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Was zählt wirklich für guten Mathematikunterricht? Jenseits von Checklisten und Modethemen wächst bei erfahrenen Lehrkräften der Wunsch nach substanzieller Tiefe. Dieses Buch und diese Serie ist eine Einladung, die eigene Praxis auf ein neues Fundament zu stellen. Es seziert kritisch die Erkenntnisse der Bildungsforschung – von Hattie bis zur Cognitive Load Theory – und entlarvt hartnäckige Mythen über Begabung und Lernen, die unseren Unterricht unbewusst prägen. Entdecken Sie, wie Sie durch eine anspruchsvolle Fehlerkultur und das Konzept des „Productive Failure“ das Scheitern gezielt zum Motor für tiefes Verständnis machen. Lernen Sie, die kognitive Architektur Ihrer Schüler zu verstehen, um Erklärungen zu schaffen, die wirklich ankommen. Und erfahren Sie, wie narrative und historische Elemente die Mathematik von einem abstrakten Gebäude in eine lebendige, menschliche Erzählung verwandeln. Dieses Buch richtet sich nicht nur an Anfänger, sondern auch an reflektierte Profis, die nach intellektueller Auseinandersetzung, didaktischer Präzision und einer fundierten Basis für ihre tägliche Arbeit suchen. Es ist ein Plädoyer für einen Unterricht, der auf Wissen, Haltung und der Bereitschaft zur ständigen Weiterentwicklung beruht.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Michael R. Glaubitz
2025
Impressum Dr. Michael R. Glaubitz Holtenser Landstr. 57 31787 Hameln E-Mail: [email protected] Web: www.mathematik-unterrichten.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Copyright © by Michael R. Glaubitz Alle Rechte vorbehalten. Umschlaggestaltung & Satz: Michael R. Glaubitz
ISBN: 978-3-81-941094-9 (EPUB)
Was ist guter Mathematikunterricht? Wer diese Frage stellt, öffnet eine Tür zu einem Raum voller Überzeugungen, Gewohnheiten und Halbwahrheiten. Denn jede Lehrkraft – und ich schließe mich da ausdrücklich ein – trägt eine implizite Vorstellung davon in sich, wie Unterricht „sein soll“. Oft ist sie geprägt durch das eigene Schulbild, durch Ausbildung, durch Kollegium und Alltagserfahrung. Selten wird sie jedoch explizit gemacht. Noch seltener kritisch hinterfragt.
Ich erinnere mich an eine junge Kollegin, die mich während eines Seminars fragte, was ich unter „gutem Unterricht“ verstehe. Ich holte tief Luft – und begann, von Klarheit, Zielorientierung, Schüleraktivierung und strukturierter Übungszeit zu sprechen. Doch während ich redete, merkte ich: Auch ich greife auf Schlagworte zurück. Ich sage, was „man“ sagt. Nicht, was ich selbst aus Erfahrung, Scheitern und Entwicklung gelernt habe.
Dieses Buch ist ein Versuch, dieser Frage neu nachzugehen, jedoch auf einer Ebene, die über die einführende Orientierung hinausgeht. Es richtet sich an erfahrene Kolleginnen und Kollegen, die nicht nach schnellen Rezepten suchen, sondern nach intellektueller Auseinandersetzung und substanzieller Fundierung für ihre professionelle Praxis. Es geht nicht darum, den einen richtigen Unterricht zu definieren – das wäre vermessen. Es geht darum, die Komplexität des Lehrens und Lernens anzuerkennen und die eigene Reflexion zu vertiefen.
In den kommenden Kapiteln werden wir daher nicht nur bewährte didaktische Prinzipien beleuchten, sondern auch populäre „Wahrheiten“ der Bildungsforschung kritisch sezieren. Wir werden tief in die kognitive Architektur des Lernens eintauchen, um zu verstehen, warum manche mathematischen Konzepte so hartnäckige Hürden darstellen. Wir werden uns mit der produktiven Kraft des Scheiterns auseinandersetzen und erforschen, wie eine anspruchsvolle Fehlerkultur konkret gestaltet werden kann. Schließlich werden wir die kulturellen und historischen Dimensionen der Mathematik als unverzichtbare Ressource für einen lebendigen Unterricht entdecken.
Vielleicht werden Sie beim Lesen nicken, vielleicht widersprechen. Beides ist willkommen. Denn guter Mathematikunterricht beginnt nicht mit einer Definition, sondern mit der Bereitschaft zur reflektierten Praxis und dem Mut, die eigenen Überzeugungen immer wieder aufs Neue zu befragen.
Guter Mathematikunterricht ist mehr als eine Frage des Stils. Er ist eine Frage der Wirksamkeit. Und diese Wirksamkeit ist – entgegen mancher populären Meinung – empirisch messbar. Die Bildungsforschung hat in den letzten Jahrzehnten eine beeindruckende Fülle an Studien hervorgebracht, die uns Hinweise darauf geben, was funktioniert, was schwach wirkt und was sogar kontraproduktiv sein kann. Doch die Verlockung, aus diesen Studien einfache Rezepte oder gar Checklisten abzuleiten, ist ebenso groß wie gefährlich. Ein gut gemeintes Feedback kann demotivieren, eine vermeintlich aktivierende Aufgabe zur Resignation führen. Studien können Orientierung geben, aber sie ersetzen niemals das pädagogische Urteilsvermögen. Sie helfen uns, unsere Intuition zu überprüfen – nicht, sie abzuschaffen.
Dieser notwendige Vorbehalt wird jedoch oft im Eifer des bildungspolitischen und administrativen Alltags übersehen. In einer Profession, die von Komplexität, Unsicherheit und ständiger Interaktion geprägt ist, wächst der Wunsch nach einfachen, klaren und universell gültigen Antworten. Kaum ein Werk hat diesen Wunsch in den letzten Jahren so meisterhaft bedient und gleichzeitig so kontroverse Debatten ausgelöst wie John Hatties „Visible Learning“. Es dient uns hier als zentrale Fallstudie, um die Chancen und Risiken eines rein evidenzbasierten Blicks auf den Unterricht zu beleuchten.
John Hatties Werk, insbesondere sein Buch „Visible Learning“ aus dem Jahr 2009, wurde von vielen als der „Heilige Gral“ der Bildungsforschung gefeiert. Die Prämisse ist ebenso einfach wie bestechend: Durch eine gigantische „Meta-Meta-Analyse“ von über 800 Einzel-Meta-Analysen werden Hunderte von Einflussfaktoren auf den Lernerfolg identifiziert und anhand ihrer Effektstärke (gemessen in Cohens ) in eine Rangliste gebracht. Faktoren wie Feedback, Klarheit der Lehrperson und kognitive Aktivierung landen an der Spitze, während andere, wie die Klassengröße, überraschend niedrig eingestuft werden.
Für die Praxis scheint dies ein unschätzbarer Gewinn zu sein: eine klare, datengestützte Landkarte dessen, „was wirkt“. Hattie selbst schuf mit seinem „Barometer“ und der magischen Grenze einer Effektstärke von – dem sogenannten „hinge point“ – eine visuell eingängige Handreichung. Alles, was darüber liegt, befindet sich in der „Zone der erwünschten Effekte“ und sollte priorisiert werden. Diese scheinbare Klarheit erklärt die immense Popularität des Werkes in Schulen und Bildungsministerien weltweit.