Weihnachten in London - und sechs weitere Kurzgeschichten - Louise M. Moran - E-Book

Weihnachten in London - und sechs weitere Kurzgeschichten E-Book

Louise M. Moran

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Beschreibung

In sieben Kurzgeschichten verbringen Menschen die Weihnachtszeit in England auf unterschiedliche Weise: Edgar blickt in ein helles Fenster, Poppy ist in einem Herrenhaus auf dem Lande zu Gast, Amelia trifft auf einer Party einen Tollpatsch, Fiona verursacht beim Ausparken einen Unfall, Lynn schläft in einem fremden Bett, Sophie hat ein Blind Date, und Evie zählt Hagebutten. Eine humorvolle Lektüre für Advent und Feiertage.

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Seitenzahl: 150

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Inhalt

Weihnachten in London

Das helle Fenster

Touchiert

Kopfkissengeplauder

Hagebutten

Blind Date

Heatherworth Hall

Weihnachten in London

Was machst du an den Feiertagen?«, fragte mich Lucy unvermittelt.

Verwirrt blickte ich von der Tabelle auf dem Bildschirm zu ihr und musste erst meine Gedanken sortieren. Weihnachten! Das war bei mir so eine Sache.

»Fährst du zu deinen Eltern nach Leeds?«, hakte meine Kollegin nach.

»Nein, das tue ich mir nicht an«, antwortete ich verlegen. »Die betrachten mich seit meiner Scheidung als Versagerin. Prinzipiell haben sie damit sogar recht, aber das hat nichts mit der Trennung von Michael zu tun. Die verbuche ich als persönlichen Erfolg. Aber wenn meine Schwester mit Mann und drei prächtigen Kindern auftaucht, schaut unsere Mutter den ganzen Abend von meiner Schwester zu mir, von mir zu ihr, und man kann Mamas Gedanken auf ihrer Stirn lesen: Warum sind die beiden so verschieden, obwohl wir sie doch gleichbehandelt haben? – Ich bleibe lieber daheim in London und lese meine Lieblingsbücher. Da weiß ich wenigstens …«

»Komm am Vierundzwanzigsten zu mir!«, unterbrach mich Lucy. »Ich schmeiße eine Party für Freunde, die keinen Bock auf Familie haben. Du könntest etwas früher aufkreuzen, um mir bei den Vorbereitungen zu helfen.«

Damit hatte sie meine Schwachstelle getroffen: Wenn jemand Hilfe brauchte, konnte ich nie Nein sagen, obwohl ich Partys von ganzem Herzen verabscheute. Meist war es laut, alle redeten durcheinander, keiner hörte richtig zu, und am Ende war der überwiegende Teil so betrunken, dass mit ihm nichts mehr anzufangen war.

An Heiligabend packte ich nachmittags für Lucy die Weihnachtsedition ihres Lieblingsgebäcks und die von ihr gewünschte Flasche Weißwein in silberfarbenes Geschenkpapier, band um beides kunstvoll je eine große, weinrote Schleife, die ich mit schmalen, schwarzen Bändern zusätzlich aufmotzte, und verteilte willkürlich ein paar silbern glänzende Sternaufkleber auf dem matten Papier, um einen weihnachtlichen Ton-in-Ton-Effekt zu erzielen.

Viel hatte ich bisher im Leben nicht erreicht, aber ich konnte zumindest langweilige Geschenke akkurat verpacken, um dadurch einen wichtigen Beitrag zum Müllberg zu leisten, den meine Generation der zukünftigen hinterließ.

Lucy schien sich ehrlich zu freuen, als ich ihr bei meiner Ankunft die beiden Gegenstände überreichte. »Wow! Wenn ich doch nur auch so tolle Schleifen binden könnte! Ich hoffe noch immer auf die Erfindung eines Geschenkbands mit Klettverschluss. Komm rein!« Sie gab die Sachen an einen baumlangen Blonden weiter, der grinsend hinter ihr stand, und nahm mir den Mantel ab. »Das ist mein Bruder Harry! – Das ist meine Kollegin Amelia!«, stellte sie uns einander vor.

Harry klemmte sich die Gebäckpackung kurzerhand zwischen die Beine, schüttelte mir mit der dadurch freigewordenen Pranke temperament- und kraftvoll die Hand und strahlte über das ganze Gesicht. Was dabei aus der kunstvollen Schleife wurde, konnte man wirklich nur noch als Kunst bezeichnen.

Doch das machte nichts, da er anschließend ohnehin die Bänder und das Papier von den Geschenken riss. Grinsend verkündete er: »Ich bring das Zeug mal zu den anderen Sachen. Dann mache ich mit der Deko weiter.«

Verdutzt blickte ich ihm hinterher und wandte mich an Lucy: »Was kann ich für dich tun?«

»Eigentlich ist alles vorbereitet. Harry verteilt nur noch überall Lametta, weil mir die Gegenargumente ausgingen. Aber wenn nachher die Gäste kommen, bräuchte ich jemanden, der ihnen die Mäntel abnimmt und im Schlafzimmer ordentlich auf dem Bett stapelt. Harry hat sie letztes Jahr alle auf einen Haufen geworfen und darin gewühlt, sobald sich ein Gast verabschieden wollte. Es dauerte Wochen, all die Handschuhe, die dabei verloren gegangen waren, den Eigentümern zurückzugeben. Ich ging da echt mit einer Tüte voll Zeug in halb London hausieren. Du steckst jeweils den Schal in einen Ärmel, die Handschuhe in die Manteltaschen und machst zwei Stapel: einen für Männer- und einen für Frauenkleidung. Anhand der Schals kann man hinterher die Flut von dunklen Jacken besser voneinander unterscheiden. Lass einfach einen Zipfel aus dem Ärmel hervorschauen.«

»Warum hängst du die Sachen nicht an die Garderobe?«

»Weil mir dann spätestens nach zehn Gästen die Dübel aus der Wand geschossen kommen.« Sie deutete lachend auf die Hakenleiste hinter der Wohnungstür.

»Wie viele Leute erwartest du denn?«, erkundigte ich mich wenig später in der Küche erstaunt, wo Harry enthusiastisch in einem Topf rührte, dessen Fassungsvermögen ich auf mindestens fünf Liter schätzte.

»Etwa vierzig oder so«, antwortete Lucy. »Keine Angst! Es gibt genug zu trinken, denn ich habe jeden gebeten, eine Flasche mitzubringen. – Nein, Harry! Der Punsch soll doch nicht gekocht werden! Warmmachen, habe ich gesagt!«

»Da sind aber noch Klumpen drin.«

»Das sind die Gewürze. Die lösen sich nicht auf.« Lucy zog hastig den Topf von der Herdplatte, füllte sich etwas von der undefinierbaren Flüssigkeit in eine Tasse und nippte vorsichtig. »Ah! Heiß! Jetzt hab’ ich mir die Zunge verbrannt. Probier du mal. Schmeckt das noch nach Punsch?« Sie drängte ihrem Bruder das süßlich-würzig duftende Gebräu auf.

Er nahm einen kleinen Schluck. »Keine Ahnung. Ich trinke lieber Bier. Was meinst du?« Schwungvoll wollte er mir die Tasse reichen. Dabei kippte er mir den Inhalt aufs silbergraue Kleid.

Ich schrie vor Schreck und auch ein wenig vor Schmerz, denn der ulkige Trunk war wirklich kochend heiß.

»Ups!«, meinte Harry. »Sorry!« Er nahm ein Geschirrtuch vom Haken und begann, hektisch mein Kleid trocken zu tupfen.

Ich rechnete fest damit, dass sich nun zu den leichten Verbrühungen auch noch blaue Flecke gesellten.

»Jetzt lass Amelias Busen in Ruhe! Das bringt doch nichts!«, wies Lucy ihren Bruder zurecht und wandte sich an mich. »Komm mit, du armes Opfer! Ich leihe dir ein Kleid. Kann man deines waschen, oder muss das in die Reinigung?«

»Nein, das kann in die Waschmaschine.« Ich folgte ihr ins Schlafzimmer, wo sie hektisch ihren Schrankinhalt sichtete.

»Hast du was Schwarzes?«, fragte ich verzagt beim Anblick der grellen Farben.

»Leider nur das dicke Wollkleid für Tante Agathas Beerdigung. Das ist viel zu warm. – Wie wär’s damit?« Sie hielt mir ein blaues Kleid vor den Körper und betrachtete es nachdenklich. »Das könnte dir passen. Das trug ich letztes Jahr an Silvester. Ich besitze dazu passende Saphirohrstecker. Die leihe ich dir gern!«

»Schade. Dafür fehlen mir die Löcher«, wandte ich ein.

Lucy kicherte. »Die habe ich mir als Teenager lieber selbst gestochen, nachdem sie bei meiner allerbesten Freundin asymmetrisch ausgefallen waren.«

Es klingelte.

»Beeil dich!«, rief sie und stürzte aus dem Zimmer.

Nein, auf selbst gestochene Ohrlöcher verzichtete ich gern, obwohl mir Harry sicherlich sofort behilflich gewesen wäre. Ich schloss vorsorglich die Tür ab, falls er mit dem Verstauen der Mäntel betraut werden sollte, und zog mich in Windeseile um.

Ein kurzer Blick in den Spiegel genügte, um mir die Schamesröte ins Gesicht zu treiben. Der Ausschnitt ließ nicht viel zu raten übrig. Zudem musste ich leider den BH weglassen.

Vorsichtig öffnete ich die Tür. Fast wurde ich von Harry umgerannt, der mit zwei Jacken angewetzt kam, die ich ihm abnahm. Kurz stand ich vor dem Problem, welcher Schal zu welcher Jacke gehörte. Meinem Instinkt folgend ordnete ich den rosafarbenen kurzerhand der Damenjacke zu.

Lucy steckte den Kopf ins Zimmer. »Alles okay bei dir? Steht dir gut, das Kleid. Gib mir deines. Ich steck’s in die Maschine, solange die Flecke frisch sind.«

Nachdem ich es ihr zugeworfen hatte, verstaute ich meinen BH kurzerhand in der Außentasche meines schwarzen Mantels, obwohl man den sicherlich später leichter im Stapel erkannt hätte, wenn ich statt des grauen Schals einen Bügel des weißen Spitzen-BHs aus dem Ärmel heraushängen gelassen hätte.

Zögerlich ging ich ins Wohnzimmer, wo Harry mich mit den Gästen bekanntmachte und mir unfallfrei ein Glas Sekt anbot. Doch da es nun laufend an der Tür klingelte, verzichtete ich, um die Hände frei zu haben.

In Lucys Umfeld hatten erstaunlich viele Leute keine Lust auf Heiligabend mit der Familie, oder sie besuchten ihre Angehörigen erst am Weihnachtstag. Das Wohnzimmer füllte sich. Bald wusste man kaum mehr, wo man stehen konnte, ohne von Tanzenden angerempelt zu werden. Denn Lucy hatte inzwischen ihre Weihnachtsplaylist gestartet, wie sie diese abenteuerliche Musikzusammenstellung nannte. Eine Scheußlichkeit folgte der anderen.

Verstohlen blickte ich mich um und prägte mir die Position des obligatorischen Mistelzweigs ein, um die Stelle weiträumig umgehen zu können. Harry hatte ganze Arbeit geleistet: An jedem Türgriff der Schrankwand, an jedem Bild, an jeder Lampe und schlichtweg überall, wo nur irgend Platz war, hing Lametta. Die Dekoration passte geschmacklich durchaus zur musikalischen Untermalung. So unähnlich waren die Geschwister einander gar nicht.

Als zum zweiten Mal Last Christmas erklang, beschloss ich, in die Küche zu flüchten. Lächelnd entschuldigte ich mich bei der Dame neben mir, die gerade mich und vier andere Gäste in die Geheimnisse der korrekten Punschzubereitung einweihte.

Zögerlich bahnte ich mir meinen Weg durch die Umstehenden. Von einem grinsenden Harry bekam ich Punsch angeboten, den ich freundlich ablehnte. Vorsichtig wich ich Harry aus und stolperte über seinen rechten Fuß, den er mir aus heiterem Himmel in den Weg gestellt hatte, bevor er sein Gewicht nach links verlagerte, um das Tablett mit den Punschtassen elegant einer Gruppe junger Frauen vor die Nasen zu halten.

Hätte mich nicht ein Gast geistesgegenwärtig aufgefangen, wäre ich der Länge nach auf die Schnauze gefallen. »Ich mag stürmische Frauen!«, erklärte mir mein Retter lachend, während ich verschämt einen kurzen Kontrollblick auf meinen Ausschnitt warf, wo jedoch noch alles dort war, wo es hingehörte. Gelegentlich hatte man tatsächlich auch mal ein wenig Glück im Leben.

Ich bedankte mich hastig und steuerte statt der Küche den Balkon an, wo zwei Frauen rauchten. Offensichtlich fröstelnd traten sie von einem Fuß auf den anderen. Mir kam die kalte Luft gerade recht, um den Kopf frei und die Hitze aus den Wangen zu bekommen. Ich gesellte mich dazu. Die mir angebotene Zigarette lehnte ich dankend ab, was das Gespräch der beiden umgehend auf das Thema lenkte: dringend notwendige Rauchentwöhnung und ihre Hindernisse. Ich hörte staunend zu.

Kurz darauf drückten sie die halb gerauchten Zigaretten aus und verabschiedeten sich freundlich von mir mit einem Verweis auf die Gänsehaut auf ihren nackten Armen.

Ich blieb ein bisschen, da ich als Nichtraucherin weniger fror. Zwar drang durch die offene Balkontür das Weihnachtsgejaule ungehindert zu mir, aber hier hatte ich endlich genügend Platz und wurde nicht ständig angerempelt.

Langsam fragte ich mich, ob es womöglich an meinem gigantischen Ausschnitt statt am Gedränge lag, dass so viele Gäste auf Tuchfühlung gingen. Mit weiten, hochgeschlossenen Kleidern in Tarnfarben war mir das nämlich noch nie in diesem Ausmaß passiert. Auch die Entschuldigungen wurden für gewöhnlich nicht so anzüglich grinsend vorgebracht.

Harry kam nach draußen, schenkte mir ein strahlendes Lächeln und wühlte in den Getränkevorräten, die hier lagerten. »Hast du den Rotwein gesehen?«, fragte er mich, was ich leider verneinen musste, da es keinesfalls meine Art war, in den Vorräten der Gastgeber zu stöbern. Kurz darauf fand sich das Gesuchte. Er verließ mich mit einem breiten Grinsen.

Tief durchatmend ließ ich den Blick über die Dächer der Nachbarhäuser streifen und wandte mich zum Gehen. Es wurde mir definitiv zu kalt. Doch die Balkontür ließ sich nicht öffnen. Harry hatte sie offenbar gedankenverloren hinter sich geschlossen. Nun fiel mir auch auf, dass die scheußliche Musik gedämpfter klang. Bis eben hatte ich sie keineswegs vermisst.

Vergeblich klopfte ich an die Scheibe. Gegen das Gedudel, das Gelächter und die wegen der Geräuschkulisse lauter geführten Gespräche kam ich nicht an. Ich versuchte, arrhythmisch zu klopfen, weil ich auf einen musikalischen Gast hoffte, den das stutzig machte. Doch entweder war ich zu leise oder die Musik so dermaßen scheußlich, dass man ihr selbst mein chaotisches Getrommel unbewusst zuordnete.

Zitternd gab ich es auf und dachte angestrengt nach. Mein Smartphone lag zu Hause auf der Flurkommode, weil es nicht mehr in das winzige Abendtäschchen gepasst hatte. Dort lag ein Telefon gut, war sicher aufbewahrt und würde in den nächsten Stunden ganz bestimmt keinen Kälteschaden davontragen. Meine Erben konnten sich also freuen.

Sollte ich um Hilfe schreien, um die Nachbarn auf mich aufmerksam zu machen? Aber die feierten entweder selbst oder waren nicht zu Hause. Ruhige Zeitgenossen trugen vermutlich bereits den ganzen Abend Ohrstöpsel beziehungsweise schlugen im Takt von Lucys Lieblingsweihnachtslied Last Christmas den Kopf gegen die Wand und hatten keine Zeit, meinen Hilferufen nachzugehen.

Nun hätte ich Lucys warmes, schwarzes Wollkleid von Tante Agathas Beerdigung sehr gut gebrauchen können. Ratlos blickte ich in meinen Ausschnitt. Verfärbte sich die Haut etwa blau, oder wirkte das nur so? Wo kam es zuerst zu Erfrierungen? An Zehen, Fingern, Nasenspitzen oder Brustwarzen?

Hilflos betrachtete ich die Schar der Gäste, die sich herrlich zu amüsieren schien. Es wurde getanzt, getrunken, gelacht und vermutlich auch geschwitzt, denn die Frischluftzufuhr durch die bisher offene Balkontür war nun schlagartig versiegt. In Bezug auf den Energieverbrauch war dies auf jeden Fall begrüßenswert. Andererseits hatte ich in dem meinem Testament beiliegenden Schriftstück ausdrücklich eine Einäscherung gewünscht, die jegliche Ersparnis zunichtemachen würde.

Ich fühlte nicht nur im wörtlichen und übertragenen Sinne mich ausgeschlossen, sondern langsam echte Panik in mir aufsteigen. Was konnte ich tun? Wir befanden uns im vierten Stock. Klettern und springen würde höchstwahrscheinlich zum selben üblen Ergebnis führen.

Ein Gast kam auf die Balkontür zu. Irrte ich mich, oder war es der, der mich vorhin aufgefangen hatte? Hatte Lucy etwa für ihre Party einen inkognito arbeitenden Sicherheitsdienst engagiert?

Hastig klopfte ich, doch er hatte mich bereits entdeckt und offenbar das Problem erkannt, denn er befreite mich umgehend aus meiner misslichen Lage.

»Haben sie dich ausgesperrt?«, fragte er.

»J-j-ja.« Meine Lippen zitterten vor Kälte. Ich konnte nur noch stottern.

»Heute haben sie es aber echt auf dich abgesehen. Komm schnell herein.« Er blickte sich auf dem Balkon um. »Noch jemand draußen?«

»N-n-nein.«

»Am besten tanzt du mit mir, um dich aufzuwärmen«, schlug er lächelnd vor und führte mich in eine Ecke, in der es nicht ganz so eng zuging. »Richtig wild! Los, nur zu! Ich mache mit, damit es weniger auffällt.« Er tanzte zu Rockin’ around the Christmas tree mit irren Verrenkungen, gepaart mit Zuckungen, die ihn wie im Drogenrausch erscheinen ließen. Ich konnte vor Lachen kaum mittanzen.

»He! Hör auf zu kichern! Nachmachen!«, forderte er mich auf. »Ich blamiere mich bloß, damit du nicht allein herumhampelst. Nun lässt du mich im Stich! Das ist unfair! Die Leute gucken schon.«

Da hatte er leider recht. Auf dem Balkon hätte ich diese plötzliche, ungeteilte Aufmerksamkeit der Gäste sehr gut gebrauchen können.

Der Song war zu Ende. Last Christmas erklang zum verflixten Mal. Ich bekam Sehnsucht nach dem Balkon und einem sanften Erfrierungstod.

»Sorry, aber was zu viel ist, ist zu viel!«, meinte mein Tanzpartner. »Zu der Nummer passt höchstens noch Headbanging gegen den Türrahmen. Wobei mir eher nach einer Geiselnahme zumute ist, bei der ich fünf Pfund, ein Truthahnsandwich und ein vollgetanktes Fluchtauto verlange. Wenn es okay ist, nehme ich dich in den Arm und wärme dich auf diese Weise.«

Schüchtern lächelnd nickte ich. Wir tanzten eng umschlungen, Wange an Wange. Er fühlte sich ganz wunderbar herrlich warm an. Ich schmiegte mich gedankenverloren an ihn, so eng es nur ging. Ich mochte seinen Duft, seine sanften Bewegungen und vor allem seine sensationelle Körpertemperatur, die locker zehn Grad über meiner zu liegen schien.

»Mach dir keine Sorgen«, flüsterte er mir ins Ohr. »Wenn man mit einem Eiszapfen tanzt, vergeht einem alles. Ich will dir nur helfen. Ganz ohne Hintergedanken.«

»Wie heißt du?«, fragte ich ihn. Zumindest das sollte man eigentlich wissen, wenn man mit einem Fremden so extrem auf Tuchfühlung ging.

»Sam.«

»Ich heiße Amelia.«

»Ich weiß.«

»Sorry. Wurden wir einander vorgestellt?«

»Nein, ich habe Lucy gefragt. Schließlich sollte man wenigstens den Namen der flugfähigen Frau wissen, die man auffängt.«

»Du warst das!«

»Mmh, ich war das. Ich suchte dich überall und dachte schon, du seist gegangen. Aber mit Frauen ist es wie mit Autoschlüsseln. Sie sind grundsätzlich dort, wo man zuletzt nachsieht.«

Ich kicherte. »Weil man zu suchen aufhört, sobald man das Gewünschte gefunden hat.«

»Bei dir lernt man richtig was dazu«, raunte er mir ins Ohr.

Endlich war dieses fürchterliche Lied vorbei. Eigentlich hätte nun das fast ebenso schreckliche Santa Claus Is Coming To Town erklingen müssen, denn die sogenannte Playlist war nicht sonderlich lang und lief bereits den ganzen Abend in Endlosschleife. Doch zu meinem grenzenlosen Entsetzen fing Last Chrismas von vorn an. Wozu wurde ständig neue Technik erfunden, wenn sie dieselben Macken hatte wie eine Schellackplatte, die hängengeblieben war?

Wir tauschten kurz verwunderte Blicke aus und kuschelten uns wieder aneinander, obwohl mir Sams Plan bezüglich Geiselnahme von Sekunde zu Sekunde weniger lächerlich vorkam. Ich spürte, wie Aggressionen in mir aufstiegen und wohlige Wärme verbreiteten. Das Lied hatte eine ungeahnte therapeutische Wirkung bei Unterkühlung. Diese Facette der Musiktherapie hatte nur noch niemand näher erforscht.

Hatte ich gerade Sams Lippen auf meiner Haut gespürt? Ich blickte ihn verwundert an.

»Entschuldige, aber du hattest da etwas Lametta an der Schläfe. Das musste ich wegküssen«, meinte Sam todernst. »Denk dir nichts dabei. Ich will dir nur helfen.« Er ließ mich sofort los, als ich ihn wegschob, und sah mich schuldbewusst an. »Bist du sauer? Bitte verzeih mir! Ich kann nichts dafür. Ich mag nun einmal coole Frauen. Eiskalte finde ich sogar unwiderstehlich.«

»Sagtest du vorhin nicht, dass du stürmische Frauen magst?«, erinnerte ich ihn an seinen Kommentar zu meiner unfreiwilligen Flugnummer.

»Ich mag wandlungsfähige Frauen, die mal stürmisch, mal cool und mal humorvoll sind, wenn man sie heimlich küsst.« Sam schenkte mir einen unwiderstehlichen Hundeblick. »Wenn du nicht mehr tanzen magst, kann ich dir einen Tee kochen. Der wärmt auch.«

Er tat mir leid. Eigentlich mochte ich ihn sehr, und der Kuss hatte mich nicht wirklich gestört. Nur ließ ich mich ungern überrumpeln. »Danke für das Angebot«, antwortete ich mit einem versöhnlichen Lächeln. »Aber wir können schlecht eine fremde Küche okkupieren.«

»Lucy stört das nie. Ich habe hier schon ganz andere Sachen gekocht. Im Gegensatz zu Harry hinterlasse ich kein Schlachtfeld, es gibt weder Scherben noch Verletzte und die Zimmerdecke müssen wir auch nicht anschließend streichen. Komm mit!« Er nahm mich wie ein kleines Kind an die Hand, um mich in die Küche zu führen. Dort füllte er wie selbstverständlich Wasser in den Kocher, startete ihn und nahm einen Becher aus dem Schrank.

»Breakfast oder Afternoon Tea?«

»Breakfast.«