neunzehnte Story in Angriff nehmen, sobald ich mir einen billigen Laptop anschaffen konnte. Denn mein alter hatte bereits vor einer Weile den Geist aufgegeben. Würde ich ihn mir leisten können? Würde ich die Aufgabe, die ich mir leichtfertig hatte aufschwatzen lassen, erfüllen können?

Mir war alles einfach erschienen. Beide Arbeitgeberinnen waren völlig klar im Kopf und konnten mir schlichtweg sagen, was zu tun war. Nun kam es mir jedoch so vor, dass die Familie von mir erwartete, dass ich widersprach, dass ich mich gegen offensichtlich wahnwitzige Ideen durchsetzte, dass ich mich als Kindermädchen statt als Servicepersonal sah. Mir wurde reichlich flau. Ich kehrte in mein Zimmer zurück und setzte mich an den kleinen Frisiertisch, der wie geschaffen schien für den mir fehlenden Laptop.

Das Zimmer war mit hübschen, alten Möbeln eingerichtet und wirkte weniger überladen als die Räume im Erdgeschoss. Es lag im ersten Stock nach Osten. Die Spätvormittagssonne schien schräg zum Fenster herein und vertrieb mit einem Mal alle trüben Gedanken. Ich wollte es probieren. Wenn es nicht klappte, konnte ich wieder gehen. Mit diesem für mich typischen Gedanken machte ich mich daran, meinen Koffer auszupacken.

Kurz vor dreizehn Uhr klopfte Beata an meine Tür, öffnete sie auf mein »Herein!« hin und verkündete: »Es ist serviert!«.

Ich fragte mich verwundert, ob das arme Mädchen in diesem Haus vernünftiges Deutsch lernte, und folgte ihr nach unten.

Es stimmte tatsächlich, was Alexandra mir erzählt hatte: Beata hatte während ihres Deutschlandaufenthaltes Familienanschluss, denn sie hatte wie selbstverständlich für uns beide im Esszimmer gedeckt. Ich war erleichtert, denn die Vorstellung, in getrennten Räumen allein in unseren Tellern herumzustochern, hatte etwas sehr Lächerliches. Allerdings hatte mir eine Bekannte von ihrer Aupair-Zeit in Frankreich genau dies erzählt.

Es gab Hähnchenragout mit Dosenchampignons, Broccoli und Reis. Wir waren beide sehr schweigsam. Bei ihr war es sicher mehr Schüchternheit als Müdigkeit. Bei mir eine Mischung aus beidem.

Nachdem ich das Essen ausführlich gelobt hatte, verschwand sie lächelnd in der Küche, und ich widmete mich der Aufgabe, meine Unterwäsche auf die unzähligen niedrigen Schubladen der Kommoden zu verteilen. Mehr als zehn zusammengefaltete Unterhosen konnte man nicht übereinanderstapeln, ohne die Schubladen zu blockieren, was für mich eine völlig neue Erfahrung war. Ich ertappte mich sogar dabei, dass ich die Unterwäsche nach Form und Farbe sortierte, um das perfekte Ordnungssystem für die Kommoden zu finden. Wenn ich nervös oder ängstlich war, neigte ich zu übertriebenem Perfektionismus, der bedenkliche Formen annehmen konnte.

Daher atmete ich tief durch, packte die Sachen, wie sie kamen, in die Schubladen und ging nach unten, um mich ein wenig umzusehen.

Beata brachte gerade den Müll hinaus und bot mir an, mir den Garten zu zeigen. Der Eifer, mit dem sie mir wortreich den Vorschlag unterbreitete, und all die großartigen Naturwunder, die sie mir in Aussicht stellte, machten mich stutzig. Mich beschlich das Gefühl, dass sie mich unbedingt aus dem Haus haben wollte.

Draußen wurde mir jedoch sofort klar, dass sie mich lediglich als Vorwand für ihren Aufenthalt im Garten gebraucht hatte, denn dort jätete ein junger Mann ein Staudenbeet.

Sie stellte uns kurz einander vor und begann ein etwas merkwürdiges Gespräch über Unkraut, dem ich entnehmen konnte, dass sie nicht viel über Gartenarbeit wusste.

Seine Antworten waren knapp und freundlich und wurden mit einer Begeisterung aufgenommen, die mir den Verdacht geradezu aufdrängte, dass das arme Ding bis über beide Ohren verknallt war.

Sein Name war Arnd. Alexandra hatte mir ein wenig von ihm erzählt. Er war der Enkel der Nachbarin, die mich so fürsorglich zum Hoftor gebracht hatte, und wohnte an den Wochenenden und während der vorlesungsfreien Zeit bei ihr. Im Garten meiner Arbeitgeberinnen verdiente er sich etwas dazu.

Da aus der geführten Gartentour, die Beata mir versprochen hatte, augenscheinlich nichts werden sollte, entfernte ich mich ein wenig aus dem Hörbereich ihrer säuselnden, lieblichen Stimme, und sah mir die Kletterrosen an der Natursteinmauer an, die das gesamte Grundstück umschloss. Ich liebte weiße Rosen über alles. Dort wuchs eine besonders üppige Sorte, die alles überwucherte und selbst die hohe Mauer um einen halben Meter überragte.

Ich fragte mich gerade, ob sie auf der anderen Seite wieder herunterkletterte oder nach Höherem strebte, als ich durch Arnds Stimme ordentlich erschreckt wurde. »Ilse Krohn.«

Ich konnte nur »Bitte?« stammeln.

Er fügte hinzu: »Ilse Krohn ist der Name der Rose. Sie wächst wie blöd und wird eines Tages zusammen mit den Ameisen, Kakerlaken, Ratten und Tauben den Weltuntergang überleben. Ich habe sie vor fünf Jahren gepflanzt, und jetzt könnte man fast glauben, sie sei schon immer hier gewesen.«

»Wie sieht sie denn auf der anderen Seite der Mauer aus?«

Er lachte. »Sie wächst ausschließlich nach oben. Meine Großmutter hatte drüben einen mickrigen Zierstrauch, ein asiatisches Billigding aus dem Baumarkt, das nie richtig angehen wollte. Ich schlug in regelmäßigen Intervallen vor, dass sie es rausreißt und etwas Robustes hinsetzt. Die gute Ilse lugte im folgenden Jahr über die Mauer, was das Mickerding noch mickriger aussehen ließ. Es musste im selben Jahr einer dunkelrosafarbenen Buschrose weichen. Sie war zwar ebenfalls aus dem Baumarkt, macht sich aber ganz gut und passt zur weißen Blütenexplosion eine Etage höher.«

»Ich liebe weiße Rosen.«

»Meine Idee war, eine zweite Ilse zu kaufen und die beiden über der Mauer zusammenwachsen zu lassen. Doch Oma hasst weiße Blumen. Sie denkt dabei an Beerdigungen. Sie stört sich auch an meinen schwarzen Klamotten.«

»Die schönen Farben können nichts dafür, dass sie für Trauerfälle reserviert sind.«

Nachdem der Satz heraus war, kam ich mir blöd vor, aber Arnds Lachen klang freundlich. Mit mir redete er völlig unbefangen, und bei Beata hatte er es gerade einmal bis zu einem Halbsatz geschafft. Erwiderte er ihre Gefühle?

Als hätte er meine Gedanken gelesen, sagte er plötzlich: »Beata ist am Telefon. Ich musste sie darauf aufmerksam machen, weil sie es nicht gehört hatte. Sie interessiert sich wahnsinnig für die Vogelmiere. Leider kann ich ihr dazu nicht viel sagen. Ich reiße das Zeug raus, ohne irgendetwas darüber zu wissen. Ich weiß, wie’s aussieht. Das reicht mir.«

Arme Beata! Ganz falsches Thema gewählt!, dachte ich und sagte: »Sie ist eine nette junge Frau und sicherlich eine große Hilfe für die Familie.«

Er schaute mich merkwürdig von der Seite an, ohne zu antworten.

Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Beata zurückkam, und drehte mich zu ihr um. Arnd blickte kurz in ihre Richtung, ging zu seinem Unkraut und setzte fleißig seine Arbeit fort. Beata gesellte sich zu ihm, und ich nahm meinen Minispaziergang wieder auf.

Beim Gongschlag beginnt die nächste Flirtrunde, dachte ich amüsiert und steuerte ein Gittertor an, das ich in der hinteren Gartenmauer zwischen üppiger Clematis entdeckt hatte. Dahinter erstreckten sich auf sanften Hügeln Streuobstwiesen. Das Ganze sah so zum Kotzen idyllisch aus, dass ich im Geiste Notizen für meine nächste Story machte. Zu allem Überfluss schlängelte sich nicht weit vom Tor entfernt ein kleiner Bach durch die Wiese, der mich in meinem Entschluss bestärkte, mir einen Schlüssel zu diesem Tor zu besorgen, um mich in meinen Mußestunden den dort lebenden Zecken als Opfer darzubringen.

Leider entfleuchte mir die romantische Stimmung immer, bevor ich sie zu fassen bekam. Sie reichte stets gerade so für die besagte Doppelseite und hinterließ danach einen merkwürdigen Geschmack auf der Zunge, wie eine billige Süßigkeit. Mir war klar, dass ich es nie zu einer berühmten Kitsch-Schriftstellerin bringen würde. Manche Dinge musste man nicht haben, wenn man einen Rest Stolz in sich trug. Allerdings hatte ich schon begonnen, den meinigen stückchenweise zu verscheuern. Mein Motto In diese hohle Kasse muss was kommen! inspirierte mich nicht unbedingt zu einem qualitativ hochwertigen Elaborat.

Plötzlich empfand ich die verschlossene Gittertür als ein bedrückendes Symbol meines bisherigen Lebens. Ich war in einer solchen Kitschstimmung gefangen, dass ich diese Zwänge und Enge richtiggehend körperlich empfand. Dass ich inzwischen gedankenlos zwei Gitterstäbe fest mit den Händen umfasst hatte, trug erheblich zu diesem physischen Eindruck bei. Mein Leben war in engen Grenzen verlaufen, die mir bisher nur nicht bewusst gewesen waren.

Selbst diese angeblich freie, kreative Teilzeitschreiberei war eine Art Auftragsarbeit nach genauen Vorgaben. War ich gefühllos? Waren all diese geheuchelten Empfindungen, die ich meinen lächerlichen Figuren auf den mageren Leib schrieb, lediglich ein billiger Ersatz für die Leere in meinem Leben? Dieser Garten mit den Blumenbeeten, den gestutzten Bäumen und Sträuchern, in dem alles seine Ordnung und seinen Platz hatte, schien mir weit entfernt von der Wirklichkeit der Wiesen und der verknorpelten Apfelbäume, die bei längerer Dürre nicht mit dem Gartenschlauch gewässert wurden.

»Soll ich aufschließen?«

Wieder zuckte ich bei Arnds Stimme zusammen.

»Sind wir ein bisschen schreckhaft heute?«, wollte er betont ernsthaft wissen, aber das Lachen in seinen Augen verriet ihn.

»Ich war in Gedanken«, antwortete ich verlegen.

»Das ist mir nicht entgangen. Ich war eben schon mal hier. Da wurde ich erfolgreich ignoriert. Also habe ich den Schlüssel geholt und versuche, damit Eindruck zu schinden. Gelungen?«

»Ja! Ganz tolle Show!«

»Das wollten mein Ego und ich hören!« Er schloss das Tor auf.

Wir gingen wie selbstverständlich nebeneinander zum Bach, wo wir unter einer alten Silber-Weide auf einem großen Findling Platz nahmen.

»Beata musste ins Haus. Morgen kommt das alte Mädchen zurück. Die Dame mit dem spitzen Finger, der selbstständig die Möbelkanten entlangfährt. Merke: Ein vernichtender Blick von Tante Emmy ist fast so schlimm wie eine UN-Resolution.«

»Fährt der Finger auch über verunkrautete Beetkanten?«

»So schnell wirst du mich nicht los, wenn es das ist, was du mir damit sagen wolltest.«

»Nein! Das meinte ich anders«, beeilte ich mich, das richtigzustellen. »Ich wollte dich nicht an die Arbeit schicken, sondern bloß wissen, ob sie streng ist.«

»Keine Ahnung, was sie über meine Leistung denkt. Ich weiß selten, was Menschen denken.«

Vergeblich versuchte ich, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Er gab sich wortkarg, und ich befürchtete, ihn verletzt zu haben. Ich fühlte mich nicht für die Kontrolle seiner Arbeit zuständig und hatte ein kollegiales Gefühl empfunden. Wir waren schließlich beide Hausangestellte. Ich kramte in meinem Hirn nach einer eleganten Formulierung, mit der ich mich bei ihm entschuldigen konnte. Eine Weile saßen wir schweigend auf dem Findling an diesem verdammt romantischen Ort.

»Tja, dann will ich mal nach dem Nelkenbeet schauen!« Er stand auf.

»Es tut mir leid!«, rief ich.

»Was?«

»Es tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe.« Mir war völlig gleichgültig, wie ich es ausdrückte. Schweigen war schlimmer als ein schlechter Satz.

»Was meinst du?« Sein Erstaunen schien echt zu sein.

»Ich habe etwas gesagt, das dich verletzt hat. Das tut mir sehr leid.«

»Nein, ich bin manchmal so. Mach dir keine Gedanken.«

Wir kehrten um. Er schlenderte zu seinen Blumenbeeten. Ich ging verwirrt zurück ins Haus. In meinem Zimmer sortierte ich meine Unterwäsche nach Art, Farbe und Form in die einzelnen Schubladen ein und ließ dazwischen genügend Platz für die Teile, die Alexandra am anderen Tag in den Umzugskisten mitbringen wollte.

2. Emilie

Z um Glück hatte ich den Wecker für den nächsten Tag auf sieben Uhr gestellt. Manchmal überkamen mich merkwürdige Vorahnungen. Am Vorabend war ich früh auf mein Zimmer gegangen, weil ich nicht sicher gewesen war, ob ich in dem fremden, altmodischen Bett gleich einschlafen konnte.

Zwanzig nach sieben war ich glücklich aus dem Bad heraus und zog mich gerade an, als unten im Haus Schritte und Gerumpel zu hören waren.

Ich öffnete die Tür einen schmalen Spalt und vernahm eine mir vom Telefon bekannte, feste, weibliche Stimme: »… der Pflegerin gesagt, dass meine heutige Abreise seit Tagen mit der Heimleitung abgesprochen ist. Auf das Frühstück kann ich gut und gern verzichten, weil unsere liebe Beata viel besseren Tee kochen kann als diese schrecklich bittere Ceylon-Assam-Brühe. Da doch jeder weiß, dass diese Teebeutel mit dem zusammengefegten Staub aus den Teelagerräumen gefüllt werden. Alexandra hat mir zwar extra Darjeeling-Teebeutel mitgebracht, aber das Wasser, das sie aus der Küche hochschicken, kann sich an den Siedepunkt schon gar nicht mehr erinnern. So lange ist der her. Stell dir vor: Ich durfte keinen eigenen Wasserkocher auf dem Zimmer betreiben. Wegen der Brandgefahr! Ha! Fehlt nur noch, dass sie uns alten Leuten die Messer und Gabeln wegnehmen. Wir könnten uns ja beim Essen die Augen ausstechen und die Ohren abschneiden. Ich bin zwar alt, aber nicht meschugge! Ach, Hilda, ich bin so froh, wieder daheim zu sein. Das kannst du mir glauben! Keine Minute länger hätte ich es dort ausgehalten. Sagt die Nachtschwester zu mir, ich solle mich hinlegen. Man werde mir die Koffer heute packen. Heute! Ich wollte doch heute fahren! Da muss ich am Vorabend packen! Davon wollte der Pfleger nichts wissen. Also musste ich gestern Nacht selbst packen, oder? Was blieb mir anderes übrig? – Guten Morgen, Beata! Ein hübsches Nachthemd tragen Sie! Blau steht Ihnen wirklich ausgezeichnet. Würden Sie mir bitte nachher eine gute Tasse Tee machen und vielleicht etwas Toast mit Konfitüre? Wo war ich stehengeblieben? Ach, ja, die Nachtschwester meinte, das Ziehen des Koffers mache zu viel Lärm. Soll ich alte Frau ihn etwa tragen? Die meisten Leute waren dort ohnehin schwerhörig. Ständig musste ich alles zweimal sagen. Sehr ermüdend auf die Dauer, sag’ ich dir. Das Hörgerät werden sie kaum mit ins Bett nehmen, um in den Träumen besser hören zu können, wenn sie es am Tag schon nicht einsetzen wollen. Außerdem war mir das gerade recht, dass ich selbst packen musste. Wer weiß, wie der Kerl meine saubere Kleidung da hineingestopft hätte? Männer können keine Koffer packen! Beata hätte alles waschen müssen. So, Beata, müssen Sie nur die paar Kniffe überbügeln, und schon sind Sie fertig. Sie sehen ein bisschen blass aus! Sind Sie krank? Hilda, sieht sie nicht blass aus? Dann lassen Sie das heute mit dem Bügeln. Morgen ist auch ein Tag.«

Inzwischen hatte ich mich von meinem Schreck erholt, schnell mein Outfit vervollständigt und ging mit festen Schritten und erhobenem Haupt meinem ungewissen, höchst zweifelhaften Schicksal entgegen. Wenn selbst die Nachbarin Hilda nicht zu Wort kam, musste es wirklich schlimm sein.

»Ach, das ist unsere liebe Helena!«, begrüßte mich Tante Emmy. »So früh auf an einem Sonntag? Dabei schlaft ihr jungen Leute gern aus. Das ist schön, dass wir uns endlich persönlich kennenlernen. Vielleicht können Sie der lieben Beata ein bisschen beim Frühstück unter die Arme greifen. Ich weiß, das gehört nicht zu Ihren Aufgaben, aber das Mädchen sieht blass aus. Ein gehäufter Messlöffel auf die Kanne und zwei Minuten ziehen lassen. Hilda, du bleibst auf eine Tasse Tee? Natürlich bleibst du! Das macht überhaupt keine Umstände mit all den jungen Händen im Haus. Du musst mir erzählen, was hier alles passiert ist seit deinem letzten Besuch. Ach, jede Stunde in dem Heim kam mir vor wie ein Tag. Die Heimleiterin …«

Nachdem ich die völlig verdatterte Beata zur Treppe in Richtung ihres Zimmers geschoben hatte, damit sie sich erst einmal wusch und anzog, schloss ich die Küchentür hinter mir, atmete tief durch, ignorierte meine zitternden Knie und machte mich auf die Suche nach dem verdammten Tee, dem verdammten Messlöffel, dem verdammten Frühstücksgeschirr, dem verdammten Toast und den restlichen verdammten Zutaten für dieses verdammte Frühstück. Wenn irgendein verdammtes Familienmitglied dieser weitverzweigten Sippe ernsthaft glaubte, irgendeine verdammte Gesellschafterin, oder wie auch immer sie diese verdammt bedauernswerte Person nennen wollten, könne sich tatsächlich gegen diese Dame durchsetzen, dann tat es mir verdammt leid.

Das Wasser kochte, ich goss den Tee auf, ließ ihn exakt zwei Minuten ziehen, stellte den Toast in den Ständer, packte alle bestellten Frühstücksbestandteile auf das Tablett und trug es in das Esszimmer. Zu meiner Verwunderung war Nachbarin Hilda nun an der Reihe, Punkt und Komma zu ignorieren. Musste meine Arbeitgeberin etwa im Ernst zwischendurch mal Luft holen?

»… mir erzählt, dass sie in Wirklichkeit heiraten müssen. Sie hat es von der Frau Bengt, die das zu große Kleid überall außer an der Taille etwas enger machen sollte. Warum bisher keiner auf die Idee gekommen ist, Umstandsbrautkleider zu machen? Die werden doch häufig gebraucht! Diese umgeänderten Kleider sitzen nie richtig. Da kann Frau Bengt noch so eine gute Schneiderin sein. Man erzählt sich im Ort, dass sie sich mit dem Dennis eingelassen hat, um den Justin eifersüchtig zu machen. Die Jana meine ich natürlich. Die hatten sich gestritten und wohl getrennt, aber nicht endgültig, du weißt ja, wie das heute geht. Es gibt keine offiziellen Verlobungen mehr. Man weiß nie, wie ernst es den jungen Leuten miteinander ist. Erst nennen sie es Wohngemeinschaft. Plötzlich ist was Kleines unterwegs. Umgekehrt haben die Britta und der Kevin geheiratet. Er studiert in Mannheim, und sie arbeitet in Frankfurt. Da fahren sie an den Wochenenden hin und her. Na jedenfalls haben sie sich getrennt und sind Freunde geblieben. Die Jana und der Justin, meine ich. Wie das gehen soll, ist mir jedoch schleierhaft. Sie sind oft zusammen gesehen worden. Dann ging sie von heute auf morgen mit dem Dennis aus dem Baumarkt aus, und jetzt heiraten sie. Dabei muss das heute gar nicht mehr sein. Du weißt, was ich meine, mit all den Hinterherhormonen. Wenn sie sich weniger komisch angestellt hätte, hätte sie den Justin haben können. Seinem Vater gehören die Tankstelle am Ortseingang und der Kiosk am Busbahnhof. Das ist doch was! Darauf kann man etwas aufbauen. Der Dennis hängt in der Gartenabteilung herum und kennt nach fünf Jahren noch immer nicht den Unterschied zwischen Pelargonie und Begonie. Letztens fragte ich ihn, ob sie …«

Leise schloss ich die Tür und deckte in der Küche den Tisch für Beata und mich.

Inzwischen wirkte sie etwas selbstsicherer. »Ich habe sie nicht erwartet. Sie sollte zum Mittagessen erst kommen, oder?«

Ich lächelte ihr aufmunternd zu und meinte: »Es hat trotzdem alles gut geklappt.«

»Ja, ich bin aber gern zuverlässig.«

»Das bist du.«

Wir frühstückten schweigend, hatten jedoch offensichtlich beide keinen großen Appetit. Ich bekam morgens stets nur eine Kleinigkeit herunter und verzichtete zu der Tageszeit oft sogar ganz auf feste Nahrung. Dafür trank ich gern große Mengen dünnen, süßen Tees. Die mikroskopisch kleinen Tassen ließen mich mit Wehmut an Alexandras Jumbotassen denken, deren schreckliche Knallfarben mir im Nachhinein viel freundlicher erschienen. War es sehr ungehörig, wenn man sich zum vierten Mal nachgoss? Ich hatte keine Ahnung, wie viele Tassen in diese Kanne passen, und hatte nicht mitgezählt, wie viele Beata schon gehabt hatte.

Sie mümmelte gedankenverloren ihren Honigtoast, blickte auf die Küchenuhr und sprang so unvermittelt auf, dass ich ordentlich zusammenfuhr. »Ich muss den Tisch abräumen. Sind sie fertig? Was meinst du?«

Ich blickte sie verständnislos an. Erst ihr ängstlicher Blick zur Tür ließ bei mir den Groschen fallen: Sie sprach von unserer Arbeitgeberin nebst Besuch. Ich riet Beata, anzuklopfen und zu fragen, ob sie etwas brauchten.

Sie strahlte mich glücklich an. »Gute Idee. Das mache ich jetzt immer so.«

Armes Ding! Wahrscheinlich litt sie wie ich bei Unsicherheit am Perfektionismussyndrom. Damit würde sie es nicht weit bringen, wenn man meinen Lebenslauf betrachtete. Ich nutzte die Gelegenheit und warf einen raschen Blick in die Kanne. Mist! Nur noch der Anstandsrest.

Ich beschloss, mir im Laufe der Woche eine möglichst große Tasse zu kaufen, in der ich mir zwischendurch schnell einen Tee aufbrühen konnte. Den würde ich sicherlich brauchen, schwante mir, als ich Beatas blasses Gesicht im Türrahmen auftauchen sah.

Sie holte das Tablett, um den Esstisch abzuräumen. Ich ließ mir von ihr schnell vorher den Putzschrank zeigen, bewaffnete mich mit einem Staubtuch und lief damit ein wenig im Wohnzimmer Amok. Mir waren Arnds Worte vom Vortag wieder eingefallen.

Aus dem Flur erklangen Stimmen. Die typische, umständliche, wortreiche Verabschiedungszeremonie zwischen älteren Damen schien in vollem Gange zu sein.

Anschließend öffnete sich die Wohnzimmertür. Meine Arbeitgeberin erschien mit sehr zufriedenem Gesichtsausdruck und betrachtete interessiert mein Werk. »Um diese Zeit sitze ich gern ein wenig in der Bibliothek.«

Mist! Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich natürlich dort zuerst geputzt!

Doch sie wirkte wohlwollend. »Meine liebe Betty hat mir sonntags immer etwas vorgelesen.« Täuschte ich mich, oder zitterte ihre Stimme plötzlich ein wenig? »Meine Augen sind nicht mehr so gut, und die Bücher in Großschrift sind schrecklich.« Ihre Stimme klang wieder fest. »Die Verlage sind wohl der Ansicht, dass bei älteren Leuten der Intellekt in gleichem Maße wie die Sehkraft nachlässt und bieten uns ausschließlich niveaulosen Kitsch in Großschrift an. Die Buchhandlung hier im Ort sucht aus diesem bescheidenen Sortiment den Extraschund heraus. Seit es diese Computerbücher gibt, bei denen man die Schrift selbst einstellen kann, wird die Auswahl noch schlechter. Doch das Ding kommt mir nicht ins Haus! Offenbar wischt man da, statt zu blättern. Ich will aber lesen und nicht putzen. Der Arnd – wissen Sie, der Arnd von nebenan – seine Großmutter war eben hier – also der Arnd hat mir zu Weihnachten einen Theodor Fontane in Großschrift geschenkt. Ein ganz lieber Junge! Beata ist ganz verrückt nach ihm. Eine Weile konnte ich darin lesen. Dann flimmerten die Buchstaben vor meinen Augen. Ich glaube, ich schaue mal, was im Fernsehen kommt. Das Vormittagsprogramm ist allerdings recht jämmerlich.«

Der Frau scheint in Haus und Hof nichts verborgen zu bleiben, sagte ein gehässiger Kobold, der in meinem Kopf hauste, zu ihrem Kommentar über Beatas Privatangelegenheiten. Ich nutzte Tante Emmys kleine Atempause, um ihr anzubieten, das Vorlesen heute zu übernehmen.

Sie wirkte ehrlich überrascht. Anscheinend war das gar kein Wink mit dem Zaunpfahl gewesen, aber ich bereute mein Angebot trotzdem nicht. In meiner Schulzeit hatte ich mir mit Babysitten etwas dazuverdient. Damals war es mir stets lieber gewesen, wenn ich den Gören Astrid Lindgren aufdrängen durfte, als mir mit ihnen das teils hirnverbrannte Kinderprogramm anzusehen.

Tante Emmy marschierte mit strahlendem Gesicht in die Bibliothek, überreichte mir einen abgegriffenen Band, setzte sich in einen der beiden Ohrensessel am Fenster und bot mir den anderen an. »Beim Lesezeichen geht es weiter. Da hatte meine Betty am Abend davor aufgehört.« Jetzt war ich mir sicher, dass ihre Stimme zitterte. »Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, wir waren an der Stelle an der die Handwerker im Wald ihr Theaterstück proben.«

Meine spontan aufgekommenen, üblen Vorahnungen zerstreuten sich beim Anblick des Titels: Ein Sommernachtstraum von William Shakespeare. Da sollte mir also gleichzeitig ein wenig Bildung zuteilwerden. Wohlan! »Soll ich die Namen mitlesen?«, fragte ich in geschäftsmäßigem Ton.

»Betty hat sie immer etwas leiser als das Gesprochene vorgelesen. Wenn man sie weglässt, ist es manchmal ein wenig verwirrend. Obwohl ich es beinahe auswendig kenne.«

Ich begann, so gut ich konnte, ihren Wunsch zu erfüllen. Noch nie zuvor hatte ich allein ein Theaterstück vorgetragen. Im Deutschunterricht hatten wir Schlüsselszenen mit verteilten Rollen gelesen, aber das war etwas anderes gewesen. Mit der Zeit bekam ich Routine und begann vorsichtig, die Stimme ein wenig zu verstellen, um die verschiedenen Personen hervorzuheben. Dabei schielte ich beim Umblättern in Tante Emmys Richtung, um am Gesichtsausdruck abzulesen, ob diese Idee willkommen war.

Sie saß mit geschlossenen Augen in ihrem Sessel. Manchmal formten ihre Lippen den Beginn des nächsten Satzes.

Nach einer Weile wurde mir der Mund trocken. Ich kündigte an, mir rasch ein Glas Wasser zu holen.

Sie schien wie aus einem Tagtraum aufzuwachen, lächelte mir zu und bot an, es für heute gut sein zu lassen. »Sie haben schön vorgelesen. Gerade so wie meine Betty. Ich nahm an, dass die jungen Mädchen das heute gar nicht mehr können, wenn sie diese schreckliche Musik hören.«

Mit der unvergleichlichen Lieblingsvorleserin verglichen und obendrein als junges Mädchen bezeichnet zu werden, überstieg meine kühnsten Erwartungen. Beschwingt holte ich mir das Wasser, überwand den sehr schwachen Anstandsprotest meiner Zuhörerin und fuhr mit dem Vorlesen fort.

So schafften wir am selben Vormittag den Rest. Danach war ich vollkommen erledigt und ging erst einmal ein wenig in den Garten, um mir die Beine zu vertreten. Eine innere Stimme verspottete mich: Ha! Hast du erwartet, den Unkrautjäter anzutreffen? Heute ist Sonntag, altes Mädchen! Da wird weder in einem anständigen Haus noch im dazugehörigen Garten gearbeitet. Sei froh, dass du nicht den Fernsehgottesdienst anschauen musstest – einschließlich geheuchelter Begeisterung deinerseits. Warum hatte dieser dämliche Kobold in meinem Kopf immer recht?

Ich hörte ein Auto in der Auffahrt und lief zum Haus. Alexandra brachte meine Sachen. Das erstaunte Gesicht meiner früheren Vermieterin beim Anblick ihrer Urgroßmutter, die putzmunter in der Tür erschien, um beim Ausladen zu helfen, entschädigte mich für alles, was seit meiner Ankunft schiefgelaufen war.

»Was macht die denn schon hier?«, flüsterte Alexandra mir zu, nachdem sie sehr clever ihre Anverwandte mit dem Öffnen und Schließen der Haustür betraut hatte, »damit die Fliegen draußen bleiben«.

Den Trick musste ich mir merken! Kleine Kinder sollte man im Supermarkt schließlich ebenfalls beschäftigen, damit sie nicht aus Langweile nervten.

Ich erzählte Alexandra von dem Überfall am Morgen und Beata im Nachthemd. Kichernd luden wir die Kartons aus dem Auto und trugen sie hinein. Die wenigen Möbelstücke, die ich besaß, durfte ich auf dem Dachboden einlagern.

»Ich habe das blaue Zimmer für dich vorgeschlagen, weil du blau von den vorhandenen Farben am liebsten magst«, erklärte mir Alexandra. »Außerdem war es der letzte freie Raum ohne Dachschräge. Hast du dich im zweiten Stock umgesehen? Am scheußlichsten finde ich das olivgrüne Zimmer mit den rötlich gebeizten Nussbaummöbeln. Das ist sogar schlimmer als das altrosafarbene mit der cremeweißen Einrichtung. Außerdem liegt das blaue auf derselben Etage wie die Schlafzimmer meiner Omas. Ich halte das für einen Vorteil.«

Ich gestand, dass ich gar nicht auf die Idee gekommen war, mir das oberste Geschoss anzusehen. Wie es schien, hatte ich nichts verpasst.

»Meine Mutter wollte ursprünglich einen Raum nach deinem Geschmack herrichten lassen, aber Handwerker konnte ich meinen Ahnen und Beata nicht zumuten zu all dem anderen Chaos. Mama hat viele hilfreiche Ideen auf Mallorca. Die Umsetzung überlässt sie freundlicherweise mir.« Alexandra drückte mir einen flachen Karton in die Hände. »Kleines Geschenk des Hauses. Der Laptop kam diese Woche per Post. Der stand bei dem Lover meiner Mutter herum. Er hatte sich zu Weihnachten einen schnelleren gekauft. Für Textverarbeitung soll es reichen, hat er gesagt. Seine Daten hat er geplättet und für dich sogar ein paar frei verfügbare Programme installiert. Du musst selbst schauen, was du davon gebrauchen kannst. Er hält sich zwar stur von diesem Kaff fern, hilft mir aber immerhin per Paketpost statt nur per Telefon. Dabei ist er nicht mal mit mir verwandt.«

»Er ist nicht nur nicht mit dir verwandt. Er hilft auch nicht dir, sondern mir.« Überglücklich hielt ich den Karton an mich gepresst und schämte mich für den Gedanken, der in den letzten Sekunden durch mein Hirn geschossen war: Was die Anzahl der Silben pro Minute anging, war meine liebe Freundin ganz nach ihrer Urgroßmutter geraten. Endlich konnte ich die Geschichte aufschreiben, für die ich mir Notizen gemacht hatte. Ich hatte mich nach einem Internetcafé umsehen wollen, war mir jedoch unsicher, ob ich dort spontan schreiben könnte. »Ich weiß gar nicht, wie ich euch dafür danken soll …«

»Dann lass es einfach!«, unterbrach mich Alexandra fröhlich, nahm den letzten Karton aus dem Auto und schloss ab.

Arnd kam auf uns zu und wurde von Alexandra herzlich links und rechts auf die Wangen geknutscht. Die gemischten Gefühle, die auf seinem Gesicht zu lesen waren, schienen sie dabei umso mehr anzuspornen. Alexandra war gegenüber zurückhaltenden Zeitgenossen gnadenlos, was ich leider schon schmerzhaft zu spüren bekommen hatte.

»Meine Oma schickt mich, damit ich den armen Mädchen helfe, die schweren Kisten hineinzutragen. Vom Sich-abschlabbern-lassen war dabei nicht die Rede«, kommentierte er mit einem süffisanten Grinsen.

Okay, ich hatte mich in ihm gründlich getäuscht. Der Mann wusste sich zu wehren.

Alexandra ging nicht darauf ein, sondern erklärte mit großem Augenaufschlag und übertrieben erotischer Stimme: »Du kommst gerade im richtigen Augenblick, denn wir sind fertig.«