Hände - Jochen Hörisch - E-Book

Hände E-Book

Jochen Hörisch

0,0

Beschreibung

Von Goethes Faust bis zum Handspiel – Nicht nur als Sinnesorgan und Werkzeug spielt die Hand eine zentrale Rolle, sondern auch in Geschichte und Literatur.

Sie greift und tastet, streichelt und schlägt, begrüßt und schließt Verträge: Kein Körperteil ist so vielseitig wie die Hand. In der Sprache finden wir unzählige Beispiele für ihre herausragende Rolle: Wir nehmen eine Sache in die Hand, etwas lässt sich nicht von der Hand weisen und ein Ziel wäre zum Greifen nahe, hätten wir nur nicht zwei linke Hände. Jede Epoche verbindet ihre eigenen Vorstellungen mit der Hand – und wenn wir Maschinen immer häufiger mit der Sprache steuern, sagt das viel über den Wandel, den wir durchleben. Jochen Hörisch führt uns die ganze Vielfalt der Hände vor, die uns in der Literatur und in der Geschichte der Ideen begegnen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 422

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sie greift und tastet, streichelt und schlägt, begrüßt und schließt Verträge: Kein Körperteil ist so vielseitig wie die Hand. In der Sprache finden wir unzählige Beispiele für ihre herausragende Rolle: Wir nehmen eine Sache in die Hand, etwas lässt sich nicht von der Hand weisen und ein Ziel wäre zum Greifen nahe, hätten wir nur nicht zwei linke Hände. Jochen Hörisch führt uns die ganze Vielfalt der Hände vor, die uns in der Literatur und in der Geschichte der Ideen begegnen.

Kein Zufall also, dass die berühmteste Figur der deutschen Literatur den Namen Faust trägt. Generationen von Menschen fühlten sich in der Hand Gottes aufgehoben, heute vertrauen viele der unsichtbaren Hand des Marktes. Jede Epoche verbindet ihre eigenen Vorstellungen mit der Hand – und wenn wir Maschinen immer häufiger mit der Sprache steuern, sagt das viel über den Wandel, den wir durchleben.

M.C. Escher, Zeichnende Hände (1948)

JOCHEN HÖRISCH

HÄNDE

Eine Kulturgeschichte

Carl Hanser Verlag

INHALT

EINLEITUNG: »DAS IST MEINE HAND«

Fußballkult und Handwerk

Das Zeitalter der Handvergessenheit

Virtual Reality und Intangible Assets

Der rote Faden im Werk Goethes

Des Dichters (un)reine Hand

Signifikante Hände bei Schiller, Rilke und Kafka

Bücher, die man mit nur einer Hand liest

Die rechte und die linke Hand

PHÄNOMENOLOGIE DER HAND

Anthropologie der Hand

Vorhandenheit, Zuhandenheit, Chiralität

Mignon und die Marionette

Goethe über Mathematik und Chiromantie

Pecunia non olet: Die Hände der Buddenbrooks

Sprechende Hände oder: Chiron und Faust, Rodin und Rilke

Handorakel, Handbücher, Handgreiflichkeiten

Raffael ohne Hände

VON DER HAND GOTTES ZUR UNSICHTBAREN HAND DES MARKTES

Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand

Geben und nehmen: Werthers Verehrung von Lottes Händen

Hände, Füße und Händel in Wilhelm Meisters Lehrjahren

Die Hand Gottes

Die Hand des (Geld-)Händlers

Die unsichtbare Hand – Eine kleine Blütenlese

Die unsichtbare Hand des Marktes

DIE ÖFFENTLICHE UND DIE PRIVATE HAND

Prometheische Hände

Hand in Hand

Torquato Tassos Hände(l)

Die öffentliche und die private Hand

Die dirigierende Hand

»Reich mir die Hand, mein Leben«: Opernhände

SCHLUSS: HAND AN(SICH)LEGEN – FIGUREN DER SELBSTERMUTIGUNG

LITERATURVERZEICHNIS

BILDNACHWEISE

ANMERKUNGEN

REGISTER

Jeder hat sein eigen Glück unter den Händen, wie der Künstler eine rohe Materie, die er zu einer Gestalt umbilden will. Aber es ist mit dieser Kunst wie mit allem; nur die Fähigkeit dazu wird uns angeboren, sie will gelernt und sorgfältig ausgeübt sein.

GOETHE, Wilhelm Meisters Lehrjahre

EINLEITUNG

»DAS IST MEINE HAND«

FUSSBALLKULT UND HANDWERK

»Handspiel!« Wenn Fußballfans oder Schiedsrichter dieses Wort rufen, ist Verbotenes geschehen. Das Spiel mit der Hand, die noch ungleich komplexere Leistungen erbringen kann als der Fuß, ist beim Fußball untersagt. Handspiel ist schlimmer als ein Tritt vor das Schienbein eines Gegenspielers. Es lohnt sich, diese funktionale Widersinnigkeit genauer zu betrachten: Die Hand gilt im Kultsport schlechthin als tabuisiertes Organ, sie steht unter Berührungsverbot. Dass Fußball ungleich mehr Menschen fasziniert als Handball, ist bemerkens- und bedenkenswert. Denn die massenhaft verbreitete kultische Verehrung strammer Beine, muskulöser Waden und virtuoser Füße nimmt so viel Aufmerksamkeit in Anspruch, dass die gleichzeitige radikale Abwertung, ja Negativbewertung der Hand kaum mehr wahrgenommen wird. Fußball ist der deutlichste Ausdruck der Handvergessenheit, die unsere Gegenwart kennzeichnet. Aber auch und gerade der Fußball kommt nicht umhin, die von ihm diskriminierten Handfertigkeiten schließlich doch zuzulassen. Wenn der Ball ins Aus geschossen wurde, darf und muss er per Handwurf wieder ins Spiel gebracht werden. Und wenn es nach häufigen Tritten gegen den Ball zum Äußersten, also zum Schuss auf das gegnerische Tor kommt, hat der Torwart das Recht und die Pflicht, handgreiflich zu werden. Auch der Kopf darf im Fußball eingesetzt werden – wie der Fuß als Instrument, um den Ball in Tornähe oder gar ins Tor selbst zu befördern. Ob ein solcher Einsatz des Kopfes seiner kognitiven Funktion förderlich ist, darf bezweifelt werden. Ältere Fußballer leiden häufiger als die Durchschnittspopulation unter Demenz. So kann es kommen, wenn der Kopf als funktionales Äquivalent des Fußes, nicht aber der Hand eingesetzt wird. Hand und Kopf steigern hingegen, wenn sie kooperieren (und das tun sie ständig, das können sie nicht nicht tun), wechselseitig ihre Fähigkeiten. Sie sind koevolutionäre Organe.

Die Angst des Tormanns beim Elfmeter hat ein berühmter Autor, dessen Name ausgerechnet Handke lautet, eindringlich beschrieben und beschworen. Der ehemalige Torwart Josef Bloch hat die Eigentümlichkeiten seiner Handfertigkeit auch dadurch erfahren, dass sich seine Hand verselbstständigte, als er seine Geliebte erwürgte. Auch sonst muss er schizothyme Zustände erfahren, in denen sich seine Hände von der Steuerzentrale, die da Kopf heißt, entkoppeln. Das letzte Wort von Handkes 1970 erschienener Erzählung lautet »Hände«. Ihre Schlussszene kreist um das Verhältnis von Kopf und Hand. Der vom Protagonisten beobachtete Tormann überlegt, so überlegt sein kundiger Beobachter, »in welche Ecke der andere schießen wird. (…) Wenn er den Schützen kennt, weiß er, welche Ecke er sich in der Regel aussucht. Möglicherweise rechnet aber auch der Elfmeterschütze damit, daß der Tormann sich das überlegt. Also überlegt sich der Tormann weiter (…) Und so weiter, und so weiter.«1 Der Tormann, um den es geht und um den sich in diesem Augenblick, da Reflexionen endlos zu werden drohen, alles dreht, stellt das Denken ein – und klugerweise auch das Handeln seiner Hand. »Der Schütze lief plötzlich an. Der Tormann, der einen grellgelben Pullover anhatte, blieb völlig unbeweglich stehen, und der Elfmeterschütze schoß ihm den Ball in die Hände.«2 Ende der Erzählung.

Handfestes öffentliches Interesse wird der Hand in spätmodernen Gesellschaften nicht zuteil. Andere Körperteile erfahren heute dagegen viel Beachtung und Respekt. Kopf und Hirn genießen durch die Modedisziplinen Neurologie und Neurophysiologie ein hohes Maß an Aufmerksamkeit. Das gilt auch ex negativo: Demenzerkrankungen sind der Schrecken einer alternden Bevölkerung, die sich auch Sorgen um Schulter-, Rücken-, Hüft- und Knieschmerzen macht. Anhaltende Diskussionen über gesunde und umweltverträgliche Ernährung zollen dem Magen und anderen inneren Organen Respekt. Selbst dem »unterschätzten Organ« Darm wird in einem der erfolgreichsten Sachbücher der letzten Jahre Charme zugesprochen.3 Dass Geschlechtsorgane in allen Epochen faszinieren und mit erregtem Interesse rechnen können, versteht sich von selbst. Die jüngeren Fitness- und Wellness-Moden zelebrieren einen neu-alten Körperkult, der zwar hohen Wert auf kräftige Armmuskulatur, nicht aber auf Hand- und Fingerfertigkeit legt. Die war vielmehr bei der Hausmusik höherer Töchter gefragt, die heute nur noch anachronistisch erscheinen mag. Dem größten Körperorgan überhaupt, der Haut, huldigt die verbreitete Lust an Tätowierungen; jeder fünfte Deutsche schmückt sich mittlerweile mit Zeichen auf seiner Haut.4 Die Hände aber werden, so als verdienten sie diese Zuwendung nicht, beim Tätowieren zumeist ausgespart.

Gerade in einer Epoche des umfassenden Körperkults erfährt das komplexeste menschliche Organ eine irritierende Vernachlässigung. Die Hand verliert das Ansehen, das sie in der frühen Neuzeit gewonnen und sich seitdem bewahrt hat – wie schon ein kurzer Blick auf die Krise des Handwerkerberufs und der Handschrift verdeutlicht. Handwerker nehmen sich im digitalen Zeitalter einigermaßen unzeitgemäß aus (obwohl oder weil das lateinische Wort digitus nichts anderes meint als Finger). Klassische Handwerkerberufe erleiden in Zeiten des Akademisierungswahns5 einen seltsamen Ansehensverlust6, dem aber (zumal in Zeiten florierender Immobilienkonjunktur) kein Einkommensverlust entsprechen muss. Wer sich heute noch darauf versteht, mit seiner Hände Arbeit Möbel oder Kleider herzustellen, Brot zu backen, Stromleitungen zu verlegen, Fliesen zu erneuern, Wasserleitungen zu installieren, Häuser mit Fenstern und Parkettböden zu versehen, Schmuck zu formen, mechanische Uhren zu reparieren oder andere handfeste Leistungen zu erbringen, genießt weniger Ansehen als jemand, der studiert hat oder »etwas mit Medien« macht – eine Abwertung, die eine Vorgeschichte hat. Wer sich bei seiner Arbeit die Hände schmutzig macht, galt schon im antiken Griechenland als Angehöriger des niederen Volkes beziehungsweise der drittrangigen Klasse. Er zählte, um es mit Worten aus Platons Politeia zu formulieren, zu all denen, »die mit den eigenen Händen arbeiten und sich von den Staatsgeschäften enthalten und deren Besitz gar wenig bedeutet. Diese ist die zahlreichste in der Demokratie und die am meisten den Ausschlag gibt, wenn sie zusammengebracht ist.«7 Eine Bewertung, die sich über Jahrhunderte, ja zwei Jahrtausende hält. Aristokraten verbieten sich selbst, Handwerkerberufe auszuüben, ein von und zu kann nicht Schreiner, Bäcker, Klempner oder Fliesenleger werden; auch hohe Kleriker halten es eher mit dem Imperativ »ora« als mit »labora«. Zur Hochschätzung des Handwerks und der Handwerker kommt es hingegen in Neuzeit und früher Moderne. Paradigmatisch heißt es in Rousseaus 1762 erschienener Abhandlung Émile oder Über die Erziehung: »Von allen Beschäftigungen nun, welche dem Menschen seinen Unterhalt verschaffen können, ist die Handarbeit diejenige, welche sich dem Naturzustand am meisten nähert; unter allen Ständen kann deshalb auch der Stand des Handwerkers als derjenige bezeichnet werden, der vom Glückswechsel und von den Menschen am unabhängigsten ist. Der Handwerker hängt lediglich von seiner Arbeit ab. Er ist frei, in demselben Grade frei, in welchem der Landmann Sklave ist, denn letzterer ist an die Scholle gebunden und der Ertrag seines Feldes ist zum Teil fremder Willkür anheimgegeben. Der Feind, der Fürst, ein mächtiger Nachbar, ein Prozeß ist imstande, ihm dieses Feld zu entreißen; vermittels desselben kann man ihm auf tausenderlei Weise Verdruß verursachen; aber überall, wo man darauf aufgeht, den Handwerker zu belästigen, ist sein Ränzel bald geschnürt; seine Arme kann man ihm nicht nehmen, die nimmt er mit und geht seiner Wege.«8 Und Goethe schreibt wenige Tage vor seinem Tod an Wilhelm von Humboldt: »Je früher der Mensch gewahr wird, daß es ein Handwerk, daß es eine Kunst gibt, die ihm zur geregelten Steigerung seiner natürlichen Anlagen verhelfen, desto glücklicher ist er.«9

Einen ähnlichen Ton schlägt in Wilhelm Meisters Wanderjahren Odoardo in seiner großen Rede über Kunst und Handwerk an: »Wer sich einer strengen Kunst ergibt, muß sich ihr für’s Leben widmen. Bisher nannte man sie Handwerk, ganz angemessen und richtig; die Bekenner sollten mit der Hand wirken, und die Hand, soll sie das, so muß ein eigenes Leben sie beseelen, sie muß eine Natur für sich sein, ihre eignen Gedanken, ihren eignen Willen haben, und das kann sie nicht auf vielerlei Weise.«10 Goethe schrieb (wie sonst – das war damals nun wirklich alternativlos) diese und viele weitere Worte mit der Hand oder diktierte sie einem seinerseits fingerfertigen Schreiber, denn Schreibmaschine und Computer standen zur Goethezeit als Aufschreibesysteme und -techniken noch nicht zur Verfügung.11 Seit der Erfindung der Schreibmaschine und des Computers hat die Handschrift an Prestige verloren. Ende der Handschrift ist der Titel eines Gedichts von Heiner Müller; Durs Grünbein hat seine Auswahl von Heiner-Müller-Gedichten programmatisch unter diesen Gesamttitel gestellt.12 Noten für eine gut lesbare und ausdrucksstarke Handschrift werden in deutschen Schulen kaum mehr vergeben. Schüler lernen heute zumeist die sogenannte vereinfachte Ausgangsschrift oder gleich die sogenannte neue Grundschrift, die die Druckbuchstaben auf Computertastaturen nachahmt. Womit das Problem der schwindenden Handschrift-Fertigkeiten, dem etwa die Titelgeschichte der Wochenzeitung Die Zeit vom 26. September 2019 und das Marbacher Magazin mit dem Titel Hands on vom Herbst 2019 gewidmet waren,13 bereits angezeigt ist. Schreibende Hände tippen heute in aller Regel auf Tastaturen ein, und natürlich ist auch dieses Buch so entstanden. Wer noch einen handgeschriebenen Brief erhält, weiß, dass da ein in der Regel älterer Mensch ganz Außergewöhnliches und Persönliches mitzuteilen hat (etwa zu einem Todesfall kondoliert oder altmodisch seine tiefe Verliebtheit bekundet, ja beurkundet). In einem zu seiner Zeit berühmten, mittlerweile aber weitgehend vergessenen Song des Münchener Kabaretts Die vier Nachrichter aus dem Jahr 1932 wird prägnant auf den Punkt gebracht, was die Handschrift vom Schreibmaschinengeklapper unterscheidet. Der Song trägt den Titel Commerzieller Tango und lässt zu Tangotönen zwei Männerstimmen und eine Schreibmaschine erklingen:

WENN MAN SICH SCHRIEB

»Ich hab dich lieb«

Zu Werthers Zeiten

Bei Liebesleuten,

Schrieb man mit Tränen auf blauem Pergament.

Unsere Zeit hat keine Zeit

Für Liebesschmerzen

Und kranke Herzen;

Denn wir sind heute für Liebe insolvent.

Jede Frau weiß

Das, was uns treibt,

Wenn die Schreibmaschine schreibt:

Ich mache Ihnen unverbindlich

Ein Angebot in Liebe.

Absatz

Ich lade Sie ganz unverbindlich

Zu meinem Ausverkauf in Glück.

einrücken

Erwarte Ihre Antwort stündlich

Kommen Sie auf die Offerte zurück!

gesperrt weiter

Ich mache Ihnen unverbindlich

Ein Angebot in Glück.

eine Anlage, zwei Durchschläge

Oft wird gesagt

Und sich beklagt

Bei unsern Dichtern,

Sie wären nüchtern.

Und was sie schrieben,

Sei voller Ironie.

Zeit ist nicht viel,

Und unser Stil

Ist nicht pathetisch,

Scheint unpoetisch,

Aber für uns

Ist er voller Poesie.

Hinter dem Wort

Jeder verspürt,

Was ihn privatim berührt.

Bitte Fräulein schreiben Sie:

Ich mache Ihnen unverbindlich (von hier an bis zum Ende dieser Strophe ist das Diktat mit Schreibmaschinengeklapper grundiert, J.H.)

Ein Angebot in Liebe.

Ich lade Sie ganz unverbindlich

Zu meinem Ausverkauf in Glück.

Erwarte Ihre Antwort stündlich.

Kommen Sie auf die Offerte zurück!

Ich mache Ihnen unverbindlich

Ein Angebot in Glück.

Hamse Glück? (…)14

DAS ZEITALTER DER HANDVERGESSENHEIT

Dieser Song Commerzieller Tango beschwört eindringlich, was es bedeutet, wenn Hände keine Handschrift mehr hervorbringen, sondern auf Tasten einschlagen. Schreibmaschinen heißen im Englischen bekanntlich Typewriter. Und das englische Wort type (Schlag) geht direkt auf das griechisch-lateinische Wort τυπος/typus (Schlag, Gepräge) zurück. Wir Menschen sind andere Typen geworden, wir sind von anderem Schlag und Gepräge, seitdem die Handschrift als Ausdruck individuellster Charakterausprägungen nicht mehr zeitgemäß ist. Aber auch Schreibmaschinen, ja selbst Computertastaturen, auf die Finger einschlagen oder tippen, sind seit dem Aufkommen des Computers nicht mehr up to date. Als avanciert gilt, wer nicht mehr schreibt und tippt, sondern spricht. Und zwar nicht zu einem Schreibmaschinenfräulein, einer Sekretärin, einer Tippse, sondern zu Siri oder Alexa. Sprachbefehle und Sprechsteuerung, die jede Form von Handarbeit und Fingerfertigkeit überflüssig machen, treten im Zeitalter der Digitalisierung zunehmend an die Stelle noch der letzten Handgreiflichkeiten. Seit Jahrzehnten ersetzen Roboter die Handarbeit in der industriellen Fertigung am Band. Charlie Chaplin hat dieser üblen Schwundstufe des Handwerks in seinem Film Modern Times aus dem Jahr 1933 ein Denkmal gesetzt.

Charlie Chaplin: Modern Times (1933)

Klassische Handwerker sind anders als Arbeiter am Band aus naheliegenden Gründen stolz darauf, »von ihrer Hände Arbeit« leben zu können. Die Gründe für diese Differenz sind leicht ersichtlich. Handwerker können auf eigene Rechnung arbeiten, und sie konzipieren selbstständig die Werke, die ihre Hände schaffen. Bezeichnenderweise können gerade im Zeitalter der Handvergessenheit bildende Künstler einen privilegierten Sonderstatus einnehmen. Sie sind die markante Ausnahme von der Regel, die da lautet, dass das digitale Zeitalter die Epoche der Handvergessenheit ist. Maler und Bildhauer gelten auch und gerade in der Postpostmoderne als die souveränen Handwerker, die mehr sind als nur Handwerker, nämlich bildende Künstler. Ihnen gelingt eine handwerklich souveräne Umsetzung genialer Konzepte, sie stehen für handfeste Symbiosen von Kopf- und Handarbeit ein. Ihnen kann der Aufstieg in die Sphäre der Superreichen und Superprominenten gelingen, obwohl und weil ihre Genialität die ihrer Hände ist. Ein »Raffael ohne Hände« – um die berühmte Formulierung aus Lessings bürgerlichem Trauerspiel Emilia Galotti aufzunehmen – wäre kein Malergenie (dazu später mehr). Genial ist, wer mit seinen Händen etwas hervorbringt, was andere nicht zu schaffen vermögen. Beim Gott der Genesis bleibt eigentümlich unentschieden, ob er nur mit der Kraft seines Wortes zum Schöpfer aller Dinge wird, oder ob er selbst Hand anlegen, sich gar seine göttlichen Hände schmutzig machen muss, wenn er die Welt erschafft.

Bildende Künstler sind, auch wenn sie Nebenberufe ausüben müssen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, als Künstler in aller Regel Selbstständige – seit der Neuzeit nennt man sie freie Künstler. Wenn sie erfolgreich sind, stellen sie wie Albrecht Dürer, Lucas Cranach und Pieter Brueghel Mitarbeiter in ihrer Werkstatt ein, die in ihrem Namen handwerkliche Teile eines Werkes wie etwa den Faltenwurf eines Kleides ausführen. Traditionelle Handwerker arbeiten ebenfalls als Selbstständige. Sie sind dann nicht mehr Gesellen, sondern haben sich mit ihrer Hände Arbeit den Meistertitel erarbeitet, der beim Protagonisten von Goethes Bildungsroman zum titelgebenden Namen avanciert: Wilhelm Meister. Selbst eine Handarbeiterin aus der Unterschicht wie die junge Schneiderin Lene, Geliebte des preußischen Adeligen Botho von Rienäcker in Fontanes 1888 erschienenem Roman Irrungen, Wirrungen, hat nach dem Zeugnis ihres Geliebten »einen doppelten Stolz, und neben dem, von ihrer Hände Arbeit leben zu wollen, hat sie noch den andern, alles gradheraus zu sagen«.15 Es lohnt sich, auf das zu hören, was zentrale Begriffe der kognitiven wie der emotionalen Sphäre im Deutschen geradeheraus sagen: dass sie handbasiert sind. Wer über ein gewisses intellektuelles Format verfügt, kann begreifen, was sich anderen nicht sogleich erschließt. »Begriff« und »begreifen« sind Worte, die unüberhörbar aus der haptischen und taktilen Sphäre stammen. Wer sagt, dies oder jenes sei mit Händen zu greifen, meint, dass dies oder jenes evident sei und sich verbindlich begreifen lasse. Dabei meint »Begriff« gerade nichts, was mit Händen zu greifen wäre. Wer eine Konstellation auf den Begriff bringt, erbringt vielmehr eine intellektuell und kognitiv abstrakte Leistung. Aber die ist handbasiert. Die Hand ist nicht die handfeste Alternative zur Abstraktion, sondern die handgreifliche Bedingung ihrer Möglichkeit. Nicht umsonst basieren klassische Längenmaße wie Handbreit, Elle und Fuß auf menschlichen Körperteilen. Messen und Maßnehmen sind die abstrakten Operationsmodi schlechthin. Sie versuchen zu erfassen, was der Fall ist und wie das zu modellieren ist, was zusätzlich in die Welt gesetzt werden kann und soll. Auch die Worte »erfassen«, »auffassen« und »Auffassung« geben unmissverständlich zu verstehen, dass sie zufassenden Händen ihre Bildung verdanken.

Auch die emotionale Sphäre bedient sich einer Metaphorik aus dem Umkreis der Hand. Wer Gefühle empfindet, muss auch fühlen können. Etwas fühlen, feststellen, dass sich etwas so oder anders anfühlt (weich oder hart, heiß oder kalt, kräftig oder schwach, et cetera), ist Sache der Hand. Die Extremitäten dieser Extremität, die Fingerspitzen, sind mit ungemein feinfühligen Sensoren und Nerven ausgestattet. Wir fühlen, indem wir greifen. Und wir können gerührt sein, wenn wir etwa ein neugeborenes Kind erstmals mit unseren Händen berühren. Beide Operationen, das (Be-)Greifen beziehungsweise Erfassen wie das Fühlen, sind ineinander verschränkt. Man kann nicht etwas begreifen, ohne dabei dieses oder jenes zu fühlen. Man ist etwa stolz darauf, etwas begriffen zu haben, was sich zuvor verschlossen hatte; man ist erregt, weil man den Körper einer geliebten Person gestreichelt hat; wir versuchen zu begreifen, welche Gefühle uns ergriffen haben; wir fühlen uns ergriffen, wir möchten loslassen können, wir klammern uns an dies oder jenes, wir hauen erregt auf den Tisch, wir re(a)gieren mit starker Hand. Konstellationen wie diese verweisen auf die Scharnierfunktion unserer Hände. In ihnen inkarniert sich die wechselseitige Zugehörigkeit von Kognition und Haptik und damit die von Sinn und Sinnen.16 Hände sind die komplexesten Schnittstellen zwischen uns und dem Rest der Welt. Die Computermaus und der Touchscreen können als Indizien dafür verstanden werden, dass die Hand auch im digitalen Zeitalter nicht ganz verzichtbar ist. So subtil wie die Finger eines Klavier- oder Geigenspielers muss der Daumen17 oder Zeigefinger nicht agieren, der über ein Display wischt. Ganz überflüssig ist die Hand auch im Zeitalter von Sprachsteuerungen nicht geworden. Dennoch lässt sich der markante historische Umbruch nicht übersehen, überhören, überlesen, der mit der Handvergessenheit einsetzt. Kinder, die mit ihren Händen im Sandkasten Burgen bauen, Bäche umleiten und auf Bäume klettern, entwickeln selbstredend ein anderes Weltverhältnis als digital natives, die früh mit Gameboys und Displays umzugehen lernen: Zauber-Instrumente, die virtuelle Welten erschließen und großartige kognitive Möglichkeiten freisetzen – wenn sie an Hände rückgekoppelt werden, die Zugang zu realen Welten gewähren.

In der Italienischen Reise schildert Goethe den nachhaltigen Eindruck, den ihm der Anblick handgewebter Teppiche in Rom hinterließ. Er preist sie als »glücklichstes Beispiel« dafür, dass »Kunst und Handwerk in beiderseitiger Vollendung sich auf ihrem höchsten Punkte lebendig begegnen«.18 In einem kleinen, zu Lebzeiten unveröffentlichten, am 15. September 1797 seinem Tagebuch anvertrauten Essay unter dem Titel Kunst und Handwerk, denkt Goethe über die Krise der Symbiose von Kunst und Handwerk nach, die »in den neueren Zeiten (durch) das Maschinen- und Fabrikwesen« ausgelöst wird. Als habe er Walter Benjamins Essay über Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit schon gekannt, analysiert er den Auraverlust, den die maschinelle Marginalisierung der künstlerisch ambitionierten Handarbeit mit sich bringt. Das »tausendste Werk« des »mechanischen Künstlers« ist, anders als das des handwerklich souveränen Künstlers, »wie das erste und es existiert am Ende auch tausendmal. Nun kommt noch dazu, daß man in den neueren Zeiten das Maschinen- und Fabrikwesen zu dem höchsten Grad hinaufgetrieben hat und mit schönen, zierlichen, gefälligen vergänglichen Dingen durch den Handel die ganze Welt überschwemmt. (…) Kluge Fabrikanten und Entrepreneurs haben die Künstler in ihren Sold genommen und durch geschickte mechanische Nachahmung die eher befriedigten als unterrichteten Liebhaber in Kontribution gesetzt, man hat die aufkeimende Neigung des Publikums durch eine scheinbare Befriedigung abgeleitet und zu Grunde gerichtet. (…) Kommt nun gar noch die große Gemälde-Fabrik zu Stande, (…) so werden sie freilich nur die Augen der Menge damit täuschen, aber doch immer eben dadurch den Künstlern manche Unterstützung und manche Gelegenheit sich emporzuarbeiten rauben.«19 Goethes Einschätzung dieser Entwicklung ist von erfrischender Illusionslosigkeit. Keine kulturkritische Klage wird die Abwertung des Handwerks, der Handarbeit und der Hand aufhalten, »da das Ganze mit unaufhaltsamer Gewalt forteilt«.20 Auf dem »höchsten Grad« war »das Maschinen- und Fabrikwesen« zu Goethes Zeiten noch nicht. Vom digitalen Kapitalismus des Internetzeitalters und der von ihm ausgelösten Erosion fast aller Handgreiflichkeiten haben selbst die klügsten Köpfe um 1800 nicht einmal geträumt.

VIRTUAL REALITY UND INTANGIBLE ASSETS

Die Goethezeit war eine Epoche überwältigender poetischer, künstlerischer, musikalischer und philosophischer Produktivität – und die hohe Zeit des Handwerks, das »in den neueren Zeiten des Maschinen- und Fabrikwesens« an den Rand gedrängt wird. In den Jahrzehnten um 1800 entstehen die Werke, die noch heute Anspruch auf die Prädikate klassisch und kanonisch erheben können – die Kompositionen Mozarts, Beethovens und Schuberts, die kritische und systematische Philosophie Kants, Fichtes, Schellings und Hegels, die Gemälde und Bauten von Caspar David Friedrich, Philipp Otto Runge und Karl Friedrich Schinkel, die Dichtungen von Wieland, Goethe, Schiller, Kleist, Hölderlin, Tieck, Novalis, Eichendorff, Brentano, Arnim, Schlegel. Viele der genannten Größen haben der Hand und den Handfertigkeiten ihre Aufmerksamkeit gewidmet und ihnen Respekt gezollt, kein Zweiter aber so eindringlich und kontinuierlich wie Goethe. Zu den herausragenden Qualitäten seines Werkes gehört es, dass es Tiefenstrukturen freilegt, die sich gängigen kulturhistorischen und kulturkritischen Blicken entziehen. So ist Goethe aufgefallen, dass die Hand eben nicht nur handfeste, handgreifliche, realistische Dimensionen erschließt, sondern zugleich für die Bildung von mächtigen Großmetaphern taugt, die auf Sphären jenseits jeder Handgreiflichkeit verweisen. Die Hand Gottes und die unsichtbare Hand des Marktes sind die prominentesten Beispiele für solche in jedem Wortsinne mächtige, gar übermächtige Großmetaphorik, die handwerkliche und handhabbare Dimensionen weit überschreitet. Die Mächte, die Supersubjekte, die durch solche Handmetaphern bezeichnet werden, sind gerade nicht mit Händen zu greifen. Das gilt auch für die Werke, die dichtende, komponierende, malende Hände von Künstlern geschaffen haben. Was sie zu lesen, zu sehen und zu hören geben, ist seltsam immateriell, gewissermaßen unhandlich, unhaptisch, nichttangibel. Die dargestellte Pfeife ist keine zuhandene Pfeife, sondern ein Bild; eine Romanhandlung ist fingiert und kein verlässlicher Faktenbericht; Töne sind erklingende und sogleich wieder verschwindende Schallwellen, die sich nicht greifen lassen, die uns aber ergreifen können. Alle Künstler pflegen ein dialektisches Verhältnis zur Maxime »noli me tangere«. Sie bringen Werke hervor, deren handfester Wert fraglich ist – und die ebendeshalb die Frage stellen können, was wir selbst in der Hand haben und in wessen Händen wir sind.

Goethes poetische Hand-Reflexionen verdienen auch deshalb alle Aufmerksamkeit, weil sie die zentrale Frage jeder Lebenskunstlehre umkreisen: ob und inwieweit wir unser Leben in der Hand haben und gestalten können oder ob und inwieweit wir in der Hand transsubjektiver Mächte wie der Hand Gottes oder der invisible hand des Marktes sind. Weil Goethes Werk zu dieser Frage subtile Denkmodelle vorlegt und weil es mehr zu bieten hat als eine wohlfeile Klage über den Verlust handwerklicher Tugenden und Künste, lohnt sich die Goethe-Lektüre auch im 21. Jahrhundert – also in einer Epoche der Handvergessenheit. Es fällt auf, dass die gegenwärtigen Debatten über fake news, virtual reality oder Internet-Ökonomie Konstellationen jenseits jeder Handlichkeit zu analysieren versuchen. Die invisible hand des spätkapitalistischen Marktes schätzt den Wert von Firmen am höchsten, die nichts Handgreifliches produzieren. Google, Facebook, Instagram, Twitter und Streamingdienste (um nur sie zu nennen) offerieren buchstäblich unfassbare Güter, sie produzieren Werte, die nicht mit Händen zu greifen sind. Ökonomen bezeichnen solche Güter als »intangible assets«21 (nicht greifbare Güter). Internetfirmen, die bekanntlich einen ungleich höheren Börsenwert erzielen als klassische Industriekonglomerate, verkaufen nicht etwa Autos, Waschmaschinen, Kleidung, Möbel oder Immobilien, sondern Informationen, Links, Klicks, Aufmerksamkeit, Beziehungen, Wertschätzungen, Foren für shitstorms, Urheberrechte und dergleichen. Der Soziologe Andreas Reckwitz hat diese Entwicklung auf eine prägnante Formel gebracht: »In der Spätmoderne findet eine ›Kognitivierung‹ großer Teile der Ökonomie statt.«22 Bemerkenswert ist, dass diese Kognitivierung der Ökonomie auch auf handgreifliche Güter durchschlägt. Man kauft diesen sündhaft teuren Markenturnschuh nicht wegen seiner überlegenen Dingqualität, sondern weil er einen emotional-kognitiven Mehrwert hat; man zahlt Höchstpreise für Immobilien nicht nur wegen der Qualität der Bausubstanz, sondern auch wegen der Aura der Adresse (Außenalster); man bucht eine Luxusreise, weil man sich singuläre Erlebnisse verspricht und damit Bekannte beeindrucken kann. Besonders wertvoll ist heute, was nicht mit Händen zu greifen ist. Das gilt noch und gerade für den fetischisierten Rest an hochgeschätzter und höchstbezahlter Handwerklichkeit: Gemälde. Ein und dasselbe Werk verliert seinen vielfachen Millionenwert, wenn sich herausstellt, dass es nicht von der Hand eines berühmten Künstlers, sondern von der eines Fälschers wie Beltracchi gepinselt wurde.

Zu den Grundattituden der Kritik am klassischen Kapitalismus zählte die an seinen Verdinglichungstendenzen. Georg Lukács hat in seiner 1923 erschienenen wirkungsmächtigen Studie Geschichte und Klassenbewußtsein23 die verdinglichende, nämlich Subjekte zu Objekten degradierende Gewalt kapitalistischen Wirtschaftens analysiert und kritisiert. Wenn eine Stunde Arbeitskraft so viel wert ist wie dieses oder jenes dingliche Gut, wenn Humankapital berechnet, funktionalisiert und verschoben werden kann wie Finanzkapital, wenn Menschen den Wert ihrer Beziehungen zu anderen Menschen wie den Wert von Gütern kalkulieren, dann findet eine tiefgreifende Verdinglichung intersubjektiver Beziehungen statt. Menschen werden sich selbst fremd, wenn sie einander wie Dinge bewerten und behandeln, also Warenform annehmen. Entfremdung, Kommodifizierung und Verdinglichung waren die Schlüsselkonzepte der klassischen, insbesondere, aber nicht nur der marxistisch inspirierten Kapitalismuskritik. An die Stelle der Verdinglichungskritik ist im späten digitalen Kapitalismus die an der Entdinglichung getreten. Dan Schiller24 und Philipp Staab25, um nur sie zu nennen, haben herausgearbeit, dass im digitalen Kapitalismus nicht mehr nur die Arbeitskraft kommodifiziert, also warenförmig wird, sondern dass Märkte selbst warenförmig werden. »Die Leitunternehmen des kommerziellen Internets (…) agieren nicht mehr wirklich auf Märkten, deren Mechanismen sie verzerren – jedenfalls ist das für ihre Entwicklung nicht der springende Punkt. Sie sind diese Märkte.«26 Und sie sorgen als Anbieter von Plattform-Märkten dafür, dass beliebig und fast kostenlos reproduzierbare Güter (wie Musikdateien, elektronische Informationen, Software, Streamingdaten aller Art, Kontaktmöglichkeiten et cetera), die niemals knapp werden können, trotzdem als Waren zirkulieren. Doch auch beim Handel mit unfassbaren, entdinglichten, immateriellen Gütern aber bleibt, um die Sprache Goethes zu bemühen,

»ein Erdenrest

Zu tragen peinlich,

Und wär’ er von Asbest

Er ist nicht reinlich.

Wenn starke Geisteskraft

Die Elemente

An sich herangerafft,

Kein Engel trennte

Geeinte Zwienatur

Der innigen Beiden,

Die ewige Liebe nur

Vermags zu scheiden.«27

Auch intangible assets müssen zumindest versprechen, in Handgreiflichkeiten transformierbar, an sie anschließbar zu sein. Um es in der Sprache jenseits der Gutenberg-Galaxis und der Goethezeit zu sagen: Auch immaterielle Güter brauchen Hardware (und Energie!). Die materielle Basis der Software wird heute weitgehend ausgeblendet. Wir werden nur ungern daran erinnert, welch harte Arbeit erforderlich ist, um den Stoff zu gewinnen, aus dem die Hardware besteht (Seltene Erden, Silicium, Kobald et cetera). Ohne PC und Smartphone, ohne Stromverbrauch und ohne Hände, die auf Tasten drücken oder über Displays streifen, haben auch intangible assets keinen Bestand – so wie Geld sich zwar immer weiter von jeder Materialität lösen, dabei aber nicht auf handfeste Rückbezüge verzichten kann. Bitcoins funktionieren und haben Wert nur dann, wenn man sie in klassisches elektronisches Kontogeld überführen kann; Giralgeld ist nur glaubwürdig, wenn es sich in fassbares Bargeld konvertieren lässt; und Bargeld ist wie seine immateriellen Geschwister nur dann richtiges Geld, wenn sich Scheine und Münzen in handgreifliche Waren und dienstfertige Leistungen eintauschen lassen. Goethe hat im grandiosen ersten Akt von Faust II eindringlich dargelegt, welche gewaltigen Effekte eine neue, vergleichsweise immaterielle Geldform freisetzt. Faust und Mephisto haben die Assignaten erfunden und damit der Realökonomie einen starken Stimulus gegeben. Die unterschiedlichsten Figuren geben nun Auskunft, was sie mit dem neuen, vom Kaiser empfangenen Geld anfangen wollen.

KAISER

Beschenk ich nun bei Hofe Mann für Mann,

Gesteh er mir, wozu er’s brauchen kann.

PAGEempfangend

Ich lebe lustig, heiter, guter Dinge.

EIN ANDRERgleichfalls

Ich schaffe gleich dem Liebchen Kett und Ringe.

KÄMMERERannehmend

Von nun an trink ich doppelt bessre Flasche.

EIN ANDRERgleichfalls

Die Würfel jucken mich schon in der Tasche.

BANNERHERRmit Bedacht

Mein Schloß und Feld, ich mach’ es schuldenfrei,

EIN ANDRERgleichfalls

Es ist ein Schatz, den leg’ ich Schätzen bei.28

Die Pointe ist absehbar und dennoch geistreich. Ausgerechnet der Narr lässt sich einen handfesten Realismus nicht ausreden. Er investiert und konvertiert das seltsam materielose, gebrauchswertlose, zu keinerlei Handgreiflichkeiten taugende Geld in den Inbegriff der Realökonomie, in Immobilen. Seine Antwort: »Heut Abend wieg ich mich im Grundbesitz!« Und Mephisto kommentiert: »Wer zweifelt noch an unsres Narren Witz.«

DER ROTE FADEN IM WERK GOETHES

Zu den idealistischen Philosophien seiner Zeit hielt Goethe – anders als etwa Schiller, die Frühromantiker und Kleist – eine gepflegte Distanz. Sich selbst attestierte er gar in einem Brief an Schiller vom 9. Juli 1796 einen »gewissen realistischen Tic«.29 Dabei war er eines gewiss nicht: ein naiver Realist. Das macht schon der unmittelbare Kontext der Formel vom »realistischen Tic« deutlich, verweist er doch darauf, dass wir wirklich nicht anders können, als Rollen zu spielen und zu konstruieren. »Der Fehler«, so schreibt er an Schiller, der kleine kompositorische Mängel am Wilhelm Meister moniert hatte, »der Fehler, den Sie zu Recht bemerken, kommt aus meiner innersten Natur, aus einem gewissen realistischen Tic, durch den ich meine Existenz, meine Handlungen, meine Schriften den Menschen aus den Augen zu rücken behaglich finde. So werde ich immer gerne incognito reisen, das geringere Kleid vor dem besseren wählen, und, in der Unterredung mit Fremden oder Halbbekannten, den unbedeutenderen Gegenstand, oder doch den weniger bedeutenden Ausdruck vorziehen, mich leichtsinniger betragen als ich bin und mich so, ich möchte sagen, zwischen mich selbst und zwischen meine eigene Erscheinung stellen.« Wer gerne ein Inkognito annimmt, die intentio obliqua der intentio recta vorzieht und sich selbst zwischen sich selbst und seine eigene Erscheinung stellt, kultiviert offenbar ein komplexes Welt-Verständnis und -Verhältnis. Um es auf eine Formel zu bringen: Goethe ließ sich einen handfesten Realismus nicht abhandeln. Dinge, Sachverhalte, Naturgegebenheiten und Menschen gibt es wirklich. Was Letztere, Menschen eben, nicht von der Aufgabe befreit, da konstruieren zu müssen, wo keine Handgreiflichkeiten vorliegen. Es gibt wirklich Wirkliches, Wirklichkeit ist hingegen wie alle Begriffe mit -heit-, -keit, -schaft, -tät und ähnlichen Suffixen (Wahrheit, Öffentlichkeit, Wissenschaft, Realität et cetera) keine reale Handgreiflichkeit, sondern ein Konstrukt. Die Pointe ist für jeden denkenden Kopf, der zur Kenntnis nimmt, dass der Körper, dem er zugehört, auch Hände hat, absehbar: Es ist realistisch, Konstruktivist zu sein, wenn es um Allgemeinbegriffe geht; der Konstruktivismus ist in dieser Sphäre der angemessene Realismus.

Hände sind die Organe, die es wirklich gibt, und die schaffen (aber auch abschaffen) können, was es zuvor nicht gab (beziehungsweise alsbald nicht mehr geben wird). Hände sind die produktiven (und destruktiven) Organe schlechthin. Berühmt wurde Goethe in jungen Jahren mit einem Roman, dessen Ende ergreifend lakonisch davon berichtet, wie ein junger Mann Hand an sich legt, weil er keine Aussicht darauf hat, erfolgreich um die Hand einer geliebten Frau zu bitten. Werther erschießt sich mit Pistolen, die ihm besonders viel wert sind,30 weil sie, wie er im Abschiedsbrief an Lotte ausdrücklich erwähnt, durch die Hände der Geliebten gegangen sind. »Sie sind durch deine Hände gegangen, du hast den Staub davon geputzt, ich küsse sie tausendmal, du hast sie berührt! Und du, Geist des Himmels, begünstigst meinen Entschluß! und du Lotte reichst mir das Werkzeug, du, von deren Händen ich den Tod zu empfangen wünschte, und ach nun empfange.«31 Das sind ebenso emphatische wie sachlich problematische Äußerungen. Denn Werther empfängt den Tod nicht durch Lottes Hände, er legt vielmehr selbst mit dem Werkzeug, das durch Lottes Hände gegangen ist, Hand an sich, er empfängt den Tod von eigener Hand. Zu dem tödlich verwundeten und schon bewusstlosen Werther eilen auch die ältesten Söhne des Amtmanns, die dem Sterbenden die Hand küssen. Weil der Selbstmord als Todsünde galt, begleitet kein Geistlicher Werthers letzten Weg. Zu Grabe getragen wird er vielmehr von Handwerkern. »Werthern hatte man auf das Bette gelegt, die Stirn verbunden; sein Gesicht schon wie eines Todten, er rührte kein Glied. Die Lunge röchelte noch fürchterlich, bald schwach, bald stärker, man erwartete sein Ende./Von dem Weine hatte er nur ein Glas getrunken. Emilia Galotti lag auf dem Pulte aufgeschlagen./Von Alberts Bestürzung, von Lottens Jammer laßt mich nichts sagen./Der alte Amtmann kam auf die Nachricht herein gesprengt, er küßte den Sterbenden unter den heißesten Tränen. Seine ältesten Söhne kamen bald nach ihm zu Fuße, sie fielen neben dem Bette nieder im Ausdrucke des unbändigsten Schmerzens, küßten ihm die Hände und den Mund, und der Älteste, den er immer am meisten geliebt, hing an seinen Lippen, bis er verschieden war und man den Knaben mit Gewalt wegriß. Um zwölfe Mittags starb er. Die Gegenwart des Amtmannes und seine Anstalten tuschten einen Auflauf. Nachts gegen eilfe ließ er ihn an die Stätte begraben, die er sich erwählt hatte. Der Alte folgte der Leiche und die Söhne, Albert vermocht’s nicht. Man fürchtete für Lottens Leben. Handwerker trugen ihn. Kein Geistlicher hat ihn begleitet.«32

So endet, von Handwerkern, nicht von einem Geistlichen begleitet, das Leben eines begabten jungen Menschen, dem es nicht gelang, eine überzeugende Antwort auf eine wichtige, wenn nicht auf die entscheidende Lebensfrage schlechthin zu finden: ob beziehungsweise inwiefern wir unser Leben in der Hand haben oder ob dieses unser Leben in der Hand höherer Mächte, prototypisch in der Hand Gottes, liegt. Eine vermittelnde Antwort auf diese Frage liegt auf der Hand, wenn sie auch nicht mit Händen zu greifen ist. Wir müssen und werden in der Regel begreifen, dass schon das schiere Faktum unserer Existenz nicht in unserer Hand liegt. Höhere Mächte (je nach »Weltbild« ein Gott, das Schicksal, der Zufall, die Evolution oder verliebte Eltern, um nur diese Möglichkeiten anzuführen) haben uns ungefragt ins Leben und in die Welt geworfen, nun aber haben wir es – zu welchen Teilen, in welchem Maße? – in der Hand, dieses unser Leben zu gestalten. Oder eben nicht, weil andere Größen uns bei dem Projekt, handfest etwas aus unseren Möglichkeiten zu machen, in die Hand fallen. Zum Beispiel die öffentliche Hand, andere private Hände, die unsichtbare Hand des Marktes, die starke Hand eines Despoten oder eben die Hand Gottes, in der unser Schicksal beschlossen liegt. Ob all diese Hände kooperieren oder aber zu Fäusten geballt werden, um gegeneinander zu kämpfen, ob die rechte Hand weiß, was die linke tut, ob Treuhändern wirklich zu trauen ist, ob wir zusammen mit anderen solidarisch Hand in Hand durchs Leben gehen oder uns weigern, andere mit Handschlag zu begrüßen, ob wir mit starker Hand das Schicksal bezwingen oder eine glückliche Hand bei Partnerwahl und Finanztransaktionen haben – all diesen und mehr Fragen, die begreifen wollen, was es mit Handgreiflichem und Händeln, mit Handel und Handlungen, mit sichtbaren und unsichtbaren Händen auf sich hat, ist Goethes Werk mit unvergleichlicher Intensität nachgegangen. Sein Werk ist emanzipatorisch im Wortsinne. Meint der Begriff »Emanzipation« (von lat. manus/Hand) doch das Projekt, sich aus der Hand fremder Mächte zu befreien.

Hand-Motive bilden, um eine schnell populär gewordene Wendung aus Goethes Wahlverwandtschaften-Roman aufzunehmen, einen roten Faden, der Goethes gesamtes Werk durchzieht. Gute Gründe und an Zahl kaum zu überschauende Belege sprechen dafür, dass es sich bei diesem Motiv gar um das entscheidende Leitmotiv Goethes handelt. Seltsamerweise ist die zentrale Bedeutung der Hand für Goethes Werk noch gar nicht zur Kenntnis genommen worden.33 Ausnahmen freilich bestätigen auch hier die Regel. So interpretiert Rüdiger Safranski Briefe und Notizen, die der junge Goethe an seinen Freund Behrisch schickt und in denen er von ersten Liebeserlebnissen Zeugnis ablegt: »Fast schon einem Briefroman von der Art des ›Werther‹ gleicht jene Serie von tagebuchartigen Berichten an Behrisch, die am 2. November 1767 beginnt und sich bis Ende des Monats fortsetzt. Er möchte so schreiben, daß die beiden Abstände verschwinden, die zum Liebeserlebnis und die zum Freund. ›Diese Hand die jetzt das Papier berührt um dir zu schreiben, diese glückliche Hand drückte sie an meine Brust.‹ Die Hand der Liebkosung ist auch die des Schreibens. Er überträgt die Berührung der Geliebten auf den lesenden Freund. Das Schreiben stiftet eine intime Verbindung.«34

Eine aufschlussreiche Passage aus der Hand des achtzehnjährigen Goethe. Schon ein kursorischer Blick auf Goethes spätere Werke genügt, um zu erkennen, wie viel Aufmerksamkeit sie dem Motiv der Hand widmen und wie subtil sie es entfalten. Goethe betrat die Literaturszene mit zwei Werken, die geradezu überdeutlich ein starkes Interesse an Hand-Motiven signalisieren: mit dem Drama Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand und mit dem Roman Die Leiden des jungen Werthers, der obsessiv die Frage umkreist, warum jemand Hand an sich legt, dem es nicht gelingt, die Hand einer geliebten Frau zu gewinnen. Auch das Werk, das ihn zeit seines Lebens beschäftigte, gilt einer Figur mit einem telling name von handgreiflicher Qualität: Man kann die Hand zur Faust ballen, wenn man keine befriedigende Antwort auf die Frage findet, welche Hand die Welt im Innersten zusammenhält. Eigentümlich, dass Goethe seinem Faust den Vornamen Heinrich und nicht den verlässlich überlieferten Namen des historischen Faust, Johann, verleiht, der überdies doch auch einer seiner Vornamen ist. Heinrich ist ein etablierter Herrschername; wer Heinrich heißt, darf hoffen, Herr über sein Reich zu sein und die Zügel in der Hand zu halten. Wer Johann heißt, ist hingegen kein Mann der handfesten Taten, sondern wie der prominenteste Träger dieses Namens, der vierte Evangelist, ein Mann des Wortes. Das Wort aber kann Heinrich Faust bekanntlich so hoch nicht schätzen. Er, der eminent Gelehrte, verleiht seiner Verachtung für Gelehrsamkeit mit den ersten Worten, die er auf der Bühne spricht, unmissverständlich Ausdruck. Dass es ihm damit ernst ist, macht seine ungeheure Fluchrede deutlich, die ihrer Grobheit zum Trotz ein feines Namensmotiv enthält:

Verflucht voraus die hohe Meinung,

Womit der Geist sich selbst umfängt!

Verflucht das Blenden der Erscheinung,

Die sich an unsre Sinne drängt!

Verflucht, was uns in Träumen heuchelt,

Des Ruhms, der Namensdauer Trug!35

(vv. 1591–96)

Der geist- und logoskritische Mann mit dem prominenten Namen Heinrich Faust übersetzt den Anfang des Johannes-Evangeliums ohne Angst vor handfest-willkürlichen Akzentsetzungen mit den Worten »Am Anfang war die Tat«. Wenn Hölderlin den Deutschen vorwarf, »gedankenvoll«, aber »tatenarm« zu sein, dann hat er wohl nicht an den historischen Faust gedacht (und auch nicht an Goethes Faust, der ja erst 1808 veröffentlicht wurde). Heinrich Faust, der tatlüsterne Gelehrte, der wissen möchte, welche Hand die Welt im Innersten zusammenhält, hat keine großen Hemmungen, handgreiflich zu werden, zuzulangen, ja zuzuschlagen. In der Studierzimmerszene singt der unsichtbare, also nicht mit Händen zu greifende Geisterchor nach den Fluchworten Fausts: »Weh! Weh!/Du hast sie zerstört,/Die schöne Welt,/Mit mächtiger Faust!/Ein Halbgott hat sie zerschlagen.« (vv. 1607–10). In der Domszene muss Gretchen sich von einem bösen Geist sagen lassen: »Ihr Antlitz wenden/Verklärte von dir ab./Die Hände dir zu reichen,/Schauert’s den Reinen« (vv. 3828–31), woraufhin sie in Ohnmacht fällt. Ohnmächtig im wörtlichen Sinn ist Gretchen auch in der ergreifenden Kerker-Szene. Gretchen, der die Reinen nicht mehr die Hand reichen, erkennt – »ihn fassend«, wie es in der Regieanweisung heißt – ihren Geliebten, dem sie zuruft: »Du bist’s! ich glaub’ es kaum./Gib deine Hand! Es ist kein Traum!/Deine liebe Hand! – Ach aber sie ist feucht!/Wische sie ab! Wie mich deucht/Ist Blut dran.« (vv. 4510–15) Faust hat sich wiederholt seine Hände schmutzig, ja blutig gemacht, etwa durch seine (Mit-)Schuld am Tod von Gretchen, Gretchens Kind, Gretchens Mutter und Gretchens Bruder, und er hat wiederholt erwogen, Hand an sich zu legen, weil er nicht begreifen kann, was beziehungsweise welche und wessen Hand die Welt im Innersten zusammenhält. Goethe ist seinem frühen Schreibprogramm, von Hand und Händen zu handeln, zeit seines Lebens treu geblieben. Sein Gesamtwerk kann und will als Abhandlung über göttliche, unsichtbare, öffentliche, private, kooperierende, zärtliche, kämpfende, schaffende, abschaffende, gebende, nehmende, segnende, schwörende, schreibende, formende Hände gelesen werden.

Dazu nur zwei weitere Passagen aus dem späten Werk: »Das ist meine Hand!« Mit diesem Ausruf leitet Eduard in den Wahlverwandtschaften eines der seltsamsten Liebesgeständnisse der Weltliteratur ein. Ottilie hat als perfekte Sekretärin (avant la lettre, um 1800 hatten Geheimräte und andere Männer, die etwas zu sagen hatten, noch Schreiber, erst mit Telefon und Schreibmaschine, also gegen 1900, entsteht der Beruf der und die Berufung zur Sekretärin36), Ottilie hat Abschriften von Papieren gefertigt, die sie nun Eduard zum »Kollationieren«, also zur vergleichenden Durchsicht, vorlegt. Begeistert kann dieser alsbald feststellen, dass sich Ottiliens Handschrift im Schreibprozess immer mehr und bis zur Verwechselbarkeit der seinen angeglichen hat. »Er sah sie an, er besah die Abschrift. Die ersten Blätter waren mit der größten Sorgfalt, mit einer zarten weiblichen Hand geschrieben; dann schienen sich die Züge zu verändern, leichter und freier zu werden: aber wie erstaunt war er, als er die letzten Seiten mit den Augen überlief! Um Gotteswillen! rief er aus, was ist das? Das ist meine Hand! Er sah Ottilien an und wieder auf die Blätter; besonders der Schluß war ganz als wenn er ihn selbst geschrieben hätte. Ottilie schwieg, aber sie blickte ihm mit der größten Zufriedenheit in die Augen. Eduard hob seine Arme empor: Du liebst mich! rief er aus, Ottilie, du liebst mich! und sie hielten einander umfaßt. Wer das andere zuerst ergriffen, wäre nicht zu unterscheiden gewesen./Von diesem Augenblick an war die Welt für Eduarden umgewendet, er nicht mehr was er gewesen, die Welt nicht mehr was sie gewesen. Sie standen voreinander, er hielt ihre Hände, sie sahen einander in die Augen, im Begriff sich wieder zu umarmen.«37

Eine ungemein dichte und rätselhafte Szene. Sachlich gesehen ist Eduards Ausruf »Das ist meine Hand!« problematisch. Denn es handelt sich ja nicht um eine Hand, sondern metonymisch um eine Handschrift; und diese Handschrift ist nicht seine, sondern die sich seiner Handschrift vollkommen angleichende Schrift Ottiliens, die »mit einer zärtlichen weiblichen Hand« abgeschrieben hat, was Eduard ihr vorlegte. Die sogleich folgende Liebeserklärung ist ebenfalls eigenartig. Statt der zu erwartenden Wendung »Ich liebe dich« ruft Eduard, seine Arme und damit auch seine Hände emporhebend, gleich zweimal aus: »Du liebst mich«, woraufhin die Liebenden einander umfasst halten. »Wer das andere zuerst ergriffen, wäre nicht zu unterscheiden gewesen.« Das, nicht die oder der andere! Eduard, der nicht sonderlich fromm ist, hat allen Grund, »um Gotteswillen!« auszurufen. Denn fortan hat er sein Leben nicht mehr im Griff. Aber er hält Ottiliens Hände in den seinen, beide sind »im Begriff sich wieder zu umarmen«. Doch da betritt seine Frau Charlotte zusammen mit dem Hauptmann das Zimmer, und nur eine Seite später wird der Hauptmann, ein geübter Schwimmer, der von ihm begehrten Charlotte bedeutungsvoll darlegen, welch »angenehme Empfindung« es sei, »manchmal auf dem Wasser hinzuschwimmen und sein eigner Fähr- und Steuermann zu sein«.38 Stets das Ruder in der Hand halten will auch Ottiliens Konkurrentin Luciane. Sie inszeniert sich als eine Figur, die großzügig Gaben an Bedürftige verteilt. Zu besonders eindrucksvoller Form läuft sie auf, als sie einem »unglücklichen jungen Mann (begegnet), der die Gesellschaft floh, weil er, übrigens schön und wohlgebildet, seine rechte Hand, obgleich rühmlich, in einer Schlacht verloren hatte« (Götz von Berlichingen lässt grüßen).39 »Das Dasein dieses jungen Mannes blieb ihr nicht verborgen. Er mußte herbei, erst in kleiner Gesellschaft, dann in größerer, dann in der größten. Sie benahm sich anmutiger gegen ihn als gegen irgendeinen andern; besonders wußte sie durch zudringliche Dienstfertigkeit ihm seinen Verlust wert zu machen, indem sie geschäftig war, ihn zu ersetzen. Bei Tafel mußte er neben ihr seinen Platz nehmen; sie schnitt ihm vor, so daß er nur die Gabel gebrauchen durfte. Nahmen Ältere, Vornehmere ihm ihre Nachbarschaft weg, so erstreckte sie ihre Aufmerksamkeit über die ganze Tafel hin, und die eilenden Bedienten mußten das ersetzen, was ihm die Entfernung zu rauben drohte. Zuletzt munterte sie ihn auf, mit der linken Hand zu schreiben; er mußte alle seine Versuche an sie richten.« So altruistisch können Egoistinnen sein, so egoistisch kann Altruismus handeln – eine Konstellation, die Goethe häufig problematisieren wird.

Wenn wir doch stets das sichere Gefühl haben könnten, das Ruder in der Hand zu halten! Ein Problem, das auch viele Protagonisten in Schillers Dramen kennen. Wallenstein hat wie Elisabeth eine starke Scheu, handschriftlich unterzeichnete Dokumente zu hinterlassen. Das ist verständlich, denn Sesin, »durch dessen Hände alles ist gegangen«, wurde von Wallensteins Gegnern ergriffen, so dass nun »alles (…) in ihrer Hand« ist. »Sie haben«, wie Terzky zu Wallenstein sagt, »Dokumente gegen uns/In Händen, die unwidersprechlich zeugen«.40 Wallensteins direkte Replik, das könne nicht sein – »Ich geb nichts Schriftliches von mir, du weißt’s«,41 hatte er schon zuvor gesagt – verfängt nicht. »Von meiner Handschrift nichts. Dich straf’ ich Lügen./ILLO So? Glaubst du wohl, was dieser da, dein Schwager,/In deinem Namen unterhandelt hat,/Das werde man nicht dir auf Rechnung setzen?« Darüber, wer wen und was in der Hand hat, sinniert Wallenstein in seinem großen Monolog, der der zitierten Szene folgt: »Nicht ohne Schaudern greift des Menschen Hand/In des Geschicks geheimnisvolle Urne.«42 Diesem Monolog folgt die Szene, in der Wallenstein vom schwedischen Gesandten Wrangel ein Kreditiv, ein Vollmachten attestierender Brief, vorgelegt wird, was Wallenstein, die »Hand (Wrangels) vertraulich fassend«, mit den Worten kommentiert: »Der Brief hat Händ’ und Füß’.«43

DES DICHTERS (UN)REINE HAND

Werther, Eduard, Ottilie und Wallenstein sind denkbar unterschiedliche Charaktere; ihre Lebensgeschichten könnten kontrastreicher nicht sein. Doch sie haben die starke Gemeinsamkeit, ihr Leben nach krisenhaften Erfahrungen nicht mehr in den Griff zu bekommen. Aus einem selbstbewussten, ja selbstverliebten Subjekt wie Eduard ist ein Subjekt geworden, das seinem Begriff entspricht: ein Unterliegender. Damit verfehlt er das Versprechen, das geglückte Dichtung verheißt und dem Goethe in einem berühmten Gedicht des West-östlichen Divan zum ebenso ansprechenden wie bündigen Ausdruck verhalf.

LIED UND GEBILDE

Mag der Grieche seinen Thon

Zu Gestalten drücken,

An der eignen Hände Sohn

Steigern sein Entzücken;

Aber uns ist wonnereich

In den Euphrat greifen,

Und im flüßgen Element

Hin und wieder schweifen.

Löscht ich so der Seele Brand

Lied, es wird erschallen;

Schöpft des Dichters reine Hand

Wasser wird sich ballen.44

Diese Zeilen umspielen lustvoll den Doppelsinn des Wortes »Ton«. Es kann ebenso den Klang wie die Materie meinen, aus der ein Töpfer oder Bildhauer Gefäße oder Figuren schafft. Solche Schöpfungen können als »der eignen Hände Sohn«, nämlich als Geschöpfe verstanden werden, für die der stolze väterliche Schöpfer ein liebevolles Entzücken empfindet. Diesem Schöpfungsakt korrespondiert spannungsreich und wiederum wortspielerisch die Handbewegung, die aus dem flüssigen Element Wasser schöpft. Wasser ist das Element der Reinigung; wer mit klingenden Tönen umgeht und wer Wasser schöpft, wird sich, anders als der Töpfer oder Bildhauer, die Hände nicht schmutzig machen. Mit Händen Wasser ballen und zur Kugelgestalt formen zu wollen, ist allerdings ein verwegenes bis aussichtsloses Projekt – es sei denn, man forme Schnee zum Ball. In fernöstlichen Legenden, die Goethe vertraut waren, wird jedoch diese Unmöglichkeit zur (dann wiederum verwirkten) Wirklichkeit. So gibt Pierre Sonnerat in seinem Buch Reise nach Ostindien und China, 1783 in Zürich erschienen, folgende Erzählung wieder: »Mariatale war die Frau des Büsser Schamadagini, und (…) beherrschte die Elemente; aber sie konnte diese Herrschaft nur so lange behalten als ihr Herz rein bleiben würde. Einst da sie aus einem Teiche Wasser schöpfte, und in ihrer Gewohnheit eine Kugel daraus gestaltete um es nach Hause zu tragen, sah sie auf der Oberfläche des Wassers die Gestalten einiger Grandeurs, die über ihrem Haupte in der Luft umherflogen. Mariatale ward durch die Reitze derselben verzaubert, und die Lustbegierde schlich sich in ihr Herz: Das schon zusammengerollte Wasser löste sich plötzlich wieder auf, und vermengte sich mit dem übrigen im Teiche. Von dieser Zeit an konnte sie niemals mehr ohne Geschirr Wasser nach Hause bringen.«45 Jacob Grimm hat im Vorwort zu seiner 1815 erschienenen Ausgabe von Hartmann von Aues Armen Heinrich dieses Motiv in Erinnerung gebracht und ausgeführt, dass es »außer der Volkspoesie (…) nur den größten Dichtern aller Zeiten gegeben (sei), mit ihren reinen Händen (…) (wie nach einer indischen Sage unschuldige Seelen) das Wasser zu Kugeln (zu) ballen, welches andere um es zu tragen in irdische Gefäße schütten müssen«.46 Nun ist Goethe unverdächtig, ein distanziertes Verhältnis zu irdischen Gefäßen zu haben und Phantasmen mit Handgreiflichkeiten zu verwechseln. Umso bemerkenswerter ist die Schlusszeile seines Divan-Gedichtes Lied und Gebilde. Sie bezeugt, dass tönende Lieder und erklingende Literatur materielos und deshalb von Handgreiflichkeiten unbehelligt sind. Ebendiese Reinheit ermöglicht Reflexionen über Hände und Händel aller Art – inklusive unreiner Liebeshändel, von denen die zitierte indische Legende ebenso handelt wie viele Gedichte des Divan.

Die Intensität, mit der Goethes Werke das Motiv- und Problemgewebe um das Wort(feld) »Hand« behandeln, ist erstaunlich – und dennoch kaum bemerkt worden. Eine aufschlussreiche Ausnahme stellt Martin Walsers 1982 erschienenes kurzes Stück In Goethes Hand dar. Darin findet sich neben mehreren Hand-Passagen gleich eingangs eine Szene, in der Eckermann und Goethes Schwiegertochter Ottilie darüber streiten, wie die letzten Worte des Olympiers lauteten. »Nun, Frauenzimmerchen, gib mir dein gutes Pfötchen«, habe Goethe »kurz nach elf« gesagt, bezeugt Ottilie, was Eckermann nicht akzeptieren kann. »ECKERMANN Kanzler von Müller, Dr. Vogel und Direktor Coudray gaben nachmittags bekannt, der letzte Satz habe geheißen: Mehr Licht./OTTILIE Das war um halb elf, als er zu Friedrich sagte: Mach doch den Fensterladen auf, damit mehr Licht hereinkomme./ECKERMANN Der bessere Satz./OTTILIE Mach doch den Fensterladen auf?/ECKERMANN Mehr Licht! genügt. Dein gutes Pfötchen!?? Das geht nicht.«47 Die Forschung zu Goethe und seinem Werk hat sein doch so überaus ersichtliches Leitmotiv übersehen – wahrscheinlich deshalb, weil Wendungen um das Wort »Hand« (nicht nur, aber besonders) im Deutschen allzu verbreitet sind, um besonders aufzufallen. Das betont schon Adelungs Grammatisch-kritisches Wörterbuch