Handbuch Transformation -  - E-Book

Handbuch Transformation E-Book

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Beschreibung

Immer häufiger begegnet es uns - das Thema Transformation: Die Bundesregierung hat eine große Studie zu Transformation und Umwelt beauftragt, Christen diskutieren in Vorträgen über die Transformation von Kirche. Aber was heißt das eigentlich? Und was hat es mit unserer Glaubenspraxis zu tun? "Transformation" hat sich zu einem Schlüsselbegriff im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Diskurs entwickelt. Er steht für die großen gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, die unsere Welt grundlegend verändern - wie Globalisierung, Polarisierung oder Digitalisierung. Er beschreibt aber auch das Ziel von Veränderung, wie z. B. bei der aktuellen Entwicklung einer klimagerechten Gesellschaft. Ein hochaktuelles Thema also, dass sich mit den massiven Umbrüche beschäftigt, die in vielen Bereichen von Gesellschaft und Kirche auf uns zukommen. Hier setzt die neue IST-Reihe an: Sie beleuchtet das Thema aus verschiedenen Perspektiven - mit wissenschaftlicher und theologischer Tiefe, aber zugleich auch mit Blick auf die Glaubenspraxis: Was kann man aus diesen Diskursen für eine Kirche in Transformation lernen? Wie können Veränderungsprozesse aktiv mitgestaltet werden? Dieses Handbuch bietet einen umfangreicher Überblick zum aktuellen Stand der Transformationstheorien und wichtiges Hintergrundwissen für alle, die sich mit dem Thema auseinandersetzen wollen. Es beleuchtet den Begriff Transformation aus theologischer und humanwissenschaftlicher Perspektive und bündelt langjährige Erfahrungen aus Forschung, Theorie und Praxis in einem Buch. Band 1 der Reihe "Interdisziplinäre Studien zur Transformation" (IST)

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im

Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2021 Neukirchener Verlagsgesellschaft mbH, Neukirchen-Vluyn

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Grafikbüro Sonnhüter, www.grafikbuero-sonnhueter.de, unter Verwendung eines Fotos von Normform (shutterstock)

Lektorat: Hauke Burgarth, Pohlheim

Gestaltung und Satz: Magdalene Krumbeck, Wuppertal

Verwendete Schrift: Apollo MT Std, Akko Pro

Gesamtherstellung: PPP Pre Print Partner GmbH & Co. KG

ISBN 978-3-7615-6774-6 E-Book

www.neukirchener-verlage.de

Band 1: IST – »Interdisziplinäre Studien zur Transformation«

Herausgegeben von Sandra Bils, Thorsten Dietz, Tobias Faix, Tobias Künkler, Sabrina Müller, in Zusammenarbeit mit dem Studiengang Transformationsstudien für Öffentliche Theologie & Soziale Arbeit an der CVJM-Hochschule.

Transformation.

Einordnung eines schillernden Begriffs

Transformation – ein schillernder Begriff. Für die einen atmet er Verheißung und birgt Hoffnung, für die anderen klingt er nach Bedrohung und löst Ängste aus, für Dritte ist er eine Worthülse, die jede Menge leere Versprechungen enthält. Der Begriff scheint ebenso vieldeutig und komplex wie die Sache, die er zu benennen versucht. Aus unterschiedlichen theoretischen und disziplinären Perspektiven wird der Begriff Transformation auf vielfältige Phänomene angewendet oder dient als Zielperspektive für unterschiedliche Prozesse und Entwicklungen. In diesen Dschungel an Verwendungungsmöglichkeiten will dieser Band Schneisen der Orientierung und des tieferen Verständnisses schlagen, und das in erster Linie nicht aus einer akademischen Perspektive. Bei aller Polyvalenz, Unter- und Überbestimmtheit, ist das Konzept Transformation ein Schlüssel: nicht nur zum besseren Verständnis des Wandels von Gesellschaft und Kirche und der historisch-kulturellen Situation, in der wir leben, sondern auch zur aktiven Mitgestaltung von Transformation. Zum einen als Herausgeber dieses Bandes und zum anderen als Studiengangsleiter eines interdisziplinären Studiengangs »Transformationsstudien: Öffentliche Theologie und Soziale Arbeit« sind wir überzeugt davon, dass Transformation ein Schlüssel für eine Haltung sein kann, die dazu führt, dass Akteur:innen angesichts massiver Umbruchsprozesse und den damit einhergehenden Herausforderungen nicht passiv-defensiv verharren oder vor Angst versteinern, sondern Transformation aktiv gestalten. Dies bedeutet, weder einem blinden Aktionismus zu frönen, noch der Illusion zu verfallen, man könne Transformationen im engeren Sinne machen oder herstellen. Dass eine aktive Gestaltung auf Basis einer entsprechenden Grundhaltung und mithilfe passender Sehhilfen (Theorien), Orientierungen (Konzepte) und Werkzeuge (Methoden) Frucht trägt und soziale Innovationen hervorbringen kann, haben wir in den Transformationsstudien vielfach in den Praxisprojekten der Studierenden erleben dürfen. Um einen permanenten und konsequenten Theorie-Praxis-Dialog zu gewährleisten, führen alle Studierenden ein eigenes Praxisprojekt durch. Diese Praxisprojekte beeinflussen wiederum das theoretische Reflektieren und haben somit maßgeblichen Einfluss auch auf dieses Handbuch. Etliche dieser Projekte sind, neben vielen Erfolgen und angestoßenen Transformationsprozessen, an manchen Stellen gestolpert oder auch gescheitert. Ein beständiges Trial-and-Error und eine explorativ-suchende Grundhaltung gehören dazu, wenn man sich als Pionier:in in unbekanntes Terrain gibt.

Transformation als Gegenstand

Auch in den Transformationsstudien beziehen wir uns sowohl auf deskriptiv-beschreibende als auch auf normativ-wertende Konzeptionen von Transformation. Dies soll gleich noch genauer erläutert werden. Sucht man jedoch zunächst nach einer Art kleinstem gemeinsamem Nenner der unterschiedlichen Transformationsverständnisse, dann lässt sich vielleicht Folgendes formulieren: Transformation meint immer mehr als irgendeine Veränderung. Transformation ist immer tiefgehend (statt oberflächlich), paradigmatisch/umfassend (statt partiell), nachhaltig (statt situativ) und systemverändernd bzw. strukturell. Es geht um eine Trans-Formation, die Neu- oder Umformatierung einer bestehenden Forma­tion.

Ist Transformation im Wesentlichen der Gegenstand einer untersuchend-analytischen Perspektive, versucht man solche paradigmatisch-strukturellen Veränderungsprozesse zu verstehen oder erklären. Der Untersuchungsgegenstand Transformation kann sich dabei auf ganz unterschiedlichen Ebenen befinden. Erstens auf einer gesellschaftlichen Mikroebene, in der zunächst die Transformation einzelner Menschen in den Blick kommt, z. B. aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive als transformative Lern- oder Bildungsprozesse, aber auch auf psychologischer oder theologischer Ebene als Konversion oder Dekonversion. Auf einer Mesoebene analysiert man zweitens die Transformation von Institutionen oder Organisationen, z. B. aus einer systemischen, organisationstheoretischen Perspektive. Transformationen der Gesamtgesellschaft liegen drittens auf der Makroebene. So untersucht man aus soziologischer Perspektive, wie bestimmte gesellschaftliche Megatrends wie Digitalisierung nachhaltig alle gesellschaftlichen Teilbereiche verändern, oder man forscht aus politikwissenschaftlicher Perspektive, wie sich in den Staaten des ehemaligen Ostblocks der politische Systemwechsel vollzogen hat. Viertens gibt es auch noch Transformationsprozesse auf der Metaebene, hier betrachtet man Ideen und Prozesse, die Gesellschaft und Kultur zuerst konstitutieren, also zugleich formen und hervorbringen, z. B. aus philosophischer und/oder historischer Perspektive. Dabei geht es darum, wie es genau dazu kam, dass das moderne Selbst- und Weltbild entstanden ist.

Transformation als Ziel

Gute deskriptive Analysen sind notwendig, um zumindest ein Stück weit zu verstehen, wer wir heute sind, was dieses Heute ist und warum und welche Stürme der Veränderung uns umwehen. Zugleich reicht es unseres Erachtens nicht, bei einer solchen Analyse stehen zu bleiben. Wie angedeutet helfen dabei die Konzeptionen von Transformation, die mit dem Begriff eine Zielperspektive aufstellen, auf die hin sich orientiert werden sollte.

Zunächst gibt es da ganz faktisch die Notwendigkeit oder gar den Zwang zur Transformation von bestehenden Systemen, die in einer Transformationsgesellschaft überleben wollen. Nur ein Beispiel hierfür ist die Kirche (besser: die Kirchen), die sich überwiegend in Schrumpfungsprozessen befinden und beständig an gesellschaftlicher Relevanz, finanziellen und personellen Ressourcen und damit an Gestaltungskraft verliert. Ähnlich sieht es gesamtgesellschaftlich aus. Wir wissen immer deutlicher, dass die Menschheit längst mehrere planetare Grenzen überschritten hat und dabei hochkomplexe, irreversible Prozesse in Gang gesetzt hat, die gravierende negative Auswirkungen auf die Menschheit haben werden, besonders auf die zukünftigen Generationen und besonders die in Armut lebenden. Vor allem unter dem Eindruck der Klimakrise wächst gegenwärtig das gesellschaftliche Bewusstsein, dass es eine »Große Transformation« hin zu einer wirklich nachhaltigen Gesellschaft geben muss. Ob den wachsenden Einsichten und Worten auch entsprechende Taten folgen, ist gegenwärtig offen. Einen Zwang zur Transformation zu postulieren, mag harsch klingen, aber letztlich stehen wir hier vor der Wahl, wie sie Harald Welzer folgendermaßen auf den Punkt brachte: »Transformation by design oder desaster«.1 Entweder wir schaffen es, die nötigen Transformationen zu gestalten, oder wir werden durch Krisen und Katastrophen hierzu genötigt. Betrachtet man die wissenschaftlichen Prognosen des Klimawandels, dann werden die bereits gravierenden gesellschaftlichen Transformationen und Änderungen unserer Lebensweise, in die wir gegenwärtig durch die Covid-19-Pandemie gezwungen werden, im Rückblick dabei vielleicht vergleichsweise harmlos erscheinen.

Angesichts dieser Herausforderungen verlassen auch viele Wissenschaftler:innen aus Disziplinen, die traditionell eher analytisch-deskriptiv arbeiten, die bequem neutrale Zone des Elfenbeinturms. In den Sozialwissenschaften ist die Öffentliche Soziologie (public sociology), die Gesellschaft weder nur beschreiben noch bloß kritisieren will, sondern mittels Wissenschaft und deren Kommunikation sich aktiv in die Gestaltung dieser Gesellschaft einmischen will, ein Beispiel. Ein anderes ist der wissenschaftstheoretische Ansatz einer transformativen Wissenschaft, die sich dezidiert als ein Akteur in der Großen Transformation versteht und diesen Prozess mit den zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Mitteln mitgestalten möchte, ohne dabei wissenschaftliche Qualitäts- und Gütekriterien zu unterlaufen.

In unserem interdisziplinären Studiengang der Transformationsstudien setzen wir nicht nur an den beschriebenen deskriptiven und normativen Perspektiven von Transformation an, sondern bringen zwei wissenschaftliche Disziplinen in einen Dialog, die beide, zumindest in manchen ihrer Theorietraditionen und Selbstverständnisse, auf Transformation zielen: zum einen die Sozialarbeitswissenschaft, zum anderen die Theologie.

Die Disziplin der Sozialarbeitswissenschaft dient der Profession der Sozialen Arbeit. Diese ist entstanden aus einer langen Geschichte der Hilfe von Menschen in Not und der Institutionalisierung dieser Hilfe. Historisch trat sie auf zu Beginn der modernen Gesellschaft als Ersatz für schwindende familiäre und verwandtschaftliche Sicherungs- und Erziehungsleistungen. Als eine solche soziale Feuerwehr wird sie auch heute noch oft missverstanden. Soziale Arbeit möchte jedoch nicht nur die Folgen sozialer Probleme vermindern, sondern vor allem präventiv arbeiten, und dies nicht nur auf der Ebene von Einzelnen oder Gruppen, sondern auch von ganzen Gemeinwesen und letztlich gesamtgesellschaftlich. Soziale Arbeit zielt auch darauf, gesellschaftliche Entwicklungen positiv zu beeinflussen und mitzugestalten, indem mit den Maßstäben sozialer Gerechtigkeit und der allgemeinen Menschenrechte Veränderungsbedarf angemahnt wird, an der Transformation von Strukturen und Systemen mitgearbeitet wird und indem Einzelne dazu befähigt und befreit werden, Akteur:innen zu werden, die an Gesellschaft teilhaben und Gesellschaft mitgestalten können.

Schließlich gibt es theologisch ein Verständnis von Mission als Transformation, verstanden als Aufruf zur Gestaltung der Welt im Licht des Evangeliums und als Partizipation an Gottes Heilshandeln auf allen Beziehungsebenen: der Beziehung des Menschen zu sich selbst, zu anderen Menschen, zur Schöpfung und zu Gott.

Sowohl theologisch als auch sozialarbeitswissenschaftlich kann aus einer solchen Perspektive die Große Transformation als Teil des Ziels von Mission einerseits und der Profession Sozialer Arbeit andererseits betrachtet werden. Die Missionen aller drei Bereiche unterscheiden wie überschneiden sich dabei: die theologisch formulierte Mission Gottes, das sozialarbeitswissenschaftlich formulierte Ziel der Gestaltung einer sozial gerechten und menschenrechtsorientierten Gesellschaft und das gesamtgesellschaftlich ausgerufene Ziel einer Großen Transformation hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft. Eine hohe Übereinstimmung gibt es jeden­falls in den Grundwerten: soziale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Solidarität, Achtung der Vielfalt, Freiheit, Gleichberechtigung als Werte der Profession Sozialer Arbeit; Gerechtigkeit, Liebe, Ebenbildlichkeit Gottes, Gleichwürdigkeit, Barmherzigkeit, Verantwortung zur Weltgestaltung und Freiheit als Werte einer Theologie der Transformation. Ähnlich gibt es eine Konvergenz in den Zielen und damit teils auch in den Praktiken: eine Veränderung des Menschen, seiner Lebenslage und der die Lebenslage bedingenden gesellschaftlichen Strukturen hier und eine Veränderung der Herzen und der Verhältnisse da.

Somit sind in einer systematischen Logik die unterschiedlichen Typen von Transformationsverständnissen skizziert, Transformation als Gegenstand und als Ziel, wie sie auf unterschiedlichen Ebenen untersucht und aus unterschiedlichen Perspektiven anvisiert wird.

Was dieses Buch will und leisten kann

Uns ist das Wagnis eines Handbuchs Transformation und die notwendige Begrenztheit dieses Bandes bewusst, und wir sind sehr dankbar, dass sich so viele namhafte Autor:innen auf dieses Experiment eingelassen haben. Handbuch Transformation. Der Titel macht das Vorhaben deutlich. Wir wollen den Versuch unternehmen, den Begriff Transformation in seiner Vieldeutigkeit aufzunehmen und seine unterschiedlichen Facetten aufzuzeigen, ihn zu systematisieren und somit mehr Klarheit und Verständnis in dessen Gebrauch zu bekommen. Im Untertitel des Buches haben wir die doppelte Dynamik, die wir in der Einleitung beschrieben haben, versucht auszudrücken. Wir sind den gesellschaftlichen Transformationen nicht hilflos ausgeliefert, sondern wir können den Wandel auf unterschiedlichen Ebenen mitgestalten. Für diese Gestaltung braucht es aber Zielrichtungen und Grundwerte für Mensch und Natur. Viele unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen beschäftigen sich mit Transformation als Zielrichtung, fast immer arbeitet man hier interdisziplinär; diesen Perspektiven widmen wir den ersten Teil des Handbuchs. Im zweiten Teil folgt dann eine Reflexion über Transformation als Ziel aus vielfältigen theologischen Perspektiven. Im dritten Teil schließlich werden die Auswirkungen der großen gesellschaftlichen Transformationen unserer Gegenwart analysiert. Alle drei Teile und die jeweiligen Einzelbeiträge werden von uns zu Beginn inhaltlich eingeleitet. Uns ist bewusst, dass wir mit diesem Handbuch den Begriff der Transformation nicht vollständig ausleuchten können, wir sind aber überzeugt, dass das vorliegende Handbuch einen guten Über- und Einblick in den heterogenen Gebrauch dieses Begriffes gibt. Dass dies gelungen ist, ist vor allem das Verdienst der Autor:innen, die an diesem Handbuch mitgewirkt haben und denen wir sehr dankbar sind. Einige davon sind als Lehrende Teil des Masters Transformationsstudien: Öffentliche Theologie und Soziale Arbeit an der CVJM-Hochschule.

Dabei bildet dieses Handbuch den Auftakt einer längeren und größeren Auseinandersetzung, denn es ist der erste Band der IST – »Interdisziplinäre Studien zur Transformation«, die sich in den nächsten Jahren den großen Themen unserer Zeit aus explizit transformatorischer Sicht zuwenden will. Parallel zu diesem Band erscheint schon Band 2: »Eine Transformatorische Ethik. Wege zum Leben« und es werden weitere Bände folgen. Wir freuen uns, dass wir dazu ein tolles Herausgeber:innen­team haben.

Wir sind sehr dankbar, dass wir im Neukirchener Verlag einen engagierten Partner für diese für uns wichtige Reihe gewonnen haben, und danken besonders Herrn Siepermann und Frau Atkinson für das große Vertrauen, eine so lange Wegstrecke mit uns zu gehen.

Sodann möchten wir vielen Menschen danken, die uns in der Entstehung dieses Bandes begleitet haben, besonders unserer Hilfskraft Ronja Dietrich, aber auch der CVJM-Hochschule und unserem tollen Kolleg:innenteam, mit dem wir im Master unterwegs sein dürfen.

Herbst 2020, Tobias Faix und Tobias Künkler

1 Sommer, Bernd; Welzer, Harald (2014): Transformationsdesign. Wege in eine zukunftsfähige Moderne. Oekom Verlag, S. 12.

Teil 1

Transformation als Ziel. Interdisziplinäre Perspektiven

Einführung

Tobias Künkler und Tobias Faix

Eines der wesentlichen Unterscheidungsmerkmale von Tieren und Menschen ist die massive Anpassungsfähigkeit von Menschen und ihre grundlegende Offenheit für Lernprozesse und ganz unterschiedliche kulturelle Umwelten. So kommt es, dass Menschen in Bottrop, der Savanne und am Südpol leben, Pinguine aber nur am Südpol. Letztere sind angewiesen auf eine spezifische Umwelt; Menschen können sich an unterschiedliche Umwelten anpassen, indem sie ihre eigene Kultur erschaffen. Die erste Große Transformation in diesem Prozess war die neolithische Revolution vor rund 10.000 Jahren in der Jungsteinzeit. Menschen begannen, mittels Ackerbau und Viehzucht sesshaft zu werden. Erst die historisch noch recht junge Industrialisierung kann als zweite Große Transformation betrachtet werden. »Befeuert durch die Erschließung und Nutzung über Jahrmillionen in der Erdkruste aufgebauter fossiler Energieträger, entfaltete die Menschheit ab Beginn des 19. Jahrhunderts eine nie dagewesene Produktivität. Sie ermöglichte eine gewaltige Explosion der Weltbevölkerung und einen Wohlstand für mehrere Milliarden Menschen auf dem Planeten Erde, der in vorangegangenen Menschheitsepochen nur kleinen Eliten überhaupt möglich war.«1

Der Preis für diese Erfolgsgeschichte ist die Überschreitung oder drohende Überschreitung planetarer Grenzen. Aus diesem Grund verkündete 2016 eine internationale Gruppe von Wissenschaftler:innen, dass wir im Erdzeitalter des Anthropozän leben. Seit Beginn der zweiten Großen Transformation sind die Eingriffe der Menschheit in biologische, geologische und atmosphärische Prozesse so massiv, dass deren Folgen den gesamten Globus für den Zeitraum eines ganzen Erdzeitalters (100.000–300.000 Jahre) prägen werden.

Mit dem Zeitalter der Menschen ist eine Weltrisikogesellschaft entstanden. Menschen beherrschen und kontrollieren die Natur einerseits immer stärker, andererseits verlieren sie immer mehr die Kontrolle, da fortlaufend nichtintendierte Nebenfolgen mit gravierenden Konsequenzen produziert werden. In einem Artikel der Wochenzeitung »Die Zeit« stand 2018, also lange vor der Covid-19-Pandemie, folgende Aussage: »Noch in den Siebzigerjahren galt: Verheerende Infektionskrankheiten würden bald besiegt sein. […] Doch der Optimismus verpuffte. Heute, 40 Jahre später, ist nichts mehr von ihm geblieben. Im Gegenteil: Forscherinnen und Forscher warnen vor einem Zeitalter der Epidemien, vor großen Seuchen, an deren Folgen Tausende Menschen sterben könnten.«2 Woher kamen diese Warnungen? Zum einen lagen Daten vor, die zeigten, dass Infektionskrankheiten an Häufigkeit und Dynamik ihrer globalen Verbreitung zunahmen. Nur die Spitze dieses Eisberges ist, dass die WHO 2009, 2014 und 2016 wegen Schweinegrippe, Ebola und Zika den internationalen Gesundheitsnotstand ausrief. Zum anderen ergeben sich aus den Daten immer mehr Hinweise, dass das Zeitalter der Menschen auch das Zeitalter der Epidemien werden könnte. Deutlich wird das beispielsweise an den Ergebnissen einer aktuellen Studie, die zeigt, dass seit 1990 60 bis 70 Prozent aller neuartigen Krankheiten bei Menschen durch eine Übertragung durch Wildtiere erfolgte. Im gleichen Zeitraum vernichteten Menschen Regenwald in der Größe von ungefähr siebenmal der Fläche von Großbritannien.3 Die Covid-19-Pandemie ist natürlich nicht unmittelbar und direkt vom Menschen gemacht, jedoch ist sie auch nicht bloßes Schicksal. Wie es der obige schon zitierte Artikel auf den Punkt bringt: »Weil die Massentierhaltung zunimmt, der Planet sich aufheizt, Menschen in Städte drängen und rasch um die Welt reisen können – alles charakteristisch für das Menschenzeitalter –, haben es gefährliche Krankheitserreger heute so leicht wie nie, für eine Katastrophe zu sorgen.« Bei all dem ist zu bedenken, dass die Covid-19-Pandemie mit einem anderen Erreger noch viel dramatischer hätte ausfallen können. Während die Sterblichkeitsrate, die sogenannte Letalität, bei Covid-19 nach bisherigen Berechnungen unter 1 Prozent liegt, lag die Letalität des MERS-Virus, das 2012 in Saudi-Arabien und 2015 in Südkorea ausbrach und das glücklicherweise frühzeitig eingedämmt werden konnte, bei 30 Prozent. Bis heute gibt es trotz intensiver Forschungen keinen wirksamen Impfstoff gegen MERS.

Dies alles sind erste, noch relativ harmlose, Folgen der Weltrisikogesellschaft, die die planetaren Grenzen nicht einhält. Der berühmte Bericht »Grenzen des Wachstums«, den der Club of Rome 1972 veröffentlichte, vermittelte erstmals ein Bewusstsein, dass die Erde und ihre natürlichen Rohstoffe begrenzt sind und auch Wachstum daher begrenzt sein muss.4 Mittlerweile ist deutlich geworden, dass nicht die Knappheit der Rohstoffe das zentrale Problem ist. Wissenschaftler:innen gehen von neun planetaren Grenzen aus, von denen wir drei bereits überschritten haben (der Verlust an Biodiversität, die globalen Nitrateinträge in Ökosysteme und am bekanntesten das Klimasystem durch den Treibhauseffekt). Betrachten wir nur die bekannteste planetare Grenze des Klimasystems. Aus dieser Perspektive heraus hat die Menschheit mehr Rohstoffe zur Verfügung, als gut für sie ist. Man schätzt, dass in allen vorhandenen fossilen Rohstoffreserven, also Öl, Kohle und Gas, noch ca. 10.000 Gigatonnen gebundener Kohlenstoff enthalten sind. Um die durch die Überschreitung der Grenze schon in Gang gesetzte globale Erwärmung nicht um mehr als 2 Grad zu überschreiten, dürfen nur noch 800 Gigatonnen des gebundenen Kohlenstoffs als CO2 in die Atmosphäre gelangen. Dort existiert aktuell 1/3 mehr Kohlenstoff als in den letzten 800.000 Jahren zuvor, erst in den letzten drei Jahrzehnten ist mehr als die Hälfte davon hinzugekommen. Das ist ungefähr der Zeitraum, seit der die Menschheit dieses Problem erkannt hat.

Bei der Frage nach den Folgen des Klimawandels liegt der Fokus oft nur auf dem Anstieg des Meeresspiegels. Unterschätzt werden exponentielle Dynamiken, wechselseitige Aufschaukelungsprozesse (auch Teufelskreise genannt) und langfristige Folgen. Ob sich die Erde um 2, 3 oder 4 Grad erwärmen wird, klingt zunächst vielleicht nicht nach gravierenden Unterschieden, hat nach den wissenschaftlichen Prognosen aber massiv unterschiedliche Auswirkungen. Nehmen wir nur das Beispiel der Hitze. Seit 1980 hat die Anzahl der gefährlichen Hitzewellen global um das 50-Fache zugenommen, Tendenz steigend. Die fünf wärmsten Sommer seit dem 15. Jahrhundert in Europa wurden alle nach dem Jahr 2002 gemessen. Kommt es zum gegenwärtigen Best-Case-Szenario einer 2-Grad-Erwärmung, werden »nur« die Großstädte um den Äquator unbewohnbar, »nur« 400 Millionen Menschen leiden unter Wassermangel, und in unseren nördlichen Breitegraden würden die Sommermonate »nur« Tausende von Menschen das Leben kosten, ähnlich wie in gegenwärtigen Extremsommern. Bei einer 3-Grad-Erwärmung wäre der Kipppunkt für das komplette Schmelzen der Pole erreicht. Mehr als 100 Städte auf der ganzen Welt würden unter Wasser stehen, Südeuropa würde dauerhaft verdorren, die durchschnittliche Trockenzeit in Nordafrika würde fünf Jahre andauern und in den USA würde sechsmal so viel Fläche durch Waldbrände zerstört. Bei einer 4-Grad-Erwärmung, auf die wir bis Ende des Jahrhunderts mit dem aktuellen Trend zusteuern, würden große Teile der Erde (z. B. ganz Asien südlich von Sibirien) durch Hitze, Verwüstungen und Überschwemmungen quasi unbewohnbar gemacht. Selbstverständlich beruht all das auf wissenschaftlichen Prognosen, die immer auch einen Fehlerspielraum haben. Seit Beginn der Klimafolgenforschung hat sich jedoch gezeigt, dass die Folgen meist eher unterschätzt wurden und die Folgen heute schon spürbarer sind als in den Szenarien gedacht. Wesentlich sind dafür wohl die exponentiellen Dynamiken und Aufschaukelungsprozesse verantwortlich. Nur ein Beispiel: Je stärker das Eis an den Polen schmilzt, desto weniger Sonnenlicht kann reflektiert und absorbiert werden, desto schneller erwärmt sich die Erde, desto weniger können die Meere CO2 aus der Luft aufnehmen, desto schneller erwärmt sich die Erde, desto schneller taut der Permafrostboden in der Arktis auf, der allein ca. 18.000 Tonnen Kohlenstoff bindet. Dies ist mehr als doppelt so viel, wie sich momentan in der gesamten Erdatmosphäre befindet.

Neben der Hitze sind aber auch Hunger, Ertrinken, Flächenbrände, Süßwassermangel, sterbende Meere, verpestete Luft, Seuchen, zusammenbrechende Wirtschaftssysteme, Klimaflüchtlinge und Klimakonflikte weitere Auswirkungen des Klimawandels. Mit anderen Worten: »Die desaströsen Auswirkungen, die wir heute überall um uns herum erleben, sind immer noch besser als das Best-Case-Szenario.«5 Genau deswegen leben wir in einem Kairos, der eine dritte Große Transformation nötig macht. »Und wenn unser Planet innerhalb der Lebensspanne einer Generation bis an den Rand einer Klimakatastrophe gebracht wurde, bedeutet das, dass die Verantwortung dafür, das abzuwenden, ebenfalls einer einzigen Generation zufällt. Wir wissen auch, wem – uns.«6 Genau aus diesem Grund ist Transformation unvermeidlich, sie wird entweder aktiv gestaltet hin zu einer nachhaltigen Gesellschaft, oder wir werden durch Desaster und Katastrophen zur Transformation gezwungen.

Mit der Großen Transformation ist die zentrale Zielperspektive von Transformation, wie sie gegenwärtig gesellschaftlich debattiert wird, umschrieben. Wie in der Einleitung angedeutet, gibt es aus anderen Perspektiven auch weitere Verständnisse von Transformation als einem Ziel gesellschaftlicher Entwicklung, zumeist umfassen diese aber auch das, was unter der Großen Transformation verstanden wird. Um Transformation als Ziel aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven geht es in diesem Teil des Buches. Einzelne Beiträge beziehen sich zwar stellenweise auch auf theologische Inhalte, grosso modo sind sie aber aus human- oder sozialwissenschaftlicher Perspektive verfasst, die nicht theologisch ist. Die dezidiert theologischen Beiträge zu Transformation als Ziel sind im zweiten Teil des Buches versammelt.

Dieser Abschnitt des Buches beginnt mit dem Aufsatz von Jürgen Harder mit dem Titel »Transformation und ökologisches Handeln«. Wie der Titel deutlich macht, geht es auch Harder um eine Große Transformation. Hierzu betrachtet er das Konzept der Nachhaltigkeit sowie den Begriff der Ökologie genauer und macht am Beispiel von Kipppunkten im ökologischen System die Notwendigkeit einer weltweiten Transformation deutlich. Auch zeigt er, dass und wie der Begriff der Transformation auch eine theologisch-spirituelle Dimension hat und welche Folgen sich daraus für ökologisches Handeln ergeben.

In seinem Beitrag »Die Rolle der Zivilgesellschaft im 21. Jahrhundert. Taktgeber der Großen Transformation« versteht Uwe Schneidewind die Große Transformation als ein im Kern kulturell-moralisches Projekt bzw. eine kulturell-moralische Revolution. Eine besondere Rolle in diesem Prozess kommen aus seiner Sicht zivilgesellschaftlichen Akteur:innengruppen zu, also Umweltverbänden, Kirchen, Gewerkschaften, Entwicklungs- und Menschenrechtsorganisationen sowie weiteren sozialen Bewegungen von unten. Zivilgesellschaftliche Akteur:innen, so Schneidewind, sind Mahner:innen, Mittler:innen und Motor für die Entwicklung einer nachhaltigen Gesellschaft. Sie bringen die Große Transformation nicht nur faktisch voran, sondern begründen mit ihrem Engagement allererst die moralische Grundlage dieses zivilisatorischen Wandels.

Einen Beitrag zur Großen Transformation können auch soziale Innovationen liefern. In ihrem Artikel »Soziale Innovationen und Transformation. Zur Relevanz zweier sozialwissenschaftlicher Konzepte für soziales, kirchliches und diakonisches Handeln« liefern Germo Zimmermann und Annett Adler eine Verhältnisbestimmung. Wie verhalten sich die Transformation und soziale Innovation zueinander? Sie argumentieren dabei aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive und konkretisieren ihre Erkenntnisse, indem sie Konsequenzen für die Gestaltung sozialer Innovationen im kirchlich-diakonischen und sozialen Kontext ziehen. Dies geschieht, indem sie neun Elemente sozialer Innovation vorstellen und am Beispiel der Plattform »Wheelmap« durchspielen. So liefern sie einen Orientierungsrahmen, der die Relevanz sozialer Innovationen für Kirche und Diakonie im 21. Jahrhundert aufzeigt.

»Transformation und Soziale Arbeit am Beispiel der Tradition der Gemeinwesenarbeit« lautet der Beitrag von Tobias Künkler, der ein zentrales Überschneidungsfeld von Sozialer Arbeit als Profession und der Mission der Kirche nachzeichnet. Indem er der Tradition der Gemeinwesenarbeit entlang von Geschichte, Merkmalen und Prinzipien nachgeht und auch einen Blick auf kirchliche Gemeinwesenarbeit und Gemeinwesendiakonie richtet, zeigt er auf, dass Transformation ein zentraler Zielaspekt Sozialer Arbeit ist, auch wenn dieser immer wieder in Gefahr steht, aus dem Blick zu geraten. Insbesondere wo es der Sozialen Arbeit gelingt, den kritisch-emanzipatorisch-politischen Gehalt der Gemeinwesenarbeit auch in neueren Ansätzen wiederzugewinnen, kann Soziale Arbeit eine transformative Soziale Arbeit sein.

Auf eine Untersuchung des Transformationsbegriffs des brasilianischen Pädagogen und Aktivisten Paulo Freire zielt der Beitrag »Das transformative Moment der Praxis: Paulo Freires Wegweiser für Radikale« von Ulli Vilsmaier und Danilo Streck. Da Freires Transformationsverständnis zentral von der situativen und kontextuellen Verortung des Menschen ausgeht, erarbeiten sie dieses auch an der Spezifik der Praxis, des Werkes und Wirkens von Paulo Freire, das in einem konkreten historischen und kulturellen Kontext stattfand. Genau damit aber legen sie das auch noch für heutige Praxis gültige Potenzial des Transformationsbegriffs nach Paulo Freire frei, das für alle die von großer Relevanz ist, die diese aktiv gestalten wollen. Sichtbar wird somit ein Verständnis von Transformation, das den Menschen als ein transzendierendes Wesen versteht, das auf Befreiung, Freiheit und Hoffnung hin angelegt ist.

Wer Transformation anvisiert, muss mit Konflikten rechnen. Marcus Weiand sieht in seinem Beitrag »Konflikttransformation« darin aber nicht nur eine Problematik. Das Konzept der Konflikttransformation, das er vorstellt, sieht selbst in festgefahrenen Konflikten ein Transformationspotenzial. Damit ist weder ein einfacher Weg noch ein magisches Rezept beschrieben. Vielmehr stellt Weiand zentrale »Wendepunkte« für den Weg der Konflikttransformation dar und erarbeitet, inwiefern Konflikttransformation sowohl auf die Veränderung persönlicher Haltungen und eigener Werte als auch der Situation, in der der Konflikt stattfindet, zielt.

Nach Raban Daniel Fuhrmann sollten wir »Transformation gestalten durch Demokratieentwicklung«. Dazu trägt er mit einer prozeduralen Perspektive bei, die den Fokus auf das Wie, die Prozeduren und Vorgehensweisen, legt, mit denen man diesen Prozess in Gang setzen kann. Auch eine sozial-ökologische Transformation ist für den Autor letztlich keine Frage des Willens, sondern des Könnens. Wie wir besser Demokratie können, ist von einer modernen Demokratiepolitik zu lernen. Am Beispiel des Auftrages einer aktuellen Enquete-Kommission des Landtags von Nordrhein-Westfalen beschreibt Fuhrmann die Implikationen zweier zentraler Arbeitsfelder einer solchen modernen Demokratiepolitik, die Demokratie als lernendes System begreift.

Ein in vielen Institutionen, besonders in Kirchgemeinden, vielfach propagierter Anspruch ist: »Bei uns ist jeder willkommen!«. Bei näherem Hinsehen gibt es jedoch häufig eine Kluft zwischen Wort und Tat. Hiermit sind wir bei der Frage der Inklusion, der Marcel Redling in seinem Aufsatz »Transformation und Inklusion. Inklusive Kirchen als gesellschaftlich-transformatorische Kraft« nachgeht. Redling zeigt am Beispiel der Kirche, wie sich Institutionen verändern müssen, wenn sie wirklich inklusiv werden wollen. Deutlich wird dabei, welche Bedingungen und Voraussetzungen für einen solchen transformativen Prozess vorliegen müssen. Wo eine solche Transformation gelingt und Menschen mit Behinderungen selbstverständlicher Teil der kirchlichen Gemeinschaft sind, kann Kirche stimmig gesellschaftsgestaltende Kraft sein und ihrerseits transformativ in ihren Kontext wirken.

1 Schneidewind, Uwe; Wuppertal Institut (2018): Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels. Fischer-Verlag, S. 133.

2 Simmank, Jakob (2018): »Willkommen im Zeitalter der Epidemien«, in: Zeit online, 6.09.2018. Abgerufen von https://www.zeit.de/wissen/gesundheit/2018-08/krankheitserreger-epidemien-kongo-ebola-anfaelligkeit-anthropozaen-ausbruch. Abgerufen am 17.10.2020.. Abgerufen am 17.10.2020.

3 Carrington, Damian (2020): „Pandemics result from destruction of nature, say UN and WHO«, in: The Guardian, 17.06.2020. Abgerufen von https://www.theguardian.com/world/2020/jun/17/pandemics-destruction-nature-un-who-legislation-trade-green-recovery?fbclid=IwAR3TYorufle6lYILo8IDlcV3EWJnt52jzHLgB4_RsTDFvSlwgR6DRM5hc_4. Abgerufen am 17.10.2020. . Abgerufen am 17.10.2020.

4 Meadows, Dennis; Club of Rome (Hrsg.) (1972): Die Grenzen des Wachstums: Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit. Deutsche Verlagsanstalt.

5 Wallace-Wells (2019): Die unbewohnbare Erde. Leben nach der Erderwärmung. Ludwig Erhard Verlag, S. 31.

6 Ebd., S. 15.

Transformation und ökologisches Handeln

Jürgen Harder

Die Dringlichkeit eines konsequenten ökologischen Handelns, das die Lebensgrundlagen unseres Planeten nicht zerstört, sondern bewahrt, ist in den vergangenen Jahren immer deutlicher geworden. Der folgende Artikel bietet eine Übersicht über wichtige politische und wissenschaftliche Stationen der Umwelt- oder Ökologiebewegung im 20. und 21. Jahrhundert und fragt nach dem Beitrag von Kirche und Theologie in der »Großen Transformation«.

Abb. 1: Blue Marble

Quelle Abbildung: NASA (1972)

Dieses Foto verdankt sich einer Grenzüberschreitung: Es ist eine der ersten Aufnahmen des voll erleuchteten Erdballs von »außen«, aufgenommen am 7. Dezember 1972 an Bord von Apollo 17. Die Original-Bildunterschrift der NASA-Fotografie lautet: »View of the Earth as seen by the Apollo 17 crew traveling toward the moon.«

Vom Brundtland-Bericht zur Agenda 2030

Als »Blue Marble« wurde das Foto zu einer medialen Ikone der in den 1970er-Jahren aufkommenden Umweltbewegung: Der blaue Planet im schwarzen Weltenraum – Symbol für globale Verantwortung auf einer kostbaren, einzigartigen »Perle« im All. Dieses »von außen« vermittelte neue Bewusstsein einer zerbrechlichen Erde findet Eingang in eines der wichtigsten internationalen Dokumente des 20. Jahrhunderts, den sogenannten Brundtland-Bericht aus dem Jahr 1987:

»In the middle of the 20th century, we saw our planet from space for the first time. Historians may eventually find that this vision had a greater impact on thought than did the Copernican revolution of the 16th century, which upset the human self-image by revealing that the Earth is not the centre of the universe. From space, we see a small and fragile ball dominated not by human activity and edifice but by a pattern of clouds, oceans, greenery, and soils. Humanity’s inability to fit its activities into that pattern in changing planetary systems, fundamentally. Many such changes are accompanied by life-threatening hazards. This new reality, from which there is no escape, must be recognized – and managed.«1

Unter der Überschrift »From One Earth to One World« beschreibt der Brundtland-Bericht mit seinen einleitenden Worten eine kopernikanische Wende im Weltbewusstsein des Menschen. Menschliche Aktivität bedroht das Leben auf einem fragilen Planeten – eine neue Realität, die wahrgenommen und »gemanagt« werden muss. Spätestens hier wird die Notwendigkeit eines globalen ökologischen Handelns formuliert, allerdings noch unter dem evolutionären Vorzeichen Entwicklung (Development) und weniger als tiefgreifende Transformation bestehender Systeme.

»Our Common Future« von 1987 markiert den Beginn eines weltweiten Diskurses über Nachhaltigkeit (Sustainability). Wichtige Vorläufer waren das Buch »Silent Spring«(»Stummer Frühling«) der amerikanischen Meeresbiologin Rachel Carson, das 1962 mit seiner dramatischen Beschreibung einer durch Pflanzenschutzmittel vergifteten, »verstummten« Natur weltweit zum Erwachen des Umweltbewusstseins beitrug, sowie der 1972 veröffentlichte Bericht des Club of Rome »Grenzen des Wachstums«.

Der Brundtland-Bericht prägte den Begriff Sustainability (der als »nachhaltende Nutzung« im deutschen Sprachraum ursprünglich der Forstwissenschaft des 18. Jahrhunderts entstammt) mit folgender Definition:

»Sustainable development is development that meets the needs of the present without compromising the ability of future generations to meet their own needs. It contains within it two key concepts:

the concept of ›needs‹ in particular the essential needs of the world’s poor, to which overriding priority should be given; andthe idea of limitations imposed by the state of technology and social organization on the environment’s ability to meet present and future needs.«2

Das Dreieck der Nachhaltigkeit

Im Gefolge dieser Impulse luden die Vereinten Nationen im Jahr 1992 zu einer Konferenz über Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro ein, die als »Rio-Konferenz« oder »Erdgipfel« bekannt geworden ist. Mit dem Leitbild der nachhaltigen Entwicklung wurde dort ein ganzheitlicher und globaler Ansatz entworfen, der die Dimensionen der Nachhaltigkeit (Sustainability alias »Umweltschutz« als Thema des globalen Nordens) und der Entwicklung (Development alias wirtschaftliche Entwicklung als Thema des globalen Südens) verband und in der Denkfigur des Dreiecks der Nachhaltigkeit populär wurde: ökologische Tragfähigkeit, ökonomische Leistungsfähigkeit und soziale Gerechtigkeit werden als Eckpunkte eines Dreiecks verstanden, die miteinander verbunden und in eine ausgewogene Balance zu bringen sind.

»Transforming our World«

Dieses Konzept bestimmte alle nachfolgenden UN-Nachhaltigkeits- und Klimakonferenzen maßgeblich und mündete schließlich in den erneuerten Ansatz der Sustainable Development Goals (SDG), der auf dem Weltgipfel für nachhaltige Entwicklung 2015 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde.

Die zugehörige Agenda 20303 mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung spricht weiterhin von »Sustainable Development« – nachhaltiger Entwicklung –, stellt diesem gedanklichen Erbe aus dem Brundlandt-Bericht jedoch eine »transformatorische« Überschrift voran: Transforming our World.4 Der Anspruch und die Vision der Agenda 2030 sind in ihrer Universalität beispiellos:

»This is an Agenda of unprecedented scope and significance. It is accepted by all countries and is applicable to all, taking into account different national realities, capacities and levels of development and respecting national policies and priorities. These are universal goals and targets which involve the entire world, developed and developing countries alike. They are integrated and indivisible and balance the three dimensions of sustainable development.«5

»Transforming our world« beschreibt in den visionären Worten der Autoren eine durch zielgerichtetes, menschliches Handeln grundlegend veränderte, »transformierte« Welt: »In these Goals and targets, we are setting out a supremely ambitious and transformational vision. We envisage a world free of poverty, hunger, disease and want, where all life can thrive. We envisage a world free of fear and violence. A world with universal literacy. A world with equitable and universal access to quality education at all levels, to health care and social protection, where physical, mental and social well-being are assured. A world where we reaffirm our commitments regarding the human right to safe drinking water and sanitation and where there is improved hygiene; and where food is sufficient, safe, affordable and nutritious. A world where human habitats are safe, resilient and sustainable and where there is universal access to affordable, reliable and sustainable energy.«6

Planetare Grenzen

Im Hintergrund dieses universal-transformativen Anspruchs steht unter anderem das Konzept der »planetaren Grenzen«, das von einer Gruppe von Erdsystem- und Umweltwissenschaftler:innen unter Leitung von Johan Rockström (Stockholm Resilience Centre) entwickelt und 2009 erstmals veröffentlicht wurde.7 Die zugehörige Grafik zeigt – wie schon das Blue-Marble-Foto – den Planeten Erde, diesmal jedoch unter einem Kreisdiagramm aus neun »boundaries« mit dem jeweiligen Grad der Überlastung. In der aktuellen Version von 2015 (Abb. 2) sind vier planetare Grenzen zum Teil erheblich überschritten: Klimawandel, Unversehrtheit der Biosphäre, Landnutzung und biogeochemische Kreisläufe (Phosphor und Stickstoff). Diese planetaren Grenzen (gestrichelte Kreislinie im Diagramm) können angesichts der Komplexität des Erdsystems keine absoluten Werte darstellen, sondern lediglich Risikobereiche (safe, increasing risk, high risk) und Wahrscheinlichkeiten unterscheiden. Dennoch wird deutlich, dass sich der Zustand des Erdsystems im Anthropozän dramatisch verschlechtert hat und insbesondere die Gefahr des Erreichens sogenannter Kipppunkte und einer weiteren irreversiblen Schädigung der Weltökosysteme erheblich zugenommen hat – beziehungsweise in manchen Bereichen schon Realität ist (Regenwaldabholzung im Amazonasgebiet, Auftauen der Permafrostböden, Klimaveränderungen). Abgesehen von der Ozonbelastung in der Stratosphäre haben sich seit Beginn der Messungen alle bekannten Indikatoren verschlechtert, allen politischen und zivilgesellschaftlichen Bemühungen zum Trotz. Die Welt befindet sich in einer fundamentalen ökologischen Krise.

Abb. 2: Planetary Boundaries

Quelle Abbildung: Lokrantz (2015)

Oikos und Logos

Der Begriff Ökologie ist ein Kompositum aus den altgriechischen Wörtern oikos (οἶκος, Haus, Haushalt) und logos (λόγος, Wort, Lehre) und teilt sich den Bestandteil oikos mit anderen geläufigen, aber scheinbar weit entfernten Komposita wie Ökonomie und Ökumene. Die Wortbildung Oecologie erfolgte erst im 19. Jahrhundert, prominent bei dem deutschen Zoologen Ernst Haeckel. Unter der Überschrift »Oecologie und Chorologie«definiert er: »Unter Oecologie verstehen wir die gesammte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle ›Existenz-Bedingungen‹ rechnen können.«8

Der Begriff der (Wechsel-)Beziehung der Organismen bleibt auch in modernen fachspezifischen Definitionen prägend, wird jedoch in mehrfacher Hinsicht erweitert. Michael Begon definiert Ökologie als die »wissenschaftliche Untersuchung der Verbreitung und Abundanz von Organismen, der Wechselbeziehungen, welche dieser Verbreitung und Abundanz zugrunde­liegen, sowie der Wechselbeziehungen zwischen Organismen und der Umwandlung und dem Fluss von Energie und Stoffen.«9

Der heutige umgangssprachliche Gebrauch des Begriffs Ökologie wird sich nur selten dieser fachwissenschaftlichen Herkunft bewusst sein. Im Kontext der Umweltbewegung des 20. und 21. Jahrhunderts wurde Ökologie zu einem populären normativen Begriff, der auf die »Grenzen des Wachstums« hinweist und Verhaltens- beziehungsweise strukturelle Änderungen auf individueller (Lebensstil), staatlicher (nationale Umweltpolitiken) oder globaler (internationale Vereinbarungen) Ebene anmahnt.

Politik im Anthropozän

Eine Vielzahl von NGOs (zum Beispiel Greenpeace, BUND oder Germanwatch) nimmt sich seit Jahrzehnten des Themas an, zivilgesellschaftliche Protestbewegungen wie »Extinction Rebellion« oder »Fridays for Future« um Greta Thunberg irritieren mit zivilem Ungehorsam und lautstarken Demonstrationen nicht nur die »fossile« Politik und Wirtschaft, sondern sogar alteingesessene Umweltorganisationen. Der jahrhundertalte Gedanke der »Nachhaltigkeit«10 ist vor dem Hintergrund einer rapide voranschreitenden Weltzerstörung mit der wachsenden Gefahr disruptiver Brüche zu einem globalen Thema geworden, das – darin sind sich nahezu alle wissenschaftlichen Berichte und Prognosen einig – über die Zukunft der Menschheit im Anthropozän11 entscheidet.

Kippelemente im Erdsystem

Das klimapolitische 2-Grad-Ziel, das auf der UN-Klimakonferenz in Cancún im Dezember 2010 als Minimalziel der internationalen Staatengemeinschaft anerkannt worden ist, kann unter den gegebenen politisch-ökonomischen Rahmenbedingungen kaum noch erreicht werden – abgesehen davon, dass der IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change, »Weltklimarat«) mittlerweile von der Notwendigkeit eines 1,5-Grad-Ziels spricht, um die Konsequenzen des Klimawandels auf ein zumindest erträgliches Maß zu senken. Das Erreichen sogenannter Kippelemente (tipping points) im Erdsystem wird mit steigenden Temperaturen zu nicht linearen, unumkehrbaren Dynamiken führen, die die Anpassungsfähigkeiten von Mensch und Natur bei Weitem überfordern. Der deutsche Klimaforscher Hans-Joachim Schellnhuber, der das Konzept der Tipping-Points ab dem Jahr 2000 in die Forschung eingebracht hat, spricht unter anderem von folgenden bereits heute beobachtbaren Kippprozessen mit gravierenden Folgen für die Gesamtstabilität des Erdsystems: Rückgang des polaren Meereises, Tauen des Permafrostes, Änderung der Meeresströmungen, Wetterextreme und Ausbreitung von Krankheiten.12

So ist »Das Ende der Welt, wie wir sie kannten«13 keine ferne Dystopie, sondern bereits jetzt im Gange – mit den Worten eines Buchtitels des Soziologen Stephan Lessenich: »Neben uns die Sintflut«14. Die Welt steht so oder so vor einer Großen Transformation: »by design or by desaster«15:

»Eine Gesellschaft, die über ihren Fortbestand angesichts sich dramatisch verändernder Umweltbedingungen nicht nachdenkt, kann nicht fortbestehen. Das heißt: Sie wird unter großen menschlichen Kosten peu à peu zerfallen und im Verlauf dieses Zerfalls ihre Fähigkeit, sich selbst zu transformieren, immer weiter einbüßen. Oder sie wird sich kulturell und sozial erneuern und als eine andere, transformierte, überleben.«16

Die dritte »Große Transformation«

Vor diesem Hintergrund werden transformatorische Perspektiven und sozial-ökologische Handlungsräume auf allen Ebenen gesellschaftlichen Zusammenlebens überlebenswichtig. Zu den Meilensteinen des Diskurses auf politischer Ebene gehört sicherlich das 2011 erschienene Hauptgutachten des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU) unter dem Titel »Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation«. Das umfangreiche und kontrovers diskutierte Gutachten bezieht sich ausdrücklich auf den 1944 erschienenen Titel »The Great Transformation« des ungarischen Ökonomen Karl Polanyi und sieht die Menschheit angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nach der neolithischen und der industriellen Transformation vor einer dritten Großen Transformation, die im Gewand eines neuen Gesellschaftsvertrages, also eines spezifischen Zusammenwirkens von staatlichen und gesellschaftlichen Kräften organisiert werden soll. Der Leitbegriff der Transformation wandert damit von der Anthropologie über die Ökonomie zur Ökologie.

Es ist interessant, dass Maja Göpel, die derzeitige Generalsekretärin des WBGU, in ihrem 2016 veröffentlichten Buch »The Great Mindshift« den technisch-politisch geprägten Transformationsbegriff im Titel vermeidet und stattdessen von der mentalen Ebene eines »Bewusstseinswandels« (Mindshift) spricht. Dieser Bewusstseinswandel ist zumindest sprachlich nicht weit entfernt von dem neutestamentlichen Begriff metanoia (μετάνοια), der als »Umdenken, Umkehr« eine zentrale Rolle in der Botschaft Jesu spielt. Doch auch der Begriff Transformation hat einen religiösen Hintergrund, der bei einem Blick in das Deutsche Wörterbuch von Jakob und Wilhelm Grimm deutlich wird: Das Verb »transformieren« als umformen, verwandeln findet gemäß den Belegen im »Deutschem Wörterbuch« fast ausschließlich Verwendung in der mystischen Literatur17: Meister Eckhart übersetzt Paulus (1 Kor 15,51): »ez sprichet Paulus: wir werden alzemâle transformieret in got unde verwandelt.« Und in den »Sermones« schreibt Johannes Tauler: »wir werden transformirt von clarhait in clarhait in dasselb bilde von dem geiste gottes.«18

Trans-formare und Pro-cedere

Die auf den ersten Blick eher technisch anmutenden Begriffe Transformation/transformieren offenbaren in diesen sprachgeschichtlichen Zusammenhängen eine überraschende Tiefe. Insbesondere die innere beziehungsweise gottgewirkte Verwandlung (Transformation), wie sie Meister Eckhart und Johannes Tauler im Rückgriff auf biblische Quellen beschreiben, ist geeignet, den heutigen Sprachgebrauch von Transformation (und »Großer Transformation«) zu bereichern beziehungsweise zu vertiefen. Im Schatten der internationalen Diskussionen um eine »nachhaltige Entwicklung« waren es ja die Kirchen der Ökumene, die bereits in den 80er-Jahren die konziliare Formel »Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« prägten und damit auf biblisch-theologischer Grundlage einen normativen und ganzheitlichen Ansatz formulierten, der inhaltlich nahe an den Konzepten der Nachhaltigkeit liegt. Insbesondere der schöpfungstheologische Gedanke einer Creatio continua als einer durch die Zeit fortgesetzten Schöpfungs- und Erhaltungstätigkeit Gottes ist anschlussfähig an moderne Konzepte von Natur, Ökologie und Transformation. Als Beispiel sei die Process Theology genannt: Die im deutschsprachigen Raum wenig rezipierte Prozesstheologie im Gefolge der Prozessphilosophie A. N. Whiteheads begreift Gott nicht als »allmächtiges, fremdes Gegenüber«, sondern – gleichsam panentheistisch – als »gestaltende, formative Kraft des Universums.«19

Schöpfung als Creatio continua erscheint in diesen Denkzusammenhängen nicht als etwas Vergangenes, Abgeschlossenes und damit auch Äußerliches, sondern als ein auf Beziehungen beruhender Prozess steter Wandlung – von Gott, Welt und Mensch. (vgl. hierzu die Beiträge von Rabens und Ott auf den Seiten 165 und 151)

Ökologisches Handeln

Neben den großen politischen oder wissenschaftlichen Entwürfen zu Nachhaltigkeit und Transformation, von denen hier beispielhaft der Brundtland-Bericht, die Planetary Boundaries, die Agenda 2030 und das Hauptgutachten des WBGU genannt worden sind, ist in den letzten Jahren eine Vielzahl von theoretischen Konzepten und praxisorientierten Initiativen entstanden, die von radikaler Kritik an der »imperialen Lebensweise« des globalen Nordens20 oder der Annahme strukturell bedingter Nicht-Nachhaltigkeit moderner Gesellschaften21 über Reallabore der Transformation22 bis hin zu neuen ökonomischen Konzepten reicht (zum Beispiel Degrowth, Gemeinwohlökonomie, Donut-Ökonomie, Transition Town und Postwachstumsgesellschaft). Die Kirchen sind vielerorts Teil oder sogar treibende Kraft dieser vielfältigen Suchbewegungen. Auch die Agenda 2030 steht auf dem Boden der jahrzehntelangen konziliaren Bemühungen um »Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung«.23

Ökologisches Handeln – insbesondere der Verzicht und eine »Ethik des Genug« – bedarf einer tiefen intrinsischen Motivation, die sich vielleicht nur in einem »Ineinander« von Immanenz und Transzendenz ausbilden und als transformative Kraft zeigen kann. Jede Kirchengemeinde kann aus diesem tiefen Schöpfungs- und Erlösungsglauben heraus ökologisch handeln und so zu einem kleinen »Reallabor« der Transformation werden.

Literatur

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Diefenbacher, Hans; Foltin, Oliver; Held, Benjamin; Rodenhäuser, Dorothee; Schweizer, Rike; Teichert, Volker (2016): Zwischen den Arbeitswelten: der Übergang in die Postwachstumsgesellschaft. Fischer Taschenbuch.

Dörre, Klaus; Rosa, Hartmut; Becker, Karina; Bose, Sophie; Seyd, Benjamin (Hrsg.), Große Transformation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften. Sonderband des Berliner Journals für Soziologie. Springer Fachmedien.

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1 World Commission on Environment and Development (1987).

2 Ebd, S. 32.

3 UN General Assembly (2015).

4 Deutsche Fassung: Martens; Obenland (2017).

5 UN General Assembly (2015).

6 Ebd., S. 3–4.

7 Rockström, Steffen u. a. (2009).

8 Haeckel (1866), S. 286.

9 Begon (2017), S. 4.

10 Grober (2013).

11 Crutzen (2000).

12 Rahmstorf; Schellnhuber (2019), S. 53 ff.

13 Welzer (2010).

14 Lessenich (2016).

15 Sommer; Welzer (2017), S. 29.

16 Ebd., S. 12.

17 Grimm; Grimm (o. J.).

18 Ebd.

19 Anselm (2012), S. 228 ff.

20 I.L.A. Kollektiv (2017); (2019).

21 Blühdorn (2020).

22 Schneidewind (2018).

23 EKD (2018).

Die Rolle der Zivilgesellschaft im 21. Jahrhundert. Taktgeber der Großen Transformation1

Uwe Schneidewind

Zivilgesellschaftliche Organisationen sind zentrale Akteure für den Wandel in Richtung Nachhaltigkeit. Sie treiben dieses zutiefst kulturelle Zivilisationsprojekt auf vielerlei Weise voran. Dabei bewirken sie immer dann besonders viel, wenn sie ihre Rolle als Mahner, Mittler und Motor gut zu kombinieren verstehen. Bei der Idee nachhaltiger Entwicklung handelt es sich im Kern um eine »moralische Revolution«2: Erstmals in der Menschheitsgeschichte wird die Vision eines gleichen Rechts auf gutes Leben innerhalb der planetaren ökologischen Grenzen zum internationalen politischen Kompass. Die im Jahr 2015 verabschiedeten Vereinbarungen der Pariser Klimakonferenz und die kurz vorher von den Vereinten Nationen beschlossenen nachhaltigen Entwicklungsziele sind Ausdruck dessen. Gleichzeitig zeigen politische und gesellschaftliche Entwicklungen seit 2015, wie fragil dieser zivilisatorische Fortschritt ist. In einer solchen Situation kommt zivilgesellschaftlichen Organisationen eine besondere Bedeutung zu.3

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts befindet sich die Menschheit in einem Epochenumbruch. Durch ihre ökonomischen Aktivitäten ist sie erstmalig in ihrer Geschichte in der Lage, globale geoökologische Prozesse selbst zu beeinflussen. Aktuell droht sie dabei, eine Reihe von planetaren Grenzen zu überschreiten, deren Einhaltung eine zentrale Grundlage für die menschliche Entwicklung in der bisherigen Erdgeschichtsphase war. Erdgeschichtsforscher:innen bezeichnen die neue Epoche deswegen auch als Anthropozän, das vom Menschen getriebene Erdzeitalter. Der menschlich beeinflusste Klimawandel, die Übersäuerung der Ozeane, der massive Verlust der Artenvielfalt oder das flächendeckende Einbringen von Kunststoffen und anderen Chemikalien in die Ökosysteme sind Ausdruck der naturzerstörenden menschlichen Produktions- und Lebensformen. Aus dieser Wirkmacht leitet sich eine neue Dimension der Verantwortung im Umgang mit dem Planeten ab.

Nachhaltige Entwicklung als kulturelle Revolution

Im Kern handelt es sich bei der Idee der nachhaltigen Entwicklung um ein kulturelles Projekt. Sie beschreibt einen weiteren Schritt in der Entwicklung menschlicher Zivilisation hin zu einer Welt, in der die Würde und die Entfaltungsmöglichkeiten von Menschen überall auf dieser Erde heute und in Zukunft Kompass für gesellschaftliches, politisches und ökonomisches Handeln sind – und das trotz der ökologischen Grenzen des Planeten. Ein derartiger moralisch-zivilisatorischer Fortschritt hat in der Menschheitsgeschichte immer wieder stattgefunden. Daher besteht die Hoffnung, dass die Idee einer nachhaltigen Entwicklung keine Utopie bleiben muss.

So gerahmt wird schnell deutlich, dass nachhaltige Entwicklung als ein im Kern kulturelles Menschheitsprojekt gedacht werden muss (vgl. Abb. 1): Wenn in der öffentlichen Debatte um Nachhaltigkeit oft ökologische, technologische und ökonomische Fragen im Zentrum stehen, verstellt das den Blick für die zivilisatorische Dimension, die hinter dieser Vision steht. Nur wenn der zivilisatorische Kompass klar ist, werden sich politisch-institutionelle Rahmenbedingungen entwickeln, in denen sich dann auch wirtschaftliche und technologische Kräfte im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung entfalten. Technologische Lösungen für einzelne ökologische Probleme alleine garantieren kein Erreichen dieses Zivilisationsprojektes. Die kontroverse Debatte über die Effekte der Digitalisierung und des ökologischen Rebounds in bestehenden ökonomischen Strukturen sind Ausdruck davon.4 Die Kunst der Zukunftsgestaltung5 muss von ihrem kulturellen Ende her gedacht werden. Technologische Lösungen für einzelne ökologische Probleme alleine garantieren kein Erreichen des Zivilisationsprojektes einer nachhaltigen Entwicklung. Das Projekt erfordert neue Rollenverständnisse aller relevanten Akteursgruppen: der Politik, der Wissenschaft, von Unternehmen. Eine Große Transformation ist nur in geteilter Verantwortung dieser Akteursgruppen zu erreichen: Während Wissenschaft neue Möglichkeitsräume aufzeigen kann, schaffen Unternehmen technologische und ökonomische Lösungsoptionen und gestaltet Politik institutionelle Rahmen für Transformationsprozesse. Eine besondere Rolle kommt jedoch solchen Akteur:innen zu, die mit ihrem Engagement die moralische Grundlage des zivilisatorischen Wandels begründen, Bilder wünschenswerter Zukünfte zeichnen und damit überhaupt erst den Ausgangspunkt für politisch-institutionelle, ökonomische und technologische Veränderungen schaffen (vgl. Abb. 2). Das erklärt die Sonderrolle zivilgesellschaftlicher Organisationen, die für eine nachhaltige Entwicklung streiten: Seien es Umweltverbände, Entwicklungs- und Menschenrechtsorganisationen oder kirchliche Einrichtungen.

Abb. 1: Die vier Dimensionen der Zukunftskunst

Quelle Abbildung: Schneidewind; Wuppertal Institut (2018), S. 298

Joanna Macy, eine der großen Vordenkerinnen zivilgesellschaftlichen Engagements, unterscheidet in ihren Analysen zum »Great Turning« (Große Transformation) drei fundamentale Ansatzpunkte für das zivilgesellschaftliche Engagement:6 die Veränderung von Bewusstsein und Werten durch das Engagement; Widerstand und Protestaktionen gegen aktuelle, nicht nachhaltige Trends sowie die Schaffung neuer alternativer Strukturen für eine zukunftsfähige Gesellschaft. Dieser Dreiklang macht zivilgesellschaftliche Organisationen zum Motor der Großen Transformation. Im gleichnamigen Buch werden diese unterschiedlichen Rollen als Mittler-, Mahner- und Motor-Funktion bezeichnet.7 Erfolgreiche zivilgesellschaftliche Organisationen verstehen es, alle drei Rollen wahrzunehmen und zwischen ihnen in geeigneter Weise zu »oszillieren«. Oder um es in der Sprache der »Zukunftskunst« auszudrücken: ihre Rollen zwischen Kämpfer:in und Künstler:in zu wechseln.8

Abb. 2: Die Akteure der Großen Transformation

Quelle Abbildung: Schneidewind; Wuppertal Institut (2018), S. 298

Das Ringen um den deutschen Kohlekonsens ist ein lebendiger Beleg für diese Rollenwechsel: Ohne die intensiven Proteste insbesondere im Hambacher Forst wäre es am Ende in der auch von Umweltverbänden getragenen Kohlekommission nicht zu einem Kompromiss gekommen,9 der zu einem massiven Rückbau von Kohlekraftwerken schon in den frühen 2020er-Jahren führen soll (trotz des aus Klimaschutzsicht erst späten Gesamtausstieges Mitte der 2030er-Jahre). Ähnliche Herausforderungen stellen sich für die zivilgesellschaftlichen Organisationen bei der Mobilitäts- und der Agrarwende. Auch hier sind Mahner-, Motor- und Mittlerfunktion in den kommenden Jahren immer wieder in einen guten Ausgleich zu bringen.

Die Würde aller im Blick behalten

Dabei sind die Werte und die Einflussmöglichkeiten, über die zivilgesellschaftliche Organisationen verfügen, unterschiedlich ausgeprägt. Umweltverbände, Kirchen, Gewerkschaften sowie soziale Bewegungen von unten haben jeweils besondere Potenziale (vgl. Abb. 3). In der Diskussion um den Kohlekompromiss wurde das deutlich.10 Gerade Umweltverbände und Gewerkschaften standen in der Auseinandersetzung durchaus für unterschiedliche Facetten einer gerechten Transformation (just transition). Aber der besondere Wert der Kohlekommission lag darin, dass es gelungen ist, die Würde der heute vom Kohleausstieg vor Ort Betroffenen in einen Ausgleich zu bringen mit der Würde der oft heute noch gar nicht Geborenen hierzulande, aber vor allem in anderen, vom Klimawandel besonders betroffenen Teilen der Welt. An dieser Stelle wird der zivilisatorische Charakter des Projektes einer nachhaltigen Entwicklung eindrucksvoll sichtbar.

Zivilgesellschaftliche Gruppen

Steht für was im normativen Kompass?

Mechanismen der »Ermächtigung«

Umweltverbände

MittelschutzGlobale GerechtigkeitEinfluss auf politische DiskurseSanktionierung unter­nehmerischen HandelnsOrientierung und Empowerment

Kirchen

Universeller HumanismusEinfluss auf gesellschaftliche DiskurseAusstrahlung gelebter Nachhaltigkeitspraxis

Gewerkschaften

Teilhabe/Soziale GerechtigkeitEinfluss auf politische DiskurseCo-Gestaltung unter­nehmerischer Prozesse

Soziale Bewegungen von unten

TeilhabeHandlungsermächtigungErmächtigung von unten auch als politische und unternehme­rische Prozesse

Abb. 3: Ansatzpunkte unterschiedlicher zivilgesellschaftlicher Organisationen

Quelle Abbildung: Schneidewind; Wuppertal Institut (2018), S. 310

In anderen Transformationsfeldern sind die Interessenlagen von Gewerkschaften und Umweltverbänden kongruenter: Aktuell erweisen sich die Gewerkschaften als zentraler Motor für eine umfassende Mobilitätswende und machen ihren Einfluss in den Aufsichtsräten der großen Automobilkonzerne geltend. Sie fürchten um die Arbeitsplätze in dieser Schlüsselbranche Deutschlands, wenn sie sich den ökologischen Zukunftsherausforderungen und dem aktuellen globalen Umsteuern nicht stellen. Die Mahner-Rollen von Umweltverbänden und Gewerkschaften weisen hier in die gleiche Richtung, die Motor-Funktion wird jedoch mit unterschiedlichen Gestaltungsmitteln wahrgenommen. Zivilgesellschaftliche Organisationen sind Ausgangspunkt und zentraler Motor moralischer Revolutionen. Je besser sie ihre Rollen verstehen und sich miteinander vernetzen, umso kraftvoller können sie die Transformation zu einer nachhaltigen Entwicklung befördern.

Literatur

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Schneidewind, Uwe; Wuppertal Institut (2018): Die Große Transformation. Eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels. Fischer-Verlag.

Weiger, Hubert (2019): »Ohne Druck von unten geht es nicht. Vom Verhältnis von organisierter Zivilgesellschaft, Politik und Bevölkerung«, in: Politische Ökologie, Jg. 37 Nr. 1, S. 37–43.

1 Ursprünglich erschienen in Politische Ökologie, 37. Jahrgang, 156 (April 2019): https://portal.dnb.de/opac.htm?method=showFullRecord&currentResultId=%22oekom%22+and+%22politische%22+and+%22ökologie%22%26any&currentPosition=6#. Mit freundlicher Genehmigung des oekom Verlags. . Mit freundlicher Genehmigung des oekom Verlags.

2 Appiah (2011).

3 Weiger (2019), S. 37 ff.

4 Lange; Santarius (2018).

5 Schneidewind; Wuppertal Institut (2018).

6 Macy (2009).

7 Schneidewind; Wuppertal Institut (2018).

8 Für diese Formel danke ich Olaf Bandt vom BUND. Er hat sie in einer Diskussion über die »Zukunftskunst« geprägt.

9 Niebert (2019), S. 61 ff.

10 Praetorius; Kaiser u. a. (2019): S. 51 ff.