Deich mit Blick auf Norderney - Louise M. Moran - E-Book

Deich mit Blick auf Norderney E-Book

Louise M. Moran

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Beschreibung

Spontan nimmt Charlotte die Einladung ihrer Freundin Lena an, zusammen mit ein paar Bekannten an die Nordsee zu fahren. Doch dort prallen unterschiedliche Interessen aufeinander, das Wetter spielt nicht immer mit, alte Konflikte kochen hoch, Lenas Freund gefällt Charlotte entschieden besser, als er sollte, und Philips Auftauchen bringt endgültig jede Planung durcheinander. Als das Gefühlschaos komplett ist, stellt sich nur noch die Frage: bleiben, abreisen oder wattwandern? Ein humorvoller Roman über einen missglückten Urlaub in Norddeich.

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Inhalt

Ankunft

Bettgenossen

Gepflegte Langeweile

Schietwetter

Stufen

Nach Norden

Abschied

Märchenstunde

1. Ankunft

China?«, rief meine Freundin Lena so laut, dass ich unwillkürlich das Telefon vom Ohr weghielt. »Was will dein Vater denn da?«

»Seine Firma möchte dort in Zusammenarbeit mit einem chinesischen Partner eine Produktionsstätte betreiben, und er soll beim Aufbau helfen. Oder versehentlich Betriebsgeheimnisse an Spione der Konkurrenz verraten. Irgendetwas in der Art.«

»Du verbringst also die Semesterferien bei deiner Mutter auf Mallorca?«

»Nur, wenn man mich mit den Füßen voran in den Frachtraum des Fliegers trägt.«

Lena lachte. »Na ja, so ganz meine Welt wäre das auch nicht. Kaum zu glauben, dass es deine Mutter ganzjährig dort aushält. Wer nichts wird, wird Wirt, oder wie heißt es so schön? Ist sie sauer, wenn du nicht kommst?«

»Die freut sich wahrscheinlich insgeheim, dass ich nicht ihre traute Zweisamkeit mit Lover Nummer fünf störe. Sie ist ja so verliebt! Und diesmal ist es für immer!«

»Irgendwann müsste sie doch alle ihre Köche und Kellner durchhaben, oder stellt sie laufend neue ein? Hoffentlich hält die Sache bis Weihnachten. Sonst musst du womöglich dort feiern und sie trösten.«

»Mach mir keine Angst!« Mir lief ein Schauer über den Rücken.

»Nachdem wir geklärt haben, was du nicht machst, bleibt die Frage, was du machst.«

»Ich arbeite wieder als Urlaubsvertretung bei meinem Onkel.«

Lena lachte. »Was auch sonst? Bungeejumping, Motocross, Wildwasserrafting und Panzerfahren wären für eine so verwegene Person wie dich zu langweilig. Was machst du dort? Büroklammern nach Farben sortieren?«

»Ich schreibe Rechnungen und Angebote, öffne die Post und sage den Kunden am Telefon ausgesucht freundlich, dass ich keine Ahnung habe, und verspreche ihnen einen Rückruf vom Chef persönlich.«

»Du arbeitest als Anrufbeantworter?«

»Immer noch besser als ein Job als Staubsauger oder Müllschlucker.«

»Brauchst du das Geld so wahnsinnig dringend?«

»Nicht so ganz. Aber daheim fällt mir sonst die Decke auf den Kopf. Es macht sich auch immer gut im Lebenslauf, wenn man etwas Erfahrung in der Arbeitswelt gesammelt hat. Und es ist auch schön, wenn man mal spontan etwas unternehmen kann, ohne als Ausgleich den Rest des Monats von Haferflockensuppe leben zu müssen.«

»Wildwasserrafting oder lieber Panzerfahren?«, neckte mich Lena.

»Theater, Museum, Buchhandlung«, zählte ich mit gespielt monotoner Stimme auf.

Lena lachte. »Was auch sonst? Das heißt also, du kommst gar nicht aus deinem schwülwarmen Dachkämmerchen heraus diesen Sommer, oder besuchst du Papa in China?«

»Nee, das wäre ihm dann doch zu teuer, mich einfliegen zu lassen, aber er hat mir was überwiesen, damit ich irgendetwas Billiges last minute buchen kann. Ich habe aber noch keinen Plan, was ich damit anstellen könnte.«

»Scheidungskind zu sein, hat eindeutig finanzielle Vorteile.«

»Ja, er scheint gegen Mamas Einladung nach Mallorca anstinken zu wollen.«

»Wann hast du frei?«

»Ab Mitte September.«

»Mensch, Charlie! Du kommst mit uns!« Lenas Stimme kippte vor lauter Eifer.

»Mit euch oder zu euch?«

»Mit uns. Wir haben nicht vor, unseren Urlaub hier in Freiburg zu verbringen. Wir fahren zwei Wochen ans Meer. Irgendwohin bei Norderney.«

»Ins Meer bei Norderney? Ist das nicht reichlich nass auf die Dauer?«

»Haha! Witz, komm raus, du bist umzingelt! Moment, ich schau nach ...« Irgendetwas raschelte im Hintergrund. »Norddeich heißt das Kaff. Es liegt am Festland schräg gegenüber von Norderney.«

»Also ihr fahrt an einen Deich mit Blick auf Norderney?«

»Warum nicht? Das ist erheblich billiger, weil wir obendrein auch noch zehn Prozent Verwandtenrabatt bekommen, und wir können einen Tagesausflug auf die Insel machen. Reicht doch! Ich wohne auch lieber in einem Neubau mit Blick auf einen wunderschönen Altbau als umgekehrt. Und deine sparsame Kleinkrämerseele müsste jetzt aufjauchzen vor Glück.«

»Erwischt! Klingt tatsächlich vernünftig! Und wer ist wir?«

»David, Ali, Flo, Josie und ich.«

»Kenne ich außer dir jemanden?«

»Was ist nur aus deinem einst so guten Gedächtnis geworden? Zweiundzwanzig Jahre alt und kann sich nicht mehr an meine Freundin Ali erinnern! Tz, tz, tz!«

»Ach, Alice? Die du aus dem Chor kennst? Warum nur geben sich Eltern solche Mühe, einen schönen Namen für ihre Kinder zu finden, wenn die Freundinnen ihn bis zur Unkenntlichkeit und Geschlechtsverwirrung abkürzen?«

»Sagt ausgerechnet unsere reizende Charlotte, die jeder nur als Charlie kennt.«

Ich lachte. »Eben. Genau darum geht es. Du bist seit dem Ende unserer Schulzeit die Einzige, die mich noch so nennt.«

»Echt?« Lena klang ehrlich überrascht und fügte nach kurzem Nachdenken hinzu: »Ist mir wurscht, Charlie. In unserem Alter gewöhnt man sich nicht mehr um.«

»Gut. Haben wir das endlich auch mal geklärt. Und wer sind gleich nochmal die anderen?«

»Aaaalso! Ali-Alice haben wir abgehakt. Die kennst du von meiner letzten Geburtstagssause. Ihren Mann Flo-Florian kennst du nicht, weil der da mit seinen Kumpeln auf einer Radtour war und nicht mitkam. Ihre Tochter Josie-Josefine kennst du auch nicht, weil die da noch nicht auf der Welt war.«

»Ja, ich erinnere mich bei Ali an einen gewissen Bauch.«

»Hurra! Das Gedächtnis kehrt zurück! Wo ist der Champagner? Ach, nee, du trinkst ja nicht. David kennst du noch nicht, weil ich ihn selbst erst seit vier Wochen kenne und abgöttisch liebe.« Lena mimte ein theatralisches Seufzen.

»Ja, der Name fiel ab und an. So gefühlt viertausenddreihundertzwölf Mal, und auch nur ganz nebenbei. Ging im Gespräch völlig unter. Und was soll ich armer Single in eurem Pärchenurlaub?«

»Kochen, den Geschirrspüler einräumen und die Endreinigung übernehmen, weil wir nicht aus den Betten kommen. Nee, Quatsch! Wir haben da ein kleines Reihenhäuschen mit einem schönen Koch-Ess-Wohnbereich unten und drei Schlafzimmern oben. Da Josie noch so klein ist, will Ali sie bei sich haben. Im zweiten Zimmer schlafe ich mit David …«

»Nein, bitte keine Details!«

»Ich wollte sagen: Da schlafen David und ich.« Lena imitierte ein Hecheln und Stöhnen. »Bist du immer noch so verklemmt wie damals in der Schule? Egal! Das dritte Schlafzimmer ist also noch frei. Es ist klein und hat ein Etagenbett, aber man ist dort ja nur zum Pennen. Wir würden die Kosten durch fünf teilen, weil wir Josie nicht mitzählen. Den genauen Betrag kann mir Ali nennen. Hättest du denn prinzipiell Interesse?«

»Falle ich euch nicht zur Last?«

»Doch! Saumäßig! Aber wir sind diesbezüglich alle Masochisten. Deshalb biete ich es dir an.«

»Okay. Wenn Papas Überweisung ausreicht, bin ich gern dabei. Herzlichen Dank für die Einladung!«

»Du musst aber mit dem Zug fahren, weil David und ich versprochen haben, die Lebensmittel mitzunehmen. Ali und Flo haben das Auto voll mit Babygedöns. Man glaubt gar nicht, was so ein kleines Persönchen alles braucht. Zum Glück ist vor Ort ein Kinderbett vorhanden. Sonst müssten die das Reisebett oder Ali aufs Dach schnallen.«

»Ich fahre gern mit dem Zug. Könnt ihr vielleicht meine Reisetasche mitnehmen?«

»Vermutlich nicht. David hat nur einen Polo.«

»Okay. Ich komme auch so klar. Warum kauft ihr die Lebensmittel nicht vor Ort?«

»In so Urlaubsortschaften ist das doch immer sauteuer! Und dann haben sie vielleicht nur ein kleines Sortiment in dem Küstendorf. Ich gehe da lieber kein Risiko ein. David ist sehr wählerisch und isst nicht alles.«

Dass es in der Nähe sicherlich auch noch größere Orte gab, erwähnte ich lieber nicht, sondern stellte mich eben aufs Schleppen ein. Da man für sämtliche Wetterlagen gerüstet sein musste, war es mit meinem mittelgroßen Koffer sicher nicht getan. Das musste wahre Liebe sein, wenn die alte Schulfreundin ihre Siebensachen buckeln durfte, damit der Schatziputz nicht die Müslimarke wechseln musste, oder was auch immer der Typ morgens aß. An einem warmen Samstag Mitte September wuchtete ich am Freiburger Bahnhof Koffer, Reisetasche und Umhängetasche in einen überfüllten Zug und kämpfte mich mühsam zu meinem Sitzplatz durch. Dort saß natürlich bereits ein älterer Herr, der mich wortreich darauf hinwies, dass man seinen Platz unverzüglich aufzusuchen habe, weil sonst die Reservierung verfalle. Ich diskutierte nicht lange herum, sondern wartete auf den Zugbegleiter, der diese Ansicht zum Glück nicht teilte und ungefragt meinen Koffer in der Gepäckablage verstaute, während er das Geschimpfe des zum Aufstehen gezwungenen Rentners, der sich das Geld für eine Reservierung gespart hatte, mit stoischem Gesichtsausdruck ignorierte.

Für meine Reisetasche war dort oben leider kein Platz mehr, sodass ich sie hochkant zwischen die Beine nahm, was mein Sitznachbar mit einem anzüglichen Grinsen quittierte. Sein billiger Herrenduft in Kombination mit Knoblauchfahne wurde nur noch vom Gestank seiner Füße getoppt. Und ich fragte mich, was schlimmer war: die stets verpönten, sauberen, weißen Tennissocken in Sandalen oder wie in seinem Fall ungepflegte Schweißfüße ohne Socken in Sandalen. Er bot mir einen leicht verbogenen Schokoriegel an, den ich dankend ablehnte.

Zum Glück stieg er in Offenburg aus, und eine ältere Dame nahm den Platz neben mir ein. Sie war auf dem Weg nach Köln, um dort einen kranken Urenkel zu betreuen, und ich hörte mir geduldig ihre Kindheitserinnerungen zu sämtlichen Kinderkrankheiten an, die ein Mensch nur bekommen und offenbar mit lediglich leichten Hirnschäden überleben konnte. Nach einer Stunde neben ihr hätte sicherlich auch noch der militanteste Impfgegner freiwillig den Ärmel hochgekrempelt.

In Köln musste ich umsteigen. Kurz vor Einfahrt des Zuges teilte uns eine freundliche Stimme über Lautsprecher mit: »Der Zug verkehrt in umgekehrter Wagenreihung.« Dem darauffolgenden Gerenne und Gewusel konnte man entnehmen, welche Reisenden wie ich eine Reservierung besaßen.

Zum Glück hatte der Mann mittleren Alters, der auf meinem Platz saß, noch nichts von der Reservierung-sich-nach-fünf-Sekunden-Fahrt-in-Luft-auflöst-Regel gehört. Er stand sofort auf und verstaute sogar ungefragt meinen Koffer in der Gepäckablage. Ich musste ja einen extrem gebrechlichen Eindruck machen! Die alte Dame neben mir las einen Krimi, und ich konnte ein wenig schlafen. Mein linkes Bein, gegen das die Reisetasche irgendwann gekippt sein musste, schlief sogar noch ein Weilchen länger als ich.

Ich fuhr bis Norddeich-Mole, wo Lena und David mich abholen wollten. Doch auch dann, als sich nach dem Aussteigen das Gewühle ein wenig sortiert hatte, konnte ich sie weit und breit nicht entdecken. Das fing ja super an! Ich wählte Lenas Nummer, aber sie hatte ihr Telefon offenbar ausgeschaltet. Hätte ich Depp mir die Adresse des Ferienhauses geben lassen, hätte ich ein Taxi nehmen können, aber so blieb mir nichts anderes übrig, als mir hier nach einem Tag im engen Zug die müden Beine in den Bauch zu stehen und darauf zu warten, dass eine Sitzgelegenheit frei wurde.

Ein abgerissen aussehender junger Mann mit einem für seinen mageren Körper viel zu großen, zerknitterten T-Shirt, ungekämmten Haaren, die mich spontan an den Troll erinnerten, den mir Tante Marga aus dem Norwegenurlaub mitgebracht hatte, und bartähnlichem Wildwuchs im Gesicht schlenderte mit den Händen in den Taschen seiner abgewetzten Jeans zwischen den Ankommenden herum. Er blickte eine junge Frau herausfordernd an, die schnell wegsah, ihren Koffer zwischen die Beine nahm und den Gurt ihrer Handtasche ab sofort lieber mit beiden Händen festhielt. Als er die offenbar auf jemanden Wartende ansprach, schüttelte sie den Kopf und entfernte sich mit energischen Schritten.

Da er in meine Richtung kam, holte ich schnell einen Euro aus meinem Geldbeutel, den ich sofort wieder in der Umhängetasche versenkte, bevor der Mann mich erreichen konnte. Ich hängte mir die Tasche diagonal um und hielt den Griff des Rollkoffers und die Reisetasche mit der rechten Hand und den Euro in der linken. Einerseits steckte ich gern einem Wohnsitzlosen etwas zu, anderseits hatte ich aber ebenfalls Angst vor Trickdieben.

Doch er bat nicht um ein wenig Kleingeld, sondern fragte: »Heißt du vielleicht zufällig Charlie?«

Ich starrte ihn völlig entgeistert an.

»Weiß du es nicht, oder willst du es mir nur nicht sagen?«, fragte er grinsend.

»Ja.«

»Bezieht sich deine Antwort auf meine erste oder meine zweite Frage?« Sein Grinsen wurde noch breiter.

»Ich bin Charlie«, flüsterte ich konsterniert.

»Super! Volltreffer! Ich soll dich nämlich abholen, weil Lena keine Zeit hat.«

»Okay!« Mehr brachte ich nicht über die Lippen. Während er sich Koffer und Reisetasche schnappte und sich eine mir unbekannte Melodie pfeifend auf den Weg machte, folgte ich ihm völlig perplex und konnte es einfach nicht fassen, dass das David war. Der wundervolle David mit den hübschen Gesichtszügen, dem sensationellen Körper und dem Wahnsinnslächeln? Liebe musste tatsächlich blind machen. Anders konnte ich mir die Diskrepanz zwischen Lenas ausführlichen Schilderungen und der vor mir gelangweilt schlendernden Realität nicht erklären.

Er öffnete die Heckklappe seines pottdreckigen Kleinwagens, verstaute den Koffer und die Reisetasche im Kofferraum, warf die Klappe schwungvoll zu und drehte sich auf dem Absatz zu mir um. Mir wurde bewusst, wie dumm ich herumstand, und sein Grinsen gab mir den Rest. Ich bewegte mich mit hölzernen Schritten zur Beifahrertür, aber bevor ich sie öffnen konnte, überholte er mich, riss sie auf und verbeugte sich theatralisch. Der Typ hatte eindeutig nicht mehr alle Tassen im Schrank! Bei Lena musste der sexuelle Notstand ausgebrochen sein, dass sie sich so einen Kasper anlachte. Wie oft er sich wohl pro Woche wusch?

Innen war das Auto fast noch versiffter als außen. Der Beifahrersitz war staubig, und im verdreckten Fußraum lagen zerknüllte Bäckertüten und zwei leere Flaschen. Ich riss mich zusammen und setzte mich. Er beugte sich über mich, griff neben mir nach einem Hebel und zog mit einem kräftigen Ruck den Sitz nach hinten, unter dem eine Dose mit Champignons zum Vorschein kam.

»Schau an! Die hatte ich schon gesucht! In einem ordentlichen Haushalt geht eben nichts verloren! Kannst du die bitte halten, damit ich sie nicht wieder im Auto liegen lasse?« Er bückte sich, griff zwischen meinen Beinen nach der Dose und drückte sie mir in die Hand. Dann schloss er die Tür, ging um den Wagen herum und nahm auf der Fahrerseite Platz.

»Ich bin übrigens Philip«, erklärte er mir, als er den Motor anließ.

»Hallo, Philip!«, sagte ich mechanisch.

»Du kannst mich aber auch Phil nennen.«

»Hallo, Phil!«

»Ali – also eigentlich Alice – ist meine Zwillingsschwester.«

Ich starrte ihn entgeistert an. Davon hatte Lena kein Wort erwähnt!

»Nein, du musst mich nicht so anglotzen. Das ändert auch nichts. Zwillinge sehen nicht grundsätzlich fast identisch aus«, dozierte er während der Fahrt, »sondern nur dann, wenn es sich um eineiige Zwillinge handelt. Und ja, wir sind zweieiige Zwillinge wie beinahe alle Zwillingspaare mit unterschiedlichem Geschlecht. Ausnahmen bilden nur die, bei denen ein Zwilling eine Geschlechtsumwandlung vornehmen ließ.«

Mich interessierte aber viel mehr, wie Lena es fertiggebracht hatte, nach wenigen Wochen den supertollen David gegen dieses merkwürdige Exemplar auszutauschen. Doch dann wurde mir klar, dass ich müde, wie ich war, in eine falsche Richtung dachte. David war Lenas Freund. Und Philip war Alis Bruder. Doch was machte der hier?

»Wir – also du und ich – teilen uns übrigens ein Zimmer«, beantwortete er die Frage, die sich mir als nächste gestellt hätte. »Hurra, musst du jetzt rufen, wenn du nicht unhöflich sein willst«, fügte er grinsend hinzu.

»Hurra«, flüsterte ich, weil mir die Stimme versagte. Ich betrachtete die beiden leeren Wasserflaschen im Fußraum. Es handelte sich um Mehrwegflaschen. Das war aber auch das einzig Sympathische an meinem Fahrer.

Er parkte den Wagen vor einem Reihenhaus, und wir stiegen aus. Ich hielt noch immer die Champignondose in der Hand und kam mir reichlich blöd damit vor.

Phil öffnete den Kofferraum und stellte den Koffer und die Reisetasche auf den Gehweg. »Machst du hier nur fünf Monate Urlaub, oder ziehst du ein?«, fragte er grinsend.

Ich hielt ihm die Dose hin, damit ich mich um mein Gepäck kümmern konnte.

Doch er runzelte genervt die Stirn. »Kannst du das Ding nicht das kurze Stück für mich tragen? Du siehst doch, dass ich dafür keine Hand frei habe!«

Bevor ich auch nur eine zaghafte Bewegung in Richtung Koffer machen konnte, hatte er sich die beiden Gepäckstücke geschnappt und trug sie zur Tür.

Ich folgte ihm verdattert und nutzte die Gelegenheit, als er aufschloss, um wenigstens die Reisetasche zu nehmen. Ich war zwar relativ klein, aber nicht aus Zucker und musste nicht bedient werden.

Drinnen führten links eine Tür vermutlich in ein Gäste-WC und dahinter eine Treppe nach oben, unter der sich ein Wandschrank befand. Rechts hing an einer Garderobe eine abgewetzte Jacke. Ihr Eigentümer war unschwer zu erraten. Geradeaus ging es in einen großen Wohn- und Essbereich und in die Küche vermutlich rechts um die Ecke.

»Wo sind die anderen?«, fragte ich erstaunt.

»Die stehen alle noch im Stau. Zum Glück bin ich pünktlich losgefahren und habe auch keine Autobahnabfahrt verpasst wie mein werter Schwager. Lena und David haben nämlich verschlafen …« Er grinste vielsagend und machte eine unanständige Armbewegung. »… und deshalb Ali gebeten, dich abzuholen. Flo wiederum hat sich gründlich verfahren, woraufhin Ali den Rest der Strecke ans Steuer wollte. Die hat aber Angst vor der linken Spur und fährt im Zweifelsfall sogar lieber rechts zwischen den lahmen Lkw. Dass die viel gefährlicher sind und man bei einem Unfall einen Pkw zwischen all den ineinandergeschobenen Lkw erst auf den zweiten Blick entdecken kann, will ihr einfach nicht in den Kopf. Sie scheint ernsthaft zu glauben, dass der alberne Aufkleber Baby an Bord die Lkw-Fahrer vom Zeitunglesen und Fußnägelschneiden abhält. Sie hat jedenfalls Lenas Bitte, dich abzuholen, an mich weitergereicht, weil sie deine Nummer nicht hat und Lena aus unerfindlichen Gründen nicht zu erreichen ist. Mein Vorschlag, in Zukunft auf die Datenschutz-Grundverordnung zu pfeifen und großzügig Telefonnummern und Urlaubszieladressen auszutauschen, stieß auf keine Gegenliebe. Dafür habe ich ein neues Schimpfwort gelernt: Rechthaberstinkstiefel. Ich werde es bei Gelegenheit in mein Vokabelheft eintragen.«

Wie versteinert stand ich im Eingangsbereich und starrte auf die Konservendose in meiner Hand. Ich war mit einem Verrückten allein im Haus!

Phil schien meinen Gesichtsausdruck falsch zu interpretieren. »Wenn du auf den Pott musst, ist dies das nächstgelegene Ziel!« Er deutete auf die Tür links neben mir. »Zum Glück hat Ali mir nicht nur den Windelvorrat, sondern auch die Tasche mit den Gemeinschaftshandtüchern, den Seifenspendern und dem Klopapier aufs Auge gedrückt. Es steht also alles bereit! Ich bringe dein Zeug nach oben, während du dir – die Nase puderst.« Er grinste spöttisch und nahm mir die Konservendose aus der Hand. Ihm war offensichtlich nicht entgangen, wie mir beim Stichwort Pott das Blut in die Wangen geschossen war. Ich floh aufs Klo und schloss erleichtert hinter mir ab. In Sicherheit!

Am liebsten hätte ich dort auf die Ankunft der anderen gewartet, aber das konnte womöglich noch Stunden dauern. Die Trinkwasserversorgung wäre zwar gesichert gewesen, aber die Angst vor dem Kommentar, der mich nach einer mehrstündigen Toilettensitzung erwarten würde, ließ mich dann doch mit zitternden Händen die Tür öffnen. Dumme Gans, schalt ich mich. Lena und Ali würden mich nie mit einem Mann alleinlassen, dem man nicht vertrauen konnte.

Phil lümmelte auf der Couch herum und blätterte grinsend in einem Buch. »Na, alles nochmal gutgegangen?«, begrüßte er mich. »Die verstorbene Oma der Vermieter war in den Sechzigerjahren offenbar Mitglied eines Buchclubs gewesen, was uns ein Regal voller unfreiwillig komischer Lektüre beschert. Die gibt uns an verregneten Urlaubstagen endgültig den Rest! Sehr gut! Muss ich schon nicht den Kopf gegen die Wand schlagen oder die Hand in den Toaster stecken, wenn ich mich nach Schmerzen sehne. Und die Todesursache der Oma ist damit auch gleich geklärt: Langeweile und Fremdschamschmerzen. Ich zeige dir mal den Rest der Bude.« Er stand seufzend auf und deutete nacheinander in die entsprechende Richtung. »Wohnbereich, Essbereich, Küche, Terrasse, dahinter etwas Alibirasen, Treppe. Wenn Sie mir bitte folgen würden.«

Ich stieg brav hinter ihm die Stufen hinauf.

Oben deutete er auf eine Tür. »Hier logiert unsere junge Familie.« Er öffnete eine andere. »Badezimmer.«

Ich warf kurz einen Blick hinein. Es war erstaunlich geräumig, und neben Dusche, Waschbecken und WC waren sogar eine Badewanne, eine Waschmaschine und ein Trockner vorhanden. Ein Duschhandtuch und ein Strandlaken hatte ich selbst mitgebracht. Um die Handtücher an den Waschbecken und einen Duschvorleger hatte sich, wie versprochen, Ali gekümmert.

»Diese Treppe führt nach oben, wo unser Liebespaar untergebracht ist, und hier befindet sich unser Reich!« Phil öffnete die dritte Tür und überließ mir mit einer tiefen Verbeugung und einer vagen Geste den Vortritt. Das Kinderzimmer war ein schlechter Scherz: Auf der rechten Seite standen ein Etagenbett und ein Tischchen mit zwei Kinderstühlchen, auf der linken ein Schrank, der eher an einen Spind erinnerte, eine Wickelkommode, bei deren oberster Schublade die Front fehlte, und ein Gitterbettchen. In der Mitte des Raums waren mein Gepäck und eine große, abgewetzte Reisetasche abgestellt. Mir kam die englische Redewendung in den Sinn: There's no room to swing a cat.