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Hannah Höch - eine queere Liebe, eine neue Zeit, eine Befreiung Es sind die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, als Til auf Hannah trifft und Hannah auf Til. Eine gemeinsame Dekade beginnt. Erst in Den Haag, dann in Berlin verbringen die Künstlerin und die Autorin die letzten großen Partys und Momente zärtlicher Zweisamkeit. Doch von Sommer zu Sommer entpuppt sich das gemeinsame Leben und Schaffen zunehmend als Herausforderung, unter Druck gesetzt von der politischen Bedrohung durch den Nationalsozialismus. Behutsam und poetisch setzt Miku Sophie Kühmel in »Hannah« das Bild einer Liebe zusammen, die sich nicht nur an den Abgründen ihrer Zeit messen muss.
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Seitenzahl: 306
Veröffentlichungsjahr: 2025
Miku Sophie Kühmel
Roman
Es sind die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, als Til auf Hannah trifft und Hannah auf Til. Ab da ist ihr Leben ein gemeinsames. Erst in Den Haag, dann in Berlin verbringen die Künstlerin und die Autorin die letzten großen Partys und Momente zärtlicher Zweisamkeit. Kraftvoll und poetisch erzählt Miku Sophie Kühmel die neun Sommer einer inspirierenden Liebe, die sich nicht nur an den Abgründen ihrer Zeit messen muss.
»Til Brugman war ein Eulenspiegel unserer Tage, (...) diese nie endenden, purzelnden, sarkastischen, verrückten Einfälle, die auf einem riesigen Wissen ›tanzten‹, machten die Jahre mit Til zu den amüsantesten meines Lebens.« Hannah Höch, 1968
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Miku Sophie Kühmel, 1992 geboren, ist Schriftstellerin und Podcast Producer. Auf ihren 2019 erschienenen, zweifach ausgezeichneten Debütroman »Kintsugi« folgte 2022 »Triskele«. 2024 gab sie mit Linus Giese die Anthologie »Brüste« heraus. Arbeitsaufenthalte u.a. in Wien, Reykjavík – und in ihrer Heimatstadt Gotha, in der 103 Jahre vor ihr auch Hannah Höch geboren wurde.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Für diese Ausgabe:
© 2025 S. Fischer Verlag GmbH,
Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Simone Andjelkovic
Coverabbildung: Berlinische Galerie
ISBN 978-3-10-491722-1
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[Zitat]
der vorliegende roman [...]
Im Mai zu [...]
1926
1927
1928
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1936
1939
1978
Dank
Moreover, however interesting facts may be, they are an inferior form of fiction, and gradually we become impatient of their weakness and diffuseness, of their compromises and evasions, of the slovenly sentences which they make for themselves, and are eager to revive ourselves with the greater intensity and truth of fiction.[1]
Virginia Woolf, 1926
der vorliegende roman ist ein roman.
der vorliegende roman ist keine biographie.
der vorliegende roman ist keine chronik.
aber er ist eine geschichte.
die szenen in diesem buch sind szenen.
die szenen in diesem buch sind keine begebenheiten.
die szenen in diesem buch sind passiert,
ob sie geschehen sind oder nicht.
die figuren in diesem text sind figuren.
die figuren in diesem text sind da und nicht da.
die figuren in diesem text handeln, träumen, atmen
und sind erfunden.
Im Mai zu sterben, dachte Hannah, wäre eine gute Sache. Dann hätte man noch einen ganzen Frühling gesehen, eventuell die Erdbeer- und vor allem die Kartoffelblüte und man führe unter die Erde und würde nicht allzu sehr frieren, denn es wäre ja gleich Sommer, die Tage lang und die Nächte warm.
Es werden geboren: NBC Radio, die Sprühdose, Lufthansa, Schrödingers Äquivalenz von Wellen- und Matrizenmechanik, der Freischwinger, die Gebührenordnung für Psychoanalyse, Winnie-the-Pooh, Paul Bocuse und Michel Foucault.
Es sterben: Karl von Weizsäcker, Antoni Gaudí und Rainer Maria Rilke.
Das Schiff gleitet ins Wasser. Es sinkt fast zu tief hinein. Für einen Moment scheint es mit seinem Spiegelbild zu verschmelzen, in ihm zu verschwinden. Es nähert sich auf der Achse der Oberfläche gefährlich sich selbst an. Der Bauch ist verschwunden, Segel und Decks stehen gespiegelt aufeinander wie die Figuren auf einer Spielkarte. Dann taucht es wieder auf, mit Leichtigkeit. Es schaukelt, pendelt, wippt rüber und nüber.
Rüber und nüber, das sagt man so in Hannahs Heimat. Dabei gibt es dort keine großen Gewässer, und man weiß wenig über die Seefahrt. Im Thüringer Wald gibt es zwar gutes Wasser, weiches Wasser, god aha, aber keine Gewässer.
Irgendwann hat das Schiff sich ausgependelt und treibt auf der Stelle. Denn es ist jeden Tag windstill im Sommer in Paris. Es geht kein Lüftchen. Es hilft nur Nachhelfen. Und der Junge lehnt am Rand des Brunnens und pustet und prustet, damit die kleinen Segel Wind aufnehmen, er prustet mit dem ganzen Körper. Dann kippt das Boot auf einmal – nach links. Nach nüber. Der Schiffsbauch schwimmt oben und glänzt nass. Von einem Moment auf den anderen liegt das Schiff falsch herum auf dem Wasser, schwimmt weiter, bedauernswert. Der Junge kippelt, trippelt unruhig mit den Füßen. Lehnt sich über den Beckenrand des Brunnens. Heult vielleicht oder flucht. Kippelt ein Stück zu weit. Und kippt in den Brunnen; vornüber, die Beine zeigen gen Himmel. Der Kopf und die Schultern tauchen ruckzuck unter Wasser. Er zappelt. Die Beine rotieren in der Luft. Die Beine, die in kurzen Hosen stecken und in langen Kniestrümpfen und in kleinen Lederschuhen.
Aber auch im Jardin du Luxembourg gibt es keine Gewässer. Nur Wässerchen. Nur Bassins, in denen auch Elementarschüler noch stehen können. Der Junge taucht gleich wieder auf. Jault wie ein Hundewelpe. Die schwarzen Locken hängen an seinem Kopf herab. Seine leicht abstehenden Ohren sind zu sehen. Er stoppt kurz, er guckt sich um, ob jemand ihn weinen sieht. Als er sieht, dass immer noch keiner guckt, heult er wieder los.
Aber Hannah und Til sind schon weitergegangen, weil sie nicht wollten, dass alle es sehen, wie sie sich das Lachen verbeißen. Jetzt gehen sie den Parkweg hinab, gesäumt von Palmen.
Als sie weit genug weg sind, lachen sie doch noch lauthals los. Als würden sie nicht hier sein, sondern da, wo der Lustgarten lustiger ist und die Welt eine andere.
Liebes Hähnchen,
wir sehen uns also schon bald, steige nur rechtzeitig in den Nachtzug von Berlin, und dann holen wir Dich am Bahnhof ab und beginnen gleich morgens mit einem schönen Frühstück. Does will einen Haufen Mensch sehen, aber ich habe gesagt, wir wollen auch manchen Tag einfach Spaß unter uns dreien haben.
Kuss und Freude,
Deine Petro-Nelly
…
bringen sie statt der katze lieber einige bilder mit, wir reisen durch die pulspunkte des europäischen kunstmarktes, hannah.
does
Ein paar Meter weiter spielen alte Männer Schach. Sie sitzen an den Schachbrettern, die hier immer stehen, auf Klappstühlen, die sie sich mitgebracht haben. Hannah und Til gehen zwischen ihnen hindurch wie durch eine Ausstellung. Schach ist ein schweigsamer Sport. Die Männer sitzen da, rauchen und sagen wenig. Ganz am Ende der Reihe steht gerade einer von ihnen auf.
Er deutet in Richtung Parkausgang, er verabschiedet sich von seinem Gegenüber, dann schaut er hoch und sieht die beiden Frauen.
Er bietet ihnen seinen Klappstuhl an. Hannah will non, merci sagen, aber da sitzt Til schon. Breitbeinig sitzt sie. Krempelt die Ärmel ihres Hemdes hoch. Nickt dem Mann gegenüber zu.
– Ça va?
Es kann eigentlich nicht sein, denkt Hannah, dass ein Mensch so viele Sprachen spricht. Der Mann gegenüber schweigt, taxiert sie. Schaut kurz zum stehenden Mann. Der dann zum gehenden Mann wird. Der nach Hause geht. Der noch einmal über die Schulter geguckt hat. Und einen Witz gemacht. Den Hannah nicht verstanden hat. Und seinen Klappstuhl dalässt. Der sitzende Mann blinzelt noch zweimal. Er kratzt sich tief in seinem Bart. Mustert seine Gegnerin. Aber schließlich nickt er. Er stellt mit Til die Figuren auf für ein neues Spiel. Der Mann nimmt Weiß, Til Schwarz. Die Bauern treten vor, kratzen leise über das Holz. Ein wenig Stoff dazwischen würde helfen, dass sie besser gleiten, denkt Hannah. Die beiden reden in Hauptsätzen. Hannah versteht, dass Til sagt:
– Ich bin Schriftsteller, un auteur.
– Une auteure, sagt er, und sie sagt,
– oui, un auteur.
– Et vouz?
Der Mann sieht auf. Sieht Hannah ganz direkt an. Seine Augen sind blau und seine Augenbrauen grau. Ein Springer geht vor, ein Turm zieht dagegen, steht bald gegenüber dem Königspaar. Hannah weiß nicht, was sie ihm antworten soll. Zum Glück sagt Til dann schon:
– Un artist.
– Une peinture?, fragt der Mann und macht Striche mit einem unsichtbaren Pinsel in der Hand.
– Nein, nicht so, meistens mit der Schere, sagt Hannah und formt mit den Händen verschämt zwei Fingerscheren wie beim Schattenspiel:
– Avec les –, sie schnipst, Schnipp Schnapp?
– Les – Qua? Was? Schnípp Schnápp?!, fragt der Mann und grinst durch seinen Bart.
Til grinst kein bisschen, schaut Hannah lau von der Seite an, Hannah selbst schaut auf das Brett, sieht den Korridor, der sich langsam bildet, sichelförmig, Zug für Zug, um die Ecke gedacht.
– Hannah schneidet aus, und dann klebt sie die Dinge neu zusammen. Und so entstehen Bilder.
– Was hat das Ausschneiden, was haben Klebebilder denn mit Kunst zu tun?, fragt der Mann skeptisch.
– Jedenfalls mehr, als Schach mit Sport zu tun hat, sagt Til.
Tils Königin durchschreitet die Schneise, die ihre Spielerin ihr unbemerkt geschlagen hat, gleitet über die Fliesen, kratzt nicht, sondern schwebt, denn Til hebt sie sachte an, kaum einen Millimeter zwischen Figur und Brettboden. Bevor die schwarze und die weiße Königin aneinanderstoßen, flicht Til ihren langen Mittelfinger mit den kugeligen Knöcheln zwischen den Figuren durch, dreht sie kurz über dem Brett in der Luft und stellt die schwarze Königin aufrecht ab, legt die weiße flach auf das Brett nieder. Lang und weiß liegt sie da. Der Mann hat zugesehen. Schaut auf die Königinnen, schaut zu Til und Hannah, sucht nach der richtigen Frage oder der richtigen Antwort. Til streicht sich mit der Schachhand durch die Locken, steht auf und sagt zu Hannah:
– Na komm, on y va.
Hausmann weiß nicht, dass Sie uns besuchen.[1]
So hatte Kurt vier Jahre zuvor seinen Brief an dich beendet. Die Worte in der Einladung, die den Weg freiräumten für Sommerfrischen an der Seite, nein inmitten von ihnen allen. Und plötzlich war alles leichter. Du lerntest, wie gut es sein konnte, mit Freundespaaren unterwegs zu sein. Wie gern du die Dritte warst. Ob es mit Kurt und Helma war, mit Arp und Sophie oder Does und Nelly. Zwischen ihnen war immer Platz für dich, und auf deinem Kohlenkasten hieltst du Woche um Woche fest, Strand um Strand, Düne um Düne, Sand um Sand:
Does, geschwungene Nase und hohe Stirn, ein Frottee, das ihm von der Schulter gleitet und die Brust frei macht, sein Lächeln der Sonne entgegen, mit dem Schattenwurf seiner kantigen Gesichtszüge
Nelly, Häkchennase, Heiligenschein aus Stroh um den Kopf, ein Hut, der selbstgeknüpft war, ein Frottee, das ihr von der Schulter gleitet und ihre Brust frei macht, ihr Gesicht der Sonne zugewandt, noch immer vom Echo eines Schmunzelns umgeben
im Sand, vornübergebeugt, wie immer zu enthusiastisch: Kurt und von ihm angesteckt Sophie, die mit bloßen Händen eine Grube ausheben für den kleinen, schon vor Schulbeginn todernsten Ernstl Schwitters, während ihre jeweiligen Geliebten, Helma und Arp, sich vermutlich gerade auf der anderen Seite der Linse in der Sonne aalen und gemeinsam drüber lachen, wen sie da jeweils geheiratet haben.
Die Sonne knallte auf euch herab in Sellin, das Salz kroch zwischen die Zehen, deine Knie und Schultern und Brustwarzen kitzelten wie geküsst von der Hitze. Warum war es dir so lange schwergefallen, Dinge auf eigene Faust zu machen? Warum hattest du erst diese Einladung gebraucht, diese Versicherung, dass es ihnen wirklich um dich ging und nicht um ein Paar, zu dem du nicht mehr gehörtest? Dass sie deine Gesellschaft schätzten, warum glaubtest du das so lange nicht?
Wir freuen uns auch sehr auf Dein Kommen, Helmas Briefe waren die wärmsten, aber ist Dir denn auch klar geworden, dass, wenn du erst am 10. Juli kommst, wir nur noch 5 Tage in Holland sind? Am 15. Juli fahren wir nach Belgien, fährst du dort mit hin oder bleibst Du noch in Holland?[2]
Das Schönste an diesen Reisen war, dass du irgendwann gar nicht mehr planen musstest. Du musstest nur dem Wink deiner Freunde folgen, konntest abwarten, wohin es sie verschlug, und dich der Bande anschließen, die dir am besten gefiel. Noch im Nachtzug nach A’dam vor wenigen Wochen warst du sicher gewesen: den Koffer unter den Knien, ein Butterbrot und einen Apfel im Gepäck, du allein im Abteil und an dir vorbeiziehend – die Welt: So könnte es für immer bleiben.
– Hannah Hoch?, hatte Til gefragt, dabei mit der Hand gen Decke gezeigt und ihren Namen hart und dunkel ausgesprochen.
– Bist du nicht ein bisschen klein für so einen Namen?
– Nicht hoch, hatte Hannah gesagt und sich in den Türrahmen gelehnt. Sie standen im Nebenraum des Ateliers, mehr eine Kammer. An Lajos’ Versuchen mit Parallelen und Tangenten entlanggleitend, waren sie beide in derselben Ecke gelandet, Til bürstete dort ihre Schuhspitzen unter den Pferdehaaren eines in die Ecke gelehnten Besens. Hannah sah ihr dabei zu, roch den Staub und, meinte sie, auch das Leder und eine helle Note noch, die sie nicht gleich einordnen konnte.
– Höch heißt das. Höch, mit einem Umlaut und weichem CH.
– Ein weiches CH? CH, so wie es Katzen machen?
– Ja schon, sagte Hannah, weil sie Katzen mag und den Vergleich deswegen auch,
– ganz weich, eine vorsichtige Katze. Ein weiches CH, so wie ich, mich.
– Gewicht, Gericht?
– Genau.
– Und das O?
– Das Ö. Das ist der Umlaut.
– Ah, ja sicher. Wie –?
– Ö wie … Mögen.
– Vermögen?
Hannah hatte gelacht und gesagt:
– Das sicher nicht. Aber ja, im Prinzip.
– Ö wie Vermögen, aber mehr wie Mögen.
– Mögen, genau.
– Ich mag, du magst. Wir mögen?
– Genau so.
– Ach so.
Und dann hatten Til und Hannah sich dort in der Ecke, einen Fuß in der Besenkammer, die erste Zigarette geteilt.
Liebe Tilly u. liebe Hanna … Kurt ist noch in Wiesbaden … ihm wird Euer Zweigestirn Spass machen![3]Kuss, Helma
– Genau, das sagst du oft.
– Ist das so?
Hannah schaut überrascht zu Til hinüber. Sie sitzen im Wohnzimmer eines Bekannten. Es ist eine schöne Wohnung, findet Hannah. Sie liegt nicht weit weg vom Jardin du Luxembourg. Unter den hohen Decken ist es in diesem höllenheißen Sommer angenehm kühl.
– Genau, das ist so ein deutsches Wort.
Til sitzt neben ihr auf einer Chaiselongue, so einer Art langem Sessel, ein Stuhl mit Riesenzunge. Er sitzt sich für Hannahs Geschmack etwas zu bequem. Legt sie die Füße auf dem Ende vorsichtig ab, sinkt sie wie zur Nachtzeit weich in das entengrützene Samt.
– Die Deutschen sind so genau. Das gefällt euch, wenn alles stimmt, sagt Til.
Hannah lächelt, lehnt sich tiefer in das Grün, lässt die Federn darin sanft knarzen. Normalerweise mag sie es nicht, wenn man sie Deutsche nennt.
Aber bei Til kann sie über das meiste lachen. Die Sätze gerinnen zu Witzen, mit ihrem Zungenschlag und Augenzwinkern und überhaupt diesem Haarvorhang, der ihr Gesicht je nach Gusto umspielen und verschleiern kann. Hannah kreuzt die Arme, will etwas sagen, ein Klischee über Holland. Sie glaubt nicht an Nationen. Aber sie werden vom Teewagen unterbrochen, den Mondrian konzentriert ins Zimmer rollt. Ein zarter kräutriger Geruch stielt sich in die Nasen, ein My bitter fast, aber auch – rauchig? Nein. Neblig? Möglich.
– Bergamotte, unterbricht Mondrian ihren Gedanken und sagt feierlich:
– Bitte sehr die Damen, und Hannah nickt, und Til seufzt und trinkt einen großen Schluck vom brühheißen Tee.
Die Wohnung von Mondrian ist so, wie Nelly sie beschrieben hat. An den Wänden im Flur lehnen in mehreren Reihen Bilder. Hier im Wohnzimmer ist alles ganz sortiert. Ein bisschen zu sortiert vielleicht, die Möbel, sämtlich im Neunzig-Grad-Winkel zueinander angeordnet, berühren genau mit den jeweiligen zwei Vorderfüßen den dicht gewebten Teppich. Aber trotzdem: Hannah fühlt sich immer wohl in solchen Stadtwohnungen. Da kann es schlecht geheizt sein. Und karg eingerichtet. Und wie hier bei Mondrian ein wenig kleinkariert.
– Du heißt also Til, sagt er zögerlich, als er sich endlich gesetzt hat. Er schaut immer wieder auf Tils Kleidung. Dabei trägt auch Hannah Hosen. Vielleicht ist es, weil Hannah diesen Haarschnitt hat, der zwar Bubikopf heißt, aber von dem genau wegen dieser Bezeichnung jeder weiß, dass er für Frauen gedacht ist. Auf der anderen Seite des Raumes sitzen Does und Nelly. Does’ aschiges Gesicht ist leer, seine Arme ineinandergehakt, Nelly flüstert ihm etwas ins Ohr. Wahrscheinlich versucht sie, ihn zum Lachen zu bringen. Und ringt ihm zumindest ein Grunzen ab. Sie sieht, wie jeden Tag, umwerfend aus, einen seidenen Mantel über ihre schmalen Schultern geworfen, oliv schimmernd, ihren Teint unterstreichend und das schlichte, maronenfarbene Kleid darunter aufwertend. Nelly findet, dass es wichtig ist, für die großen Momente des Lebens auch die entsprechende Garderobe zu besitzen. Und, das hat sie noch gestern über dem Frühstücksei angefügt,
– wann weiß ich schon, an welchem Tag der nächste große Moment auf mich lauert, Hannah?
Und Does hatte kaum merklich gelächelt, seiner Frau noch ein Kompliment für ihre Korallenohrringe gemacht und, gewagt, einen Dessertkeks zum Frühstück in den Tee getunkt.
Doch schon seit der Abfahrt von Amsterdam sind sie beide eigenartig ruhig. Vielleicht bedrückt sie etwas. Die Mietpreise in Paris, der wilde Verkehr seit Montparnasse, der schwüle französische Sommer oder eine Unstimmigkeit, die sich nur zwischen ihnen beiden abspielt. Aber Hannah fragt nicht nach. Sie setzt darauf, dass ihre Freunde ihr etwas erzählen, wenn sie das möchten. Sie fragt auch nicht, weil sie ahnt, es könnte mit Til zu tun haben.
Til, die nach ihrem Kennenlernen im Atelier von Lajos und nach einer durchradelten Nacht und einem kurzen, eigenartigen Abschied unter einer Laterne morgens am Bahnhof einfach aufgetaucht und mitgefahren war.
Tatsächlich schien die gemeinsame Reise nur für drei Personen ausgelegt zu sein. Im Zug etwa waren die drei Sitze nebeneinander. Überall gab es nur Schlafplätze für drei. Auf dem Kies vor den Cafés waren um die Tische nur drei der gusseisernen Stühle gestellt.
Dann zog Til sich von irgendwoher einen Stuhl heran oder musste sich, wie jetzt, mit Hannah den Platz teilen. Andererseits war das beiden, Til und Hannah, meist ganz recht.
Hannah drückt ihre rechte Schulter leicht an Tils linke und bemerkt erst an ihrem Blick, dass Mondrian sie etwas gefragt hat:
– Ob du mir auch Bilder mitgebracht hast, wollte ich wissen, Hannah.
Ja, hat sie. Ein paar Aquas und zwei winzige Montagen, zusammengerollt und in einer Pappröhre transportiert. Die ließ sich leicht unter den Arm klemmen oder manchmal sogar durch den Griff ihres Koffers fädeln, wenn sie auf Bahnsteigen wartete.
Vielleicht hätte sie es sein lassen, sich nicht getraut, wenn Does sie nicht dazu gedrängt hätte. Wenn er nicht wieder und wieder nachgefragt hätte, was sie denn nun mitnehmen würde zu Mondrian.
– Raoul Hausmann hat das immer gemacht bisher, entschuldigt sie sich schon, während Mondrian bei einer Zeichnung verharrt, die er zuerst aus der Rolle gezogen hat. Bei der Nennung des Namens meint Hannah, den gepflegten Schnauzbart unter seiner Nase zucken zu sehen.
– Und jetzt, – ausatmen, Hannah! – ist er nicht mehr dabei.
– Bedauerlich, sagt Til dabei etwas zu schnell.
Nelly lacht, bis sie sieht, wie bös Does sie anschaut. Aber selbst der widerspricht Til nicht. Obwohl er sonst keinen Hehl daraus macht, dass er die Dinge in aller Regel anders sieht als sie.
– Ach, der Hausmann wird schon auf anderem Wege wieder hier vorbeischauen, Fräulein Höch. Heute geht es hier um Sie, sagt Mondrian.
Dann bemerkt Hannah plötzlich: Der ganze Salon schaut sie an. Sie nimmt schnell einen Schluck Tee und verbrennt sich den Mund. Sie möchte in den Rand der Tasse beißen, aber das Porzellan ist so fein, dass sie befürchtet, mit bloßen Zähnen ein Stück herauszubrechen. Also stellt sie die Tasse behutsam auf die Untertasse zurück. Möglichst ohne dass sie beim Abstellen zu sehr klingt und damit ihr Zittern verrät. Til zwickt ihr in den Oberarm, versteckt unter dem weiten Jackett. Und statt sich zuzuzwinkern, schauen die beiden sich einen Moment zum Atmen an. Sie schauen so lange, bis Mondrian sich zurücklehnt. Er hat ein kleines Aqua in der Hand und fragt in geschwungenem Deutsch, ob er es haben kann.
Als ob Hannah nein sagen würde.
An einer Kreuzung im orangen Laternenlicht, unter großen, weit auseinanderfallenden Regentropfen, verhaken sich eure Radspeichen, als ihr, beide nach innen, die eine zur rechten, die andere zur linken, vom Sattel rutscht, um euch abzufangen. Schulter an Schulter steht ihr da und dreht die spitzen Schnäbel aufeinander zu, ein vierbeiniges Wesen, zwei Füße in der Luft, zwei an der Erde, und küsst euch.
Keine von euch beiden ist signifikant größer als die andre, da ist kein fester Griff, der dich unterklemmt, kein Mund, der an deiner Oberlippe saugt, dass du nach Luft schnappen musst, alles bleibt gleichauf: eure Schultern, eure Augen, eure Lippen. Das Brückenbilden ist leicht, passiert wie von selbst. Und eure Pose hält in wundersamer Statik, ohne zu kollabieren.
– Matilda? Was für ein schöner Name!
– Das hab ich noch nie vorher gehört –
Durch die Maske kann man nicht so genau verstehen, wie ironisch Til das meint. Außerdem klingt von unter ihrem Pest-Doktoren-Kostüm alles eher trocken.
Hannah liebt Kostümfeste wie dieses. Ihr Körper ist bedeckt von Fransen und Bändern in Rot und Blau, aus denen sie sich in Windeseile eine Verkleidung geknüpft hat. Wenn jemand sie fragt, als was sie geht, sagt sie,
– als Gackeleia!
Auch Til mag ihr Kostüm, den Schnabel, mit dem sie Hannah kitzeln kann. Der Ball ist laut und der Saal zum Bersten voll. Über die Tanzfläche walzen Does und Nelly, obwohl ausgemacht war, vor einer Stunde gegangen zu sein. Im Morgengrauen fährt ihr Zug. Aber Hannah will sie nicht bremsen und hat auch selbst wenig Lust, die Zeit fortschreiten zu lassen. Deshalb ignoriert sie die Uhr geflissentlich.
Bis eben haben Mondrian und Til sich über Voltaire gestritten, bis er sie aus heiterem Himmel nach ihrem echten Namen gefragt hat. Darauf hat Til widerwillig gesagt, ihr voller Name wäre Matilda. Auch Hannah gefällt der Klang dieses Namens. Aber weil sie spürt, wie ungern Til selbst ihn sagt, benutzt sie ihn nicht.
– Ich heiße auf dem Papier ja auch Johanne, mischt sie sich ein.
Der gelockte Pest-Doktor legt einen Arm um sie und sagt feierlich:
– AnneThereseJohanne!, als wäre das ein einziger, ganz langer Vorname.
Hannah verzieht das Gesicht, und unter der Vogel-Maske schauen Tils Olivenaugen schuldbewusst hervor:
– Aber in die Geschichte eingehen wirst du als tapfere Hannah.
– Die unbeugsame Hannah!, ruft Mondrian und öffnet den obersten Knopf des Hemdes an seinem Mondrian-Kostüm. Die Feier geht schon seit dem frühen Abend, und es wird bald hell. Hannah trinkt aus und entschuldigt sich zur Toilette.
Und Mondrian sagt:
– Ja, lauf nur. Einfach der Ritterin dahinten nach!
Auf dem Weg zur Toilette schwanken die Holzbohlen unter Hannahs Füßen rüber und nüber. Man hört die schnalzende Tanzmusik noch vor dem Spiegel im Bad. Auch hier hängen Girlanden, die bunt funkeln, aber es stinkt aus den Toiletten auch sauer: nach der Pariser Kanalisation. Hannah ist schwindlig. Sie sieht ihr Gesicht im Spiegel an, ihre von Gänsehaut überzogenen Arme, die gleich zu sehen sind, sobald sie eine Geste zu viel macht, die bunten Fäden sich fließend an ihr hinabschlängeln.
Erstaunlich, denkt Hannah.
– Willst du allein sein?, fragt der Pestvogel im Türrahmen, der sich vor ihr über dem Waschbecken spiegelt. Hannah lächelt dem Vogel schief zu, schüttelt den Kopf.
– Komm nur, Herr Doktor.
Der Pestvogel flattert herein und wickelt zufrieden die langen Ärmel um die frierende Hannah. Legt den Schnabel auf der Schulter ab.
– Bist du festgehangen in deinem Gebinde hier?
Und Til zupft an den Bändern um Hannahs Hüfte.
– So ähnlich.
– Hast du Heimweh?
– Komplizierter.
– Fehlt dir die Ninn?
– Immer!
Über die Katze reden ist immer gut und immer leicht.
– Hast Angst, dass der Hausmann dir auflauert, wenn du zurückkommst?
Hannah winkt ab, wie meistens, wenn jemand mit ihr über Raoul sprechen will.
– Der ist nicht so gefährlich, wie ihr alle denkt.
– Vielleicht bist du einfach mutiger, als du weißt.
– Der hat Frau und Kind.
– Das hat selten Männer davon abgehalten, Männer zu sein.
Hannah greift gezielt nach links hinten, ohne hinzusehen, und hält dem Pestvogel den Papiermaché-Schnabel zu. Und der schweigt brav. Dann zieht Hannah behutsam die Maske von ihrem Gesicht. Tils fliehendes Kinn bebt ein bisschen. Ihre Pupillen sind noch groß, reagieren nur langsam auf das Licht, das nun direkt in sie fällt, und werden kleiner. Beide lächeln sich im Spiegel an. Merken sich genau das Bild, das sie jetzt abgeben.
– Ihr denkt alle zu viel über mich nach. Auch diese ganzen Komplimente –
– Komplimente, widerlich, quel malheur!
– Wirklich, der Mondrian hört gar nicht auf.
– Der kann halt nicht aus seiner Haut. Nimm die Komplimente doch einfach an. Immerhin gelten sie deiner Arbeit, nicht deinem Körper. Nichts einzuwenden gegen deinen Körper übrigens!
– Von meinen Bildern hat der so ähnlich viel gesehen wie von meinen Brüsten. Das sind alles blinde Komplimente.
– Vielleicht will er auch nur der Erste gewesen sein.
Der Til-Vogel schiebt Hannah zum Klofenster hinüber, weg vom Spiegel. Es ist ein wenig höher und kleiner als die übrigen Fenster des Ballhauses. Mehr eine Luke, und beide müssen auf die Zehen hoch, um Paris zu sehen. Der Teppich aus Dächern, die Lichter, der Qualm aus den Häusern, an dem man sieht, dass etwas lebt. Sie wanken auf ihren Zehenspitzen – rüber und nüber.
– Ich seh sie längst: die Galerie mit deinen Sachen!
– In Paris?
– Die Fondation ’Och.
– Höch! Mit H! Mit Ö! Und weichem CH! Das weißt du doch.
– Das werden die Franzosen niemals richtig aussprechen. Gewöhn dich lieber dran: Hannah Hosch, ChannaChoch, Anna Ösch –
Hannah dreht sich zu Til um, das Waschbecken an ihrem Steißbein, Hände in die Hüfte gestemmt. Und sagt:
– Vielleicht ja doch!
– Vielleicht ja döch, sagt Til mit sauberem Ö und weichem CH.
Was Kurt vielleicht schreiben wird:
Was ich nicht verstehe ist, warum Ihr das so lange von mir ferngehalten habt, liebe Hannah. Ich dachte, wir seien Seelenverwandte, nächste Freunde, erzählten einander alles. Nach Deiner Trennung von Hausmann war mir nichts wichtiger, als dass Du aufgefangen wirst. Dass wir Dich bei uns haben können; was sicher nicht ganz uneigennützig war, denn wie Du weißt, schätze ich Deine Gesellschaft über alles. Aber ich schätze auch besonders Dein Vertrauen und mein Vertrauen in Deinen Händen zu wissen. Und deswegen hoffe ich, dass Du weißt, dass ich nur das Beste für Dich will und dass es Dir gut geht, dass Du leben und Du sein kannst, und bei all der Öffnung trifft mich dann eben jede geschlossene Tür vielleicht wie ein Brett vor den Kopf, das mag an mir liegen, das mag mein Fehler sein. Ich liebe Dich sehr, Hannah, ich liebe und verehre Dich und hoffe, dass Du mir das glaubst und dass Du auch an mich denkst, wenn ich nicht gerade für Dich da bin, wenn Du mich nicht gerade um Hilfe fragst, dass Du nicht vergisst, dass ich existiere, wenn die Sonne gerade anders steht und das Licht auf jemand anderen fällt.
Unverbesserlich anhänglich
KuSchwitz
– Das wär doch gut.
Tils Hand liegt wie ein warmes Pferdemaul in Hannahs Nacken. Staub tanzt im Zitronenlicht des Pensionszimmers. Durch die wurmstichigen Eichendielen steigt der Geruch von Navetten und Stampf. Das Pferdemaul schiebt sich an ihrem Hals vorbei, tastet das Brustbein ab, zieht sie aus dem gekrümmten Sitz nachdrücklich zurück aufs Bett. Das unsichtbare Blatt zittert ein bisschen in ihrer Hand, schwer hebt sie es an und hält es in der Luft über Til und sich unter die Zimmerdecke. Sie ist sich sicher: Das Papier wäre dünn.
– Er will dich nur sicher wissen, sagt Til und,
– er macht sich, klar, Sorgen. Er war ja dabei, oder? Die ganze Zeit. Hat gesehen, wie das zwischen euch war.
Wie eine Wolke hat Hannah Raoul zu fangen versucht. Als Sturm zog er über sie hinweg, dunkelblau bis grau, bedrohlich manchmal. Hannah war das Grollen schnell fast heimatlich vorgekommen. Der Sturm war mitreißend, blies ihr warmen Wind um die Nase und manchmal plötzlich Regen ins Gesicht und trug sie fort an Orte, an denen sie noch nie gewesen war. Aber eh sie sich versah, war er vorübergezogen, ließ sie nicht selten an Ort und Stelle liegen. Und zog dann später mit einem Grollen wieder auf.
Eine ganze Zeit gab es, in der sie sich sicher war, dass sie dieses Wetter brauchte oder vielmehr: dass es einfach da war, dass sie sich ihm nicht entziehen können würde, ganz egal, was sie tat. Er war ihr nachgegangen, hatte nicht einsehen wollen, dass seine Wolkenhaftigkeit die Geltung verlieren könnte, dass seine Possessivpronomen, meine Hannah, irgendwann keine Bedeutung mehr haben könnten. Oder vielleicht hatte er es auch gewusst, vielleicht war ihm ganz klar gewesen, wie kostbar sie war. Wie wertvoll die Verbindung. Und nur deswegen hatte er so gewütet. Die lauten Schritte ihr Treppenhaus hinauf, 107 Stufen, schon im ersten Stock wusste sie, dass er es war, der da kam, und auch die Katze wusste es, sie duckte sich unter den Tisch, um abzuwarten, in welcher Stimmung er war, ob enthusiastisch oder aufbrausend.
Vielleicht war ich dann selbst die Katze. Hockte ein Teil von mir mit unterm Tisch, denkt Hannah.
Auf der Reise nach Genua hatte sie das erste Mal einen dieser Tage, an dem ihr Gefühl für Hausmann auszuschlagen schien, wie ein Metronom. Einen Tag, an dem sie in einem Moment dachte: Ich muss es beenden. Und im anderen: Ich kann doch nicht. Tick, Tack. Heftig schlug es auf und nieder in ihr, wie sie sich durch die Gassen treiben ließ, wie sie in eine Espressotasse schaute, das Porzellan vorsichtig kippte. Dem letzten Tropfen, durchzogen von schwarzen Krumen, bei seinen Runden zusah. Und mit der Gewissheit über die Ungewissheit; mit der Klarheit darüber, dass solche Entscheidungen selten die Eindeutigkeit haben, die wir von ihnen erwarten, hatte sie eben den Entschluss gefasst, hatte ihn zusammengesammelt, auch den Mut hervorgekramt und sagte sich selbst mit Blick in den berühmten Himmel Italiens, gerahmt von Akazienkronen, dass es vorbei sein musste.
Und Kurt war von Anfang an da gewesen, hatte sie gleich eingeladen, Kurt und Helma, ihr Lieblingspaar mit ihrem Lieblingssatz: Komm bald, liebe Hanna, dann kann man seinen Kummer besser mitteilen.[4]
Arp, der schrieb, haben sie nicht lust diesen sommer mit uns am strande von ascona dem sonnenbaden obzu liegen. ich giere nach dem linienfluss ihres körpers.[5]
Does und Nelly, die sie besuchten, im Partner-Ensemble standen sie bald schon in Hannahs Wohnung unterm Dach und brachten ihr Madeleine und den selbst gemischten Tisane.
Und obwohl ein Leben ohne Hausmann ihr fast zehn Jahre lang unmöglich vorgekommen war, drehte die Welt sich weiter. Die Tage wurden länger, und da war wieder ein Sommer, eine Reise, ein Wind.
Aber so wie sie diese Drehung nicht geplant hatte, wie man keine Erkenntnis und kein Glück planen kann, wie sie die nächtelangen Gespräche mit Nelly nicht vorher hatte verabreden können und nicht, wie gut es war, mit Kurt allein durch den Wald zu radeln und stundenlang Bäume zu zeichnen und Steine und im Schlick zu waten mit den Männer- und Frauenbeinen und den kleinen Ernst im Sand zu vergraben und dass das Kind sie mit anderen Augen sah, weil sie immer Zeit hatte. Genauso wie all das nicht geplant gewesen war, hatte sie auch Til nicht geplant, die Begegnung nicht, das Abbiegen von ihrer Reiseroute nicht. Sie hatte nach ihrer Karte aus Grenoble fast ängstlich auf die Rückmeldung von Does und Nelly gewartet, dass sie ihr böse waren, gerade Does, der von Til nicht viel zu halten schien. Böse, dass sie ihre großzügigen Freunde einfach hatte links liegen lassen. Aber das Gefühl der verdrehten Organe, realisiert sie an diesem Nachmittag in diesem Pensionsbett, kommt eigentlich von der Unsicherheit über Kurts ausstehende Reaktion. Der seine Augen und Ohren überall hat und inzwischen doch Wind bekommen haben muss von ihnen beiden und mit Sicherheit genau so sanft und verletzlich reagieren wird, wie es Hannah am meisten wehtun würde.
– Alles aus Liebe, sagt Til und küsst ihren Nacken, reibt ihre rauen Lippen hinter Hannahs Ohr.
– Das aus Liebe.
Dann nimmt sie Hannahs Handgelenk und wedelt mit dem unsichtbaren Brief, den sie darin eingeklemmt hat, so heftig, dass Hannah lachen muss.
– Das aus Liebe! Alles Liebelabelube.
– Liebrum. Labrum. Löffelstiel.
Sie dreht sich zu Til um, ihre Nasenspitzen berühren sich sachte. Eine Feder aus dem Kissen sticht in ihre Wange. Und Til beschließt, dass sie etwas Gutes zu essen braucht.
– Eier!, sagt sie,
– gerührt und gespiegelt!
Sie verknoten ihre Schenkel ineinander, unter der dünnen Decke, der flach gewebte Stoff ist kratzig und gießt aus ihren Beinen eine einzige Krake.
– Du bist ein Kluns.
– Ein Was?
– Ein Kluns.
Tils Haare sind die schönsten, an ihren Beinen, an den Brauen und unter ihrer Nase. Ihr Lachen ist tief und rasselnd. Ihr Atem dringt in jeden deiner Winkel, warm dampft das Wasser aus ihrem Tropfenmund, kondensiert an deiner Haut, bleibt in den kleinen Härchen hängen, die deinen Körper wiederum überziehen, blond und schwarz, je nach Region, die Raoul stets wie ein Kätzchen gestreichelt, manchmal wie einen Rosshals geklopft hat und die Til mit ihrer Zunge stets entschlossen gegen den Strich bürstet. Sich betten auf den Haaren der anderen macht das Leben weicher.
Was Kurt nicht schreiben, aber zwischen den Zeilen sagen könnte:
Was wäre, wenn ich Dich jetzt brauchte, wenn ich einen Finger verloren hätte oder ein Meerschwein? Wäre die Wahrheit dann, dass ich Glück haben müsste, wenn Du gerade zufällig Zeit hast und den Kopf dafür? Ich will mich vor Dir nicht verschalen, ich will nicht, dass wir uns voreinander verstecken, aber es kann in dieser Beziehung nicht nur einer für die andere da sein; in dieser und jener Stunde wegen solcher und solcher Stimmung. Dabei war ich es doch, der so einen Lebenswandel immer irgendwie für Dich geahnt hat. Hast Du Angst davor, dass ich recht hatte? Warum versagst Du mir, daran teilzuhaben? Du bist mir ein Geschwister, wir sind ein Gespann. Dachte ich. War diese Nähe vielleicht für Dich nur für den Übergang bestimmt? War ich am Ende ein Platzhalter und bin nun überflüssig geworden? Und Du hast deshalb Angst gehabt, es mir zu sagen? Oder dachtest Du einfach, ich kann nicht diskret sein? Dass ich plappere? Ich dachte, wir hätten derlei hinter uns gelassen.
– Hausmann ist vorbei. Dada c’est passé. Berlin is over.
Dass Hannah selbst diese Sätze einmal denken oder gar über Getränken im Angesicht ihrer Kollegen aussprechen würde. Hätte man ihr das erzählt, vor einer Handvoll Jahren, sie hätte es nicht geglaubt.
107 Stufen unter das Zelt mit dem großen, schrägen Fenster, durch das zu jeder Tageszeit eine andere Lichtfarbe fiel. Der Geruch der alten Balken, die unebenen Bohlen unter den Füßen. Von eigener Hand hat Hannah alles angebracht, die Wandbretter montiert, den Arbeitstisch platziert. Und eigentlich kann sie sich noch immer nicht vorstellen, diesen Ort ganz loszulassen. Den Ort, an dem diese Jahre kleben.
Oh Du, Geliebte meiner 27 Sinne, ich liebe Dir!
Du, Deiner, Dich Dir, ich Dir, Du mir, ---- wir?
Das gehört (beiläufig) nicht hierher!
Wer bist Du, ungezähltes Frauenzimmer, Du bist, bist Du?
Die Leute sagen, Du wärest.
Laß sie sagen, sie wissen nicht, wie der Kirchturm steht.
Du trägst den Hut auf Deinen Füßen und wanderst auf die Hände,
Auf den Händen wanderst Du.
Hallo, Deine roten Kleider, in weiße Falten zersägt,
Rot liebe ich Anna Blume, rot liebe ich Dir.
Du, Deiner, Dich Dir, ich Dir, Du mir, ----- wir?
Das gehört (beiläufig) in die kalte Glut!
Anna Blume, rote Anna Blume, wie sagen die Leute?
Preisfrage:
1. Anna Blume hat einen Vogel.
2. Anna Blume ist rot.
3. Welche Farbe hat der Vogel.
Blau ist die Farbe Deines gelben Haares,
Rot ist die Farbe Deines grünen Vogels.
Du schlichtes Mädchen im Alltagskleid,
Du liebes grünes Tier, ich liebe Dir!
Du Deiner Dich Dir, ich Dir, Du mir, ---- wir!
Das gehört (beiläufig) in die ---- Glutenkiste.
Anna Blume, Anna, A----N----N----A!
Ich träufle Deinen Namen.
Dein Name tropft wie weiches Rindertalg.
Weißt Du es Anna, weißt Du es schon,
Man kann Dich auch von hinten lesen.
Und Du, Du Herrlichste von allen,
Du bist von hinten, wie von vorne:
A------N------N------A.
Rindertalg träufelt STREICHELN über meinen Rücken.
Anna Blume,
Du tropfes Tier,
Ich-------liebe-------Dir![6]
– Hat er dich zuerst so genannt?
– Nicht genannt, aber geschrieben.
– Geschrieben.
– H-A-N-N-A-H.
– Hannah Blume.
– Nein, Anna Blume heißt das Gedicht.
– Aber du bist Anna.
– Nein, ich bin nur Hannah.
– Nur oder darüber hinaus.
– Ich weiß das nicht genau. Aber ich mochte es von Anfang an.
– Vom Anfang und vom Ende. Von vorn und von hinten. Ich habe das übersetzt, weißt du.
– Ich weiß, du.
Über ihnen pfeifen Schwalben Bögen in den Sonnenuntergang, der Himmel ist cremefarben, von irgendwoher zieht der Geruch nach Butter sich durch die Luft.
– Und Hannah ist ja eigentlich, wie sagt man, zwei als eins.
– Zwei in eins? Zwei H meinst du.