Halo - Kevin May - E-Book

Halo E-Book

Kevin May

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Beschreibung

Depeche Modes großer Wurf Im März 1990 veröffentlichten Depeche Mode das Album, das seitdem als ihr Meisterstück gilt: Violator war das siebte Album der Electro-Rocker, die in den Achtzigern erst Kultstatus genossen hatten und dann zu Weltruhm aufstiegen, ausverkaufte Stadien inklusive. Mit »Enjoy The Silence« und »Personal Jesus« enthielt der Longplayer auch die bis heute größten Hits der Band. Violator blieb insgesamt 48 Wochen in den deutschen Albumcharts vertreten. Wie dieses bahnbrechende Album zustande kam, dokumentieren die beiden Super-Fans Kevin May und David McElroy ganz genau. Sie sprachen dazu mit einer Vielzahl von Mitstreitern – mit der Produzentenlegende Gareth Jones, dem Remixer François Kevorkian, dem Fotografen und Band-Intimus Anton Corbijn sowie mit zahllosen Toningenieuren, Studiomusikern, Videoregisseuren oder Coverdesignern. Sie alle leisteten ihren Beitrag zu dem Gesamtwerk und konnten währenddessen einzigartige Einblicke in die Arbeitsweise von Martin Gore, Dave Gahan, Andy Fletcher und Alan Wilder gewinnen. Von der damals herrschenden Weltlage und der gesellschaftlichen Situation, in der Violator für viele zum Soundtrack ihres Lebens wurde, berichten zudem zahlreiche Fans aus den verschiedensten Ländern. Diese packend erzählte Oral History gewährt ein faszinierendes Schlaglicht auf die wohl spannendste Entwicklungsphase dieser einzigartigen Band: Sie nimmt die LeserInnen mit in die Studios, wenn an Samples und Sounds gefeilt wurde, zu Signierstunden in den USA, bei denen beinahe Unruhen ausbrachen, und sie erforscht vor allem die einzigartige Chemie zwischen den vier Bandmitgliedern. Besondere Aufmerksamkeit widmet Halo der oft unterschätzten Rolle des vor kurzem verstorbenen Andy Fletcher, aber es schildert auch den enormen emotionalen Druck, unter dem Sänger Dave Gahan damals stand. Ein Buch von Fans für Fans – passend zum neuen Album und der kommenden Tournee!

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Kevin May und David McElroy

halo

die Geschichte hinter

Depeche Modes Albumklasiker

VIOLATOR

Aus dem Englischen von Kirsten Borchardt

www.hannibal-verlag.de

Widmung

Für Andy „Fletch“ Fletcher

Impressum

Deutsche Erstausgabe

© 2023 by Hannibal

Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen

www.hannibal-verlag.de

ISBN ISBN 978-3-85445-758-9

Auch als Paperback erhältlich mit der 978-3-85445-757-2

Titel der Originalausgabe: Halo – The Story Behind Depeche Mode’s Classic Album ‚Violator‘

© Kevin May & David McElroy, 2022

Cover Design by Kevin May & David McElroy

Cover Foto © Joseph Barratt

ISBN 978-1-80381-225-0

Erschienen bei Grosvenor House Publishing Ltd, www.grosvenorhousepublishing.co.uk

Grafischer Satz in deutscher Sprache: Thomas Auer

Übersetzung: Kirsten Borchardt

Deutsches Lektorat/Korrektorat: Dr. Matthias Auer

Besonderen Dank an: Ronny Ecke, CPR, Partyman

Hinweis für den Leser:

Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden.

Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.

Inhalt

Prolog

1. Kapitel102

2. KapitelWie man sich selbst ein Schnippchen schlägt

3. KapitelSound im Aufbau

4. KapitelVon Cowboys, Königen und Rosen

Bilderstrecke

5. KapitelSounds und Songs

6. KapitelUnbezahlbare Werbung

7. KapitelViolator erobert die Welt

8. KapitelWaiting For The Night (To Fall In)

AnhangZeitplan einer Ära

Danksagung

Über die Autoren

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Prolog

„Ich sah Daniel an … und wir sagten wie aus einem Mund: ‚Das ist ein wirklich, wirklich, wirklich gutes Album.‘ Uns überkam das Gefühl, dass wir gerade etwas ganz Besonderes geschaffen hatten.“

– Flood (Depeche Mode DVD Documentary, 2006)

Dave Gahan sitzt auf der Kante eines Stuhls, ein weißes Handtuch um die Schultern, und hat den Kopf in die Hände gestützt.

Jemand von der Crew hat den Arm um ihn gelegt, hört ihm aufmerksam und mitfühlend zu und versucht, ihn ein wenig zu trösten. Was genau zwischen den beiden gesagt wird, ist kaum zu verstehen, und das ist wahrscheinlich auch Absicht, aber Gahan ist ganz offensichtlich völlig erschöpft und aufgelöst.

Diese kurze Szene stammt aus dem Film 101, einem Rockumentary, das D. A. Pennebaker von der Music For The Masses Tour von Depeche Mode drehte, die im Juni 1988 zu Ende ging. Pennebakers Crew verfolgte dabei die Erlebnisse einer Gruppe von Fans, die mit dem Bus quer durch die USA reisten, und kombinierte sie mit einem Blick hinter die Tour-Kulissen, indem sie die Band und die Armee von Mitarbeitern dabei filmte, wie sie Depeche Mode als Live Act auf die Bühne brachten.

Es ist ein großartiger Film; Pennebaker und sein Partner Chris Hegedus sagten später, der Dreh habe ihnen mehr Spaß gemacht als jedes andere Projekt. Bedenkt man, dass Pennebaker eine Reihe hochgelobter Filme über Bob Dylan drehte und Jimi Hendrix beim Monterey Pop Festival vor der Linse hatte, will das schon etwas heißen.

101 führte den treuen Fans und allen anderen Interessierten auf faszinierende Weise vor Augen, was es für die Band bedeutete, ihr 1987 erschienenes Erfolgsalbum Music For The Masses weltweit ausführlich zu präsentieren. Es war eine enorm anstrengende und kräftezehrende Tour, aber sie etablierte Depeche Mode in den USA als brillante Liveband mit einem ganzen Arsenal großartiger Songs. Der Film fing nicht nur die Gefühle der Fans ein, sondern auch die der Band und Crew, und er zeigte das emotionale Hoch nach einem Gig ebenso wie den hilflosen Zorn über Pannen in der Logistik. Vor allem aber porträtierte er Depeche Mode auf extrem menschliche Weise und verzichtete zudem auf die verklärenden Elemente, die man normalerweise mit Dokumentationen über Bands auf Tournee verbindet. Vor 101 war es schwer, wirklich nachzuvollziehen, wie es sein musste, Teil der Depeche-Mode-Maschinerie zu sein, ob nun als Teil der Band oder als Crew-Mitglied.

Aber wieder zurück zu Dave und der besagten Szene, die kurz vor Ende des Films zu sehen ist:

Als er in diesem aufgelösten Zustand dasaß, hatten Depeche Mode gerade Konzert Nummer 101 absolviert, und das wiederum brachte Alan Wilder dazu, die Zahl als Titel für den Film und das dazugehörige Livealbum vorzuschlagen. Es handelte sich um die gewagte, überwältigende Show im Pasadena Rose Bowl von Los Angeles, den Schlusspunkt der Tournee. Die überbordenden Emotionen und die körperliche Erschöpfung waren nicht zu übersehen.

Depeche Mode waren zu dieser Zeit keine Neulinge mehr im Rockgeschäft, aber eine Tour dieser Größenordnung, die über drei Kontinente führte und außerdem viele hundert Interviews, Termine bei Radio- und Fernsehshows und Aftershow-Partys umfasste, hätte selbst die härtesten und erfahrensten Tour-Veteranen ausgepowert. Auf einem Foto Anton Corbijns, das auf dem Cover von 101 zu sehen ist, stehen Dave und die anderen Bandmitglieder – Andy Fletcher, Alan Wilder und Martin Gore – neben Pennebaker und sehen allesamt völlig erledigt aus, aber gleichzeitig auch stolz und zufrieden. Es ist ein Augenblick des Triumphs für die vier jungen Briten und den gefeierten Regisseur.

101 war das angemessene Finale einer wichtigen Phase der Depeche-­Mode-Karriere, und die Szenen vom Abschluss-Gig in L.A. fassten sie perfekt zusammen. 2006 sagte Gahan in der Depeche Mode DVD Documentary über das Konzert: „Es war wirklich überwältigend. Und es hat seitdem keine zweite Show dieses Kalibers mehr gegeben … jedenfalls nicht für uns. Bis zu diesem Punkt war das unsere Welt. In gewisser Weise ist es genau das, was Depeche und alles, was um die Band passiert, zu so etwas Besonderem macht: Wir haben unser eigenes Utopia erschaffen und darin gelebt.“

Er ließ in dem Interview auch durchblicken, was der Grund für seine emotionale Reaktion war, die am Ende von 101 zu sehen ist. Es sei ihm sichtlich unter die Haut gegangen, als das Publikum Karaoke-gleich „Everything Counts“ gesungen habe. „Bei diesem Konzert hatte ich ein ganz komisches Gefühl“, setzte er hinzu. „Am Ende war mir wirklich, als sei jetzt alles vorbei. Nachdem wir zehn Jahre lang um die Welt gezogen waren, gab es plötzlich keine Ziele mehr. Was blieb uns jetzt noch zu tun?“

Vielleicht bediente sich Gahan absichtlich bei einer Zeile aus dem Depeche-­Song „And Then …“ von 1983, als er über diesen Moment sagte: „Es war, als hätten wir unser Ziel erreicht.“ In dem von Gore geschriebenen Song vom Album Construction Time Again heißt es:

When I reached my destination

I hadn’t gone far.

Dabei hatten Depeche Mode einen ziemlich weiten Weg zurückgelegt, seit sie im Februar 1981 mit „Dreaming Of Me“ ihre erste Single ablieferten. Aber vielleicht war es Daves gutes Recht, als er sich – wenn auch sicherlich hochemotional aufgrund des Adrenalinschubs nach einem überwältigenden Gig – mit nur 26 Jahren fragte, was ihnen jetzt noch zu tun übrig bleibe.

Depeche Mode verkauften Millionen von Platten und spielten regelmäßig vor vielen tausend Fans. Dennoch wäre das Konzert im Rose Bowl sicherlich der passende Schlusspunkt einer erfolgreichen Karriere gewesen, falls nun ihre Kreativität versiegt wäre oder Dave, Martin, Alan oder Fletch trotz des eindrücklichen „I Just Can’t Get Enough“ doch plötzlich genug gehabt hätten.

Das Ziel war erreicht. Aufhören, wenn’s am schönsten ist.

Vielleicht konnte Dave es sich einfach nicht vorstellen: Wie sollten er und Depeche Mode ein solches Erlebnis wie die Show im Rose Bowl je übertreffen, und wie sollten sie je bessere Songs schreiben als „Never Let Me Down Again“ oder „Strangelove“ von Music For The Masses? Dave hat aus seiner manchmal zu selbstkritischen Haltung heraus mindestens einmal augenzwinkernd erklärt, er habe nun mal kein Talent für etwas anderes. Erschöpfung und Angst vor der Zukunft sind allerdings Gefühle, wie sie viele Menschen durchmachen, wenn sie einen Wendepunkt in ihrem Leben erreichen.

„Danach wurde es anders – und das musste es auch. Wir mussten irgendwie ein neues Level erreichen.“

***

Das erste August-Wochenende 1990, Dodger Stadium, Los Angeles. Depeche Mode haben das 50.000 Besucher fassende Baseballstadion zweimal hintereinander ausverkauft, die Tickets waren nach nur einem Tag im Vorverkauf bereits vergriffen. Am Mittwoch davor absolvierte die Band einen weiteren Gig im inzwischen abgerissenen Universal Amphitheatre. Dort hatten 6000 Fans in der für ihre Akustik berühmten Location „Strangelove“ und „Never Let Me Down Again“ zu hören bekommen, die auf der Setlist der World Violation Tour einen festen Platz hatten. Gerade der letztgenannte Song zählte für die Fans inzwischen zu einem der Höhepunkte bei den Gigs. Zum einen, weil es einfach ein großartiger Titel war, aber auch deshalb, weil oft das ganze Publikum dazu die Arme hob und hin und her schwenkte. Es sehe aus „wie ein Weizenfeld“, dessen Halme sich im Wind wiegten, sagte Gore, als dieses Phänomen auf der Music For The Masses Tour zum ersten Mal auftrat.

Als Anfang und Ende ihres Sets hatten Depeche Mode bei allen drei Konzerten jedoch Titel vom gerade erst veröffentlichten Album ausgewählt – eine ungewöhnliche Entscheidung. Der Opener, „World In My Eyes“, war auch der erste Song der neuen Platte. Und den Schluss bildete ein Titel, der es in seiner Eingängigkeit mit „Everything Counts“ aufnehmen konnte: die erste Single von Violator, „Personal Jesus“.

Als letzten Song im Zugabenblock spielten Depeche Mode an jedem Abend den Rock’n’Roll-Klassiker „Route 66“, der vor allem in den Fassungen von Nat King Cole und Chuck Berry berühmt geworden ist und den sie bereits 1987 als B-Seite für die Single „Behind The Wheel“ aufgenommen hatten. Eine Synthie-Band aus Großbritannien stand da und haute den Fans einen lauten, gitarrendominierten Titel über einen Roadtrip durch die USA um die Ohren.

Es war nicht mehr nötig, auf frühere Stimmungsgaranten wie „Just Can’t Get Enough“ und „People Are People“ zurückzugreifen. Depeche Mode hatten das neue Level erreicht, über das sich Dave nur drei Jahre zuvor solche Sorgen gemacht hatte. Die Qualität der Songs auf der neuen Platte und die Reaktion von Fans und Kritikern wurden diesem Anspruch mehr als gerecht.

Live, in der südkalifornischen Hitze des Sommers 1990, waren Depeche Mode eine Urgewalt.

Und doch schien das niemanden besonders zu überraschen, außer vielleicht einige Teile der britischen Musikpresse, die sich zuvor gern abfällig über die Band geäußert hatte. Nach diesen Shows mussten aber auch die heimischen Kritiker widerwillig zugeben, dass ihre einstigen Prügelknaben aus den frühen Achtzigern sich ganz ohne Frage verändert hatten. Sie waren genau das geworden, als was sie Bruce Kirkland, der Firmenchef von EMI Records, bezeichnet hatte – „eine ordentliche, anerkannte Stadionband in Amerika – Schluss, aus, Ende“.

Dabei hatte sich schon ein halbes Jahr zuvor abgezeichnet, dass große Dinge ihren Schatten vorauswarfen – größer als selbst die beeindruckenden Szenen, die 101 eingefangen hatte.

Schauplatz war wieder Los Angeles. Die Metropole spielt in der Geschichte Depeche Modes eine entscheidende Rolle, fast so sehr wie ihre Heimatstadt Basildon; unter anderem war es hier, dass Dave so schlagzeilenträchtig dem Tod von der Schippe sprang, als er Mitte der Neunziger gegen seine Drogensucht kämpfte.

Die Band hatte sich für eine Signierstunde im Medienkaufhaus Wherehouse angekündigt, um die Werbetrommel für die neue Platte zu rühren – eine Aktion von der Art, die Alan später als „Pflichtübung“ bezeichnete. Vor Ort stellte die Band schockiert fest, dass das Areal rund um die Filiale von schätzungsweise 20.000 Fans überrannt worden war – eine Entwicklung, die sie ebenso wenig erwartet hatte wie die begleitenden Medienvertreter, Sicherheitskräfte, Geschäftsangestellten oder auch die Polizei von Los Angeles. Es kam zu tumult­artigen Szenen, als die Fans versuchten, in das Geschäft hineinzukommen, und das brachte Depeche Mode dann sogar landesweit in die Abendnachrichten. Zwar spielte Alan das Ereignis in einer Presseerklärung anschließend herunter, aber in den Medien war verständlicherweise von „Ausschreitungen“ die Rede. Und das ließ bereits ein wenig erahnen, was Depeche Mode 1990 noch bevorstand.

Sie hatten sich ein neues Ziel gesteckt, auf das es mit zwei Singles – dem bereits genannten „Personal Jesus“ und dem Nachfolger „Enjoy The Silence“ – einige Wochen zuvor bereits einen Vorgeschmack gegeben hatte. Und dieses Ziel erwies sich als eine Sammlung von Tracks, die in ihrer Kreativität und Tiefe alles toppten, was Depeche Mode zuvor abgeliefert hatten. Darüber hinaus ging die neue Linie mit einem klar definierten Image und Selbstbewusstsein einher.

Heute, mehr als drei Jahrzehnte später, wird unter Fans immer noch da­rüber debattiert, welche Phase von Depeche Modes langer Karriere sie am meisten fasziniere. Dabei lässt sich kaum bestreiten, dass die Band rund um 1990 den entscheidendsten und sicherlich auch den bedeutsamsten Punkt ihrer Geschichte erreicht hatte. Fletch sprach im Bezug auf diese Zeit vom „Höhepunkt mit Blick auf Sounds und Songs“.

Das Ziel hieß: Violator.

1. Kapitel 102

„Ich finde es großartig, wenn Künstler etwas Neues ausprobieren. Das ist wohl etwas, wofür ich sie immer bewundert habe.“

– Gareth Jones

101 erschien im März 1989 in zwei Versionen: zum einen als der von D. A. Pennebaker gedrehte Film, zum anderen als Audio-Live-Mitschnitt auf Doppel-CD/Vinyl-LP/Cassette mit dem vollständigen Konzert aus dem Pasadena Rose Bowl. Im Vormonat waren die Fans bereits mit einer neuen Single verwöhnt worden, einer Live-Version von „Everything Counts“. In dieser Karrierephase veröffentlichten Depeche Mode ihre Singles in der Regel in einer verwirrenden Vielfalt von Formaten mit verschiedenen Remixen und B-Seiten. Dementsprechend kam die neue Fassung von „Everything Counts“ zusammen mit Live-Versionen anderer Titel von 101 auf den Markt, beispielsweise „Nothing“ und „Sacred“, die ursprünglich von Music For The Masses stammten. Dazu kam ein Remix von „Everything Counts“, erstellt vom 21-jährigen Tim Simenon (Bomb The Bass) aus London, der 1997 das Depeche-Mode-Album Ultra produzieren sollte. Aber trotz der vielen verschiedenen Formate erreichte die Single weltweit keine höhere Chartposition als Platz 12 in Deutschland.

Das Album 101 schaffte es hingegen in Deutschland auf Platz 3, in Frankreich auf Platz 4 und in Großbritannien auf Platz 5, während es in den USA bei einem enttäuschenden Platz 45 blieb. Vielleicht hatte Dave Gahan mit seinen Zweifeln, ob Depeche Mode sich weiterentwickeln und vor allem auch in den Augen der Fans weiter eine bedeutende Größe bleiben würden, richtig gelegen – so wollte es jedenfalls in den USA erscheinen, wo der Band nur neun Monate zuvor die Welt zu Füßen gelegen hatte (oder zumindest die etwa 66.000 Fans im Pasadena Rose Bowl).

Aber das war vermutlich nicht der Grund, weshalb 101 in den USA hinter den Erwartungen zurückblieb. Zwar war seit dem Ende der Music For The Masses Tour in Los Angeles nur ein Dreivierteljahr vergangen, aber in der Pop- und Rockwelt deuteten sich in jener Zeit einschneidende Veränderungen an, wobei sich das an den anderen Alben, die sich im März 1989 neben 101 in den Charts tummelten, nur bedingt ablesen ließ. Allerdings waren Depeche Mode auch nicht die einzigen Popgrößen, die Ende der Achtziger von diesen Entwicklungen betroffen waren.

Madonnas Album Like A Prayer erschien im selben Monat und schoss gleich in mehreren Ländern auf den ersten Platz. Nun wurde Depeche Mode kaum die gleiche Aufmerksamkeit zuteil, die Madonna (durchaus mit Absicht) auf sich lenkte. Die Sängerin, die nach ihrer Scheidung von Sean Penn Anfang des Jahres gerade wieder Single war, hatte die Achtzigerjahre als Dauergast auf den Titelseiten der Zeitungen und Klatschblätter verbracht. Und dennoch gab es Parallelen zwischen den Erfahrungen, die Madonna und Depeche Mode 1989 machten.

Madonnas Video für die Single „Like A Prayer“ hatte wegen der darin verwendeten kirchlichen Symbole und einer Traumsequenz, in der Madonna einige recht unkatholische Dinge mit einem Heiligen trieb, ziemlich große Schlagzeilen gemacht. (Nebenbei bemerkt: Im von Anton Corbijn 1993 gedrehten Video für Depeche Modes „Walking In My Shoes“ wurden auch einige nette Spielereien zwischen einer Nonne und einem Priester angedeutet.) Der Vatikan war wenig amüsiert, ebenso wenig wie Pepsi, das seinen hochdotierten Werbevertrag mit Madonna daraufhin auflöste.

Ob Depeche Mode etwas davon mitbekamen oder sich überhaupt dafür interessierten, dass Madonna der katholischen Kirche und anderen christlichen Konfessionen auf die Zehen trat, ist schwer zu sagen. Dem Marketing für ihre neue Single schadete die Kontroverse jedenfalls nicht. Davon abgesehen hatten sich die Briten mit ihren Songs „Blasphemous Rumours“ und „Master And Servant“ schon selbst bei der Kirche unbeliebt gemacht – die Kombination aus Religion, zweideutigen Anspielungen und augenzwinkernden Videos sorgte in prüden Kreisen immer noch verlässlich für einen Aufschrei.

***

Glücklicherweise konnten neben Madonna, Debbie Gibson, Jason Donovan oder Simply Red, die Anfang 1989 die Charts beherrschten, auch einige Vertreter der alternativen Musikszene große Erfolge feiern. Die britischen Synthie-Spezialisten New Order veröffentlichten im Februar das großartige Album Technique, eine Platte, die endlich zweifelsfrei klarstellte, dass New Order und Bernard Sumner – ein Name, der später in der Violator-Geschichte noch einmal auftauchen sollte – die gleichen kreativen Höhen erklimmen konnten wie ihre Vorgängerband Joy Division mit Sänger Ian Curtis.

Im Mai schoben ihre Düsterrock-Kollegen von The Cure ihr bisher bestes Album nach, Disintegration, das von den Fans bis heute als ihr größter Meilenstein gefeiert wird. Und wer immer noch den Smiths hinterhertrauerte, die sich 1987 aufgelöst hatten, der wartete gespannt auf die nächste Platte einer Band, deren Mitglieder zumindest in musikalischer Hinsicht als die natürlichen Erben von Morrissey und Johnny Marr galten – The House Of Love.

Dazu kamen die schrägen Sugarcubes aus Island und die auf träumerische Gitarreneffekte setzenden Cocteau Twins, deren Alben, mit vielen Vorschusslorbeeren bedacht, ebenfalls sehnlichst erwartet wurden. Und wenn die Musikpresse normalerweise auch zu Übertreibungen neigte: Als sie jetzt vollmundig behauptete, dass angesichts der vielen qualitativ herausragenden Vertreter der Indie-Szene eine Art goldenes Zeitalter begonnen habe, ließ sich das nicht von der Hand weisen.

In den USA, in denen während der Achtziger eine deprimierende Zahl dauergewellter Softrocker durchgestartet waren, machten jetzt an der Ostküste Bands wie die Throwing Muses und die Pixies auf sich aufmerksam, die im April mit Doolittle den Nachfolger ihres Debütalbums Surfer Rosa veröffentlichten. Jane’s Addiction ließen sich zwar hin und wieder zu den typischen Rock’n’Roll-Exzessen hinreißen, hatten aber ebenfalls ein neues Album angekündigt, und die Rollins Band schickte sich an, krachig und laut die Lücke zu füllen, die Hüsker Dü bei ihrer Auflösung ein paar Jahre zuvor hinterlassen hatten.

Auf dem europäischen Kontinent stellte sich die Alternative-Szene zwar insgesamt deutlich uneinheitlicher dar, schickte aber eine ganze Reihe dynamischer und wichtiger Vertreter ins Rennen, beispielsweise die Einstürzenden Neubauten, die wie Depeche Mode bei Mute unter Vertrag standen, oder das Electro-Projekt Front 242 aus Belgien. Beide Bands konnten auch im Ausland bescheidene Erfolge verzeichnen, teilweise vielleicht auch deshalb, weil sie von der Musikpresse häufig im selben Atemzug wie Depeche Mode genannt wurden, wenn von deren härteren Songs die Rede war. Man sprach von „Industrial“ oder „EBM“ – Bezeichnungen, die hin und wieder auch auf Depeche Mode angewandt worden waren.

Gleichzeitig wurden viele europäische Bands aus dieser Ecke, die versuchten, sich ein größeres Publikum zu erspielen, oft etwas unfair mit den großen Pionieren der elektronischen Musik auf dem Kontinent verglichen – den damals schon seit zwanzig Jahren aktiven Kraftwerk.

***

Ein musikalischer Trend, der sich mit großer Kreativität und Einzigartigkeit auf noch viel breiterer Front durchsetzte und 1989 seinen Siegeszug antrat, war allerdings Dance. Puristen weisen natürlich nicht zu Unrecht darauf hin, dass die Dance-Szene der damaligen Zeit musikalisch gesehen nur die logische Weiterentwicklung einiger klassischer Disco-Tracks aus den späten Siebzigern dargestellt habe. Donna Summers Hi-NRG-Hit „I Feel Love“ von 1977 konnte durchaus als Vorläufer des House betrachtet werden, wenn man den pumpenden Viervierteltakt, die üppige Gesangsproduktion und den Einsatz von Synthesizer-Sounds bei der Percussion bedachte.

Anfang der Achtziger hatten Club-DJs in Chicago, beispielsweise Frankie Knuckles und Ron Hardy, damit begonnen, Disco- und HipHop-Tracks auf zwei Plattenspielern miteinander zu verquicken und sie zusätzlich mit eigenen Beats zu unterfüttern, die sie mit Drum Machines erzeugten. Hin und wieder wurden diese Mixe – professionell aufbereitet, sauber abgemischt und produziert – auf Vinyl gepresst und an andere Clubs weitergereicht, vor allem in New York und Detroit. Einige davon fanden ihren Weg bis in die europäischen Dance-Hochburgen Berlin oder London. Und so begann der Siegeszug der sogenannten House Music.

Mitte der Achtziger konnte Marshall Jefferson in den USA und anderen Ländern einen Hit mit „Move Your Body“ verbuchen. Dieser Meilenstein inspirierte seinen DJ-Kollegen Kevin Saunderson in Detroit einige Jahre später zu mainstreamkompatiblen House-Tracks mit Hitpotenzial, die er unter dem Namen Inner City herausbrachte. Während seine Singles „Big Fun“ und „Good Life“ im amerikanischen Mutterland keinen großen Eindruck hinterließen, wurden sie in Großbritannien enorm populär.

Saunderson berichtet heute, dass in den Clubs von Michigan auch die Maxi-Version der 1983 erschienenen Depeche-Mode-Single „Get The Balance Right“ ziemlich häufig aufgelegt worden sei. Er selbst ließ bestimmte Teile dieses Songs oft als Loop laufen oder mixte ihn mit anderen Tracks, und auch House-Pionier Derrick May setzte den Titel oft ein.

Saunderson bezeichnete „Get The Balance Right“ im Magazin Exclaim 2003 sogar ehrfürchtig als „erste Techno-Platte der Welt“. May bestätigt, dass der Track in den amerikanischen Clubs ein Riesenhit war, weist allerdings da­rauf hin, dass von den Fans dieser Platte kaum jemand gewusst habe, welcher Künstler oder welche Band sich eigentlich dahinter verbarg. In der amerikanischen Clubszene war „Depeche Mode“ nicht mehr als ein Schriftzug auf einer Maxi-Weißpressung, die über Sire Records zu den DJs gelangte.

Eine seltsame Laune der Geschichte: Ausgerechnet ein Song, den die Band im Nachhinein nicht einmal besonders zu mögen schien (auch, wenn er Alan Wilders Einstand als Bandmitglied markierte, nachdem er die Band ein Jahr lang ausschließlich live verstärkt hatte), wird heute als früher Einfluss auf die House Music genannt. Aber dennoch manifestierte sich darin Depeche Modes entscheidende Rolle in der Frühphase der Dance Music, eine Bedeutung, die – wie wir noch sehen werden – nach der Violator-Phase geradezu schneeballartig wuchs.

Die Band selbst schien von dieser Verbindung eher irritiert, obwohl sie sich dennoch zu einem Treffen mit May bereiterklärte, vermutlich auf Betreiben ihrer PR-Berater, die zu dieser Zeit noch mehr zu sagen hatten als in den späteren Jahren. Das britische Magazin The Face arrangierte die Begegnung, als sich Depeche Mode im Dezember 1988 in New York aufhielten, um sich Material des kommenden 101-Films anzusehen. In Begleitung des Journalisten John McCready nahm May die vier Briten erst mit in Detroits berühmten Underground-Club The Music Institute und lud sie außerdem in sein Apartment in der Stadt ein, wo er ihnen offenbar ein paar Tracks vorspielte, an denen er gerade arbeitete.

McCready machte daraus für The Face eine schräge Geschichte, in der die britischen Elektroniker den „besten Club des Planeten“ besuchten, und konzentrierte sich auf die Verbindung zwischen zwei gegensätzlichen Polen des musikalischen und kulturellen Spektrums. Der Artikel stellte dabei deutlich heraus, dass die Jungs aus Großbritannien, die bekanntermaßen hin und wieder ganz schön tief ins Glas schauten, wenn sie abends ausgingen, den Club ohne Alkohollizenz ein kleines bisschen komisch gefunden hätten, ebenso wie die Aufmerksamkeit, die ihnen einige der Stammgäste entgegenbrachten.

Vor allem Alan Wilder konnte offenbar mit der ganzen Veranstaltung wenig anfangen, und er hielt auch nichts von May. Wie Steve Malins in seinem Buch Depeche Mode – Die Biografie berichtet, sagte Wilder über ihn: „Derrick May war ein ätzender Typ – ich fand ihn grässlich. Er war das arroganteste Arschloch, dem ich je begegnet bin. Er hatte sich in einem Hinterzimmer ein Studio eingerichtet und spielte uns da einen Track vor, der absolut scheußlich war.“

Es war ein typischer Artikel für The Face – die wortreiche Schilderung des Zusammentreffens zweier unterschiedlicher Kulturen und der Versuch, hinter die sorgsam errichtete Fassade zu blicken, die sich die Künstler für die Öffentlichkeit zugelegt hatten. Den ersten Teil meisterte McCready, aber es wollte ihm nicht so recht gelingen, die Mauer zu durchdringen, hinter der sich Depeche Mode routinemäßig verbargen, nachdem sie vor allem den Medien aus der britischen Heimat nach entsprechenden Erfahrungen ausgesprochen skeptisch gegenüberstanden. Und so entsprach das Bild, das in diesem Artikel gezeichnet wurde – das einer Band, die nach der enorm erfolgreichen Music For The MassesTour in den USA auf einer echten Erfolgswelle surfte und der gefühlt die ganze Welt zu Füßen lag –, nicht wirklich der Realität.

Gahans Ehe mit seiner Jugendliebe Joanne stand vor dem Aus, und Fletch hatte schwer mit Depressionen zu kämpfen. Davon stand im Face-Artikel nichts, was auch völlig in Ordnung ging. Dennoch gewährt McCreadys Interview die wohl aufschlussreichste Positionsbestimmung der Band in dieser Zeit.

Das mit „Modus Operandum: Depeche Mode in Detroit“ überschriebene Feature erschien in der Face-Ausgabe vom Februar 1989. McCready blieb etwas vage, als er schrieb: „Wie Alan Wilder mir verrät, baut das neue Material, an dem sie gerade arbeiten, auf den langsameren Tempi der Music For The Masses-LP auf.“ Im selben Absatz nahm Martin Gore auf das Aufsehen Bezug, das ihr Besuch in Detroit erregt hatte, und bekannte: „Wir können keine Dance Music schreiben, ich glaube, das haben wir auch noch nie wirklich versucht. Wahrscheinlich wüssten wir gar nicht, wie wir das anfangen sollten.“

Von daher war es kein Wunder, dass viele Fans damals dachten, Depeche Mode würden sich wieder auf die dunkleren, langsameren Facetten ihrer bisherigen Arbeiten besinnen und vielleicht einen Rückgriff auf jenes Album wagen, das viele Kritiker ebenso wie die eher kommerziell denkenden Mitarbeiter im Unternehmen Depeche Mode als ihr bisher unzugänglichstes betrachtet hatten: das 1986 erschienene Black Celebration.

Music For The Masses war ein Triumph gewesen, vor allem, weil ihnen damit der Durchbruch in den USA geglückt war, aber Black Celebration hatte sich zum großen Liebling der Fans entwickelt. Das lag unter anderem daran, dass es mit Blick auf das Songwriting und die Vielfältigkeit der Arrangements eine neue Seite an Depeche Mode erkennen ließ – tiefgründig und von dunklen Schatten durchdrungen. Die Songs „Fly On The Windscreen“, „Black Celebration“, „Stripped“ und „A Question Of Time“ waren wohl die besten, die sie bis zu diesem Punkt aufgenommen hatten. Für viele übertrafen sie selbst die herausragenden Tracks des Vorgängeralbums Some Great Reward von 1984 um Längen.

Ebenso gut war es aber natürlich möglich, dass Depeche Mode versuchen würden, die Erfolgsformel von Music For The Masses erneut zu bemühen, die immerhin Hits wie „Strangelove“ und „Never Let Me Down Again“ hervorgebracht hatte. „Never Let Me Down Again“, das in Deutschland Platz zwei erreichte, war zwar in den meisten anderen Ländern als Single nicht übermäßig erfolgreich gewesen, zählte inzwischen aber zu den Höhepunkten bei den Gigs.

Tatsächlich wussten wirklich nur wenige außerhalb des traditionell stark abgeschotteten inneren Kreises rund um die Band, was als Nächstes zu erwarten war. Aus den öffentlichen Äußerungen jener Zeit ließ sich kaum etwas ableiten. Das lag allerdings auch daran, dass Depeche Mode bei ihren Promotion-Auftritten vor allem den Film und das Album 101 bewerben wollten und alles, was sich gerade hinter den Kulissen abspielte, bewusst beiseiteschoben.

Sean Salo (USA)

Fan, Admin der Webseite und des Forums Home

Diese Zeilen schreibe ich im Jahr 2020, und wegen der Corona-Pandemie ist in einem großen Teil der Welt Selbstisolation zur Realität geworden.

Zum Glück sind wir ja aber Depeche-Mode-Fans, wir haben uns während unseres ganzen Jugend- und Erwachsenenlebens auf Düsternis und Schwermut vorbereitet! Die gegenwärtige Krise hält mir zudem vor Augen, wie dankbar wir dafür sein können, dass es Zeiten gab, an die wir uns gern erinnern – und dass es wieder solche Zeiten geben wird, wenn wir diese Situation, die hoffentlich nur ein Ausreißer auf unserem kollektiven Radarschirm ist, hinter uns gelassen haben.

Aber gehen wir zurück in den Juni 1990. Damals kostete es drei Dollar, um die George Washington Bridge zu überqueren, die von New Jersey nach New York City führt, und vor den Mautstationen bildeten sich während der Hauptverkehrszeiten regelmäßig kilometerlange Staus. Selbst um Mitternacht konnte es vorkommen, dass man eine Dreiviertelstunde warten musste, um den Brückenzoll zu entrichten. Und in jener warmen Nacht im Jahr 1990 dröhnten aus jedem Radio und jedem Tapedeck der Autos auf der Brücke Depeche Mode.

Von einer der Spuren neben uns hörte ich plötzlich jemanden rufen: „Sean! Yo, Sean! Ich wusste doch, dass ich hier irgendjemanden sehen würde, den ich kenne.“

Es war ein Kumpel von der Uni – Chad? Oder Brad? Vor 1990 waren Depeche Mode in den USA eigentlich ein Kultphänomen gewesen. Aber in jenem Sommer hätte man mit jedem Stein, den man in ein Wohnheim oder auf eine Truppe Cheerleader warf, jemanden getroffen, der zu Hause Violator im Regal stehen hatte. Und da in diesem Augenblick fast 80.000 Konzertbesucher vom Depeche-Mode-Konzert im alten Giants Stadium zurück nach New York City strömten, war diese Beschallung natürlich kein Wunder.

Wir waren viel später als erwartet am Stadion angekommen; ich hatte die Anfahrtszeit zugegebenermaßen völlig unterschätzt. Das hielt mich allerdings nicht davon ab, alle anderen dafür verantwortlich zu machen, denen ich eine Mitfahrgelegenheit zum Gig angeboten hatte und die nun mit mir im Auto saßen. Wir parkten gefühlt kilometerweit entfernt, und als wir auf den Eingang zuhielten, hörte ich bereits das Percussion-Intro von Nitzer Ebbs „Fun To Be Had“ über den Parkplatz schallen. Ich geriet in Panik und fing an zu rennen, schließlich wollte ich auf keinen Fall etwas verpassen. Meine damalige Freundin ging stur gemütlich weiter und weigerte sich, mit mir mitzulaufen. (Ich will nicht sagen, dass das später der Grund für unsere Trennung war, aber es beeinflusste mich wahrscheinlich schon zu einem nicht geringen Teil …)

Als ich meinen Sitzplatz im Innenraum erreicht hatte, waren Ebb beim dritten Song angekommen, „Join In The Chant“. Die Hälfte der schon eingetroffenen Zuschauer, die eben noch auf ihren Plätzen gesessen oder herumgewandert waren, machte plötzlich auf Riesenfan und sprang begeistert auf und ab: Dieser Titel war aus der Handvoll Dance-Clubs, die zu dieser Zeit Synthpop, Postpunk und Industrial spielten, gut bekannt.

Es war noch immer heller Tag, als The Jesus And Mary Chain mit ihren krachigen Feedback-Sounds auf die Bühne kamen. Man hätte meinen können, dass sie wegen der grellen Sonne die ganze Zeit auf ihre Schuhe starrten, aber natürlich machten sie das immer so. Sie hatten bisher vor allem in Clubs und kleineren Hallen gespielt, und ein Stadionauftritt unter freiem Himmel und bei Licht war für sie unbekanntes Terrain. Obwohl JAMC vom Namen her durchaus bekannt waren und schon einiges an Material vorzuweisen hatten, sank das Energie-Level auf der Bühne und im Publikum deutlich ab, während sich das Stadion weiter füllte.

Heute ist es etwas völlig Normales, dass Depeche Mode in Stadien auftreten, aber 1990 hatten sie in Nordamerika – außer im Großraum Los Angeles – kaum vor derart großem Publikum gespielt. Im Giants Stadium, in dem sonst die Football-Teams der New York Giants und New York Jets antraten, hatten auch noch nicht allzu viele Konzerte stattgefunden, sah man von erprobten Stadionrock-Größen wie Aerosmith, U2 oder dem aus New Jersey stammenden Bruce Springsteen ab, für den es hier gewissermaßen ein Heimspiel war. Damit verglichen hatte die letzte Musikveranstaltung vor Depeche Modes World Violation Tour ein eher ungewöhnliches Programm geboten: Unterstützt von Love & Rockets, den Pixies und Shelleyan Orphan hatten The Cure 1989 auf ihrer Prayer Tour im Giants Stadium ihr Meisterwerk Disintegration vorgestellt.

The Cure hatten allerdings noch ein Mini-Festivalprogramm gebraucht, um das Stadion zu füllen. Depeche Mode schafften das größtenteils aus eigener Kraft, denn JAMC und Nitzer Ebb waren ohnehin nur einem sehr kleinen Publikum bekannt.

Dass die Kalkulation aufging, zeigte sich bereits, als schon am ersten Tag des Vorverkaufs 42.000 Tickets umgesetzt wurden, und das in einer Zeit, als man sich als Fan für ein Papierticket noch an den Vorverkaufsstellen anstellen musste, teilweise schon in der Nacht. Die massive, scheinbar endlose Berichterstattung rund um diesen Gig hatte erfolgreich den Eindruck erweckt, es handle sich um ein Ereignis, das man nicht verpassen dürfe. Der Radiosender 92,7 WDRE (auch WLIR genannt) war exklusiver Promotion-Partner und sendete schon am Nachmittag live aus dem Stadion, noch bevor die Show losging. Es liefen Interviews mit allen drei Bands und natürlich immer wieder deren Musik.

Malibu Sue, die diese Sendung damals moderierte, sagte mir später, dass sie mit ihrer schnellen Reaktion Nitzer Ebb vor einer Katastrophe bewahrt habe. „Nitzer Ebb eröffneten die Show; Depeche Mode hatten sie persönlich ausgesucht. Einem der beiden Jungs – heute weiß ich nicht mehr, ob es Bon oder Doug war – rettete ich an diesem Tag das Leben. Er hatte beschlossen, aus dem offenen Fenster der Presseloge zu klettern, von der aus wir uns das Depeche-Mode-Konzert ansahen, und dabei wäre er fast in die Tiefe gestürzt. Ich bekam ihn gerade noch zu fassen und zog ihn wieder herein!“

Für sie gab es an diesem Tag allerdings ein noch viel bewegenderes Erlebnis. „Es ist eine der schönsten Erinnerungen meiner Karriere, dass die Band es damals nur mir erlaubte, auf die Bühne im Giants Stadium zu gehen und sie anzukündigen. Die Hörer unseres Radiosenders bereiteten mir so einen rauschenden Empfang, dass mir die Tränen kamen. Vor diese Menschenmenge von etwa 80.000 Leuten zu treten war eine echte Herausforderung, und ich war der Band für diese Erfahrung unglaublich dankbar. Ich war so gerührt und überwältigt, dass ich vor all den Leuten nichts weiter herausbrachte als: ‚Ich liebe euch.‘ Es war unglaublich aufregend.“

Für Depeche Mode und ihre Fans war das Konzert sicherlich ein wichtiger Meilenstein, aber auch die Geschichte einer anderen Band nahm hier eine neue Wendung. In der Presseloge stellte Anton Corbijn den Violator-Produzenten Flood Bono und Adam Clayton vor, und das führte schließlich dazu, dass Flood das wegweisende Album Achtung Baby für U2 produzierte.

Flood erinnerte sich für U2.com an diese schicksalhafte Begegnung: „Depeche Mode spielten im Giants Stadium (nachdem wir Violator gemeinsam aufgenommen hatten), und ich saß auf meinem hohen Thron in der Presseloge, kippte mir ordentlich einen hinter die Binde und dachte mir, wie geil ist das denn alles bitte, als Anton Corbijn zu mir sagte: ‚Flood, hier wollen dich ein paar Leute kennenlernen.‘ Dann kamen zwei abgerissene Typen in Hoodies und mit Bart rein, und das waren Bono und Adam, inkognito. Wir saßen eine Weile zusammen, schenkten uns noch ein paar ein, und dann sagten sie: ‚Wir wollen die alten U2 in die Luft sprengen und in Berlin eine neue Platte machen. Hast du Interesse?‘ U2 konnten nicht mehr zu ihrem alten Stil zurück, das war der entscheidende Gedanke. Sie meinten: ‚Du kannst dir alle Freiheiten nehmen, die du willst. Probiere alles aus!‘ Ich hatte mit Depeche Mode und Nine Inch Nails gearbeitet, und sie kamen zu mir, weil sie scharf auf einen Touch Industrial waren …“

Ich hatte Depeche Mode zwar schon auf den Tourneen zu Black Celebration und Music For The Masses live erlebt, aber ich war nicht darauf vorbereitet, welches Spektakel sie in einem Stadion entfesseln würden. Von einem 15 Meter hohen Gerüst hingen links und rechts von der Bühne riesenhafte Rosen. Die Sonne ging gerade erst unter, es war ja Frühsommer, als die pulsierenden Anfangstakte von „Kaleid“ einsetzten und die Menge ausrastete.

Dieser House-Music-Auftakt war die perfekte Einleitung für das basslastige „World In My Eyes“, mit dem die Show begann. Dieser Song hätte – wie auch die vier, die ihm folgten („Halo“, „Shake The Disease“, „Master And Servant“ und „Never Let Me Down Again“) – den perfekten Einstieg für jedes DM-Mixtape abgegeben. Bei „Waiting For The Night“ konnten wir zum ersten Mal Luft holen und uns richtig auf das Duett von Dave Gahan und Martin Gore konzentrieren. Anschließend folgte der Akustikteil mit „I Want You Now“ und „World Full Of Nothing“, bevor es mit „Clean“ weiterging – der letzten Nummer, bei der noch Leute saßen. Danach hielt es niemanden mehr auf seinem Sitz.

Die Setlist dieser Tour wurde immer wieder heiß diskutiert, zumal es keinen offiziellen Live-Mitschnitt gibt. Auf alle Fälle waren auch die übrigen Titel von allererster Güte – Füller gab es keine.

Als meine Freunde und ich zum Auto zurückgingen, noch ganz verschwitzt vom harten Beat der zweiten Zugabe mit „Behind The Wheel“ und „Route 66“, waren wir zutiefst bewegt von dem gerade Erlebten. Und ich hatte ein paar Tage später sogar noch das Glück, Nitzer Ebb bei ihrem einzigen Hallenkonzert auf der Nordamerika-Tournee in der Radio City Music Hall mit ihrem kompletten Programm erleben zu dürfen.

Eigentümlicherweise markierten Violator und die World Violation Tour einerseits den Höhepunkt der Synthiepop-Begeisterung in Amerika, leiteten gleichzeitig aber auch ihr Ende ein. Anschließend wurde dieser Sound bei den Alternative-Radiosendern, die zuvor stets die größten Förderer Depeche Modes gewesen waren, vom Madchester-Groove verdrängt.

Ein knappes Jahr nach dem Konzert im Giants Stadium kam Grunge, und schon bald schienen die technische Brillanz und die Songwriter-Qualitäten von Violator nicht mehr recht zu dem Radioformat zu passen, das Depeche Mode einst so entscheidend mit aufgebaut hatten.

Die Show im Giants Stadium wird mir dessen ungeachtet immer als einer der Höhepunkte meines jahrzehntelangen Fan-Daseins im Gedächtnis bleiben.

2. Kapitel Wie man sich selbst ein Schnippchen schlägt

„Dann tauchte dieser etwas ungepflegte Typ mit Brille auf, der so ganz anders aussah als erwartet, plünderte ein paar Mal den Kühlschrank, ließ sich dann aufs Sofa fallen, hielt ein paar hochtrabende Vorträge, und schwupps war ein neues Produzententeam geboren.“

– Alan Wilder (Depeche Mode DVD Documentary, 2006)

Ihre ersten Alben hatten Depeche Mode sicher begleitet von einem vertrauten Produzententeam aufgenommen, zu dem stets auch Mute-Boss Daniel Miller gehörte, den sie wie ein älteres Familienmitglied jederzeit um Rat fragen konnten und der gleichzeitig im Studio als Produzent fungierte. Aus dieser Komfortzone hatte sich die Band erstmals bei Music For The Masses herausgetraut. Bei den beiden ersten Alben Speak And Spell und A Broken Frame hatte Miller wohl auch deswegen an den Reglern gesessen, weil er der einzige in Depeche Modes Umfeld war, der überhaupt Erfahrung mit Tonaufnahmen hatte.

Für Construction Time Again hatten sie dann den energiegeladenen Gareth Jones engagiert. Damit begann unter anderem eine intensive Experimentierphase mit dem damals noch in den Kinderschuhen steckenden Sampling, mit dem sie die synthesizergestützten Melodien von Martin Gores Demos auspolsterten. Gemeinsam schufen die Band, Miller und Jones den Depeche-Mode-„Sound“ der Mittachtziger, bei dem die verschiedensten bizarren Samples nicht nur zum Rhythmusaufbau genutzt wurden, sondern auch große Teile der Melodien und der Atmosphäre trugen.

Als Jones zum Studioteam stieß, entschied sich die Band zudem, die Aufnahmen ins Ausland zu verlagern. Die Alben der Berliner Trilogie, wie Construction Time Again, Some Great Reward und Black Celebration oft genannt werden, wurden zum Teil in den Hansa Studios aufgenommen oder abgemischt, in deren hohen hallenden Räumen Martin Gore übrigens den Gesang für die Ballade „Somebody“ von Some Great Reward ablieferte, während er nichts weiter trug als ein wenig Nagellack.

Und auch für die nächsten Alben zog es die Band ins Ausland. Zum einen wollte man mit anderen Kulturen in Kontakt kommen und sich von anderen musikalischen Einflüssen inspirieren lassen, zum anderen hatten Depeche Mode in einer fremden Umgebung mehr Freiheiten und konnten dem Erwartungsdruck ein wenig entfliehen, der sich im heimischen Großbritannien mit jeder neuen Veröffentlichung verstärkte.

Stilistisch gesehen waren Depeche Mode noch immer fast ausschließlich eine Synthie-Band und wurden von ihren Fans und der Musikindustrie auch so betrachtet. Dadurch, dass sie Sampling als kreative Grundlage ihrer Songs einsetzten, wurden sie rückblickend oft als Pioniere dieser Technik genannt, was jedoch zu jener Zeit noch nicht so gesehen wurde. Depeche Mode verwandten im Studio und auch außerhalb viel Zeit darauf, eigene Samples zu erstellen, indem sie auf allen möglichen Dingen herumtrommelten oder sie durch die Gegend rollten und diese Elemente dann später in die Songs integrierten. Die treibende Kraft dabei waren vor allem Miller, Jones und Alan Wilder, der nach eigenem Bekunden das Bandmitglied war, dem die Studioarbeit den meisten Spaß machte und der beim Aufbau der Songs damals eine sehr aktive Rolle spielte.

Es funktionierte. Während Depeche Mode vom Sound her zunehmend in Richtung Industrial gingen, behielten sie die eingängigen Melodien ihrer Anfangszeit bei, sodass ihre Musik weiter zugänglich blieb. Die wies zudem inzwischen eine Tiefe auf, die das wachsende Selbstbewusstsein spiegelte, mit dem Gore in seinem Songwriting dunklere, intensivere Ideen erforschte.

Der Erfolg von Construction Time Again, Some Great Reward und Black Celebration sorgte im Depeche-Mode-Lager nach und nach für Veränderungen. Während der Arbeit an den ersten fünf Alben hatte Miller stets die Zeit gefunden, neben der Leitung von Mute Records auch noch die Studioaufnahmen zu betreuen. Aber 1986 hatte sich Mute mit Künstlern wie Frank Tovey, Nick Cave & The Bad Seeds, Mark Stewart und Crime And The City Solution zu einem recht erfolgreichen Independent-Label gemausert. Zudem starteten zu dieser Zeit die herrlich poppigen Erasure durch – ein Duo, das der ehemalige Depeche-­Mode-Gründer Vince Clarke ins Leben gerufen hatte, der nach seinem Ausstieg 1981 zunächst einmal mit der ebenfalls aus Essex stammenden Alison Moyet als Yazoo aktiv gewesen war. Zwar gab es Yazoo nicht sehr lange, aber dennoch war das Duo zeit seines Bestehens erfolgreicher als Clarkes ehemalige Band. Obwohl er mit dem Popstar-Dasein fremdelte, hatte Clarke ein Händchen dafür, für sich und seine Kreativpartner perfekte Songs mit großem Hitpotenzial zu schreiben, die ihn immer wieder ins Scheinwerferlicht beförderten.

Auch, wenn Depeche Mode nicht mehr im Jahresrythmus wie zu Anfang ihrer Karriere, sondern nur noch alle eineinhalb bis zwei Jahre ein neues Album veröffentlichten, stand es Ende 1986 trotzdem außer Frage, dass Miller sich auch nur drei Tage aus dem Mute-Büro verabschiedete, von drei Monaten, wie sie für die Aufnahmen und den Mix von Black Celebration nötig gewesen waren, gar nicht zu reden.

Die Black Celebration-Sessions, die sowohl in den Hansa Studios in Berlin als auch im Londoner Westside und Genetic stattgefunden hatten, waren ganz besonders anstrengend und langwierig gewesen. Miller und Jones hatten die Idee propagiert, dass die Band und das Produzententeam das Album „leben“ sollten, und das hieß, dass jeder an jedem Tag im Studio erscheinen musste, bis das Projekt abgeschlossen war. Die bewusste Entscheidung, ein intensives und neuartiges Arbeitsumfeld zu schaffen, führte unweigerlich zu einer extrem klaustrophobischen Situation, in dereine Platte entstand, die von den meisten Fans damals als Depeche Modes bisher dunkelstes Werk bezeichnet wurde.

Abgesehen davon, dass Black Celebration nicht nur die Fans überzeugte, sondern auch von der Kritik vielfach sehr gelobt wurde, stellte das Album in mehrfacher Hinsicht einen entscheidenden Wendepunkt dar. Nach drei wichtigen Alben machten sich allmählich Abnutzungserscheinungen in der Zusammenarbeit zwischen Band und Produktionsteam bemerkbar – nicht zuletzt, weil der Entstehungsprozess von Black Celebration so langwierig gewesen war und sich durch das selbstauferlegte enge Miteinander Spannungen ergeben hatten.

Miller hatte sich inzwischen als eine Art Vaterfigur für die Band etabliert, während Jones die Rolle eines etwas vorlauten, aber grundsätzlich wohlmeinenden Onkels einnahm. Aber obwohl sie mit den beiden so große Erfolge gefeiert hatten, wollten und mussten Depeche Mode jetzt kreativ neue Wege gehen.

Zudem war man mit der Soundqualität von Black Celebration am Ende nicht komplett zufrieden. Wilder fand, der Mix klinge „komisch – zu viel Hall, nicht genug Tiefen und so weiter“. Aus diesen Gründen – und weil Millers „anderer Job“ bei Mute sehr viel Zeit beanspruchte – war schließlich Dave Bascombe als Produzent für die nächste Platte engagiert worden. Mute und Depeche Mode habe „der Sound sehr gefallen, den er für Tears For Fears und bei einigen anderen Projekten produzierte“, wie Miller später dem Magazin Electronic Beats sagte. Abgesehen von Tears For Fears’ Songs From The Big Chair, das der hochgelobte aufstrebende Toningenieur 1985 abgeliefert hatte, waren Depeche Mode zudem sehr von seiner Arbeit mit Echo And The Bunnymen beeindruckt.

Miller sagte: „Wir suchten erst einmal ein Studio aus – wir wollten Abstand von Berlin, aber auch nicht in London aufnehmen, und schließlich fanden wir ein schönes Studio in Paris. Die ersten Tage war ich mit vor Ort, um sicherzustellen, dass sich alle wohlfühlten, und es lief alles gut. Tatsächlich hatte ich das Gefühl, dass mir eine unglaubliche Last von den Schultern fiel, weil ich wusste, dass ich in den nächsten sechs Monaten nicht mit im Studio sein würde! Es war ein sonniger Tag, als ich mich verabschiedete, und ich dachte: Sie werden eine Platte aufnehmen, ich werde nicht dabei sein, die Platte wird deswegen nur noch besser werden, und ich werde mich auch besser fühlen. Dave Bascombe war sehr gut darin, Ideen umzusetzen, und von daher waren sie ein gutes Team.“

Verglichen mit dem Vorgängeralbum war es ein relativ kleines Produktionsteam, das in fünf Monaten Music For The Masses erschuf – ein Album mit ausgesprochen wuchtigem Sound, vor allem bei Songs wie „Never Let Me Down Again“. Möglicherweise ist es auf Bascombes Einfluss zurückzuführen, dass viele Tracks ausgedehnt und selbstbewusst ausfielen. Manche erkannten auf der Platte insgesamt eine ähnliche Atmosphäre, wie sie der einige Jahre zuvor erschienene Klassiker von Tears For Fears aufwies.

Wilder hingegen behauptete später im Q&A Vault seiner Recoil-Webseite, von allen Depeche-Mode-Alben, an denen er beteiligt war, sei Music For The Masses die am ehesten selbstproduzierte Platte gewesen. „Ohne Dave Bascombe zu nahe treten zu wollen – er hat dabei eher als Toningenieur denn als Produzent fungiert.“

Die jugendliche Verspieltheit der drei Berliner Alben war verschwunden, und es gab weniger Samples; dafür hatten die Arrangements musikalisch deutlich an Tiefe gewonnen. Und nachdem sie sich auf Black Celebration ausgiebig damit beschäftigt hatten, die dunkle Seite ihrer Musik und in Gores Songwriting zutage zu fördern, betrachteten sie diese Phase nun möglicherweise als erfolgreich abgeschlossen. Nun konnten sie den Blick zu neuen Ufern schweifen lassen.

Dennoch war es bemerkenswert, dass der üppige neue Sound von Music For The Masses, worauf auch immer erzurückzuführen sein mochte, weniger als zwei Jahre nach der umstrittenen Single „It’s Called A Heart“ realisiert wurde, von der sich die Band sehr schnell distanziert hatte. Und während die Music For The Masses Tour im Frühjahr und Frühsommer 1988 ihrem fulminanten Ende entgegenging, wurde an vielen entscheidenden Stellen schon intensiv darüber nachgedacht, wie die nächste Stufe der Bandentwicklung am besten einzuläuten wäre. Es kam längst nicht mehr in Frage, aus Sentimentalität an altgedienten Mitstreitern festzuhalten, die der Band bei früheren Alben zum Erfolg verholfen hatten. Inzwischen erkannten Depeche Mode mehr und mehr, welches Potenzial in ihnen steckte, und ihnen wurde klar: Wenn sie neues Material eingespielt hatten, dann hatte es stets Leute in ihrer Umgebung gegeben, die sie dazu angespornt hatten, echte Höchstleistungen zu vollbringen. Damit das dieses Mal wieder gelang, würden sie sich einmal mehr aus ihrer Komfortzone herauswagen und noch ein Stück weitergehen müssen.

Miller sagte in der Depeche Mode DVD Documentary 2006: „Wir wollten uns nach Music For The Masses weiterentwickeln, obwohl die Platte so gut geworden war. Ich glaube, alle hatten das Gefühl, dass es richtig gewesen war, frisches Blut an Bord zu holen. Damit war es enorm nach vorn gegangen, und das wollten wir wieder erreichen. Flood schien dafür die offensichtliche Wahl.“

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